Die in diesem Buch zusammengestellten Informationen über Möglichkeiten der Migränetherapie ersetzen in keinem Fall das Gespräch mit dem Arzt Ihrer Wahl. Der Verlag warnt vor Selbstbehandlungsversuchen.
Die Originalausgabe erschien 1992 im Verlag University of California Press, Berkeley/Los Angeles/Oxford unter dem Titel «Migraine: Revised and Expanded».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg bei Reinbek, April 2019
Copyright © 1994 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg bei Reinbek
«Migraine» Copyright © 1992 by Oliver Sacks
All rights reserved
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Hamburg
Umschlagabbildung Heidi Sorg
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen
ISBN Printausgabe 978-3-499-19963-9 (11. Auflage 2015)
ISBN E-Book 978-3-644-00093-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00093-3
Im ‹Oxford English Dictionary› finden wir eine erschöpfende Liste dieser Transliterationen und ihres Gebrauchs. Ein Bruchteil davon sei hier zitiert: «Mygrane, Megryne, Migrane, Mygrame, Migrame, Migrym, Myegrym, Midgrame, Midgramme, Mygrim, Magryme, Maigram, Mcigryme, Megrym, Megrome, Meagrim …»
Im Englischen verwendete man diese Bezeichnungen offenbar zum erstenmal im vierzehnten Jahrhundert: «the mygrame and other euyll passyons of the head». Die französische Bezeichnung «migraine» war bereits ein Jahrhundert zuvor gebräuchlich.
Die visuellen Auren der Migräne bezeichnete man im allgemeinen (wie andere elementare optische Halluzinationen auch) als suffusio (von lat. suffundere = sich ergießen, sich ausbreiten) und unterschied sie voneinander mit Hilfe eines spezifischen deskriptiven Zusatzes: Suffusio dimidans, Suffusio scintillans, Suffusio scotoma, Suffusio objecta emarginans etc.
Eine Variante der humoralpathologischen Theorie ordnet die Migräne dem cholerischen Temperament und griesgrämigen Stimmungen zu. Alexander Pope (selbst an einer hartnäckigen Migräne leidend) hat diese Vorstellung in seiner Beschreibung des «Cave of Spleen» bewahrt: «There screen'd in shades from day's detested glare,/Spleen sighs for ever on her pensive bed,/Pain at her side, and megrim at her head.»
Ein seltenes Migräneprodrom ist die Bulimie, die Willis bei einer anderen Patientin beobachtete: «Am Tag vor einem spontanen Anfall dieser Krankheit wurde sie abends sehr hungrig und nahm mit großem, ich möchte sagen, gierigem Appetit ein überreiches Mahl ein; sie kannte dieses Zeichen und prophezeite, daß sich mit hoher Wahrscheinlichkeit am nächsten Morgen die Kopfschmerzen einstellen würden, und sie irrte in keinem einzigen Fall.»
An anderer Stelle (‹De morbis convulsivis›, 1670) schreibt Willis: «Quod si explosionis vocabulum, in Philosophia ac Medicina insolitum, cuipiam minus arrideat; proinde ut palhologia … huic basi innitens, tantum ignoti per ignotius explicatio videatur; facile erat istius modi effectus, circa res tum naturales, tum artificiales, instantias et exempla quamplurima proffere; ex quorum analogia in corpore motuum in corpore animato, tum regulariter, tum … peractorum, rationes aptissimae desumuntur.»
Die ältere Literatur enthält einige bemerkenswerte Beispiele von rasenden, den Schädel förmlich zersprengenden Kopfschmerzen, So schreibt etwa Tissot (1790) in seiner Abhandlung: «C. Pison [ein Arzt] litt selbst unter so heftigen Migräneattacken, daß er glaubte, seine Schädelnähte zerplatzten … Stalpart van der Viel sah die Schädelnähte während einer Migräneattacke der Gärtnersfrau tatsächlich zerplatzen …»
Das «Alptraum»-Lied in der Operette ‹Jolanthe› von Gilbert und Sullivan beschreibt gar keinen Alptraum, sondern ein Migränedelir (elf weitere Migränesymptome werden in dem Lied erwähnt). «Dein Schlummer ist voll von solch schrecklichen Träumen, daß du besser erwachst», heißt es dort.
Eine meiner Patientinnen, eine intelligente Frau, berichtete mir durchaus glaubhaft, daß sie in solchen Phasen der Flüssigkeitsretention, die ihre gelegentlichen Migräneanfälle einzuleiten pflegten, einen seltsamen, fruchtigen Geruch entwickle. Leider trat während der sechs Monate, die ich sie behandelte, keine Attacke auf, so daß ich keine Gelegenheit hatte, der Beschaffenheit oder der Ursache dieses Geruchs auf den Grund zu gehen.
Diese Fragen stellten sich mir sehr eindringlich – und fanden eine recht überraschende Antwort –, als ich einen Patienten (Fall 12), einen berühmten Schriftsteller, über den Beginn seiner Migräneanfälle befragte. «Sie wollen die ganze Zeit von mir hören», sagte er, «daß die Anfälle mit diesem oder jenem Symptom, mit diesem oder jenem Phänomen beginnen, aber so erlebe ich es nicht. Es beginnt nicht mit einem Symptom, es beginnt als ein Ganzes. Man spürt von Anfang an, wenn auch erst kaum wahrnehmbar, das Ganze … Es ist so, als ob man plötzlich einen Punkt, einen vertrauten Punkt, am Horizont sieht, der langsam näher kommt und größer und größer wird: oder als entdeckte man von weit oben aus dem Flugzeug sein Reiseziel, das deutlicher und deutlicher wird, je mehr man durch die Wolken der Erde entgegensinkt.» – «Die Migräne braut sich zusammen, langsam und drohend», fügte er hinzu, «aber es ist nur eine gradweise Veränderung – alles ist von Anfang an da.»
Dieses allmähliche Hervortreten gewaltiger quantitativer Veränderungen vermittelt uns ein ganz anderes Bild von der, so könnte man sagen, Migränelandschaft; wir sehen sie in einem zeitlich-dynamischen Rahmen – dem der Chaostheorie – und nicht in dem statischen Rahmen der klassischen Schule.
Pawlow erwähnt die Häufigkeit, mit der ein Hund einen hypnoiden Zustand durchbricht, indem er etwas frißt. Der Akt des Fressens, oft gefolgt von Kratzen und Niesen, dient dem Hund dazu, aus seinem tranceartigen Zustand zu erwachen. Pawlow bezeichnete diese Reaktion daher als Selbstheilungsreflex.
Über die Geschichte und ursprüngliche Bedeutung des Begriffs schreibt Gowers: «Das Wort ‹Aura› hat als erster Pelops, der Lehrer Galens, verwendet, der beeindruckt war von dem Phänomen, mit dem viele Attacken einsetzen – eine Empfindung, die in der Hand oder im Fuß beginnt und offenbar aufsteigt bis in den Kopf. Die Empfindung wurde ihm von Patienten als ein «kalter Dampf› beschrieben, und er vertrat die Auffassung, es könnte sich tatsächlich um einen solchen handeln, und dieser Dampf, der, wie er zudem glaubte, Luft enthielt, bewege sich durch die Adern. Also nannte er ihn ‹lufthaltigen Dampf›.»
Diese Fallgeschichte verweist auf die spezifische Fähigkeit von Licht, unterschiedliche Formen von Migräne-Auren auszulösen. Wir werden uns in Kapitel 8 ausführlicher damit beschäftigen.
Hughlings Jackson merkt zur Neigung, in physiologisch abnormen Zuständen aus elementaren Halluzinationen sinnvolle Bilder zu machen, folgendes an: «Ein gesunder Mann sieht als Folge intraokularer Trübungen mouches volantes [(fliegende Mücken›], das heißt bewegliche Punkte und kleine Schleier vor seinen Augen. Aber nehmen wir an, sein normales Bewußtsein löst sich (wie im Delirium tremens) auf und diese Auflösung erreicht einen ersten Tiefpunkt: Jetzt sieht er Mäuse und Ratten. Grob gesprochen ‹verwandeln› sich die Mücken für ihn in diese Tiere.»
Im Hinblick auf zentrale negative Skotome schreibt Gowers: «So ein zentraler, vollkommen symmetrischer Verlust scheint unerklärlich, wenn man davon ausgeht, daß nur die Funktion einer Hemisphäre beeinträchtigt ist. Er läßt sich nur mit einer funktionellen, vollkommen symmetrischen Inhibition [beider Hemisphären] erklären.»
Nach Liliput, dem Land der Zwerge, verschlägt es Gulliver auf seiner ersten, nach Brobdingnag, dem Land der Riesen, auf seiner zweiten Reise. Anm. d. Red.
Eine sehr ausführliche persönliche Darstellung der Mosaik- und Filmillusion während einer schweren Migräneattacke findet sich in meinem Buch ‹Der Tag, an dem mein Bein fortging›, S. 105–114.
Kürzlich waren in einer Ausstellung mit dem Titel «Mosaic Vision» Bilder von Migränekranken zu sehen, die ihre visuellen Erlebnisse im Verlauf von Migräneattacken gemalt hatten. Das läßt zumindest vermuten, daß die Mosaikillusion während schwerer Migräne-Auren gar nicht so selten ist. Diesen Bildern ist, so scheint es, zu entnehmen, daß zunächst eine Art polygonales Gitterwerk das Gesichtsfeld zu Teilen oder ganz überzieht und sich erst danach das Bild selbst «polygonisiert». Das Zerbrechen von Zeit und Raum bei diesen sehr gravierenden Wahrnehmungsstörungen scheint Hand in Hand zu gehen mit dem Auftauchen von fraktionalen Dimensionen oder «Fraktalität» in den für Wahrnehmung zuständigen kortikalen Regionen (siehe Kapitel 17, «Migräne-Aura und halluzinatorische Konstanten»).
Eine besonders detaillierte Beschreibung komplexer optischer visueller Halluzinationen stammt von A. Klee (1968); leider wurde sie mir erst nach Beendigung dieses Buches zugänglich. Klee beschreibt viele Formen der im Verlauf von Migräne-Auren auftretenden Metamorphopsie: Verzerrung der Konturen, monokulare Diplopien, vermindertes Kontrastsehen (was gelegentlich zu Blindheit führt), Wellenförmigkeit der linearen Komponenten von Seheindrücken, Bildung konzentrischer Lichtstreifen (vgl. Abb. 5B) etc. Er verzeichnet auch Farbveränderungen in den visuellen Erscheinungen und exzentrische Versetzungen innerhalb des Gesichtsfeldes, die weder als Mikropsie noch als Makropsie zu fassen sind. Klassische – positive und negative – Skotome hat Klee relativ selten gefunden. Einfache und komplexe optische Halluzinationen, so beobachtet er, sind sehr viel häufiger diffus als unilateral verteilt. Das entspricht auch meiner Erfahrung, obwohl die meisten anderen Veröffentlichungen zum Thema Gegenteiliges besagen.
Kürzlich hat mir ein Patient eine solche visuelle Agnosie nach einem Flimmerskotom sehr klar beschrieben. In diesem Zustand fällt es ihm zum Beispiel schwer, die Zeit von seiner Uhr abzulesen. Er muß erst auf die eine Hand sehen, dann auf die andere, dann der Reihe nach auf alle Zahlen, und sich so sehr langsam und mühsam die Uhrzeit «zusammenpuzzlen». Wenn er einfach ganz normal auf die Uhr sieht, sagt ihm das gar nichts. Die Uhr hat ihre Physiognomie, ihr «Gesicht» für ihn völlig verloren. Er kann sie nicht mehr synthetisch als organisches Ganzes wahrnehmen, sondern muß sie Merkmal für Merkmal, Teil für Teil klassifizieren und analysieren. Ein derartiger Verlust der qualitativen oder «synthetischen» Wahrnehmung im Verlauf einer Migräne kommt relativ häufig vor und ist immer auch recht beunruhigend.
Ich beschreibe bestimmte sensorische, motorische und konzeptuelle Symptome der Migräne-Aura in ihrer schwersten Form, um die Art der beteiligten zerebralen Störung zu verdeutlichen. In vielen Fällen verlaufen diese Störungen aber sehr leicht und treten vornehmlich als Neigung in Erscheinung, bestimmte Fehler zu machen: sich zu verhören, Dinge zu verlegen, sich zu versprechen, sich an bestimmte Kleinigkeiten nicht zu erinnern etc. Freud, der selbst an klassischen Migränen litt, kommentiert solche Fehler folgendermaßen: «Das Versprechen tritt wirklich besonders häufig auf, wenn man ermüdet ist, Kopfschmerzen hat oder vor einer Migräne steht. Unter denselben Umständen ereignet sich leicht das Vergessen von Eigennamen. Manche Personen sind daran gewöhnt, an diesem Entfallen der Eigennamen die herannahende Migräne zu erkennen» (Freud 1920). Freud litt nicht nur an Migräne, sie faszinierte ihn auch als exemplarische Erscheinungsform einer psychophysischen und biologischen Reaktion. Im März 1895 brachte er viele seiner Gedanken über ihre Natur und ihre Ursachen zu Papier und sandte eine Kopie der Notizen an Fließ. Man kann nur bedauern, daß er nie etwas zu diesem Thema publiziert hat.
Zahlreiche psychologische und physiologische Theorien sind entwickelt worden, um das déjà vu und die damit gemeinhin verbundenen Symptome zu erklären. So schreibt es Freud der plötzlichen Wiederkehr verdrängter Inhalte zu, daß die Erfahrung so unheimlich ist, während Efron eine Veränderung der «Zeitetikettierung» im Nervensystem für das – gemeinsame – Auftreten von déjà vu, Aphasie und subjektiven Zeitverzerrungen verantwortlich macht. Beide Theorien betreffen unterschiedliche Erklärungsdimensionen und sind miteinander vollkommen vereinbar.
Manche Menschen fürchten um ihre eigene körperliche oder geistige Gesundheit, wenn sie hören, daß zwanghaftes Erinnern und déjà vu-Erlebnisse besonders häufig bei Epilepsie, Migräne, Psychose etc. auftreten. Die Worte Hughlings Jacksons mögen sie beruhigen: «Ich würde», schreibt er, «niemals allein aufgrund von paroxysmal auftretenden ‹Erinnerungen› eine Epilepsie diagnostizieren, obwohl ich eine Epilepsie vermuten würde, wenn dieser überschießende Geisteszustand auf einmal sehr häufig einträte … Ich bin nie wegen ‹Erinnerungen› allein konsultiert worden; in den Fällen, mit denen ich zu tun hatte, und zu der Zeit, als ich mich mit ihnen befaßte, waren mit dieser und anderen Formen des «Dreamy state› immer auch herkömmliche, wenn auch oft sehr leichte epileptische Symptome verbunden.» Im Rahmen klassischer Migränen sind solche Zustände von traumartigem Sicherinnern recht häufig. Die ausführlichste Schilderung, die ich von ihnen bekommen habe, stammt allerdings von einer Patientin mit Epilepsie (vgl. das Kapitel «Erinnerung» in meinem Buch ‹Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte›).
Klees Monographie enthält eine anschauliche Darstellung solcher mosaikartigen Halluzinationen. Eine seiner Patientinnen sah während eines Anfalls rote und grüne Dreiecke auf sich zukommen, bei anderen Gelegenheiten waren es sechseckige, schwarze, von einem leuchtenden Kreis umgebene Figuren, oft begleitet von einem Schimmern in Rot und Gelb, das aussah wie eine sich wellenförmig bewegende bunte Decke.
In einem faszinierenden Aufsatz, dem zum Teil eigene Erfahrungen zugrunde liegen («The Fortification Illusions of Migraine», 1971) beschreibt Dr. W. Richards sich wiederholende sechseckige Motive als sehr typische Merkmale von Migränehalluzinationen und spekuliert, daß sich darin die funktionale Organisation der Sehrinde in hexagonalen Einheiten spiegle. Iterative geometrische, insbesondere hexagonale Muster tauchen offenbar in fast allen Formen primitiver optischer Halluzinationen auf. Kluver hält diese für «halluzinatorische Konstanten» (vgl. Kapitel 17, «Migräne-Aura und halluzinatorische Konstanten»).
Etwas Licht in diesen ebenso komplexen wie zwielichtigen Bereich, in dem man «Delir», «Manie», «Dreamy states» und «Verwirrung» beobachtet, wirft vielleicht die – noch ganz junge – Erkenntnis, daß es im Verlauf von klassischen Migränen mit signifikanter Häufigkeit zu sogenannten transienten globalen Amnesien kommt. Tatsächlich hat man vermutet, daß dieses spektakuläre Syndrom – bei dem der Patient nicht nur sein Kurzzeitgedächtnis vollständig einbüßen, sondern auch eine tiefgreifende retrograde Amnesie entwickeln kann – in erster Linie oder ausschließlich migränöser Natur ist. So eine Amnesie kann dem Patienten nicht nur die Fähigkeit nehmen, Familie, Freunde, Menschen und Orte in der Gegenwart wiederzuerkennen, es kann auch sein, daß sich der Betroffene nach dem Anfall nicht mehr an Kopfschmerzen, Übelkeit, Skotome etc. erinnert, über die er während der Attacke geklagt hat (Crowell et al. 1984). Über die nahezu unglaublichen Auswirkungen einer tiefgreifenden retrograden Amnesie habe ich ausführlich in «Der verlorene Seemann» – Kapitel 2 meines Buches ‹Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte› – und in dem Aufsatz «Der letzte Hippie» berichtet.
Liliput-Halluzinationen sind eine bekannte Begleiterscheinung des Alkoholdelirs und treten seltener auch im Zusammenhang mit Äther-, Kokain-, Haschisch- oder Opium-Intoxikationen auf. Théophile Gautier hat solche halluzinierten, drogeninduzierten Kobolde hinreißend beschrieben. Myriaden winziger Halluzinationen tauchen auch in der Erregung einer allgemeinen Parese auf (Baudelaire). Musset beschreibt Liliput-Halluzinationen im Fieberdelir. Fasten, Entkräftung und Wundinfektionen nach Geißelungen mögen zu den Liliput-Halluzinationen bestimmter Mystiker (zum Beispiel Jeanne d'Arc) beigetragen haben. Während «normale, toxisch bedingte Visionen Furcht und Schrecken auslösen», so beobachtet R. Leroy (1922), «wecken Liliput-Visionen ein Gefühl von Neugier und Spaß». Cardano erlebte fast täglich Anfälle von Liliput-Halluzinationen (Anhang II, «Die Visionen Cardanos»).
Ich unterhielt mich über dieses Thema einmal mit einem Kollegen, einem Zoologen, und zeigte ihm mein Diagramm eines Flimmerskotoms. Er erkannte es sofort und sagte: «Das hatte ich oft als junger Mann, meistens abends im Bett. Ich war entzückt von den Farben und wie sie sich ausbreiteten – es erinnerte mich an eine aufblühende Blume. Ich hatte hinterher aber nie Kopfschmerzen oder andere Symptome. Ich dachte, jeder sieht so etwas – ich bin nie auf die Idee gekommen, es könnte ein ‹Symptom› von irgend etwas sein.»
Einige Patienten, die seit vielen Jahren an klassischen Migränen litten, «verloren» ihre Kopfschmerzen, während sie bei mir in Behandlung waren, obwohl sie keine spezifischen Medikamente erhielten. Ich führe diese Modifikation des Migräneablaufs auf einen suggestiven Prozeß zurück, denn ich habe mich für die Aurasymptome dieser Patienten sehr viel mehr interessiert als für ihre Kopfschmerzen.
Seit kurzem spricht man statt von «klassischer» und «einfacher» Migräne auch von Migräne mit und ohne Aura. Einige Forscher (zum Beispiel Olesen et al. in Dänemark) halten bedeutende hämodynamische Unterschiede zwischen einfacher und klassischer Migräne für möglich, doch mittlerweile setzt sich die Auffassung durch, daß sich beide klinisch, epidemiologisch und physiologisch nicht wesentlich unterscheiden (Ranson et al. 1991). Viele Patienten leiden mal an der einen, mal an der anderen und zuweilen auch an Attacken mit starker visueller Erregbarkeit, jedoch ohne Aura, was eine Zwischenform zu sein scheint.
Thomas Hobbes schreibt (‹Leviathan›, «Vom Reich der Finsternis»): «Was nicht Körper ist, gehört nicht zur Welt … und da die Welt alles ist, ist das, was nicht Körper ist, nichts – und nirgendwo.»
Ein lehrreiches Beispiel von «Pseudovererbung» komplexer psychophysischer Reaktionen stammt von Friedman. Er stellte fest, daß nicht nur 65 Prozent der Migränepatienten, sondern auch 40 Prozent der Patienten mit Spannungskopfschmerz eine positive Familienanamnese ihrer jeweiligen Symptome aufwiesen. Die Hypothese einer genetischen Grundlage von Spannungskopfschmerzen hat es nie gegeben (und wird es wohl auch nie geben), aber es gibt eindeutig Familien, in denen sie als familialer «Stil» übernommen werden.
Als ich bereits über den Korrekturfahnen dieses Buches saß, hatte ich Gelegenheit, einen Patienten mit hemiplegischer Migräne zu befragen, in dessen Familie außer ihm vier Geschwister, ein Elternteil, ein Onkel und ein Cousin ersten Grades an den gleichen Störungen litten.
«An dem einen Ende der Reihe stehen die extremen Fälle, von denen Sie mit Überzeugung sagen können: diese Menschen … wären auf jeden Fall erkrankt, was immer sie erlebt hätten … Am anderen Ende stehen die Fälle, bei denen Sie umgekehrt urteilen müssen, sie waren gewiß der Krankheit entgangen, wenn das Leben sie nicht in diese oder jene Lage gebracht hätte. Bei den Fällen innerhalb der Reihe trifft ein Mehr oder Minder von disponierender … Konstitution mit einem Minder oder Mehr von schädigenden Lebensanforderungen zusammen» (Freud 1991).
Ähnliches hört man oft von Patienten mit manisch-depressiven Zyklen. Dabei kommt es nicht nur zu zyklischen physiologischen und chemischen Veränderungen im Körper, es laufen auch moralische Zyklen ab, mit einer Befreiung vom harten Diktat des Gewissens in Hochstimmungsphasen und einer Überdimensionierung des Gewissens in den depressiven Phasen des Selbsthasses und der Selbstbeschuldigung. Oft haben die Betroffenen das Gefühl, mit der Depression für die Manie zu zahlen. Ähnlich gibt es Migränepatienten, die nach einer längeren schmerzfreien Zeit einen besonders bösartigen Anfall erwarten.
Dem vielleicht dramatischsten Beispiel von postiktaler Immunität begegnen wir im Kontext von Cluster-Kopfschmerzen. Während des Clusters können Patienten überaus empfindlich auf Alkohol reagieren, während sie unmittelbar danach auch größere Mengen problemlos vertragen. Die sich erneut einstellende Alkoholüberempfindlichkeit und leichte Attacken aufgrund von Alkoholgenuß kündigen dann noch vor jeder spontanten Schmerzattacke das Nahen eines weiteren Clusters an.
Viele analoge Reaktionen, zum Beispiel Heuschnupfen, werden durch eine ähnliche Vielfalt erregender Umstände ausgelöst. Sydney Smith erzählt von sich selbst in diesem Zusammenhang: «Die Schleimhaut ist so empfindlich, daß Licht, Staub, Widerspruch, eine dumme Bemerkung, der Anblick eines Querulanten, überhaupt alles und jedes mich zum Niesen bringt.»
Ich muß in diesem Zusammenhang eine Beobachtung anfügen, die möglicherweise auf viele der seltsameren und idiosynkratischeren Umstände zutrifft, die zuweilen für Migräneattacken verantwortlich gemacht werden: Ein, wie Liveing es nennen würde, «pathologischer Habitus» – ein konditionierter Reflex also – kann eine echte, organisch bedingte Überempfindlichkeit nachahmen. Denken wir nur an Patienten mit «Rosenallergie», die angesichts einer Papierrose zu niesen beginnen.
Es ist nicht ungewöhnlich, daß Patienten von einer Aura träumen oder daß Auraphänomene – offen oder verschleiert – in das Traumgeschehen einfließen. Man sollte Patienten immer nach solchen Traumauren befragen. Über eine persönliche Erörterung mit einer Traumaura berichte ich in ‹Der Tag, an dem mein Bein fortging›, eine allgemeine Erörterung solcher Phänomene findet sich in meinem Aufsatz «Neurological Dreams», MD Magazine, Februar 1991.
Ein schönes Beispiel für eine Auroreaktion auf strukturierte und intermittierende visuelle Reizung finden wir bei Liveing. Er erzählt von einem Patienten, dessen Attacken ausschließlich durch den Anblick fallenden Schnees ausgelöst wurden.
Nach Abschluß des Originalmanuskripts erhielt ich den in früheren Kapiteln zitierten ausführlichen Fallbericht 75 (S. 87 und 143). In diesem Fall wurden migränöse Parästhesien und andere Aurasymptome offensichtlich durch Resonanz mit einem taktilen Oszillationsreiz von angemessener Frequenz ausgelöst.
Solchen Verhaltensregeln ist natürlich etwas Moralisches oder Moralisierendes eigen, wie wir es bei erfolgreichen Migränetherapien so häufig finden. Sydney Smith, der selbst an Heuschnupfen litt, betont die asketische Natur dieser Behandlung: «Ich passe gut auf mich auf, was bedeutet, daß ich nicht esse, was mir schmeckt, und nicht tue. was mir Spaß macht.»
Es gibt zahllose Beispiele solcher sich selbst erhaltender Symptome, bei denen Reiz und Reaktion sich gegenseitig reflektieren oder deren Antagonismus bestehen bleibt. Ein bekanntes Beispiel dafür sind Parkinsonscher Tremor (Reflexion) und Rigor (aufrechterhaltener Antagonismus). In all solchen Fällen geht es – ebenso wie bei der Aufrechterhaltung einer Migräne – um inertia und momentum.
Ein wohlbekanntes Beispiel für eine solche periphere autonome Interaktion ist der gastrokolische Reflex, das durch Nahrungsaufnahme ausgelöste Entleeren des Darms. Dieser bekannte Reflex wird offensichtlich nicht zentralnervös vermittelt, sondern durch ein direktes Signal vom Magen an den Darm, durch eine «Sympathie» zwischen diesen beiden Teilen des Verdauungssystems.
In der Geschichte der Hysterieforschung finden wir viele bekannte Beispiele für eine solche Verschmelzung von Erwartungen und Symptomen. So war Charcots anschauliche Darstellung der Hysterie verantwortlich für das häufige Auftreten der von ihm geschilderten Symptome. Mit seinem Tod und den sich ändernden medizinischen Erwartungen änderten sich auch die Formen der Hysterie.
Vor kurzem hatte ich zusammen mit meinem Elektroenzephalographen P.C. Carolan das außerordentliche Glück, das EEG zweier Patientinnen – eineiiger Zwillingsschwestern – während schwerer skomatöser Migräne-Auren zu beobachten. In beiden Fällen sahen wir auf die Hinterhauptelektroden beschränkte, enorm langsame Wellen im Delta-Bereich (1 – 3 Hertz), die einige Minuten, nachdem die Patientinnen ihre Sehfähigkeit wiedergewonnen hatten, verschwanden.
Ich habe mich hier in erster Linie mit den formalen und klinischen Wechselbeziehungen kurzzeitiger zerebraler Reaktionen und Paroxysmen beschäftigt. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen und bestimmten länger andauernden Reaktionen – insbesondere affektiven und katatonen Krisen – zu untersuchen würde den Rahmen des Buches sprengen, obwohl ich ihren vermutlichen inneren Zusammenhang mit Migränen, Epilepsien etc. in Abbildung 9 verzeichnet habe. Der Leser sei an Bleulers Beschreibungen von Übergangskrisen in diesem Grenzbereich (die Ergänzung von Gowers' Grenzbereich) und seine Schlußfolgerung hingewiesen, daß es eine kontinuierliche Skala von Übergängen gebe, von den wirklich organischen zerebralen Anfällen bis hin zu agitierten Zuständen (Bleuler, ‹Dementia Praecox oder Gruppe der Schizophrenien›). Eine ähnliche Kontinuität finden wir möglicherweise auch bei inhibitorischen Zuständen: Eine exemplarische Fallgeschichte stammt von Pierre Janet (1921), der bei einem Patienten das Einsetzen «paroxysmaler Bewußtseinsstörungen in Form kürzerer oder längerer Ohnmachten» beschreibt, die in einer schlafähnlichen Störung von fünfjähriger Dauer gipfelten.
Ich meine damit nicht, daß irgendein Mensch (oder ein Tier) irgendwann eine erste Migräne erlitt, auf die alle späteren Migränen zurückgehen. Das Wort besagt nicht mehr, als es die Begriffe Urpflanze, Urmensch oder lingua adamica tun, und ist lediglich ein Gespinst aus der Geschichte der Wortlogik (vgl. Rieff 1959, S. 225–228).
Es ist möglich und vielleicht auch wichtig, die der Erholung dienenden und regressiven Funktionen der Migräne im Rahmen der Libido-Theorie darzustellen. Ich habe die Migränen als Rückzug und Abwendung von der Außenwelt beschrieben und sie wiederholt mit dem Schlaf verglichen. Ich habe auch davon gesprochen, daß die Migräne den Betroffenen in seine Symptome einhüllt und seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht, wie das auch bei Symptomen einer organischen Krankheit oder bei einer Hypochondrie der Fall ist. Freud beschreibt Schlaf und Leiden folgendermaßen: « …der Schlaf [ist] ein Zustand, in welchem alle Objektbesetzungen, die libidinösen ebensowohl wie die egoistischen, aufgegeben und ins Ich zurückgezogen werden. Ob damit nicht ein neues Licht auf die Erholung durch den Schlaf und auf die Natur der Ermüdung überhaupt geworfen wird? … Beim Schlafenden hat sich der Urzustand der Libidoverteilung wiederhergestellt, der volle Narzißmus, bei dem Libido und Ichinteresse noch vereint und ununterscheidbar in dem sich selbst genügenden Ich wohnen.» Und über das Eintauchen in die Symptome schreibt er: «Organische Erkrankung, schmerzhafte Reizung, Entzündung von Organen schafft einen Zustand, der deutlich eine Ablösung der Libido von ihren Objekten zur Folge hat. Die eingezogene Libido findet sich im Ich wieder als verstärkte Besetzung des erkrankten Körperteils … Von hier aus scheint sich ein Weg zum Verständnis der Hypochondrie zu eröffnen, bei welcher ein Organ in gleicher Weise das Ich beschäftigt, ohne für unsere Wahrnehmung krank zu sein» (Freud 1991, S. 397–400).
Alexander möchte den Terminus «Konversion» auf motorische und sensorische Symptome beschränkt wissen, das heißt vegetative Symptome ausschließen. Doch eine Fülle von Belegen spricht dafür, daß viele vegetative Aktivitäten und Symptome, die im allgemeinen als bewußt oder unbewußt nicht kontrollierbar gelten, in der Tat als Symbole benutzt und entsprechend modifiziert werden. Das wohl eindeutigste und berühmteste Beispiel dafür sind die hysterischen Stigmata.
Sehr wichtige experimentelle Befunde aus neuerer Zeit zeigen, daß vegetative Prozesse gelernt werden können. So war es möglich, mittels Kurare gelähmte Hunde zu trainieren, ihre Herzrate zu beschleunigen und zu verlangsamen, die Muskulatur der Eingeweide zu entspannen und zu kontrahieren, Blutgefäße in einem Ohr eng und im anderen weit zu stellen, Magenkontraktionen, Urinbildung, Blutdruck und andere Reaktionen zu kontrollieren.
Erbrechen ist bei vielen Tieren ein primitiver Reflex des Zurückweisens. Mit dem psychogenen Erbrechen, so könnte man sagen, wird dieser Reflex auf einer symbolischen Ebene wieder in Kraft gesetzt. Übelkeit ist eine Empfindung und eine Einstellung, und der Affekt des «Ekels» ist ganz offensichtlich von diesem Reflex des Zurückweisens abgeleitet, ähnlich wie Schmerz auf nozizeptive Reflexe zurückgeht.
Der Symbolismus, mit dem wir uns hier beschäftigen, bezieht sich auf die verschiedenen Symptome der Migräne und nicht auf eine innere Repräsentation von Eingeweiden, Drüsen etc. Im Unterschied zur Körperoberfläche ist das Körperinnere nicht topographisch im Bewußtsein repräsentiert. Daher die absurden Vorstellungen, die die meisten Menschen von den Formen und Beziehungen ihrer inneren Organe haben, und die halluzinatorischen Projektionen solcher Vorstellungen in die bizarren Symptome von Hysterie und Hypochondrie, Eine sehr umsichtige Diskussion dazu findet sich in Jonathan Millers Buch ‹The Body in Question›. Bei der Migräne bekommen Symptome symbolische Bedeutung, bei der Hysterie werden sie zu imaginativen oder moralischen Repräsentationen des Körpers.
Für die Verwendung primitiver neurologischer Symptome als individuelle symbolische Ausdrucksformen lassen sich im Bereich der motorischen Mechanismen leicht Beispiele finden. Intermittierendes Vorschieben der Lippen («Schnauzkrampf») tritt auf bei diffuser Kortexerkrankung, Frontallappenläsionen, Schizophrenie etc. Sein Auftreten geht, ähnlich wie das von Schnauzkrampf und Saugreflexen, auf eine verminderte Frontallappenhemmung zurück. Gleichwohl kann es, besonders bei der Schizophrenie, einem zusätzlichen symbolischen Zweck dienen. In Bleulers Worten: «Ein Schnauzkrampf ist erklärlicher als Zeichen der Verachtung wie als lokalisierter Tonus der Hervorstrecker der Lippen, und die plötzlichen Intensitätsschwankungen von Null bis zum Maximum unter psychischen Einflüssen sind doch nur dann verständlich, wenn wenigstens die Auslösung der Symptome eine psychische ist» (Bleuler 1911, S. 362).
Ein sehr viel vertrauteres Beispiel ist Gähnen zum Ausdruck von Langeweile.
«Die Kenntnis der Symbolik ist dem Träumer unbewußt, sie gehört seinem unbewußten Geistesleben an … Diese Vergleichungen werden nicht jedesmal neu angestellt, sondern sie liegen bereit, sie sind ein für allemal fertig; das geht ja aus ihrer Übereinstimmung bei verschiedenen Personen … hervor … Man bekommt den Eindruck, daß hier eine alte, aber untergegangene Ausdrucksweise vorliegt, von welcher sich auf verschiedenen Gebieten Verschiedenes erhalten hat, das eine nur hier, das andere nur dort, ein drittes vielleicht in leicht veränderten Formen auf mehreren Gebieten» (Freud 1991, S. 159).
Eine noch ältere Ausdrucksform ist die symbolische Verwendung allergischer Reaktionen, Reaktionen auf der Ebene von Zellen und Gewebe, die sich in den Dienst der emotionalen Ökonomie des Individuums nehmen lassen. Wir haben gesehen, wie oft allergische Reaktionen zusammen mit Migränen bestehen oder als alternative Form körperlichen Ausdrucks dienen können.
Im Zusammenhang mit der Behandlung von neurotischen Symptomen und Krankheit formuliert Freud den im wesentlichen gleichen Standpunkt wie folgt: «Wenn man also sagen konnte, daß der Neurotiker jedesmal vor einem Konflikt die Flucht in die, Krankheit nimmt, so muß man zugeben, in manchen Fällen sei diese Flucht vollberechtigt, und der Arzt, der diesen Sachverhalt erkannt hat, wird sich schweigend und schonungsvoll zurückziehen … Wo ein solcher … Krankheitsgewinn recht erheblich ist und keinen realen Ersatz finden kann, da werden Sie die Möglichkeit einer Beeinflussung der Neurose durch ihre Therapie nicht groß veranschlagen dürfen» (Freud, S. 365ff).
Das klinische Bild des Ergotismus ist, wie Wolff es beschreibt, dramatisch und angsterregend. Zunächst kommt es zu heftigem Erbrechen, dann in den Extremitäten, gewöhnlich den Füßen, zu Pulslosigkeit und Anschwellen mit Kongestion und Zyanose. Schließlich entwickelt sich eine gangräne Nekrose. Einem Ergotismus dieses Ausmaßes bin ich selber nie begegnet, habe aber beobachtet, daß etliche chronische Ergotaminkonsumenten (besonders solche, die eine wöchentliche Dosis von 50 Milligramm überschreiten) leicht ischämische Extremitäten mit blasser, schlaffer, gefleckter, kälteempfindlicher Haut, manchmal gesprenkelt mit winzigen Narben oder Mikroinfarkten, entwickeln.
Zuvor symptomfreie Patienten können unter Methysergid die ersten offenen Symptome einer vaskulären Überempfindlichkeit entwickeln. Zu diesen idiosynkratischen Reaktionen kommt es besonders häufig bei Patienten mit einer Familienanamnese der Raynaudschen Krankheit, und man muß hier besonders auf der Hut sein. Manche Ärzte versuchen solche Patienten mit kleinen Dosen von Ergotamin oder Methysergid zu «titrieren». Das sollte man nicht tun, denn dieses Verfahren kann zu fortschreitender ischämischer Schädigung der Extremitäten führen.
Zu ähnlichen Veränderungen kam es zu dieser Zeit auch im Umgang mit anderen neurologischen Leiden. So fand man ebenfalls 1960 heraus, daß sich die bizarren Phänomene des Touretteschen Syndroms mit Hilfe von Haloperidol drastisch reduzieren ließen. Bislang hatte das Tourettesche Syndrom als rein psychogen, als «freudianisch», gegolten, und viele Patienten unterzogen sich langwierigen, gutgemeinten, aber gänzlich unwirksamen Psychoanalysen. Mit der Entdeckung der einschlägigen Wirkung von Haloperidol kam es zu einem plötzlichen (und vielleicht übertriebenen) Gesinnungswandel. Man hielt das Tourettesche Syndrom jetzt für eine rein «chemisch» verursachte Erkrankung, bedingt durch genetisch instabile Dopamin-Systeme im Gehirn. Gegenwärtig ist eine Art Reaktion auf diese Reaktion zu verzeichnen, denn eine Störung, die sich – wie das Tourettesche Syndrom – auf Charakter, Emotionen und tägliche Erfahrungen auswirkt, muß neben chemischen auch psychodynamische und umweltbedingte Determinanten besitzen – und das muß, wenngleich in geringerem Ausmaß, auch für die Migräne gelten.
Die meisten Migräne-Trigger sind seit langem bekannt, doch ein neuer – zumindest in der medizinischen Literatur vor 1972 nicht beschriebener – Trigger ist die sogenannte «Fußballer-Migräne»: das Auftreten von Phosphenen, Flimmerskotomen, Verlöschen der Farbwahrnehmung und sogar kortikaler Blindheit, gefolgt von einseitigem Kopfschmerz. Erbrechen etc. einige Minuten nach «Köpfen» eines Fußballs. Das kann jeden Spieler treffen, auch wenn er niemals unter Migräne gelitten hat. Wahrscheinlich können Schläge auf den Kopf eine sofortige «spreading depression» in der Sehrinde auslösen, die dann unmittelbar, unter Umgehung der gewöhnlichen «idiopathischen» Mechanismen, zur Migräne führt.
Es ist klinisch wie elektrophysiologisch belegt, daß die Sehrinde bei Patienten mit klassischer Migräne sogar in der Zeit zwischen zwei Attacken ungewöhnlich empfindlich auf Erregung und Störungen reagieren kann. Rein visuelle Reize können eine Migräne-Aura provozieren. Liveing beschreibt einen Patienten, dessen Attacken beim Anblick von fallendem Schnee ausgelöst wurden, und mir sind viele Patienten begegnet, deren Auren bei Störungen im Gesichtsfeld (in den meisten Fällen dann, wenn Wasser oder Blattwerk sich kräuselte) begannen und bei einem Patienten (Fall 90, S. 233f) beim Anblick von Asymmetrien – zum Beispiel beim Anblick einer asymmetrisch geknöpften Jacke, der eine sich ausdehnende Wahrnehmungsstörung in Gang setzte, eine Verzerrung im Gesichtsfeld, die sich in alle Richtungen ausbreitete. Bei manchen Menschen kann flackerndes Licht eine Migräne provozieren, und auch wenn es nicht zur Migräne kommt, verursacht flackerndes Licht oft ein übermäßiges «driving» des EEG in den visuellen Teilen des Gehirns, Die Untersuchung visuell evozierter Potentiale zeigt bei Migränepatienten sogar zwischen den Attacken sowohl im primären optischen Kortex als auch in den optischen Assoziationsfeldern eine Potenzierung. Diese Beobachtungen unterstützen die Hypothese, daß die Migräne in erster Linie ein neurales Geschehen, eine neurale Reaktion ist, die auf angeborenen und spezifischen neuronalen Empfindlichkeiten gründet.
Ich hatte einmal Gelegenheit zu beobachten, wie ein Tourette -«Anfall» – mit heftigen Tics, Bellen, Schreien und Zuckungen – durch selbstinduzierte Hypnose (in Form von Transzendentaler Meditation) abrupt und vollständig beendet wurde. Ich hätte eine derartige Wirkung physiologisch nicht für möglich gehalten und begegne solchen Techniken seither mit mehr Respekt.
In «Witty Ticcy Ray» (‹Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte›) erzähle ich von meinem Versuch, einen jungen Mann mit seit früher Kindheit bestehendem Touretteschen Syndrom zu behandeln. Dieser Patient mußte seine lebenslange «Tourette-Identität» aufgeben, sich der Herausforderung eines Tourette-freien, normalen Lebens stellen, bevor er angemessen auf spezifisch wirkende Medikamente reagieren konnte.
Center for Molecular and Behavioral Neuroscience, Rutgers University, Newark, New Jersey.