Die fehlende Stunde

Inhaltsverzeichnis

Alicia blinzelte. Das Sonnenlicht schoss ihr durch die Fenster Pfeile in die Augen. Es musste schon später Vormittag sein. Sie blinzelte wieder. Wo war sie? Und wer hatte ihr über Nacht dieses riesige Kaugummi in den Schädel gestopft?

Vorsichtig setzte sie sich auf. Sofort wurde ihr schwindelig. Und übel. Alicia rieb sich mit den Daumen die Schläfen. Verdammt, das war ein ausgewachsener Kater. Was hatte sie in der Nacht getrieben? Jeder Versuch, sich an den Vorabend zu erinnern, löste stechende Kopfschmerzen aus. Alicia wusste nur noch eines: Sie hatte in den letzten fünfzehn Jahren, seitdem sie als Therapeutin arbeitete, an keinem Abend so viel getrunken wie gestern.

Dann wurde sie sich der leisen Atemgeräusche hinter sich bewusst. Oje. Langsam drehte sie sich um. Ein Männerrücken lag dort breit und nackt und das dünne Sommerlaken war bis unter einen trainierten Hintern gerutscht. Alicia betete, dass sich auf der Stelle der Boden unter ihr auftun möge.

 

Sigi spürte, dass sie ihn ansah. Er hielt die Augen geschlossen und atmete ruhig weiter. Er war eine Minute vor ihr aufgewacht. Zuerst hatte er den Körper gesehen, der sich

Sein Blick wanderte zu ihrem Kopf hoch, der sich langsam mit geschlossenen Augen zu ihm drehte. Es brauchte unzählige Sekunden, bis die Information in Sigis Gehirn ankam. Das braune, gelockte Haar umrahmte das Gesicht von Alicia Behrens. Weitere unzählige Sekunden wehrte sich sein Bewusstsein gegen diese Information. Verdammt, was hatte er sich denn dabei gedacht? Er war mit der Behrens in die Kiste gestiegen? So einen Patzer hatte er sich nicht mehr geleistet seit seiner Affäre vor vier Jahren mit seiner Ex, mit der er damals unvorsichtigerweise ein Kind gezeugt hatte.

Als Alicia Behrens erwachte, wandte sich Sigi schnell wieder um und schloss die Augen.

Erst mal Zeit gewinnen.

Er blinzelte, während sie sich aufrichtete und das Laken von ihr herunterrutschte. Auf ihren sonnengebräunten Schultern und Armen sprenkelten sich lustige Sommersprossen. Als er einen Blick auf ihre Brust erhaschte, schloss er schnell die Augen – auch wenn das, was er sah, nach dieser Nacht wohl nichts Fremdes mehr für ihn war.

Verdammt, wie hatte er so tief in die Scheiße greifen können?

 

Eben erreichte sie das Badezimmer, da wurde die Tür zum Flur aufgerissen. Alicia gefror mitten in der Bewegung.

 

Sigi schreckte hoch und setzte sich abrupt auf. Schlagartig wurde ihm klar, dass die Wachsamkeit und Reaktionsschnelle, die sein Beruf mit sich brachte, ihm gerade heftig in die Quere kam. Warum hatte er nicht weiterhin so getan, als würde er schlafen? Er sah Alicia Behrens nackt in der offenen Badezimmertür stehen und neben ihr eine recht verdatterte Frau, die unangenehm geräuschvoll einen Staubsauger und einen Putzeimer auf den Dielenboden krachen ließ. Sie sprach im tiefsten Berlinerisch.

»Nu Mensch, was kikta denn so? Hängt doch jefälligst een Schild anne Tür, wenna eure Zwesamkeet haben wollt.«

Sigi brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Frau Behrens, guten Morgen. Haben Sie gut geschlafen?«

Das Grinsen von Alicia fiel noch schiefer aus. »Hallo«,

»Ick beöl ma! Wat habt ihr denn für ’ne kranke Liebschaft. Tuta euch echt noch siezen beim pimpan?«

1

Vier Tage zuvor.

 

Wo verdammt waren die Kinder?

Als Traute das Gelände betrat, durchbrach wütendes Bellen das stetige Zirpen, das aus dem vertrockneten hohen Gras zu ihr drang. Sie sah zu den Zwingern. Mehrere Hunde sprangen an dem Maschendraht hoch. Große Hunde. Nur zu gut, dass sie eingesperrt waren. Sie hasste Hunde. Und ihr verdammter Sohn, der seit zwei Stunden verschwunden war und mal wieder die vereinbarte Uhrzeit vergessen hatte, liebte diese Viecher. Jeden Köter fasste er an.

»Mark!«, rief sie und versuchte, das Gebell zu übertönen. Sie hatte ihm verboten, hierherzukommen, doch nun wünschte sie sich sehnlichst, ihn hier anzutreffen. An sein Handy ging er nicht, inzwischen machte sie sich große Sorgen.

Traute schwitzte. Ja, es war heiß. Aber das hier war Angstschweiß. Sie strich sich die graublonden Haare, die an ihrer Stirn klebten, nach hinten und ging zielstrebig auf das kleine Haus zu. Es sah verwittert und ungepflegt aus, wahrscheinlich war es das letzte Mal vor der Wende gestrichen worden. Sie klingelte. Nichts rührte sich. Sie drückte die Klinke – vergebens. Eine Runde ums Haus – mein Gott war

Innen roch es muffig.

»Mark!«

Stille.

»Hallo! Ist jemand hier?!«

Sie trat in den Wohnraum. Hier hatte sich seit der Wende nicht viel getan. Anscheinend war seitdem auch nicht aufgeräumt worden. Trotz des gleißenden Sonnenlichts draußen war es im Haus düster. Traute wollte gerade schon wieder gehen – da sah sie ihn: Marks Pullover. In zwei Schritten hatte sie das Chaos umschifft und hielt das weiße Sweatshirt in der Hand.

»Mark! Cleo! Seid ihr hier?«

Keine Antwort, nur ein dumpfes Geräusch. Sie fuhr herum. Wo war der Laut hergekommen? Ihre Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit im Haus gewöhnt, jetzt sah sie den schwachen Lichtschein, der durch einen Türspalt fiel. Neben der Tür hing ein schwerer Eisenriegel samt Schloss. Wieder das dumpfe Geräusch. Es kam eindeutig von dort.

Traute zog an der Klinke und sah im Licht einer nackten Glühbirne die steile Kellertreppe. Ein fauliger Geruch schlug ihr entgegen.

Die Sorge um ihren Sohn befahl ihr, die schmale Stiege hinunterzustürzen, gleichzeitig spürte sie den starken Drang, davonzulaufen.

»Hallo! Wer ist denn da!«

Wieder nur ein dumpfes Geräusch, das mit dem unangenehmen Geruch zu ihr heraufdrang.

Zittrig setzte sie den ersten Fuß auf die Treppenstufen.

Die Teresa, der Aufenthaltsraum, in dem Alicia Behrens ihre Therapie abhielt und der an eine große, verglaste Terrasse erinnerte, lag in einem dem Wald zugewandten Teil der psychosomatischen Klinik Wannseehof. Da alle neunzig Patienten zeitgleich Gruppentherapiesitzungen hatten, war es in dem hässlichen Sechzigerjahrebau, von dem aus man bis hinunter zum See blicken konnte, still.

Die Psychologin und Leiterin des Therapeutenteams war wie üblich spät dran und trat ein paar Minuten nach Beginn der Stunde in die Teresa. Ihre Patienten warteten schon. Neun von ihnen unterhielten sich und planten einen frühabendlichen Ausflug ins nahe gelegene Potsdam. Der zehnte stierte Alicia mürrisch entgegen.

»Ein bisschen Pünktlichkeit kann man doch wohl erwarten!«

Es war Robert, der Frührentner und Neuzugang von letzter Woche.

Alicia setzte sich und sah ihn fröhlich an. »Na dann fangen wir doch gleich mit dir an.« Sie hatte bei Dienstantritt vor sechs Jahren das therapeutische Du in der Klinik eingeführt, um den Patienten gleich vom ersten Tag an klarzumachen, dass sich alle hier auf Augenhöhe begegneten und die Therapeuten sie nur unterstützen, aber niemandem die Arbeit abnehmen konnten. »Wie waren die ersten Tage?«

»Ich weiß immer noch nicht, was ich hier soll! Ich wollte eine Kur! Ruhe, Massage, Kneipp-Anwendungen. Und jetzt sitze ich hier mit einem Haufen Verrückter.«

So hatte Alicia Robert auch im Aufnahmegespräch erlebt. Kategorie Widerständler, passiv-aggressiv. Auch wenn er es

Alicia registrierte, dass alle Robert ansahen und dass dieser es hasste. Er war einer von den Leuten, die provozierten, um sich dann darüber aufzuregen, dass er mit – seiner Meinung nach – harmlosen Bemerkungen aneckte.

»Vielleicht bist du einigen von den anderen Patienten ähnlicher, als du glaubst.«

»Ich finde es unverschämt, dass Sie das sagen«, verweigerte er das Du. »Alkoholiker und Drogensüchtige sind das. Ich habe mit deren Problemen nichts zu tun. Ich habe mein persönliches Thema und das geht die nichts an.«

»Es gibt keine persönlichen Themen. Unsere Themen sind universell. Du wirst in allem, was hier gesagt wird, immer etwas wiederfinden, was bei dir auch eine Rolle spielt. In verschiedenen Nuancen, aber letztendlich sind wir uns alle doch ähnlich in dem, was uns bewegt. Du kannst viel von den Prozessen der anderen lernen.«

»Was soll ich denn von willensschwachen Abhängigen lernen!«

»Das ist unverschämt!«, fuhr Michaela ihn an. Die Lehrerin hatte kurz geschnittene, rote Haare und nun nahm auch ihr Gesicht diese Farbe an.

Robert faltete die Hände vor dem voluminösen Bauch und reagierte nicht. Er sah sich in der Runde um. Feindseligkeit schlug ihm entgegen.

»In unserem Aufnahmegespräch«, sagte Alicia, »hast du erzählt, dass du dein Leben lang unter Einsamkeitsgefühlen

3

Traute war langsam die Treppe hinuntergestiegen. An den Wänden hingen Poster von Hunden verschiedener Rassen und gerahmte Urkunden von Zuchtprüfungen. Das Licht schien einzig von dem Computerbildschirm in der Arbeitsecke auszugehen. Der Bildschirmschoner schickte fortwährend einen animierten Hund über den Monitor.

Einem unguten Bauchgefühl folgend stieß Traute die Maus an und der Bildschirmschoner verschwand. Stattdessen zeigte sich nun ein Computerspiel. Die Panik packte Traute. Sie starrte auf einen animierten Mann, vor dem auf einem Bett zwei nackte, animierte Jungen lagen.

»Hallo! Mark! Cleo!«, schrie sie.

Keine Antwort, kein Laut – nur ein stetiges Summen aus der Kellerecke. Dort stand ein alter, hüfthoher Kühlschrank. Auf der vergilbten Ablage sah Traute ein rotes Taschenmesser. War es – ja, es war eines von Marks Schweizer Taschenmessern! Sie erkannte eindeutig das rote Schlüsselband mit den weißen Kreuzen darauf.

Wo waren die Kinder? Wo verdammt waren die Kinder? Sie stolperte zum Kühlschrank. Wie sie seine Messerkollektion verabscheute und mit welcher Besessenheit Mark auf dieser Sammlung beharrte. Zittrig griff sie nach dem verhassten Gegenstand. Ein Werkzeug war aus dem Korpus

Die Polizei, sie musste sofort die Polizei rufen.

»Was suchen Sie hier …?«

Traute fuhr herum, als sie die raue, lallende Stimme hörte. Der Mann musste auf der Liege am dunklen Ende des Raums gelegen haben. Die kurze Hose und das ärmellose T-Shirt zeigten hagere, aber muskulöse Beine und Arme, und auf der Halbglatze glänzte Schweiß. Nun kam er auf sie zugestürzt, torkelte, stieß gegen die Schreibtischplatte, so dass der Monitor gefährlich wackelte.

»Wo sind die Kinder?«, schrie sie ihn an. »Sie Schwein, was haben Sie mit Mark und Cleo gemacht?«

»Sie … verschwinden Sie …«, keuchte er, dann fiel er auf sie.

Etwas in Traute übernahm das Kommando. Es war, als hinke ihr Verstand zwanzig Sekunden hinter dem her, was passierte, und als sähe Traute sich selbst zu – als wäre es eine ganz andere Frau, die gerade zustach. Sie hatte Marks Taschenmesser noch in der Hand. Der spitze Korkenzieher war noch ausgeklappt. Sie traf das Schwein an der Halbglatze und obwohl sie abrutschte, floss sofort Blut. Trautes Arm, der sich ganz fremd anfühlte, holte ein zweites Mal aus und stach erneut zu. Erst als sie auf etwas Hartes stieß, es warm an ihrer Hand herunterfloss und ihr Tröpfchen ins Gesicht klatschten, zog sie das Taschenmesser zurück.

Der Mann griff hart nach Trautes Hals, packte zu, strauchelte, und sein Gewicht zog sie mit auf den Boden. Er lag jetzt auf ihr. Sie merkte, dass sie schrie, und es war unmöglich, es abzustellen. Wieder holte sie aus, diesmal traf sie ihn

»Was haben Sie mit den Kindern gemacht?«

Er röchelte und hielt sich den Hals. Sein Blick versuchte sie zu fixieren, doch er war ganz offensichtlich zu betrunken. Seine Brille hing ihm jetzt schief im Gesicht. In seinem Hals steckte das Taschenmesser mit dem dicken, roten Griff. Ein weißes Kreuz darauf war nicht mehr auszumachen.

Traute starrte auf ihn hinunter. Was hatte sie getan? Was, wenn er ohnmächtig wurde oder gar starb, bevor sie aus ihm herausbekam, wo die Kinder waren? Was, wenn er noch Komplizen hatte? Andere Schweine, die die Kinder mitgenommen hatten? Die wiederkommen würden?

»Bitte«, sie klang nun flehend, »sagen Sie es mir. Wo ist Mark?«

Sein Arm, auf den er sich aufzustützen versuchte, knickte unter seinem Oberkörper zusammen. Der Widerling, dieser fleischgewordene Albtraum, blieb regungslos auf dem Boden liegen. Sein Blick verlor sich im Nichts.

Die fremde Frau in ihr griff nach dem Messer, das im Hals des regungslosen Kinderschänders steckte, und zog. Doch es steckte fest. Der Korkenzieher hatte sich irgendwo verhakt.

Traute schrie auf, als sie etwas an der Hüfte berührte, und sprang über den bewegungslosen Körper hinweg, ohne das Messer loszulassen. Es löste sich mit einem leisen, krachenden Geräusch. Traute hielt es schützend vor sich – doch sie war alleine. Als sich die Berührung wiederholte, merkte sie, dass es nur ihr Handy war, das in ihrer Tasche vibrierte.

»Hallo?«

»Hast du sie gefunden?« Franziskas Stimme klang angespannt.

Trautes Enttäuschung war grenzenlos und wurde sofort von brennendem schlechtem Gewissen abgelöst. Sie hatte Franziska erst vor Kurzem kennengelernt, aber Cleos Mutter war schon zu einer engen Freundin geworden.

Traute starrte auf den Computermonitor, sah die animierten, nackten Kinder. Starrte auf den Mann am Boden, kämpfte gegen einen Heulkrampf an.

Ihr war immer noch, als stünde sie außerhalb ihrer selbst, spürte weder Beine noch Arme. Was sollte sie machen? Die Polizei rufen? Würden die sie verhaften? Hatte sie den Mann getötet? Er war anscheinend sturzbetrunken gewesen, er hatte sie angegriffen, würde sie mit Notwehr davonkommen? Was würde mit Mark passieren, wenn die Polizei sie verhaftete?

»Bist du noch dran?«, hörte sie Franziska durch das Telefon.

»Ja.« Langsam gewann sie die Kontrolle über sich zurück und vermied es, den am Boden liegenden Körper anzusehen. Sie wollte ihn nicht mal mehr anfassen, um zu fühlen, ob er noch einen Pulsschlag hatte. Sie wickelte Marks blutiges Taschenmesser in den Pullover ein. Hatte sie etwas anderes angefasst als das Messer? Nein. Die Computermaus hatte sie nur mit dem Knöchel berührt. »Ich habe die Kinder nicht gefunden. Du musst sofort eine Fahndung rausgeben lassen. Ruf die Polizei an!«

»Sie sind Stunden über der verabredeten Zeit!«

»Erinnerst du dich an diesen Typen, der die Hunde hatte? Könnten sie da sein?«

Traute wurde übel. »Ich habe ganz schlechten Empfang, ich rufe zurück.«

Sie stürzte die Kellertreppe hoch und widerstand der Versuchung, sich in der schmutzigen Küche die Hände zu waschen. Sie durfte nicht noch mehr Spuren hinterlassen, als sie es vielleicht sowieso schon getan hatte. Sah man das nicht heutzutage in jeder beliebigen Krimiserie? Kleinste DNA-Spuren, die jeden überführten? Mit einem frischen Taschentuch wischte sie die Klinke der Hintertür ab, dann rannte sie über den Hof zum Tor und versuchte, sich nicht zu übergeben, bis sie in ihrem Auto saß und eine Plastiktüte gefunden hatte. Erst als sie überlegte, wo sie die übel säuerlich riechende Tüte entsorgen sollte, bemerkte sie die Blutspritzer auf ihrem T-Shirt. Sie zog es aus und stopfte es zusammen mit Marks Pullover und dem Taschenmesser in die große, strassbesetzte Handtasche, die Franziska ihr vor ein paar Tagen geschenkt hatte. Dann griff sie zu dem Beutel für die Reinigung, den sie am Morgen achtlos auf die Rückbank geworfen hatte. Sie zog die Seidenbluse heraus, die nicht mehr ganz taufrisch roch, aber sie zumindest nicht aussehen ließ wie eine Mörderin.

Mein Gott, sie hatte einen Menschen umgebracht. Sie hatte den Mann umgebracht, der wusste, wo Mark und Cleo waren. Was für ein unverzeihlicher Fehler.

Sigi Kamm hatte in Potsdam in einem schattigen Café der Fußgängerzone gesessen, beim Zeitunglesen ein deftiges Mittagessen eingenommen und die Touristen angeguckt – hauptsächlich die sommerlich bekleideten Touristinnen. Bis vor einiger Zeit hätte er sich noch als großen, kräftig gebauten Kerl bezeichnet. Aber da er sein ewiges Vorhaben, mit dem Joggen anzufangen, immer noch nicht umgesetzt hatte, begann er bullig zu werden. Und so verkniff er sich den Eisbecher, den alle um ihn herum verspeisten.

Er hatte an diesem herrlichen Tag Rufbereitschaft und freute sich, als das Display seines Handys auch beim vierten Anruf nicht die Nummer des Präsidiums zeigte. Insofern ignorierte er auch dieses Klingeln und schlenderte ziellos und zufrieden mit sich und der Welt durch die Gassen Potsdams.

Umso schlimmer war die Überraschung, als er in seine kleine Dachgeschosswohnung im Zentrum zurückkam.

Und dann, mitten in der ganzen Scheiße, rief doch noch das Präsidium an.

 

Bevor er die Leiche sah, wappnete er sich innerlich gegen den Anblick. Sein Weg zum Tatort führte ihn entlang der Russischen Kolonie, einem parkähnlichen Dorf, in dem sich Blockhäuser und Gehöfte aus dem frühen 19. Jahrhundert zum UNESCO-Weltkulturerbe gemausert hatten, ebenso wie eine kleine russische Kirche.

Er ließ die ehemalige Kaserne – nun war es eine backsteinerne Wohnanlage mit teuren Reihenhäusern und Wohnungen – hinter sich und stellte seinen Kombi mitten auf der Straße ab. Der breite Spazierweg, der in den Wald führte, war

Sigi bückte sich unter dem gelben Flatterband durch, das quer über den Weg gespannt war. Ein Uniformierter grüßte ihn.

»Den Weg hoch. Direkt am Ruinenberg.«

»Seit wann haben wir gelbes Flatterband?«

»Ist nicht von uns.«

Der Uniformierte deutete auf zwei Warnschilder. Achtung, Eichenprozessionsspinner. Keine Raupen oder Nester berühren! Lebensgefahr!

Und: Betreten des Waldstücks vom 15.6. bis 2.7. verboten – Insektizid-Einsatz!

Ein idealer Tatort, dachte Sigi. All die Sommertouristen hielten sich in diesen Tagen von hier fern. Wer immer diesen abartigen Mord begangen hatte, er war dabei höchstwahrscheinlich ungestört geblieben.

 

Das Nachmittagslicht tauchte den Ruinenberg in warme Töne. In dem Wasserreservoir auf der Anhöhe, das im 18. Jahrhundert die Fontänen im Park Sanssouci gespeist hatte, spiegelte sich die Sonne. Darüber hoben sich die antikisierten, künstlich auf Ruine getrimmten Säulen in die Höhe.

Von hier aus konnte man hinüber zur Schlossanlage von Sanssouci sehen.

Um den Tatort herum summte es. Es war ein guter Sommer für Kriechzeug und Wespen.

Sigi ging hinüber zu seinem drahtigen Kollegen Hobrecker, dessen Gesicht von Akne vernarbt und dessen sächsischer Akzent schon von Weitem zu hören war:

Der Forstarbeiter, der den grausigen Fund gemacht hatte, starrte mit weit aufgerissenen Augen zu der Leiche hinüber. »Was wollten die hier! Überall hängen die Warnschilder! Morgen sollen die Sprüharbeiten losgehen. Wir kommen mit speziellen Wagen, das Insektizid muss ja auch in die Baumkronen. Ich wollte nur kontrollieren, ob alle Wege für die Fahrzeuge frei sind. Und dann sehe ich die beiden da liegen …«

In Potsdam waren die Eichenprozessionsspinner nahezu jeden Sommer ein Problem. Letztes Jahr mussten sich über tausend Leute in Behandlung begeben, erinnerte sich Sigi. Die Nesselhaare der Raupen konnten schwere Allergien auslösen und sogar zum Atemstillstand führen.

»Glauben Sie, das Kind ist wegen der Raupen gestorben?«, fragte Sigi, während er herantrat und sich als Hauptkommissar der Mordkommission Potsdam auswies.

Der Forstarbeiter schwitzte. »Das müssen Sie schon einen Arzt fragen, ich kenne mich nur mit Insekten aus.«

 

Sigi und Hobrecker gingen hinüber zum Wasserreservoir. Das Kind, das dort im Gebüsch lag, war dreizehn, maximal vierzehn Jahre alt. Kurze Hose, Leinenturnschuhe, ein dunkelblaues T-Shirt mit einer roten Aufschrift: Weltmacht mit drei Buchstaben: ICH. Die jungen Augen waren grün und starrten in den weiten Himmel. Die Haare flatterten leicht in der Sommerbrise und für einen Moment sah dieser kleine Mensch gar nicht tot aus.

Sigi würgte.

»Das andere Kind?«, wandte er sich an Hobrecker und

»Es war bewusstlos. Die Sanitäter haben es schon ins Krankenhaus gebracht.«

»Wie nackt war es?«, fragte Sigi und versuchte, das leichte Zittern in seiner Stimme zu überspielen.

»Bis auf ein T-Shirt: komplett.«

»Anzeichen von Missbrauch?«

»Beide Kinder haben Hämatome und Narben. Schlimmeres … das müssen die im Krankenhaus und in der Gerichtsmedizin sagen.«

»Spurensicherung?«

»Unterwegs. Wird Arbeit. Die Sanitäter haben hier ziemlich gewütet. Und dann die ganzen Touristen, hier liegt einiges an Müll rum.«

Sigi sah sich um. »Die fehlende Kleidung?«

»Bislang nichts. Hat der Täter mitgenommen.«

Die Kollegen hatten keine Hinweise auf die Identität der beiden Kinder gefunden, lediglich Fahrrad- und Haustürschlüssel. Keine Schülerausweise, keine Handys.

Sigi ging neben der zarten Leiche in die Hocke. »Welche Haarfarbe hat das andere Kind?«

»Auch braun.«

»Und die Sanitäter?«

»Einer hat schwarze Haare und einer ’ne Glatze.«

Sigi deutete auf die blaue Shorts und das schwarze T-Shirt. Die weißen Haare darauf hoben sich deutlich von dem Stoff ab.

 

»Sag mal«, fragte Sigi beiläufig, »kann ich vielleicht ein paar Tage bei dir pennen?«

Der erschrockene Blick seines Kollegen nahm die Antwort vorweg. »Ich hab doch vor drei Wochen Corinna kennengelernt. Na ja …«

Sigi winkte ab. »Alles klar. Da will ich die langen, lauschigen Sommernächte nicht stören.«

Verdammt. Als Sigi nach dem Mittagessen in seine Wohnung zurückgekehrt war, hatte die Tür offen gestanden. Zwei Männer waren über das nasse Parkett gewatet.

»Ihre Waschmaschine ist ausgelaufen. Unten tropft’s von der Decke. Sie sind nicht an Ihr Telefon gegangen!« Ein deutlicher Vorwurf hatte in der Stimme des Hausmeisters gelegen.

Und der Handwerker hatte ihm dann gänzlich den Tag versaut: »Das ganze Parkett muss raus. Sie müssen sich Entlüfter aufstellen, mindestens zwei Wochen. Können wir Ihnen leihen. Lassen Sie sie vierundzwanzig Stunden am Tag laufen, auch wenn die Dinger höllisch laut sind. Also, wenn Sie ’ne Freundin haben, rate ich Ihnen: übernachten Sie solange bei ihr.«

Er hatte keine Freundin. Und ausgerechnet der ewige Single Hobrecker hatte sich diesen Sommer eine wilde Liebschaft angelacht.

Nach der Gruppentherapie eilte Alicia Behrens durch die schattigen Klinikflure und die Treppe zu ihrem Büro hinauf. Während sie mit ihren Patienten gearbeitet hatte, war im Radio ein Interview gesendet worden. Den Anfang hatte sie noch vor der Gruppe hören können.

»Da unser heutiger Gast in ›Live in Berlin‹ anonym bleiben möchte, nennen wir ihn Herr Müller. Guten Tag, Herr Müller.«

Die Stimme von Herrn Müller, von dem Alicia wusste, dass er in Wahrheit Christopher Diez hieß und allen Grund hatte, seine Identität zu schützen, klang etwas nervös. Das machte ihn sympathisch. Kein abgebrühter Wissenschaftler, der die Antworten herunternudelte, als läse er jemandem seinen Einkaufszettel vor. Während ihres Mailaustauschs in den letzten Wochen hatte Alicia sich manchmal gefragt, wie er wohl aussah. Fotos von ihm hatte es keine im Internet gegeben. Verständlicherweise.

»Herr Müller ist ein bekannter Sexualwissenschaftler aus Bayern, der sich auf die Therapie von Pädophilen spezialisiert hat«, erzählte der Radiomoderator. »Es ist geplant, in Potsdam eine Therapiegruppe für Menschen mit dieser Störung zu gründen. Und egal, wie oft diese Patienten schon Kinder missbraucht haben, sie werden nicht angezeigt und bekommen die Therapie auch noch bezahlt. Das wird sicher nicht auf Gegenliebe stoßen, oder?«

Müller alias Christopher Diez antwortete ruhig. »In den letzten Jahren haben in Deutschland weit über zweitausend Pädophile an diesem Projekt teilgenommen. Es können allerdings nur Menschen diese Therapie in Anspruch nehmen, die nicht polizeilich wegen Missbrauchs erfasst

»Und wie viele der Teilnehmer sind schon zu Tätern geworden und sitzen nun straffrei bei Ihnen?«

»Ungefähr die Hälfte. Für uns ist wichtig, dass diese Männer ihre pädophile Störung unter Kontrolle bekommen wollen. Ich verstehe, dass vielen unsere ärztliche Schweigepflicht aufstößt, genau wie die Tatsache, dass wir die Taten nicht zur Anzeige bringen. Aber ich sehe es so: Pädophile kommen zu uns, weil sie sich auf die Schweigepflicht verlassen können. Das gibt uns die Chance, die Zahl der Täter immer mehr zu verringern. Und das ist es, worum es bei dem Projekt geht. Wir arbeiten präventiv und verhindern, dass Kinder zu Opfern werden.«

An dieser Stelle hatte Alicia den Radiobeitrag ausstellen und in ihre Gruppe gehen müssen. Nun fand sie das Interview als Podcast im Internet und lud es herunter.

Der Sexualwissenschaftler erklärte, dass die Patienten über zwei Jahre begleitet wurden, in denen sie lernten, dass Pädophilie eine ernste Störung sei und das oberste Gebot, kein Kind zu Schaden kommen zu lassen.

»Das heißt«, sagte Herr Diez, »die Männer müssen auch lernen, Situationen zu vermeiden, die sie in ihrer Störung ansprechen.«

»Es gibt in Amerika großes Interesse, das Projekt auch dort umzusetzen. Doch es gibt Schwierigkeiten?«

Alicia war beeindruckt. Amerika wollte mal etwas anderes als Autos, Süßigkeiten, Christstollen und Sauerkraut aus Deutschland importieren?

»Wollen Sie etwa sagen, die Kinderschänder können nichts dafür?«

Alicia verstand die Empörung in der Stimme des Moderators nur zu gut.

»Unsere sexuelle Präferenz bildet sich in der Pubertät aus«, erwiderte der Sexualwissenschaftler. »Danach bleibt sie unverändert. Niemand kann etwas dafür, ob er heterosexuell wird, schwul, lesbisch, bisexuell – die normalen, gesunden Varianten der sexuellen Neigung –, oder ob er eine krankhafte, pädophile Störung entwickelt. Doch jeder Pädophile trägt die Verantwortung, sich Hilfe zu holen und alles daranzusetzen, dass keine Kinder zu Schaden kommen. Dazu zählt auch, keine sogenannten ›Kinderpornos‹ zu gucken, denn das sind Bilder und Videos, die schweren sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen.«

Alicia dachte an die unzähligen Fotos missbrauchter Kinder im Internet. Ein Gefühlssalat aus Schmerz, Ohnmacht, Traurigkeit und Wut machte sich in ihrem Magen bemerkbar. Bei diesem Thema funktionierte ihr inneres Abgrenzungssystem immer noch nicht so gut, wie sie es sich wünschte, fünf Jahre Studium und dreimal so viele Jahre Praxiserfahrung hin oder her.

Alicia zweifelte plötzlich daran, ob ihr Date mit Christopher Diez wirklich so eine gute Idee war. Wenn sie sich einen Abend über Pädophile unterhielte, bräuchte sie am nächsten Tag Urlaub. Aber sie war zu neugierig auf den Mann hinter dem beeindruckenden Projekt.

Hm.

Sie musste erst mal eine rauchen.

6

Als Sigi Kamm vor der Klinik Wannseehof parkte, erinnerte er sich an den Winter, als er das erste Mal durch diese Drehtür gegangen war. Es hatte wie verrückt geschneit und drinnen hatte ein großer Weihnachtsbaum geleuchtet. Eigentlich hatte er damals gehofft, Alicia Behrens nie wiederzusehen, nachdem sie beide eine Gerichtsverhandlung so gestört hatten, dass sie mit Geldbußen belegt worden waren. Sie waren als Zeugen dort gewesen, aber sie hatten einfach nicht aufhören können, sich an den Karren zu fahren und zu beleidigen.

 

Im Empfangsbereich standen noch dieselben etwas abgewetzten Ledersessel und noch immer hing über ihnen ein Ölgemälde mit dem bunt gepinselten Satz: Hier bekommst Du nicht das, was Du willst, sondern das, was Du brauchst.

Die Empfangsfrau führte Sigi in den Speisesaal. Es herrschte ausgelassene Stimmung. Um die hundert Patienten redeten, lachten, ließen Geschirr auf die Tische krachen, Besteck klimpern, und dementsprechend hoch war der Geräuschpegel. Alles in allem wunderte sich Sigi, dass es sich hier um ein Abendessen einer psychosomatischen Klinik handelte. Wo waren all die Depressiven? Die Endzeitstimmung? Die Lebensmüdigkeit?

Die Empfangsfrau deutete quer durch den Raum zur Fensterfront. In der Ecke, mit Blick ins Tal, standen die Therapeutentische. Sie waren nur spärlich besetzt, die meisten hatten schon Feierabend. Sigi sah eine Frau mit braunen Haaren. Sie saß mit dem Rücken zu ihm. Unter ihren Locken lugten sommerlich gebräunte Schultern hervor, ein knielanger Rock ließ den Blick auf ihre sportlichen Waden frei.

Der Frau gegenüber saß Dr. Härtl, der Klinikleiter. Er hatte sich nicht groß verändert, er war vielleicht etwas grauer geworden in der Zwischenzeit. Als er auf Sigi aufmerksam wurde, stockte er mitten in der Kaubewegung. Die Frau folgte seinem Blick, drehte sich um und …

Alicia Behrens entdeckte Sigi. Sie sah großartig aus. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass sie ihn erfreut anlächelte.

Er fragte sich, ob sie sich wieder bereit erklären würde,

»Dass ich Sie wiedersehe, hat unerfreuliche Gründe, oder?« Ihr Lächeln erstarb.

Sigi nickte. »Ich brauche einen guten Kriseninterventionsspezialisten.«

Alicia Behrens sah zu Dr. Härtl, dann zurück zu Sigi. »Sie mochten mich nicht sehr. Und auch nicht meine Arbeit. Es muss schlimm sein, wenn Sie wiederkommen.«

Sigi bemerkte, dass der Chef von Frau Behrens unruhig seinen Teller zur Seite schob. Was er gehört hatte, genügte wohl schon, um ihm den Appetit zu verderben.

»Wir sind damals zu hervorragenden Ergebnissen gekommen«, wiegelte Sigi ab. »Können wir ungestört reden?«

»Ich würde das auch gerne hören!«, sagte Dr. Härtl so nachdrücklich, dass sich einige Patienten zu ihnen umdrehten.

 

Sie traten auf den rückwärtig gelegenen Parkplatz der Klinik. Vom Wald zog schon kühlere Luft heran und die Psychologin warf sich einen Pullover über die Schultern. Dr. Härtl trug ein ausnehmend hässliches kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln. Sigi verabscheute solche Hemden, so wie er kurze Hosen verabscheute. Guter Stil, so fand er, war die Langform. Hemden konnte man hochkrempeln, und Männerbeine entblößte man nur am Strand, im Schwimmbad oder bei der Liebe.

Im dritten Stock lehnte sich eine Patientin aus dem Zimmer und spähte neugierig zu ihnen hinunter.

»Wie lange muss sie denn noch in Klausur sein?«, fragte Härtl.

»Einzelhaft?«, fragte Sigi amüsiert. »Was hat sie angestellt?«

Die Psychologin zündete sich eine Zigarette an. »Sie hat geraucht.«

Sigi erinnerte sich an die Abstinenzregeln, die ihm Frau Behrens während des letzten Falls erklärt hatte: Während des Klinikaufenthalts keinen Alkohol, kein Nikotin, keine Drogen, kein Koffein, keine Musik, keine Bücher, kein Techtelmechtel mit anderen Patienten – das volle Programm. Half angeblich, so richtig tief in die eigene Seelenscheiße einzutauchen und »Fortschritte« zu machen.

»Weswegen sind Sie hier?«, fragte der Klinikleiter mit einem Blick zu der Patientin im offenen Fenster. Sie war außer Hörweite.

»Ich kann absolutes Stillschweigen voraussetzen?«, versicherte sich Sigi und fuhr fort: »Zwei Kinder, eines tot, eines hat überlebt, ist aber noch bewusstlos. Einiges deutet auf ein Sexualverbrechen hin. Wir haben die Ergebnisse des Toxscreenings aus dem Krankenhaus bekommen. Das überlebende Kind wurde mit Liquid Ecstasy betäubt. Ob es dadurch Schäden davongetragen hat, können die Ärzte noch nicht sagen. Die Gerichtsmedizin testet gerade das tote Kind auf den Stoff.«

»Die Vergewaltigungsdroge«, sagte Alicia Behrens.

Sie sah ehrlich erschüttert aus, fand Sigi.

»Warum ich?«, fragte sie und gab sich keine Mühe, ihr Misstrauen zu verbergen.

»Das würde ich auch gerne wissen«, mischte sich ihr Chef ein.

Behrens und Härtl wechselten einen Blick. Sie schwiegen betroffen.

Sigi wusste, dass er sie im Sack hatte, aber legte nach. »Die beiden Frauen sind wohl unsere wichtigsten Zeuginnen. Aber die seelische Unterstützung, die sie aus dem nahen Freundeskreis bekommen, wird wahrscheinlich nicht reichen. Wie sollen sie sich gegenseitig stützen? Ich brauche in dem Fall dringend einen Kriseninterventionsspezialisten, der mehr kann, als nur Händchen halten.«

Die Therapeutin nickte. »Das Kind, das überlebt hat, ist es bei Bewusstsein?«

»Noch nicht.«

»Haben Sie einen Kinderpsychologen kontaktiert?«

»Darum wird sich das Krankenhaus kümmern.«

»Wann brauchen Sie mich?«

Das war besser gegangen, als Sigi gehofft hatte. »Jetzt.«

»Jetzt? Sofort? In diesem Moment?«

Sigi nickte.

»Oh.« Einen Moment lang sah sie aus wie ein ratloses Kind. »Ich habe einen Termin …«

»Bitte verschieben Sie ihn.«

Alicia Behrens holte ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Ganz offensichtlich erreichte sie nur die Mailbox.

Dr. Härtl fasste die Leiterin des Therapeutenteams am Arm. »Was heißt das für Ihre Arbeit hier?« Er klang alarmiert.

»Ich erwarte keine negativen Auswirkungen«, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch es schien ihr nicht zu gelingen:

»Sie lassen dieses Mal die Angehörigen in Ruhe. Sie halten sich fern von den Familien und bringen da nicht wieder alles durcheinander!«

Sigi merkte, dass sie Mühe hatte, nicht zu widersprechen. Aber sie hielt den Mund.

Der Klinikleiter war noch nicht zufrieden. »Ich kenne diesen Ausdruck in Ihren Augen. Der gefällt mir nicht.«

Sigi wollte los. Betont jovial sagte er: »Ich passe schon auf sie auf.«

Der Blick von Alicia Behrens, der ihn traf, war amüsiert und kampfeslustig. So einfach würde es wohl doch nicht werden … Aber sie war mit an Bord und das war erst mal das Wichtigste für den anstehenden Besuch bei den Müttern der Kinder.