Impressum

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel «Five Steps to Happy» bei Trapeze/The Orion Publishing Group, Ltd., London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019

Copyright © 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Five steps to happy» © 2019 by Ella Dove

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Annalena Ehrlicher

Covergestaltung FAVORITBUERO, München,

nach dem Original von OrionBooks

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ISBN Printausgabe 978-3-499-00079-9 (1. Auflage 2019)

ISBN E-Book 978-3-644-00353-8

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00353-8

Mein Sturz hatte keine zwei Sekunden gedauert, und doch hatte es sich so angefühlt, als würde ich in Zeitlupe fallen. Scharfkantige Kiesel im Rücken. Blut auf dem Unterarm. Mein Herz klopfte heftig.

«Alles okay?»

Ich schlug die Augen auf und spähte zu dem Mann mit den weißblonden Haaren hoch. Alexander. Den hatte ich kurz vergessen. Der Blick seiner blassblauen Augen irrte unruhig umher. Er wirkte so benommen, wie ich mich fühlte.

«Heidi? Alles klar?», fragte er.

Ich fasste mir an den Kopf. War ich damit auf dem Boden aufgeschlagen? Mein Haar roch nach abgestandenem Rauch und Trockenshampoo – gestern hatte ich den vierten Abend in Folge in der Bar gearbeitet, eine Art Buße für ein weiteres vergeigtes Vorsprechen. Seit drei Jahren hatte ich das Zeugnis der Schauspielschule nun schon in der Tasche und noch immer kein Glück. In letzter Zeit war ich eher Kellnerin als Schauspielerin. Nach Rauch stinkende Haare und Heiserkeit von der Verständigung über die laute Musik hinweg gehörten mittlerweile zu meinem Alltag.

Zwischen den lila Strähnen, die an meiner Wange klebten, hatten sich Kieselsteine verfangen. Ich hatte mir nach dem Joggen die Haare waschen wollen.

«Äh, ja, ich … ich glaub schon», stammelte ich verlegen. Wie peinlich. Das konnte auch nur mir passieren, dass ich einem gutaussehenden Mann beim Flirten quasi vor die Füße fiel! Sehr

Am liebsten wäre ich einfach aufgesprungen und nach Hause gelaufen, wo mein Mitbewohner Dougie seinen Rausch ausschlief, nachdem er gestern nach meiner Schicht noch bis tief in die Nacht mit mir und meinen Kollegen von der Bar um die Häuser gezogen war. Vorhin hatte er tief und fest geschlafen – jedenfalls war die Tür zu seinem Zimmer geschlossen gewesen, als ich zu meiner morgendlichen Joggingrunde aufgebrochen war. Laufen als Detox- und Katerbekämpfungsmaßnahme, das war etwas, was er überhaupt nicht nachvollziehen konnte, aber mich überkam beim Joggen nun einmal ein Gefühl von Freiheit und Ruhe. Meine Gedanken waren im Einklang mit meinen Schritten, und die Welt ergab wieder einen Sinn.

«Wirklich?» Alexander beäugte mich besorgt, die Stirn in Falten gelegt.

«Ja, alles bestens.» Sein Mitleid war mir unangenehm. Ich spannte sämtliche Muskeln an und versuchte, mich aufzurichten, doch die Schmerzen in meinem Bein waren stärker geworden. In meinen Ohren rauschte das Blut. Ich sank wieder auf die Erde und verspürte den Drang zu weinen. Alexander starrte mich an.

«Mein Bein …», presste ich hervor.

Mir war übel. Das Gezwitscher der Vögel und das Plätschern des Wassers am Kanalufer kamen mir unnatürlich laut und irritierend vor. Was war bloß mit mir los?

«Das sieht gar nicht gut aus», stellte Alexander verunsichert fest. «Womöglich ist es gebrochen.»

«Gebrochen?»

Ich verdrehte die Augen und dachte an all das, was für heute auf

Alexanders Stimme holte mich jäh in die Wirklichkeit zurück. «Sie müssen ins Krankenhaus.» Er fischte sein Handy aus der Hosentasche.

«Meinen Sie wirklich?» Ich hob den Kopf in dem Versuch, den Schaden zu begutachten, nahm meine Umgebung aber nur wie durch einen Schleier wahr. Ich ließ den Kopf wieder auf den Kies sinken und spürte Angst in mir aufsteigen.

«Den ärztlichen Notdienst, bitte», hörte ich Alexander sagen.

Ich blinzelte einmal, dann noch einmal. Übelkeit stieg in mir hoch. Es war offensichtlich, dass ich mich lieber nicht mehr bewegen sollte. Ich konnte mich ohnehin nicht von der Stelle rühren – mein Körper war starr vor Schreck.

«Hallo? Ich bin in Stratford, am Kanal. Hier ist eine Joggerin

Er schob das Handy wieder in die Hosentasche. Ich erinnerte mich dunkel an den Erste-Hilfe-Kurs, den ich in der Schule absolviert hatte. War es nicht besser, am Telefon zu bleiben, wenn man einen Krankenwagen rief?

«Es kommt bald jemand», sagte Alexander.

Er wirkte nervös. Vermutlich war er in Eile. Er hatte mich nicht kommen hören, wie er so vorhin mit seinen großen schwarzen Kopfhörern den Pfad entlanggehastet war.

«Wie fühlen Sie sich?»

Heiße Tränen stiegen mir in die Augen.

«Es tut scheußlich weh.»

«Wie gesagt, der Krankenwagen ist unterwegs.» Er sah zu mir hinunter, die Augen wegen der Morgensonne leicht zusammengekniffen. Sein Schatten fiel auf meinen Körper. «Halten Sie durch. Es dauert bestimmt nicht lang.»

Ich registrierte seine Worte wie in Trance, benommen von den Schmerzen. In meine Angst mischten sich immer wieder ganz banale Gedanken: Ob Dougie wohl schon aufgewacht war? Wann würde er merken, dass etwas passiert war? Sollte ich mein Date absagen? Und warum zum Teufel hatte ich mein Handy zu Hause gelassen?

Alexander ging neben mir in die Hocke, den Blick auf mein Bein geheftet. Seine Miene war besorgt, die Lippen bildeten eine schmale Linie. Ich spürte meinen rechten Fuß nicht mehr. Mit flackernden Lidern versuchte ich, gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen.

«Das wird schon wieder. Der Krankenwagen ist gleich da.»

«Ich weiß; sie hat es mir geschrieben», murmelte er. «Ich bin unterwegs.»

Er legte auf und erhob sich, drückte auf dem Display herum.

«Hören Sie, Heidi, es tut mir leid, aber ich muss jetzt los», sagte er mit einem Blick auf die Uhr.

«Was?» Ich hob mühsam den Kopf und sah zu ihm hoch. Ich war überzeugt, ich hätte mich verhört.

Alexander begann, neben mir auf und ab zu gehen. Bei jedem seiner Schritte wirbelte Staub vom Kiesweg auf.

«Ich muss los», wiederholte er. Es klang gequält. «Es tut mir wirklich leid.»

Er hielt noch immer sein Mobiltelefon in der Hand, warf alle paar Sekunden einen Blick darauf. Es piepste mehrmals rasch hintereinander, als würde ihn jemand förmlich mit Nachrichten bombardieren. Mit jedem Piepsen wurden seine Bewegungen noch fahriger. Wieder tippte er auf dem Display herum.

«Warum?»

Keine Antwort. Seine Aufmerksamkeit galt ganz dem Handy. Panik erfasste mich. Er wollte mich doch nicht ernsthaft allein hier liegen lassen? Er musste warten, bis der Krankenwagen da war!

«Bitte, gehen Sie nicht», flehte ich mit heiserer Stimme.

Jetzt konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie liefen mir über die Wangen und tropften mir ins Haar. Seine Gesichtszüge verschwammen.

«Sie müssen bei mir bleiben!»

Wie konnte er nur so rücksichtslos sein?

«Das geht nicht. Bitte verstehen Sie doch, ich muss zum Zug …»

Ich nahm all meine Kraft zusammen und versuchte ein letztes

«Kann ich helfen?»

Eine andere Stimme, hoch und gepresst, doch ich hörte nicht mehr, was sie noch sagte. Alles um mich herum war unscharf. Ein in Schwarz gehüllter verschwommener Fleck schob sich in mein Blickfeld.

Das Letzte, woran ich mich später erinnerte, war Alexander, der sich noch einmal zur mir umdrehte, ehe er losrannte. In seiner Miene spiegelten sich Unschlüssigkeit und ein bedauerndes, bekümmertes Lächeln. Er hatte versucht, meinen Sturz zu verhindern. Und war gescheitert.

Gefühlte zwei Stunden später erwachte ich in einem Krankenhausbett, das mittels bodenlanger blauer Vorhänge vor neugierigen Blicken abgeschirmt wurde. Wände und Decke waren in nüchternem Weiß gestrichen. Irgendetwas piepste in einem fort, ein hohes, durchdringendes Geräusch. In meinen Nasenlöchern steckten zwei harte Schläuche. Dann registrierte ich die Schmerzen. Ich begann zu schreien.

«Ganz ruhig», murmelte eine mir unbekannte Stimme. Vor mir tauchte ein verschwommenes Gesicht auf. «Es wird gleich besser, versprochen.» Ich spürte etwas Warmes, das sich, vom Handgelenk ausgehend, einen Weg durch meinen Arm bahnte, und verlor erneut das Bewusstsein.

In meinen Ohren summte es. Ich schwankte, wie auf schwerer See. Auf und ab, auf und ab. Eine erlösende Taubheit legte sich über meine Sinne. Vor mir ein nächtlicher Himmel, an dem rosarote Sterne funkelten. Ich war eingehüllt in rot getönte Nebelschwaden, gefangen zwischen den Welten, stets in Bewegung, schwebend, aber nicht auf unangenehme Art und Weise.

«Wo bin ich?», fragte ich. War ich allein? Konnte mich jemand hören? Ich versuchte, die Augen zu öffnen, spürte das heftige Pochen meines Herzens.

«Heidi?»

Stimmen, die meinen Namen sagten, nachdrücklich, beharrlich. Waren sie real, oder existierten sie nur in meiner Phantasie? Schwer zu sagen. Ich schüttelte den Kopf, wollte sie nicht hören.

«Heidi, kannst du uns hören?»

«Sie ist total weggetreten.»

Hände auf meinen Schultern. Der Raum schrumpfte, bizarre Gesichter tauchten auf; das Hochgefühl wich jähem Entsetzen. Eine furchteinflößende, Grimassen schneidende Fratze in den Bettlaken, dann weitere, an der Wand, in den Vorhängen, in der Uhr, zwischen den Neonröhren an der Decke. Sie grinsten mit weit aufgerissenen Mündern und bedrohlichen Blicken, kamen näher, immer näher. Sie würden mich ersticken! Die Wände rückten an mein Bett heran. Ich versuchte zu schreien, doch ein bleischwerer Druck auf der Brust hinderte mich daran. Ich bekam keine Luft.

«Die Herzfrequenz sinkt.»

«Atme, Heidi!»

Ein energisches Klopfen knapp unterhalb des Schlüsselbeins. Ich schnappte nach Luft, ein schauderhaftes Röcheln. Dann ein anderes Gesicht: das eines Mannes, eines Krankenpflegers. Ein gütiges Gesicht mit dunklen Augen.

«Komm schon, atme!»

Sauerstoff füllte meine Lungen. Der rosa Nebel lichtete sich.

«Heidi?» Die Stimme meines Vaters, kaum mehr als ein Flüstern.

Ich streckte die Hand nach ihm aus und bemerkte dabei eine Reihe von Schläuchen an der Innenseite meines rechten Handgelenks. Ein stechender Schmerz schoss durch meinen Arm.

«Ist sie über den Berg?», fragte er, die wettergegerbte Haut seiner Stirn in tiefe Falten gelegt, sodass sich die Brauen in der Mitte beinahe berührten. Als Kinder hatten meine Schwester und ich uns oft ausgemalt, sie wären behaarte Raupen.

«Gott sei Dank», sagte meine Mutter. «Ihre Atmung war so flach. Ich dachte schon, sie … Ach, man weiß gar nicht, was man denken soll.»

«Das war bloß der Schock», beruhigte Joaquim sie. «Sie wird jetzt sehr müde sein, aber das Schlimmste hat sie hinter sich. Wir wissen nie genau, wie die Patienten auf Ketamin reagieren. Es ist das stärkste Analgetikum, das wir haben, und manchmal hat es diese Wirkung.»

«Pferde-Beruhigungsmittel», murmelte ich. Ein paar Leute aus meiner Schauspielschulen-Clique hatten Ketamin genommen. Mich hatte es zugegebenermaßen ebenfalls gereizt. Jetzt zitterte ich wie Espenlaub, und eine schwarze Wolke des Verderbens hüllte alles ein.

«Stimmt, es kommt auch in der Tiermedizin zum Einsatz», sagte Joaquim.

«Es ist der Horror … für die Pferde.» Jedes Wort kostete mich Mühe. Mein Mund war trocken, mein Kopf kippte auf dem klumpigen Kissen immer wieder zur Seite, wie der einer Puppe. Die ganze Szene hatte etwas Unwirkliches.

«Sch-sch, Liebes», flüsterte Mum. Sie trug ein zerknittertes blaues Leinenkleid und darüber einen korallenroten Cardigan, der nicht dazu passte. Ihr langes graues Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie musste überstürzt von zu Hause aufgebrochen sein – unter normalen Umständen hätte sie sich niemals so in die Öffentlichkeit gewagt.

«Weißt du, wo du bist, Heidi?», fragte Dad. Seine Augen waren rot und verquollen, die dunklen Ringe darunter zeugten von

«Im Krankenhaus», sagte ich.

So viel war klar. An der Wand hing eine Uhr. Ich versuchte vergeblich, die Ziffern der Digitalanzeige zu erkennen, ich sah alles verschwommen. Mein Bett stand am Fenster. Die Londoner Skyline hob sich dunkel von der dichten grauen Wolkendecke ab, hinter der sich die Sonne verbarg. Wie spät mochte es sein?

«Ganz recht», sagte Dad. Seine Stimme klang leise, gedämpft. Der gestandene Mann, als den ich ihn kannte, war in sich zusammengefallen, unter der verschlissenen Strickjacke zeichneten sich knubbelig die hängenden Schultern ab. «Du … Nun, du hattest einen Unfall.»

«Ich bin gestürzt.»

Er nickte mit bekümmerter Miene. «Genau.»

«Auf einem ebenen Spazierweg!», schniefte Mum unter Tränen. «Das ist alles so absurd. Es ist wirklich nicht zu fassen. Das hat sie nicht verdient, Tim.» Sie barg das Gesicht an seiner Brust, und er strich ihr behutsam übers Haar.

«Ich weiß, Liebes», murmelte er. «Glaub mir, wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen.»

Eine schemenhafte Erinnerung geisterte mir durch den Kopf. Der Pfad, der Sturz, der sich entfernende Mann.

«Mein Date …», stöhnte ich. Das konnte ich mir jetzt definitiv abschminken.

«Diese totale Hilflosigkeit … Es ist einfach grauenhaft», sagte Dad, zu Mum gewandt. Ihre Tränen hatten einen nassen Fleck auf seiner Jacke hinterlassen. «Ich würde ihr so gern helfen, Sandy. Ich würde alles für sie tun. Alles.» Sie klammerten sich aneinander.

Ich war verwirrt. Warum lag ich im Krankenhaus? Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich statt meiner Sportklamotten ein

Joaquim beugte sich über mich und schlang mir etwas um den Oberarm. Seine goldene Halskette baumelte über meinem Kopf. Seine Unterarme waren haarig und gebräunt, die Armbanduhr hatte einen weißen Streifen am Handgelenk hinterlassen. Ein Gerät piepste, und die Manschette wurde enger. Panik machte sich in mir breit. Ich bekam keine Luft. Nein. Nein, nicht schon wieder! «Nicht!», schrie ich. «Aufhören!»

«Sch-sch. Das ist nur das Blutdruckmessgerät.» Sein Tonfall war sanft und bestimmt zugleich. «Es dauert nur eine Sekunde.»

Dann war es auch schon vorbei. Joaquim nahm mir die Manschette ab und fasste mir an die schweißnasse Stirn. Seine Hand fühlte sich kühl an. Ich wartete darauf, dass sich mein Puls wieder beruhigte.

«Keine Sorge, Heidi», sagte Dad. «Atme einfach ganz normal weiter.»

«Warum bin ich hier?», fragte ich. «Was ist mit mir?»

«Du bist auf der Intensivstation», erklärte Mum.

«Was? Warum das denn?» Das ergab alles keinen Sinn. Ich versuchte, mich aufzurichten, doch mir wurde sofort schwarz vor Augen. Ich sank wieder nach hinten.

«Wie sollen wir es ihr bloß beibringen?», sagte Mum.

Dad rieb sich die Augen. «Ich … Ich kann nicht … Ich weiß nicht … Es tut mir leid», stammelte er und barg das Gesicht in den Händen. Er beugte sich mit zuckenden Schultern auf seinem Plastikstuhl vornüber. Ich hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen.

Joaquim nickte und atmete einmal tief durch, die Lippen fest aufeinandergepresst.

«Heidi, Sie hatten einen sehr schweren Unfall», sagte er.

«Mein Bein … es tut so weh!» Ich versuchte vergeblich, mit den Zehen zu wackeln.

Dad schob seinen Stuhl näher ans Bett. «Du hast dir bei dem Sturz das Knie ausgerenkt», erklärte er leise. «Die Blutzufuhr zum Unterschenkel wurde unterbrochen.»

«Was?»

«Die Ärzte haben getan, was sie konnten», schluchzte Mum. «Du warst mehr als zwölf Stunden im OP

«Wir waren die ganze Zeit über hier», fügte Dad hinzu. «Wir haben gewartet und gewartet, und als sie dich endlich wieder rausgeschoben haben, da … Wir waren nicht darauf vorbereitet, dass …»

«Dass was? Ich verstehe kein Wort.» Ich versuchte, mich zu konzentrieren, aber sie redeten zu schnell; ich konnte ihnen nicht folgen. Wieder war mir, als würden die Wände und Vorhänge näher rücken.

«Die Chirurgen mussten rasch handeln», sagte Joaquim. «Dr. Rhys Jones ist einer der besten Gefäßchirurgen, die es gibt, Heidi. Er und sein Team haben getan, was in ihrer Macht stand, das können Sie mir glauben. Aber schlussendlich war das Risiko zu groß. Sie mussten es tun.»

Er deutete auf mein Bein. Wieder durchzuckten heftige Schmerzen meinen Körper. Unter Aufbringung all meiner Kraft hob ich den Kopf an, so weit es ging. Und da sah ich es.

Ich schnappte geschockt nach Luft. Warf einen Blick unter die Decke, ließ sie aber sogleich wieder fallen. Wenn ich nicht hinsah,

Denn dort, wo mein rechter Unterschenkel hätte sein sollen, lag die blaue Decke flach auf der Matratze.

 

Irgendwie war der Tag vergangen. Kleine rote und grüne Lämpchen blinkten und leuchteten im Halbdunkel der Station. Das beständige Surren und Piepsen der Geräte zeugte davon, dass hier nachts dieselbe hektische Betriebsamkeit herrschte wie tagsüber, es hatte lediglich jemand das Licht ausgeknipst. Neben mir schrie ein Mann nach Allah, seine Stimme brüchig vor Schmerz.

In dem Bestreben, die Qualen wenigstens eine Spur erträglicher zu machen, drückte ich ein ums andere Mal auf den Knopf, der die Morphinzufuhr steuerte. Er war mit einem Timer gekoppelt, um eine Überdosierung zu verhindern, das wusste ich; trotzdem suchte mein Daumen verzweifelt immer wieder den Knopf, drückte ihn so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.

Gelegentlich übermannte mich die Müdigkeit, und der erlösende Schlaf betäubte vorübergehend meine Sinne, doch sobald ich aufschreckte, erinnerte ich mich wieder an die entsetzliche Wirklichkeit. Ich war gefangen in einem Albtraum.

Jede Bewegung war eine Qual. Manchmal war ich überzeugt, ich könnte meinen rechten Fuß spüren, hatte das Gefühl, er müsse irgendwo dort unter dem kurzen, dicken Verband um den übriggebliebenen Stumpf verborgen sein. Ich glaubte sogar, mit den Zehen wackeln zu können. Die Nervenreize fühlten sich an, als wäre mir das Bein eingeschlafen; schmerzhafte kleine Stromschläge, unter denen sich mein gesamter Körper wand.

Plötzlich war mir heiß. Mein Kissen war nassgeschwitzt, durch meine Kopfhaut sickerten juckende Schweißtropfen nach außen. Eben hatte ich noch vor Kälte zitternd mit den Zähnen geklappert

«Heiß», krächzte ich. Die Frau im Bett gegenüber weinte. Ich konnte sie nicht sehen, aber ihr heiseres, kehliges Schluchzen hallte durch den Raum.

Ich hatte Angst, und ich war wütend – auf die ganze Welt, auf den Mann, der einfach abgehauen war, auf mich selbst. Ich hatte alles als selbstverständlich betrachtet. Wie oft hatte ich meine Beine geschunden, hatte meinen Füßen zu enge Schuhe zugemutet, die drückten und ihnen Blasen verursachten, hatte sie im Winter nicht ausreichend eingecremt, sodass die Haut an den Fersen ganz rissig wurde! Warum hatte ich mich nicht besser um sie gekümmert? Jetzt war es zu spät. Jetzt hatte ich nichts mehr zu melden; andere bestimmten, was mit meinem Körper geschah.

«Heiß», sagte ich erneut, lauter diesmal.

Die für mich zuständige Nachtschwester stellte den Ventilator an, der neben meinem Bett stand. Ich wandte das Gesicht zur Seite und genoss den kühlen Luftstrom, der über meine Haut strich und den Schweiß auf meiner Stirn trocknete. Das Wohlgefühl würde nur von kurzer Dauer sein, das wusste ich.

«Wir müssen Sie umlagern, Heidi», sagte sie.

Auf ihrem Namensschild stand «Natalia». Sie hatte einen makellosen dunklen Teint, und von ihrer Halskette baumelte ein winziges silbernes «N».

Ich konzentrierte mich ganz auf die Wanduhr. Der Digitalanzeige zufolge war es drei Uhr sechsundzwanzig. Ein Kribbeln ging

«Ich kann meinen Fuß spüren», sagte ich zu Natalia.

Sie nickte. «Ist normal. Phantomschmerzen. Okay, bereit? Drücken Sie noch einmal den Knopf, dann wir fangen an.»

Ich befolgte ihren Rat und spürte, wie das Morphin in meinen Arm sickerte. Inzwischen hatten sich zwei weitere Pflegerinnen hinzugesellt. Sie schoben die Hände unter mich, zählten bis drei und wälzten mich dann zu dritt behutsam auf die Seite. Ich brüllte – ich konnte nicht anders, ein animalischer Laut, der sich ohne mein Zutun einen Weg aus meinem tiefsten Inneren bahnte.

«Sch-sch, schon vorbei», beruhigte mich Natalia und stopfte mir ein paar Kissen unter den Rücken. Ihr weicher Akzent war wie kühles, fließendes Wasser.

Ich rang nach Luft, kämpfte gegen Übelkeit und Benommenheit an. Wieder und wieder drückte ich auf den Morphinknopf, frustriert, weil die Schmerzlinderung ausblieb. Natalia legte mir eine Hand auf die Stirn, strich mir ein paar feuchte lila Strähnen aus dem Gesicht.

Es kam mir so vor, als würde mich der Schmerz bis in alle Ewigkeit begleiten. Die Pflegerinnen verschwanden im Halbdunkel, um sich dem nächsten Patienten zuzuwenden. Der harte Beatmungsschlauch in meiner Nase drückte unangenehm.

Ich rief mir den Moment in Erinnerung, als ich meinen Fuß das letzte Mal gesehen hatte, die leuchtend rot lackierten Zehennägel, die von Flecken überzogene kalte Haut. Mit diesem Fuß hatte ich das Gehen gelernt. Ich war damit gerannt, hatte im Laufschritt Treppen erklommen, war über Strände ins kristallklare Wasser gesprintet. Dieser Fuß hatte Zehenringe getragen, Fußkettchen, war

Ich sah förmlich vor mir, wie die auf Hochtouren arbeitenden Nervenenden in meinem Bein verzweifelt Signale abfeuerten, darum bemüht, für die fehlende Gliedmaße zu kompensieren. Die Vorstellung erfüllte mich mit Traurigkeit. Tränen sickerten in mein Kopfkissen, salziger Beigeschmack all der Erinnerungen, die mir beinahe das Herz brachen. Selbst jetzt noch kämpfte mein Körper für mich, doch es war ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte.

Nach vier Tagen auf der Überwachungsstation wurde ich in die Unfallchirurgie verlegt. Eigentlich hätte ich nach der ununterbrochenen Betriebsamkeit der Intensivstation froh sein müssen, nun in einem Einzelzimmer zu liegen, aber ich war untröstlich. Die Verlegung warf mich völlig aus der Bahn, eine kleine Veränderung mit monumentalen psychologischen Auswirkungen, wie es schien. Natalia und die anderen Krankenpflegerinnen fehlten mir, und der Gedanke, dass sie sich bereits um eine andere Patientin kümmerten, betrübte mich zutiefst.

Meine Stirn war schweißnass, doch ich schauderte unter dem kalten Luftstrom des Deckenventilators, als würde ich gegen ein Fieber ankämpfen. Mein Stumpf war in einen riesigen Verband gehüllt, der gelbbraune Flecken hatte. Eine ekelerregende, penetrante Mischung aus Jod und Körpergeruch hing in der Luft. Ich zog mir die blaue Krankenhausdecke über die Nase. Die Wände meines Zimmers waren kahl und rissig, vollgesogen mit den Qualen der Patienten, die vor mir hier gelegen hatten.

«Hallöchen, meine Liebe!»

Uma, eine der Krankenpflegerinnen, stürmte herein und riss ohne Vorwarnung die Vorhänge auf. «Warum Sie liegen im Dunkeln? Draußen ist so schön!»

Gleißendes Sonnenlicht strömte ins Zimmer. Ich stöhnte und kniff die Augen zusammen. Mein Mund war trocken, in meinem Bein pochte der Schmerz. Von meinem Zimmer in der zwölften Etage blickte man auf einen anderen Krankenhaustrakt, endlose

«Nicht!», protestierte ich. Sie ignorierte es.

«Wie spät ist es?», fragte ich. Mir war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Nicht dass es von Bedeutung gewesen wäre. Nichts war mehr von Bedeutung.

«Besuchszeit!», zwitscherte sie. «Es ist jemand da, der Sie sehen möchte!»

«Was? Nein …»

Ich wollte keine Besucher, schon gar nicht heute. Wäre mein Leben nach Plan verlaufen, befände ich mich jetzt auf dem Weg zu einem Vorsprechen, zweifellos nervös ohne Ende. Ich hatte große Hoffnungen in dieses Vorsprechen gesetzt, mehr als in jedes andere seit dem Abschluss meiner Schauspielausbildung. «Wann kommst du denn jetzt endlich groß raus?», hatte man mich oft gefragt. Jade, die bei einer großen Agentur unter Vertrag stand, hatte bereits drei Werbespots fürs Fernsehen gedreht und mehrere weitere in der Pipeline. Jonno spielte in Ealing in dem Stück Ein Inspektor kommt mit, und Emily tourte mit dem Musical Starlight Express durch Großbritannien. Sie verdankte das Engagement nicht zuletzt der Tatsache, dass sie Rollschuh laufen konnte. Nach unzähligen ergebnislosen Versuchen hatte ich diesmal ein richtig gutes Gefühl gehabt. Doch jetzt war die Chance vertan; all meine harte Arbeit, meine Vorbereitung umsonst. Der auswendig gelernte Text wurde von einer immer trostloseren Finsternis verschlungen.

«Ihre Schwester ist da!», verkündete Uma. «Sie wartet draußen. Ich hole sie.» Sie ging mir unheimlich auf die Nerven mit ihrer aufgesetzten Fröhlichkeit und ihrer hohen Stimme.

«Nein, Uma, ich will nieman…»

Doch Uma war bereits zur Tür hinaus.

 

Jenny deponierte Taschen und Tüten sowie einen kamelbraunen Mantel auf einem Plastikstuhl und drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. Dann rümpfte sie die spitze Nase.

«Puh, du hast heute wohl noch nicht geduscht, wie?»

Ich schüttelte den Kopf.

«Ts, ts.» Jenny griff nach meinem Kosmetikbeutel, der auf dem Nachttisch stand, und warf ihn mir hin. Er landete unsanft auf meinem Bauch.

«Dann benutz mir zuliebe wenigstens ein bisschen Deo, ja?»

Ich kam der Aufforderung widerstrebend nach. Es war einfacher, Jenny nicht zu widersprechen.

«Mummy, was ist das?» Evie deutete auf den Desinfektionsmittelspender neben der Tür.

«Damit macht man sich die Hände sauber, Schätzchen», erklärte Jenny. «Das können wir dann nachher tun, wenn wir nach Hause gehen.» Sie wandte sich zu mir um. «Mark ist leider auf einer Konferenz, und die Nachmittagsbetreuung der Schule ist heute ausgefallen, weil Mrs Mayhew mit ihrer Katze wegen eines Notfalls zur Tierärztin musste. Mir blieb also nichts anderes übrig, als Evie mitzubringen.»

Sie stellte eine Canvas-Umhängetasche vor mir auf die Decke. «Hier, ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht, von denen ich dachte, du könntest sie brauchen.»

«Danke, Jenny.»

Ich spähte hinein. Hm. Erfrischungstücher, Handcreme, kühlendes Hautspray, ein Lipgloss mit Kirschgeschmack und ein paar

«Ein gutes Achtsamkeitstraining», bemerkte Jenny. «Der neueste Wellness-Trend.» Sie machte eine ausladende Geste mit der Hand, und der Diamant ihres Verlobungsringes funkelte im Sonnenlicht.

«Okay …» Ich klappte das Buch zu und legte es zusammen mit den Stiften auf den Nachttisch. Für kreative Betätigung jedweder Art fehlte mir seit jeher die nötige Geduld. In der Schule hatte ich für den Kunstunterricht mal ein T-Shirt gekauft, das Schild herausgeschnitten und es mit Batikfarben bunt eingefärbt, wofür ich wundersamerweise eine Eins bekommen hatte – vermutlich nur deshalb, weil Miss Grayson, meine Lehrerin, vollauf mit ihrer alles andere als geheimen Affäre mit Werklehrer Mr Single (so hieß er tatsächlich) beschäftigt gewesen war.

«Na, gefallen dir deine Geschenke, Heidi?», fragte Jenny. Es klang, als würde sie mit einem Kind reden. Ich nickte. Meine Knochen schmerzten vor Erschöpfung. Sie sah zu ihrer Tochter, die sich mit ihren Puppen im Schneidersitz auf dem Fußboden niedergelassen hatte. «Die haben wir gemeinsam ausgesucht, nicht, Evie?»

Die Kleine antwortete nicht.

«Lass gut sein, Jenny. Sie muss nicht …»

«Evie, komm her und begrüß deine Tante», befahl Jenny in einem strengen Lehrerinnentonfall, den ich nur zu gut kannte.

Meine Nichte rappelte sich auf und näherte sich vorsichtig, die Barbiepuppen wie eine Waffe vor sich hertragend.

Sie wirkte etwas derangiert, wie immer, wenn sie aus der Schule kam; einer ihrer Kniestrümpfe hing auf Halbmast, ebenso wie

«Hi, Evie», sagte ich.

Erst sah sie mich nicht an. Ihr Blick irrte hierhin und dorthin, huschte über die nüchterne Umgebung, die Plastikstühle, den gelben Kanülenabwurfbehälter und wanderte schließlich zu meinem Bein. Es dauerte einen Moment, bis ihr aufging, was Sache war. Sie schob die Unterlippe vor und wich hastig ein paar Schritte nach hinten, ihr kleines Gesicht blass, ihre Miene bestürzt. Ihre erschütterte Reaktion versetzte mir einen heftigen Stich.

«Hab keine Angst, Evie», sagte ich, so sanft es ging. «Ich bin’s bloß, Auntie Heidi.» Doch meine Nichte schmiegte sich an ihre Mutter, die Augen vor Entsetzen weit aufgerissen.

«Ich hab Angst, Mummy», flüsterte sie vernehmlich.

Das Zittern ihrer Stimme ging mir durch Mark und Bein. Ich war ein Monster.

«Aber nicht doch, Schätzchen», beschwichtigte meine Schwester die Kleine. «Ich hab dir doch erzählt, dass Auntie Heidi einen schlimmen Unfall hatte, weißt du nicht mehr? Wir müssen nett zu ihr sein.»

«Aber es sieht gruselig aus, Mummy.» Eine zarte Röte überzog ihre Wangen. Es hatte den Anschein, als könnte sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. «Und es riecht so komisch hier. Ich will nach Hause.»

Jenny warf mir einen entschuldigenden Blick zu. Ihre sachliche Miene war wie weggewischt. Ich umklammerte die Bettdecke, bis

«Sie meint es nicht so, Heidi», murmelte Jenny. «Sie versteht es noch nicht.»

«Schon klar. Mir macht es ja auch Angst», krächzte ich zutiefst verstört.

Die Tür flog auf, und Uma trat ein.

«Ihre Tabletten», rief sie und knallte einen kleinen Pappbecher auf meinen Nachttisch. Ihr Blick blieb an dem Tablett hängen, auf dem mein Mittagessen stand – eine Banane mit braun gefleckter Schale und ein Thunfisch-Sandwich, von dem ich zwei Mal abgebissen hatte. «Sie müssen etwas essen», schalt sie mich.

«Mir ist nicht danach.»

«Ach, kommen Sie, Sonnenschein.» Uma drehte sich zu Jenny um. «Seien Sie so gut und sagen Sie Ihrer Schwester, dass sie mehr essen muss.»

«Sie hat recht, Heidi», sagte Jenny ernst. «Du musst doch wieder zu Kräften kommen.»

Uma nickte zufrieden, nun, da sie Rückendeckung bekommen hatte. «Hören Sie auf Ihre Schwester, Heidi», forderte sie. «Und Kopf hoch, ja?»

Ich ballte die Fäuste um den Saum der Decke. Diese Frau hatte vielleicht Nerven! Sollte ich vielleicht fröhlich sein, wenn mein gesamtes Leben in Scherben lag? Am liebsten hätte ich dieser unsensiblen Kuh einen Kinnhaken verpasst.

«Heidi …», murmelte Jenny, der meine Empörung nicht verborgen geblieben war. Ich war seit jeher die Hitzköpfigere von uns beiden gewesen, diejenige, die auf dem Schulhof auch mal handgreiflich geworden war und bei der verbale Auseinandersetzungen auch sonst nicht selten in einer Rauferei geendet hatten. Inzwischen hatte ich mich deutlich besser im Griff, aber jetzt flackerte ein

«So, Zeit fürs Fieber- und Blutdruckmessen», flötete Uma und schwang das Thermometer. Die Sohlen ihrer weißen Gummi-Clogs quietschten, als sie erneut zum Bett trat.

«Mummy, was macht die Frau da?», fragte Evie leise. Jenny sah von ihrer verängstigten Tochter zu mir, und wir nickten uns kaum merklich zu.

«Wie wär’s, wenn wir uns mal eben etwas aus dem Café holen, Evie?», schlug sie vor. Die Miene ihrer Tochter erhellte sich schlagartig.

«Gibt es da Schokolade?», fragte sie hoffnungsvoll.

«Schätze schon.»

«Okay.» Evie hopste zur Tür, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.

 

Kaum waren sie draußen, schob mir Uma unsanft das Thermometer ins Ohr. Ich verzog das Gesicht, doch verglichen mit meinem seelischen Kummer war der Schmerz nicht der Rede wert. Der Anblick von Evies entsetzter Miene würde mich noch lange verfolgen.

«Kein Fieber», sagte Uma zufrieden. «So, jetzt noch der Blutdruck …» Das Messgerät gab wie üblich fünf Piepstöne in Folge von sich, als sie es einschaltete. Mittlerweile hatte sich der Klang in mein Hirn eingebrannt. Ich streckte wie ferngesteuert den Arm aus, spürte, wie sich die Manschette mit Luft füllte.

«Oh», sagte Uma nach vollendeter Messung. «Blutdruck ist zu niedrig.» Sie nahm das Klemmbrett vom Fußende meines Bettes zur Hand und notierte etwas in der Krankenakte. «Sie müssen mehr trinken.»

«Trinken Sie großes Glas Wasser, ja, Sonnenschein?», sagte Uma unbeirrt.

Ihre gute Laune wirkte kein bisschen ansteckend auf mich, im Gegenteil. Ich hatte es satt, nett zu Krankenschwestern zu sein, die mich schier in den Wahnsinn trieben. Ich hatte alles satt.

«Bitte, gehen Sie einfach», sagte ich, um einen ruhigen Ton bemüht, obwohl ich innerlich tobte vor Wut.

«Was?»

«Verlassen Sie mein Zimmer.» Erneut atmete ich tief durch. «Bitte», fügte ich leise hinzu. «Ich möchte allein sein.»

«Okay …» Uma hob die Hände und machte sich verunsichert vom Acker. «Ich bete für Sie.»

Die Tür schloss sich hinter ihr.

Ich zog mir die Decke über den Kopf. Die Luft darunter roch muffig und abgestanden, eine selbsterschaffene Gruft. Ich zitterte am ganzen Körper. Überwältigt von Angst und Aussichtslosigkeit, begann ich zu schluchzen.

Ich sah Dougie auf den ersten Blick an, dass ihm Jenny von meinem Gefühlsausbruch erzählt hatte. Sein Benehmen wirkte gezwungen positiv, seine Intonation war ungewohnt melodisch, sein Lächeln ein klein wenig zu breit.

«Da bist du ja», sagte er.

Der Duft von Issey Miyake und Kaffee stieg mir in die Nase, als er sich zu mir runterbeugte, um mich zu umarmen. Dougie ist ein Hüne, über eins achtzig groß und breitschultrig, mit markanten Zügen und langen, meist im Nacken zusammengebundenen Dreadlocks. Wie immer am Ende des Arbeitstages hatte er die obersten zwei Hemdknöpfe geöffnet und die Ärmel hochgekrempelt. Aus der Brusttasche lugte eine royalblaue Krawatte. Hätte er eine Wahl, würde er wohl ausschließlich in Sportklamotten rumlaufen – er besaß massenhaft eng geschnittene Trainingshosen, Kapuzenwesten und T-Shirts mit Markenaufdruck –, doch als IT-Berater für ein Finanzdienstleistungsunternehmen in Canary Wharf musste er sich an den klassischen Business-Dresscode halten. Ich spähte zum Fenster. War es bereits Abend? Tatsächlich, draußen wurde es schon finster, der Himmel war von einem düsteren Orangerot. Ich blinzelte, versuchte, mich wieder an das kalte Krankenhausneonlicht zu gewöhnen, das mir in den Augen schmerzte.

«Jenny hat dich angerufen, stimmt’s?», fragte ich und seufzte. Ich war völlig erschöpft nach der kleinen Auseinandersetzung mit Uma vorhin und meinem darauffolgenden Heulkrampf. Inzwischen fühlten sich meine Tränendrüsen wie ausgedörrt an.

«Hier ist jeder Tag ein schlechter Tag, Dougie.»

«Ich weiß.» Der Blick seiner großen schwarzbraunen Augen war ernst. «Was dir passiert ist, das ist … es ist grauenvoll, Heidi. Es ist scheiße und unfair, und wenn du mich fragst, hast du jedes Recht, sauer zu sein.»

«Danke, Dougie.» Mein Blick wanderte von seinem zerknitterten Hemd zu den dunklen Ringen unter seinen Augen. Er sah so fertig aus, wie ich mich fühlte.

Seine Pranken hielten eine große Plastiktüte umklammert. «Ich hab dir etwas mitgebracht. Tut mir leid, dass es nicht verpackt ist. Ich wollte noch Geschenkpapier kaufen, aber irgendwie ist mir die Zeit davongelaufen.»

«Schon gut.»

Ich zwang mich zu einem Lächeln. Dougie Oyinola ist einer der zerstreutesten Menschen, die mir je begegnet sind. Seit wir uns kennen, hat er schon unzählige Male seinen Geldbeutel, sein Handy oder seinen Schlüsselbund verloren. Wir scherzen sogar bisweilen, dass wir unsere Freundschaft nur seiner Vergesslichkeit verdanken: An unserem ersten Tag an der Grundschule hatte er nämlich seine Malkreiden im Auto seiner Mum liegen lassen und war deswegen am Boden zerstört gewesen. Also hatte ich ihm meine geliehen. Wir hatten den ganzen Nachmittag miteinander gemalt und bei der Gelegenheit beschlossen, beste Freunde zu werden. Erstaunlicherweise hatte unser Pakt gehalten. Zwar trennten sich an der Oberschule unsere Wege, und wir haben an verschiedenen Universitäten studiert, aber wir hatten in all den Jahren tagtäglich Kontakt. Schließlich und endlich waren wir, angelockt von den Lichtern der Großstadt, nach London gezogen und hatten

«Ich hoffe, es gefällt dir», sagte er. Seiner imposanten Statur zum Trotz war er seit jeher ein sanfter Riese gewesen; schüchtern, sensibel und einfühlsam.

Ich griff in die Tüte und brachte eine große graue Decke zum Vorschein. Meine Finger strichen über den weichen Plüsch. Ein wunderbar tröstliches Gefühl.

«Die ist der Hammer, Dougie.»

«Hal meinte ja, ich soll dir eine von diesen schicken handgewebten Decken im marokkanischen Design besorgen, aber … na ja, ich dachte, du brauchst jetzt etwas Kuscheliges.»

«Typisch Hal.»

Hal ist zehn Jahre älter als Dougie und arbeitet als Finanzberater in derselben Firma. Kennengelernt haben sich die beiden, als Dougie eines Tages aus seinem IT-Kabuff im Keller zu Hal ins Büro bestellt wurde, um Hals Computer zu reparieren. Wie sich herausstellen sollte, hatte Hal lediglich ein paar Kabel ausgesteckt, damit er einen Vorwand hatte, um sich mit Dougie auf einen Drink zu verabreden. Damit ist im Grunde auch schon alles über Hal Wesley-Fogg gesagt. Er ist so selbstbewusst, dass es schon beinahe lächerlich wirkt, und er würde alles tun, um zu bekommen, was er will – ein Wesenszug, den ich persönlich äußerst unsympathisch finde. Die beiden sind erst ein halbes Jahr zusammen, trotzdem hat Dougie kürzlich eingewilligt, zu Hal und seiner Ragdoll-Katze namens Princess Diana in eine Eigentumswohnung in Canary Wharf zu ziehen. Mir hatte schon vorher gegraut bei der Vorstellung, allein in unserer gemütlichen, wenn auch chaotisch-unaufgeräumten Mietwohnung zurückzubleiben, und jetzt wurde mir bei dem

«Freut mich, dass sie dir gefällt», sagte er.

Ich lächelte matt.

«Sie ist definitiv schöner als diese hässlichen blauen Dinger.» Er deutete auf die Krankenhausdecke, die über meinem Bett ausgebreitet war. «Ich dachte … Nun, ich wollte einfach dafür sorgen, dass diese ganze Erfahrung für dich ein klein wenig erträglicher wird. Es muss echt die Hölle sein, den ganzen Tag dieselben vier Wände anzustarren.» Er sah sich in meinem kleinen Zimmer um. Der einzig persönliche Touch waren die Genesungskarten, die Mum auf dem Fensterbrett aufgereiht hatte. Es wurden täglich mehr. Die Krankenschwestern warfen sie immer wieder runter, und nicht immer hoben sie sie auch wieder auf. Dougie gab einen leisen Pfiff von sich.

«Da ist ja jemand ganz schön beliebt.» Er zeigte auf die größte Karte, auf der ein bekümmert dreinblickendes Zeichentrickhündchen abgebildet war. Darunter stand: «Komm bald wieder auf die Pfoten!» Ziemlich unpassend, da waren Jenny und ich uns einig gewesen.

«Von wem ist denn die große Karte?»

«Von der Bar-Clique.»

Ich hatte vor mehr als zwei Jahren angefangen, in einem Lokal mit dem vielsagenden Namen «Bar Conscience» (was so viel wie «bewusstlos» oder «gewissenlos» bedeutet) zu jobben. Erst war es nur eine Zwischenlösung gewesen, damit ein bisschen Geld reinkam, bis ich den Durchbruch geschafft hatte, aber mittlerweile hatte ich dort quasi eine Vollzeitstelle. Berühmt war ich noch immer nicht, aber dafür hatte ich tolle neue Freunde dazugewonnen. Sie waren an die Stelle meiner Kolleginnen und Kollegen von der Schauspielschule getreten, von denen sich die meisten kaum noch

Alle hatten sich auf der Karte verewigt, teils mit total übertriebenen, deplatzierten Kommentaren: «Freu mich schon auf die nächsten Sambuca-Exzesse mit dir!», hatte Ally, das Partygirl, geschrieben, und die knallharte Caitlin hatte freundlich wie immer «Sieh zu, dass du deinen faulen Hintern möglichst bald wieder hinter den Tresen schiebst!» daruntergekritzelt. Die sensible Laura dagegen hatte «Ich muss jedes Mal heulen, wenn ich an das denke, was dir passiert ist – halt die Ohren steif!» geschrieben.

Beim Anblick von Ben Gradys verschnörkelten Hieroglyphen in einer Ecke hatte mein Herz einen Takt ausgesetzt. «Kopf hoch, Jackson» stand da neben einem zwinkernden Smiley, unterzeichnet hatte er mit «B.» und xx. Zwei Küsschen. Ben war ein australischer Cocktail-Experte mit gemeißelten Gesichtszügen und einem schelmischen Funkeln in den Augen. Wir hatten eine Zeitlang eine sehr unverbindliche Affäre gehabt; im Grunde eine reine Bettgeschichte, von der selbst Dougie herzlich wenig hielt. Ben war ein notorischer Weiberheld mit einem durch und durch zweidimensionalen Charme, und das war mir auch bewusst. Ich ließ mich bloß immer wieder mit ihm ein, weil ansonsten gähnende Leere in meinem Liebesleben herrschte. Okay, und weil er obendrein umwerfend gut aussah.

Der Karte zum Trotz hatte noch keiner der vier Anstalten gemacht, mich zu besuchen. Ich war enttäuscht und zugleich froh darüber – ich wollte nicht, dass sie mich in diesem Zustand sahen,

«Hör mal, Heidi», sagte Dougie, «auf dem Weg hierher hatte ich eine Idee: Wie wär’s mit einem kleinen Ausflug in das Café im Erdgeschoss?»

«Was?» Drainage und Katheter war ich zwar inzwischen los, aber ich machte nach wie häufig Gebrauch von meinem Morphinknopf. Ich betrachtete die Schläuche in meinem Handgelenk. Im Moment war ich nicht an das Gerät angeschlossen, aber bei der Vorstellung, mein Schmerzmittel bei Bedarf nicht sofort zur Hand zu haben, flackerte Panik in mir auf. «Jetzt gleich, meinst du?»

«Was du heute kannst besorgen …»