Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

Die Arbeit an diesem Buch wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert.

 

Die Namen einiger Personen wurden verändert.

Für

Und für Lena und Marek

1

Jahrzehntelang

Hin und wieder vermisste ich den Karton, weil ich ihn jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Dann suchte ich ihn in einem Anfall undeutlicher Verlustangst und konnte ihn nicht finden. Wenn er beim nächsten Umzug wieder auftauchte, überkam mich eine Erleichterung, als hätte ich etwas für mich unendlich Wichtiges wieder entdeckt, und ich machte mich daran, den einen oder anderen Brief zu lesen. Aber es gelang mir nie, mehr als ein paar Halbsätze zu entziffern. Wie bei früheren Versuchen gab ich wieder auf – schwer zu sagen, ob es die Scheu vor den Mühen des Lesens war, die den Reflex des Aufschiebens hervorrief, oder die Furcht vor Entdeckungen, von denen ich lieber nichts wissen wollte. Mir gefiel das Motto, dem Bob Dylan gefolgt war: »Don’t look back!« Erfinde dich selbst, entferne dich von allen Bindungen, die du nicht selbst gewählt hast, besonders aber von dem Teil der Vergangenheit, den du nicht bestimmen konntest – von deiner Kindheit!

Eine alte Freundin, die von den Briefen wusste, hatte mir einen Rat gegeben, der mich beschäftigte: Am besten verfahre man mit den Briefen der Eltern, soweit sie nicht an einen selbst gerichtet seien, wenn man sie

 

Was mich schließlich dazu brachte, die Briefe endlich zu entziffern, war der Umstand, dass ich nach einem dreißigjährigen Familienleben und dem Auszug der Kinder die gemeinsame Wohnung verlassen hatte und mit dem Schuhkarton allein war. Ich führte endlose Selbstgespräche mit der Adressatin meiner gescheiterten Liebe, ich suchte nach Erklärungen und fand jeden Tag eine andere, die doch nichts erklärte – plötzlich wollte ich wissen, was in den Briefen meiner Mutter stand.

Ich begann damit, die oft undatierten Briefe nach dem Datum des Poststempels zu ordnen, soweit die Briefumschläge noch vorhanden waren. Ich fotokopierte und vergrößerte sie in der Hoffnung, die mit fliegender Hand aufs Papier geworfene Schrift auf diese Weise zu entschlüsseln. Ich lud aus dem Internet eine Umschrift des Sütterlin-Alphabets herunter, konnte jedoch nur einige Buchstaben der Musterschrift in der Handschrift meiner Mutter wiedererkennen. Unter die Wörter und Halbsätze, die ich entziffert hatte, notierte ich

 

Durch die Hilfe von Gisela Deus, die kaum älter ist als ich und die Sütterlinschrift auch nie gelernt hat, wurden die Briefe einer nach dem anderen lesbar. Sie hatte sich jedoch schon als Kind bemüht, die in der fremden Schrift geschriebenen Briefe ihrer Eltern zu entziffern. Mit zunehmender Neugier las Gisela Deus sich in die Handschrift und den Seelenzustand meiner Mutter ein, aber auch ihr gelang es nicht, alle Wörter zu entschlüsseln. Mit der Zeit entwickelte sie eine Art Jagdinstinkt, der sie trieb, der Suche nach einem fraglichen Wort, einem Halbsatz so lange zu folgen, bis ihr die Lösung zufiel.

Die Übersetzerin der Briefe meiner Mutter wurde im Lauf der Monate und Jahre zu einer unentbehrlichen Gesprächspartnerin. Anfangs rätselten wir gemeinsam nur über das eine oder andere unleserliche Wort. Später ging es immer mehr um die Bedeutung eines ganzen Satzes, um seine Einordnung in den Kontext, um die Persönlichkeit der Verfasserin. Gisela Deus geriet immer mehr in den Sog der Briefe, sie lebte mit ihnen und begann sich mit der Verfasserin zu identifizieren. Sie war angerührt von der melancholischen Grundmelodie der Briefe und von der Schönheit der Sätze, die meine Mutter für ihre Stimmungen gefunden hatte. Manchmal, so gestand sie mir, wenn sie im Wind auf einem kalten S-Bahnhof stand, fiel ihr eine Passage aus einem der zuletzt übersetzten Briefe ein und jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken. Sie wurde zu einer Anwältin meiner Mutter und verteidigte den einen oder anderen Brief gegen meine Lesart. Manchmal

 

Aus den Briefen trat mir eine junge Frau entgegen, die ich nicht kannte. Eine Mutter, die sich für ihre Kinder zerriss und sie dank ihres Wagemuts und ihrer praktischen Intelligenz auf einer langen Flucht aus dem äußersten Nordosten Deutschlands wohlbehalten in den südlichsten Zipfel Bayerns brachte. Eine Ehefrau, die ihrem Mann Heinrich zwischen tausend Nachrichten über das Alltägliche und das Wohlergehen der Kinder zärtliche, manchmal auch zickige Zeichen ihrer Liebe schickte. Und eine Träumende, die von ihrer Leidenschaft für Andreas, einen Freund und Kollegen ihres Mannes, verzehrt wurde.

 

Vor allem aber lernte ich eine Schreibende kennen, die ihren Schwankungen zwischen Lebenslust und Schwermut fast hilflos ausgeliefert war, aber noch in den Augenblicken völliger Verzweiflung über eine erstaunliche Ausdrucksfähigkeit verfügte. Das Schreiben ist für die Mutter offenbar ein Überlebensmittel gewesen, eine Waffe, mit dem sie die zerstörerischen Kräfte, die von außen wie von innen auf sie einstürmten, in Schach zu halten versuchte. Die Form, die sie in ihrem kurzen Leben für das Schreiben fand, waren ihre Briefe. Sie war einundvierzig, als sie starb.

 

Über

Das

Ich ging nie wieder dort hinauf. Die Welt jenseits der Felswände, die abends in der Sonne aufglühten wie ein vergänglicher Feuerzauber, blieb unerreichbar.

Mein Terrain waren die hügeligen, steil abfallenden Hänge unter den Felswänden. Aber das Wort Hänge beschreibt den Sog nicht, den sie auf mich ausübten. Denn diese spitzen Hügel waren keine Erhebungen, auf denen man stehen bleibt, um die Hand an die Stirn zu halten und die gegenüberliegenden Berggipfel zu bestaunen. Diese Hügel schienen immer in Bewegung zu sein wie die Steine in der Geröllschlucht – Wellen eines talwärts stürzenden Flusses, die mitten in der Bewegung des Abstürzens erstarrt waren. Sie sagten mir: Hab keine Angst, reiß dich los, breite die Arme aus und spring!

 

Willi war sieben Jahre älter als ich und wohnte schräg gegenüber im Haus des Architekten. Ich begegnete ihm in einem Krieg zwischen Kinderbanden im Zigeunerwald, wo wir uns mit Speeren, Bögen und Pfeilen, die wir aus Weiden- und Haselnusszweigen geschnitzt hatten, bekämpften. Unter kirchturmhohen Tannen schlichen wir uns auf den knöcheltief mit Nadeln übersäten Pfaden an, versteckten uns hinter dicken Stämmen und Felsen, unter denen Füchse und Marder hausten. Willi traf mich mit seinem Speer in den Rücken, so wuchtig, dass ich niedersank. Lichtumglänzt sah

Auf dem Weg erzählte er mir vom Erzengel Michael, der ihm die Kräfte verliehen habe, meine Wunde zu heilen. Kraft seiner Verbindung mit dem Engel werde er mir Dinge beibringen, von denen ich nur zu träumen wagte. Fliegen zum Beispiel. Ja, er wisse von meinem Wunsch zu fliegen und werde mich in dieser Kunst unterrichten. Aber mit Fliegen meine er nicht das Hüpfen von Hügel zu Hügel, auch nicht das spatzenhafte Springen von Dach zu Dach, sondern das Adler-Fliegen hinauf zu den Alpspitzen, das Schweben hoch über den Wolken und in Himmelshöhen, wie es die Engel machten. Allerdings müsse ich zuvor eine Probezeit bestehen und dürfe mit niemandem über unser Bündnis sprechen. Wenn ich auch nur ein Wort über unseren Pakt verriete, könne er mich nicht mehr schützen, die Teufel, die auf den Dachböden und in den Heuschobern lauerten, würden mich holen, sie würden mir mit glühenden Peitschen den nackten Hintern versohlen und hinterher Salz in die Wunden streuen.

Willi setzte mich fünfzig Meter entfernt vom Zaun unseres Hauses ab. Kein Wort, hast du verstanden, sonst platzt deine Wunde auf und wird nie mehr heilen.

Die Mutter wollte wissen, wo ich so lange nach der Schule geblieben war. Ich erzählte ihr von unseren Kriegsspielen

 

Tage später traf ich Willi nach der Schule wieder, auf dem Nachhauseweg. Mit seinem Schulranzen wirkte er plötzlich kleiner und unscheinbarer, als ich ihn in Erinnerung hatte – ein dunkelhaariger Fünfzehnjähriger mit gescheitelten Haaren. Ich tat so, als würde ich ihn nicht kennen, und ging ohne zu grüßen an ihm vorbei. Da schlug er mir mit der Hand auf den Rücken, genau auf die wunde Stelle, und ich blieb stehen. Er sagte mir, meine Probezeit habe längst angefangen, der heilige Michael wolle meine Treue prüfen. Der Erzengel brauche Lebensmittel und vor allem Geld, denn im Himmel gebe es kein Geld; und manchmal, wenn er in Menschengestalt unter Menschen wandele und in einem Lebensmittelladen stehe, müsse er Geld auf den Tisch legen, um sich nicht zu verraten.

Dass der Erzengel ein paar Mark in der Tasche haben musste, um sich zu tarnen, leuchtete mir ein. Aber Lebensmittel? Ich hatte nie gehört, dass Engel essen und womöglich auch verdauen.

In den folgenden Tagen klaute ich Radieschen, Möhren und Tomaten, die meine Mutter – wie jeder, der in den Nachkriegsjahren ein Stück Erde hatte – in den Beeten hinter dem Haus zog. Willi lobte mich, war aber mit den Erträgen meiner Diebstähle nicht zufrieden; der Erzengel brauche kein Gemüse, sondern Geld und Lebensmittel. Ich begann, Geld und Lebensmittelmarken

 

Fleisch und Butter konnte ich unmöglich beschaffen, aber Zigaretten. Ich kannte ein paar Jungen aus der Nachbarschaft, die aus den Vorratszelten der Amerikaner Zigaretten klauten und damit Handel trieben. Die Geldsummen und Lebensmittelmarken, die ich zu Hause stahl, waren bald so beträchtlich, dass die Mutter sich die Lücken nicht mehr erklären konnte. Verzweifelt begann sie, Verhöre mit meiner Schwester und mir anzustellen, die ich glimpflich überstand, weil ich ihrer Meinung nach zu klein war, um als Dieb in Betracht zu kommen. Wie sollte sie auch ahnen, dass ihr Siebenjähriger den Anführer der himmlischen Heerscharen aus ihrem Portemonnaie versorgte? Der Verdacht blieb an unserer Haushaltshilfe haften.

 

Nach

Aber so heftig ich auch Schwung holte, so mutig ich vom höchsten Punkt der schwingenden Schaukel ins dunkle Freie sprang, die Linie vermochte ich nie zu erreichen. Ich haderte mit Willi, haderte mit dem Erzengel, wollte wissen, warum ich ihm trotz meiner üppigen Geschenke nicht ein einziges Mal begegnet war. Hatte ich nicht eben erst die halbe Speisekammer für ihn ausgeraubt? Willi tröstete mich: Ob ich denn nicht merkte, dass ich eben fast einen Meter weiter geflogen war als zu Beginn meiner Flugübungen? Der Erzengel verzeihe vieles, aber eine Sünde nicht: den Zweifel an seiner Macht und an der Gültigkeit seiner Versprechen.

 

Hat die Mutter nicht geahnt, dass ich unter einen fremden Bann geraten war? Oder wollte sie nichts davon

 

Einmal

Spring schon, sagte Willi, oder hast du etwa Angst? Er stieß sich vom Dach ab. Ich tat es ihm nach und wunderte mich. Anders als bei Vögeln halfen rudernde Arme nicht im Geringsten beim Fliegen. Ich war froh, dass ich nach meinem Sturz wieder aufstehen konnte. Willi zog mich hoch und forderte mich auf, ihm zu folgen. Er werde mir sofort beweisen, dass er keinen Unsinn geredet habe, rief er mir zu. Er habe ein Instrument zu Hause, mit dem ich durch geschlossene Fenster, durch Vorhänge und sogar durch Wände schauen könne. Wir rannten den steilen Weg hinunter zum Gartentor und in sein Haus. Dort angekommen, schlich er mit dem Zeigefinger auf den Lippen die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Aus einem Versteck in seinem Zimmer holte er ein Gerät hervor, das ich noch nie gesehen hatte – ein Instrument mit kleinen runden Gläsern, die in einer beweglichen Einfassung steckten. Willi schärfte mir ein, ich dürfe niemandem von diesem

Ich richtete das Gerät auf unser Haus. Es dauerte lange, bis ich, erschreckend nah, den Erker mit den sechsteiligen Fenstern im Fokus hatte. Aber schon bei der geringsten Bewegung am Rädchen verschwand das Bild wieder und ich sah nur noch eine geriffelte weiße Fläche mit riesengroßen schwarzen Flecken.

Jetzt siehst du die Birke vor eurem Haus, erklärte Willi.

Plötzlich drückte er meinen Kopf nach unten. Da sind sie!, flüsterte er. Ich legte das Gerät ab, weil ich nichts mehr sah, und lugte durch eine der herzförmigen Aussparungen in der Balkonbrüstung. Die Mutter verließ mit dem Besucher aus Berlin gerade das Haus. Die beiden liefen dicht unter uns vorbei, Richtung Kirche. Wir verfolgten ihren Weg, bis sie hinter der Kurve verschwanden. Sie würden schon wieder auftauchen, sagte Willi, und er wisse auch, wo.

Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir mit Willis Gerät andere, weit entfernte Ziele heranholten: das Zifferblatt der Kirchturmuhr, einen Heuschober hoch oben in den Hügeln, in dem sich, behauptete Willi, immer noch Gebirgsjäger versteckten, die Geröllschlucht zwischen den Waxensteinen, die jetzt von Schnee bedeckt war und in einem weißen S bis hinab zu den grünen Hügeln

2

 

Nach dem Tod der Mutter waren wir Geschwister zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen. Vor allem die fromme, von uns allen heiß geliebte Oma, die Mutter des Vaters, die uns betreute, hatte zu der Vorstellung beigetragen, dass unsere Mutter eine Heilige gewesen war, die sich für ihre Kinder aufgeopfert hatte. Andererseits hörten wir schon früh, dass die Mutter ihrem Mann nicht immer treu gewesen, dass sie »fremdgegangen« war. Als wir älter waren, verdichtete sich das Gerücht dank einiger redefreudiger Bekannter und Verwandter zur Gewissheit, aber es

 

So war es denn kein Schock für mich, die Geschichte mit dem fremden Mann, auf die Willi mich zuerst gestoßen hatte, mit den Worten meiner Mutter aus ihren Briefen zu erfahren. Was mir den Atem nahm, war die Wucht ihrer Leidenschaft und die Radikalität, mit der sie sich ihren Gefühlen stellte. Der Sohn, der diese Briefe las, war dreißig Jahre älter geworden als seine Mutter. Worüber hätte er mit der jungen Frau rechten sollen? Es konnte nur darum gehen, sie und ihr kurzes Leben zu verstehen. Und dabei vielleicht etwas über jenen Teil meines eigenen Lebens zu erfahren, den ich nicht hatte bestimmen können.

 

Die Geschichte zwischen Andreas und der Mutter beginnt mitten im Krieg in Königsberg. Die beiden Familien – die Mutter mit ihrem Mann Heinrich und den drei Kindern, das vierte war noch nicht geboren – und der damals noch kinderlose Andreas mit seiner Gattin wohnen in demselben Haus. Die beiden Männer sind an der städtischen Oper tätig, Andreas als Regisseur, Heinrich als Dirigent. Zu dieser Zeit müssen Millionen von deutschen Männern bereits an den Fronten des Hitlerkrieges ihr Leben einsetzen. Theater- und besonders

 

Für die Mutter ist die Begegnung mit Andreas ein Naturereignis, für das es im Deutschen kein geeignetes Wort gibt. »Coup de foudre« nennen es die Franzosen, »colpo di fulmine« sagen die Italiener. Es ist ein Blitzschlag der Liebe, der sie im Innersten erschüttert und jeden Widerstand zerschmilzt. Ist es meine Schuld, wird sie Andreas später fragen, daß ich dich eines Tages sah, liebte, mich an dich band, so daß ich mich nicht mehr lösen kann?

 

Schon früh in ihrer Ehe, noch bevor sie Andreas kennenlernte, hat sie gegenüber einem anderen Liebhaber ein Bekenntnis abgelegt, an dem sie über alle Schmerzgrenzen hinweg festhalten wird.

Mir ist es so seltsam ergangen: Ich hab’ versucht, Entschuldigungen herbeizuführen – nach der einen oder anderen Richtung – erst hab’ ich dich haben wollen, und dann hab’ ich dich restlos

 

In den Briefen an die Verwandtschaft – meist an ihre Schwiegermutter, denn an ihren Vater und an ihre Schwester schreibt sie kaum – finde ich die Mutter wieder, die wir kannten. Eine Frau, die ganz für ihre Kinder lebt. Meist sind es Weihnachts- und Geburtstagsbriefe, die sich in endlosen Einzelheiten über die Schwierigkeiten der Versorgung, über ihren Ärger mit den Kindermädchen, mit Danksagungen und guten Wünschen erschöpfen. Briefe, wie sie in jenen Jahren wohl tausendfach geschrieben wurden. Wenn sie von ihren Leidenschaften handeln, entsteht ein anderer, ganz eigener Ton, eine poetische und präzise Sprache, fragend, träumend, hingegeben, aber auch erbarmungslos gegen sich und andere. Es ist, als würde sie in diesen Briefen eine Fähigkeit entfalten, die sie nach und nach entdeckt. Erst in der rückhaltlosen Offenheit für den Tumult, der in ihr tobt, findet sie zu sich selber.

 

Hans, den Adressaten des oben zitierten Briefes, hat die Mutter später in die Wüste geschickt und danach kaum mehr ein gutes Wort für ihn gefunden. Aber ihrer Überzeugung von den hohen Gesetzen und der Schicksalhaftigkeit , der man sich nicht ungestraft entziehen dürfe, bleibt sie treu. Erst in der Begegnung mit Andreas entwickelt sich ihre Bereitschaft, dieses Schicksal anzunehmen, bis zur letzten Konsequenz, bis zur Selbstzerstörung.

 

Das Paar sieht sich in großen Abständen. Es bleibt unklar, in welchem Hotel, in welcher Wohnung sie ihre seltenen Liebesstunden verbringen. Ihre Treffen sind weniger beschränkt durch große Entfernungen, zerbombte Städte und zerstörte Bahngleise als durch Andreas’ engen Terminplan. Nie kommt es vor, dass die Mutter eine Verabredung absagt, weil etwa der Zug nicht fährt oder weil sie niemanden gefunden hat, der die Kinder versorgt. Immer ist er es, der viel beschäftigte Regisseur, dem in letzter Minute etwas dazwischenkommt, der nicht die Zeit findet, sie anzurufen, obwohl er einen ganzen Tag lang in unmittelbarer Nähe ist – wofür er sich dann entschuldigt. Überhaupt ist er ständig dabei, sich zu entschuldigen.

Ab dem Sommer 1944 begibt sich die Mutter mit ihren Kindern auf die Flucht nach Süden. Paul, der Jüngste, ist gerade ein Jahr alt und muss getragen werden. Sie muss auf Züge warten, die sich an keinen Fahrplan halten, sich mit anderen Flüchtlingen um die Plätze streiten, reist von einer Stadt in Sachsen zur nächsten und sucht Unterkunft bei Familienfreunden und Verwandten. Muss sich, wenn sie für ein paar Tage oder Wochen aufgenommen wird, um Holz oder Kohlen für den Ofen kümmern, um Lebensmittel und Kleidung

Erst nachts, wenn sie die Kinder zu Bett gebracht hat, findet sie die Kraft, ihm ihre hell auflodernden Sehnsuchtsbriefe zu schreiben, ihm ein Päckchen mit Lebensmittelmarken und Tabak zu packen und die gemeinsame Zukunft zu entwerfen, für die sie in ihren Augen doch bestimmt sind.

Alles, was ihr widerfährt, was sie bewegt, muss sie ihm mitteilen. Einmal, es muss im dritten Kriegsjahr gewesen sein, findet sie sich allein auf einem Spaziergang und folgt einem mächtigen Gesang. Auf einem Abstellgleis im Wald entdeckt sie einen Güterwaggon, voll besetzt mit russischen Kriegsgefangenen. Die Männer haben kaum Platz zum Stehen, sie sind eingesperrt wie die Tiere, aber ihr Gesang ist so mächtig, so voller Glauben und Gebet, so viel stärker als alle Schwerter dieser Welt, dass sie in Tränen ausbricht. Alle, die so singen können, werden vielleicht jetzt nicht mehr singen – und sicher nicht, solange die Gewalt fortgeht – aber sie werden jene Kraft weitertragen,

Sie schreibt dem Geliebten von ihrer Scham darüber, wie weit sie alle noch von dieser Freiheit entfernt sind, und schon ist sie mit diesem Gedanken wieder bei ihm.

Die Qual um dich und mich hat Erlösung gefunden in der Qual aller, die da sangen.

 

Es ist still am Haus, als sie aus dem Wald zurückkommt, und in der Tür sieht sie ihn stehen, ihn, mit dem sie eben noch in Gedanken gesprochen hat. Sie blickt in seine Augen, schreit auf vor Schreck und Glück. Wie kann es sein, dass er plötzlich auf ihrer Schwelle steht? Hat er ihre Ansprache, ihren Ruf gehört, oder bildet sie sich alles nur ein?

 

Manchmal, wenn ich versuche, nüchtern zu sein, begreife ich nichts mehr. Aber ich kann nicht nüchtern sein. Hinter allen dunklen Fragen, hinter aller Ungewißheit steht eben immer unerschüttert mein Glaube daran, daß dies alles nicht umsonst ist. Ich weiß nicht, was es mir sagt: Meine Klugheit, meine Lebenserfahrung, mein Spürsinn – daß du mich und meine Existenz erst verlangst, wenn die Tore des Glücks hinter dir zugeschlagen sind. Siehst du, und dagegen sträubt sich alles in mir, ich müßte ja zu meiner Selbsterhaltung dein Unglück wünschen. Aber das weißt du ja, wie tief und leidenschaftlich ich immer nur wünsche, daß es dir gutgehe, daß du all das um dich hast, was du brauchst zum Atmen. Lieber will ich abseits stehen und von ferne zusehen. Deine Fragen, deine Zweifel halten mich wach, an deinem

 

In einem anderen Brief fällt der Satz, der wie ein Menetekel über der Leidenschaft der Mutter steht: Das Gefühl der Liebe ist nicht abhängig von deiner Antwort an mich – sehr abhängig ist aber das Glücksgefühl davon.

 

Dem Sohn, dem verspäteten Leser, sträuben sich die Haare, er möchte seiner Mutter ins Wort fallen. Stopp, streiche diesen Satz! Wie soll diese Liebe gut gehen? Du lieferst dich deinem Liebhaber, diesem Götterliebling, wie du ihn nennst, mit Haut und Haaren aus, du bettelst ihn an, du kniest vor ihm!

Gleichzeitig rührt sie mich mit dem Schluss ihres Briefes, mit dem der viel beschäftigte Andreas womöglich gar nichts anfangen konnte:

Hab heute meinen Jungen wie einen Märchenprinzen angezogen. Mit einem azurblauen Mantel, den ich mit glitzernden Sternen beklebt hab’. Warum ich dir das erzähle? Weil ich das, was ich da für mein Kind tat, in übertragenem Sinn dir tun möchte. Weil es meine Sehnsucht ist, etwas, was ich meinem Kind zur Freude tat, für dich tun zu können. Könnt’ ich doch dein Herz zart einhüllen in solchen blauen weichen Zaubermantel, daß es beschützt sei von aller Qual. So sind’s nur Worte, die ich dir senden kann. Was ich darüber hinaus noch habe, wagt sich aus unbegreiflichen Gründen nicht ans Licht.

 

Die

 

Die Mutter scheint nur die Einschläge zu registrieren, die der Geliebte in ihrem Inneren mit seinem Schweigen hinterlässt. Es ist, als sei sie in einer leichten, feuer- und bombensicheren Rüstung durch die Kriegsjahre gegangen, in der Rüstung einer Leidenschaft, in der sie jenseits von Hunger und Todesangst vor allem zwei Gefühle kannte: ungeheures Glück, wenn der Geliebte ihr in seiner schwungvollen Schrift ein Zeichen der Ermutigung schickt; maßlose Verzweiflung, wenn er gar nicht oder abweisend antwortet. Gegen die Verzweiflung kennt sie nur ein Mittel: ihm schreiben und immer wieder schreiben.

Tagelang, monatelang zehrt sie von den Erinnerungen an die letzte Begegnung mit ihm. Ich sehe sie nachts sitzen in einem der tagsüber überfüllten Zimmer, in dem sie mit ihren Kindern auf der Flucht Unterschlupf gefunden hat, in dem sich die Schwiegermutter,