Katja Maybach
Roman
Knaur eBooks
Katja Maybach lebte viele Jahre in Paris und arbeitete in der Modebranche. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Zeitschriften, unter anderem der italienischen »Vogue«, veröffentlicht. Nach einer schweren Krankheit begann sie erfolgreich, Romane zu schreiben. Die Autorin hat zwei erwachsene Kinder und lebt heute in München.
Copyright © 2015 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2015 für die Originalausgabe bei Knaur Taschenbuch.
Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
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Redaktion: Carola Fischer
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Riitta Supperi / gettyimages
Das Zitat von Aristoteles wurde folgender Quelle entnommen: Eberhard Puntsch: Das große Handbuch der Zitate. Das ultimative Nachschlagewerk für Schule, Beruf und Familie. Berlin: Signa, 1997
ISBN 978-3-426-42531-2
»Freundschaft ist eine Seele in zwei Körpern.«
Aristoteles
Dalia
Paris, Juni 1979
Wenn sie sich nicht bewegte, einfach nur ruhig dalag, verloren sich die Bilder, die Erinnerungen, die sich ihr aufdrängten, seit sie den Anruf erhalten hatte. In diesem Augenblick zog die Musik sie in die Wirklichkeit zurück.
Dalia hob den Kopf und lauschte. Tamás hatte sich im Musikzimmer an den Flügel gesetzt und spielte Schubert.
Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir …
Dalia lächelte und entspannte sich langsam. Schließlich stand sie auf und zog den Kimono an, den ihr Tamás von einer Konzerttournee aus Japan mitgebracht hatte. Im Musikzimmer trat sie unbemerkt hinter ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Schön«, flüsterte sie ihm zu, »das klingt wie früher.«
»Ja, es wird besser«, gab er zu, ohne sich umzudrehen. Dalia ließ ihn los und setzte sich auf die récamière, nicht weit entfernt vom Flügel.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte er, nahm die Hände von den Tasten und wandte sich ihr zu.
Dalia schüttelte den Kopf. »Ich habe wieder geträumt, von damals.«
»Wieso so plötzlich?«
Als Antwort zuckte sie nur schweigend die Schultern und schien ganz damit beschäftigt, ihren Kimono über die Knie zu ziehen.
»Was ist los?« Tamás warf ihr einen prüfenden Blick zu, erhob sich vom Schemel und setzte sich neben sie.
Jetzt sah Dalia auf.
»Gestern hat mich der Anwalt meines Vaters angerufen, ein Dr. Küppers. Er bat mich, in die Rheinberg-Villa zu fahren und dort Dokumente aus dem Safe zu holen.«
»Kennst du die Kombination?«
»Nein, noch nicht. Aber ich bekomme sie in einem verschlossenen Kuvert. Dr. Küppers betonte, mein Vater sei sehr eigen in dieser Sache und will nur mir die Kombination geben. Er wollte wissen, wann ich kommen könnte und so haben wir uns auf nächsten Freitag geeinigt.«
Tamás schwieg, massierte nur seine Hand und ließ sie kreisen. »Warum hast du mir nichts von dem Anruf erzählt?«, fragte er dann. »Das klingt ja alles sehr geheimnisvoll.«
»Ich wollte mir erst klar darüber werden, was ich will. Jetzt aber habe ich mich entschlossen, heimzufahren. Es ist der richtige Zeitpunkt«, setzte sie ruhig hinzu und sah Tamás an, der weiterhin seine Fingerübungen machte.
»Warum solltest du das machen?«
»Mein Vater ist in einer Klinik. Wo genau, hat man mir nicht gesagt, es soll geheim bleiben.«
»Wieso geheim?«, wollte Tamás wissen.
»Weil ihn die Presse verfolgt, seit er letztes Jahr zum erfolgreichsten Unternehmer des Jahres gekürt wurde. Er ist schwer herzkrank und muss jede Aufregung vermeiden.«
»Wegen dieser Auszeichnung wird er verfolgt?«
Dalia schüttelte den Kopf. »Nein, aber irgendein Journalist hat die Vergangenheit ans Licht gezerrt. Und plötzlich ging die alte Geschichte wieder durch die gesamte Boulevardpresse.«
»Ach so, verstehe. Und wirst du deinen Vater besuchen?«, fragte Tamás weiter.
»Tamás, bitte stell mir nicht so viele Fragen, ich weiß es einfach noch nicht.« Tamás sah seine Frau überrascht an, da ihre Stimme ungewohnt gereizt klang. »Du weißt doch«, erklärte Dalia jetzt in ruhigerem Ton, »mein Vater und ich hatten nie eine enge Beziehung. Wir vermissen einander nicht. Aber trotzdem werde ich am Donnerstag nach Wien fliegen, da der Anwalt mir am Freitag den Brief mit der Kombination bringen lässt.«
Tamás war immer noch damit beschäftigt, seine rechte Hand zur Faust zu schließen, sie wieder zu öffnen und die Finger zu bewegen. Dalia konnte das kaum mitansehen.
Vor zwei Jahren war ihr Mann so unglücklich eine Treppe hinuntergestürzt, dass er sich mehrmals seine Hand gebrochen hatte. Auch nach mehreren Operationen hatte er noch nicht die ganze Kraft seines Spiels und seine berühmte Leichtigkeit wiedererlangt. Doch Tamás arbeitete mit eisernem Willen an seinem Comeback.
»Aber ist es denn so eilig? Muss es schon diesen Freitag sein?«, fragte er. Dalia wollte ihm einen Kuss auf die Wange geben, aber er wich ihr aus und ging zum Flügel zurück. Er spürte ihr Mitleid, und das konnte er nicht ertragen.
»Es ist schwer für dich, dorthin zurückzukehren, nicht wahr?«, Tamás wandte ihr den Rücken zu und legte seine Hände auf die Tasten. Leicht schlug er mit seiner linken Hand ein paar Noten an.
»Ja, das ist es«, erwiderte Dalia. »Aber ich muss zurück, und jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen.«
»Dann ist es ja gut«, antwortete Tamás, ganz auf sein Spiel konzentriert. »Ich arbeite noch ein wenig. Ich versuche mich gerade an Sergej Prokofjews Konzert Nr. 3. Das ist vollkommen neu für mich. Vielleicht könnte ich es nächstes Jahr in Hongkong spielen«, setzte er beiläufig hinzu. »Zusammen mit den Londoner Symphonikern.«
»Das wäre schön«, sagte Dalia. Sie stand auf. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. Wie immer trug Tamás eine schwarze Hose und ein schwarzes Hemd. Beides stand ihm sehr gut zu seinem dunklen Teint und den graumelierten Haaren. Auf seinem Gesicht jedoch lag eine tiefe Müdigkeit, auch Enttäuschung und Resignation. Aber kaum spielte er die ersten Töne, schienen sich seine Züge zu straffen, die neue Herausforderung setzte frische Energien frei und ließ ihn alles vergessen, was nicht mit Musik zu tun hatte.
Dalia ging in ihr Schlafzimmer zurück, legte sich wieder ins Bett und zog die seidene Decke über sich. Sie dachte an das Telefonat mit Dr. Küppers. Sehr spontan hatte sie ihm zugesagt, in ihrem Elternhaus diese Dokumentenmappe aus dem Safe zu holen. Sie würde ihrem Vater damit einen Gefallen erweisen. Ausgerechnet sie, die seit einundzwanzig Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Nicht einmal, als sie seine Erlaubnis brauchte, um mit achtzehn Jahren Tamás Marai, den berühmten ungarischen Pianisten, heiraten zu können. Tamás hatte damals seinen Anwalt beauftragt, sich um die notwendigen Papiere zu kümmern. Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Sie lauschte auf das Klavierspiel, das gedämpft zu ihr hereinklang. Es war nicht Prokofjew, es war …
Wien, Wien, nur du allein …, spielte Tamás.
… sollst stets die Stadt meiner Träume sein.
Dort, wo ich glücklich und selig bin.
Ist Wien, ist Wien, mein Wien …
Dalia ließ sich in die Kissen zurückfallen.
»Tamás«, flüsterte sie, während ihr Tränen in die Augen stiegen. Er spielte diese Melodie für sie. Irgendwann hatte sie ihm erzählt, dass der alte Schlager sie an ihre Vergangenheit erinnere. Ihr Mann wollte ihr aus dem Musikzimmer einen Gruß schicken, durch die Musik zu ihr sprechen, wie er das immer tat, wenn die Worte ihm nicht genügten, sich auszudrücken. Er dachte, diese Melodie brächten ihr eine schöne Zeit in Wien, an ihre Jugend zurück.
Dort, wo ich glücklich und selig bin …
Tamás ahnte nicht, dass sie mit dieser Melodie auch eine düstere Erinnerung verband.
Die Musik hörte abrupt auf, und Tamás kam leise ins Schlafzimmer. Als er sich aufs Bett setzte, wandte Dalia sich zu ihm um. »Was ist?«, fragte sie, da er stumm blieb.
»Du siehst so jung aus.« Tamás strich ihr über die kurzen schwarzen Haare. »Du hast dich kaum verändert, seit du damals zum Vorspielen gekommen bist.«
»Das ist einundzwanzig Jahre her«, sagte sie und lächelte ihn an.
»Ich denke oft an diesen Nachmittag«, sprach Tamás weiter. »Ich habe mich sofort in dich verliebt. Du hast so zart, so verletzbar gewirkt, so ernsthaft mit deinen achtzehn Jahren. Ein Kind noch und doch schon erwachsen.«
Damals hatte Tamás gerade seine zweite hässliche Scheidung durchgemacht. Er war achtunddreißig und wollte sich nie mehr auf eine feste Beziehung einlassen. Doch es war anders gekommen.
Aber Tamás hatte nicht gewusst, dass Dalia nur zwei Monate zuvor eine große Tragödie erlebt hatte. Sie hatte dem Vorspielen bei dem berühmten Pianisten entgegengefiebert, daran hatte sie sich in dieser schweren Zeit geklammert. Doch Tamás’ Urteil war hart ausgefallen. Ihr Talent reiche nicht aus für eine berufliche Karriere, es sei nur Mittelmaß. Für Dalia war das ein tiefer Schock. Ihre Lehrerin in Wien, Maria Slomka, hatte so sehr an ihr Talent geglaubt und deshalb dieses Vorspielen in München für sie arrangiert.
Dalia hatte seinem Urteil vertraut. Es war gut gewesen, aus Wien wegzugehen und ein neues Leben an der Seite des berühmten Künstlers anzufangen.
»Wie gut du duftest«, flüsterte er an ihrer Wange.
»Das ist Kamille, damit wasche ich immer meine Haare«, sagte sie mit geschlossenen Augen. Sie spürte, wie Tamás sie nachdenklich ansah.
»Bist du dir sicher, dass du jetzt fahren willst? Du hast so viele Jahre Alpträume gehabt, Angst, in dein Elternhaus zurückzukehren, und jetzt macht es dir nichts mehr aus?«
»Es ist lange her«, antwortete Dalia leise. »Die Erinnerung ist in den vergangenen Jahren verblasst, ist nicht mehr so quälend, so verstörend. Ich habe immer gewusst, dass ich eines Tages zurückmuss und die Bitte meines Vaters ist jetzt der konkrete Anlass dazu. Wahrscheinlich würde ich es sonst immer wieder aufschieben.«
»Dann ist es sicher richtig so.« Tamás beugte sich noch einmal über sie. »Hast du es jemals bereut, mich geheiratet zu haben? Ich meine …« Er wusste nicht weiter, wie immer fiel es ihm schwer, über Gefühle zu sprechen. »Du bist noch jung mit neununddreißig, ich hingegen …«
»Stell nicht so dumme Fragen«, erwiderte sie zärtlich. Er strich ihr nachdenklich über die Haare, die Stirn, die Wangen.
»Ich will dich nicht verlieren«, flüsterte er ganz nah an ihrem Gesicht. »Niemals.«
»Das wirst du auch nicht«, antwortete Dalia ruhig, nahm seine Hand und legte ihre Wange dagegen.
Dalia
Neusiedler See
Wieso heiße ich Dalia?«, hatte sie mit sieben Jahren ihre Mutter gefragt, als sie vor einem Blumenstand am Naschmarkt mit herbstlichen Dahlien standen. »In der Schule werde ich immer gehänselt, weil es so ein komischer Name ist. Der Name einer Blume …«
Ihre Mutter lachte, das war selten, und sie sah erstaunt zu ihr hoch. »Der Name hat doch nichts mit diesen Blumen zu tun!«
»Ach so«, war Dalias kleinlaute Antwort gewesen.
Ihre Mutter lachte immer noch. »Ich wusste gar nicht, dass du das geglaubt hast, wie kommst du nur darauf? Dein Name ist hebräisch und bedeutet: Gott hat Großes getan.«
»Großes? Was meinst du damit?«
»Dass du geboren wurdest, natürlich. Und nun hör auf zu fragen.« Plötzlich hatte die Stimme ihrer Mutter so anders geklungen, so traurig, dass Dalia schwieg. Dann aber fügte ihre Mutter leise hinzu: »Es war der Vorschlag meiner besten Freundin Leah Weizmann, ihrer Familie gehörte das Haus neben uns.«
»Und jetzt gehört es Frau Jahn?« Dalia war neugierig geworden. Die alte Nachbarin besaß zwölf Katzen und zeigte sich kaum außerhalb des Hauses.
»Ja, aber das ist eine lange Geschichte, ich erzähle sie dir, wenn du groß bist.«
»Ich bin groß«, protestierte Dalia. »Ich gehe schon in die Schule.«
»Dann eben, wenn du noch größer bist«, antwortete ihre Mutter. Und dabei hatte sie ihr fast scheu über die dunklen Haare gestrichen; auch diese Zärtlichkeit war selten und machte Dalia verlegen.
Viele Erinnerungen, kurze Momente von früher drängten sich seit dem ersten Telefonat mit Dr. Küppers in Dalias Gedanken. Dinge, die längst vergessen schienen.
Gestern hatte sie noch einmal mit dem Anwalt telefoniert und von ihm erfahren, dass die Haushälterin ihres Vaters, Emma Karl, am Donnerstag in der Villa auf sie wartete.
»Sie wird bis drei Uhr im Haus sein, dann muss sie leider gehen. Frau Karl wird Ihnen die Schlüssel übergeben. Und falls Ihnen ein Reporter auflauert, sagen Sie nichts«, hatte ihr Dr. Küppers noch eingeschärft.
»Was sollte ich schon sagen, ich weiß ja nichts.«
Dr. Küppers war nicht auf diese Bemerkung eingegangen. »Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn alles geklappt hat.«
Dalia war einverstanden gewesen.
Während des Flugs von Paris nach Wien war sie erstaunlich ruhig und blieb es auch noch, als sie am Wiener Flughafen dem Taxifahrer die Adresse am Neusiedler See nannte. Doch als sie nach einer Stunde Fahrt ihrem Ziel näher kam, spürte sie, wie Beklemmung sich um ihr Herz schloss, sie kaum atmen ließ und die Erinnerung wieder lebendig vor ihr stand.
Es war ein kalter, verschneiter Januarabend, als Dalia von ihrer Klavierlehrerin Maria Slomka nach Hause gebracht wurde. Eigentlich hatten sie zusammen ein Konzert besuchen wollen, doch das war ausgefallen. Dalia hatte den Bus versäumt, und daraufhin hatte Maria Slomka ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren. »Deine Mutter scheint nicht da zu sein.« Maria Slomka sah durch die Windschutzscheibe hoch zur Rheinberg-Villa, die sich dunkel gegen den winterlichen Himmel abhob. »Sie weiß ja nicht, dass ich heute nach Hause komme, sie dachte ja, ich übernachte bei Ihnen in Wien.«
»Das wird es sein. Soll ich noch mitkommen?«, fragte die Lehrerin, als Dalia zögerte und nicht sofort ausstieg.
»Danke, aber das geht schon, ich fürchte mich nicht«.
»Weißt du was, Dalia? Ich warte hier noch, bis du oben in deinem Zimmer das Licht anmachst, dann weiß ich, dass alles in Ordnung ist.« Sie sah Dalia aufmerksam von der Seite an.
Dalia nickte mehrmals, eine Unruhe hatte sie erfasst, die auch Maria zu spüren schien. »Aber was sollte denn nicht in Ordnung sein?« Sie stellte die Frage mehr an sich selbst als an ihre Lehrerin.
Dann stieg sie aus. Es schneite immer noch. Das schmiedeeiserne Tor war nur angelehnt, das war ungewöhnlich. Dalia stieß es auf und warf einen raschen Blick zurück zum Auto ihrer Lehrerin, das auf dem Schnee hin und her schlitterte. Nur mit Mühe brachte Maria Slomka den Wagen zum Stehen. Während der Fahrt hatten sie sich so intensiv unterhalten, dass Maria Slomka ganz automatisch in den Weg am See eingebogen war, anstatt oben die Anliegerstraße zu nehmen und direkt vor dem Eingang der Villa zu halten.
Vorsichtig suchte Dalia Halt auf den Stufen, die zur Villa führten. Sie waren vereist, und Dalia musste sich am Holzgeländer festhalten, um nicht auszurutschen. Ihre Mutter hatte offensichtlich vergessen, die Laternen im Garten und neben der Treppe einzuschalten. Der Wind warf den Schnee gegen die Stämme der Birken und trieb Dalia vor sich her, bis sie, mehrfach stolpernd, oben ankam. Stille und tiefe Dunkelheit umfing sie. Dalia drehte sich noch einmal um und vergewisserte sich, dass Maria Slomka vor dem Tor unten wartete. Es beruhigte sie, als ihre Lehrerin ein kurzes Zeichen mit den Scheinwerfern gab. Da bemerkte Dalia mit Erstaunen, dass die Terrassentür nur angelehnt war, genauso wie unten das Tor am Seeweg. Es war eigenartig, ihre Mutter konnte es nicht gewesen sein, denn Irene Rheinberg verließ die Villa immer durch die Haustür an der Anliegerstraße.
»Hallo, hören Sie mich? Da geht’s nicht weiter. Privatgrundstück, Zugang verboten.« Der Taxifahrer drehte sich zu Dalia um, die aus ihren Gedanken hochfuhr. »Ist das richtig hier?« Dalia nickte, während sie in ihrer Tasche nach dem Geld suchte.
»Nobel, nobel«, meinte der Taxifahrer und sah neugierig durch die Scheibe hoch zur Rheinberg-Villa. »Und der Weg? Führt der weiter?«
»Ja, er geht an den Häusern entlang bis vor zum Friedhof. Dann verbindet er sich mit der Straße, die ins Dorf und dann weiter in die Weinberge führt«, erklärte Dalia bereitwillig. In diesem Moment war sie froh über jede weitere Verzögerung.
»Und alle Anwohner haben ein privates Seegrundstück?«
»Nein, nein«, antwortete Dalia. »Nur dieses Haus.« Das Haus meines Urgroßvaters, setzte sie in Gedanken hinzu.
»Ich weiß das«, fuhr der Taxifahrer fort, »weil ich einmal ein italienisches Ehepaar zu dieser Villa gefahren habe. Aber natürlich oben an der Straße. Die haben erzählt, dass die Bewohner hier ihren eigenen privaten Tennisclub haben, sehr exklusiv«, betonte er. »Acht Villen, stimmt’s?«
»Ja, stimmt«, bestätigte Dalia dem neugierigen Mann, zahlte, nahm ihre Reisetasche und stieg aus. Sie wartete noch, bis das Taxi abgefahren war, erst dann sah sie sich um.
Kein Paparazzo, niemand, der ihr auflauerte. Hatte Dr. Küppers übertrieben? Interessierte sich überhaupt noch jemand für ein Ereignis, das bereits einundzwanzig Jahre zurücklag?
Unentschlossen blieb sie stehen. Durch den schmiedeeisernen Zaun sah sie, dass die Villa frisch gestrichen war, die Ockerfarbe erschien ihr dunkler als früher.
Dalia ließ die Tasche fallen und umfasste mit beiden Händen das Gitter des Tors. Jahrelang hatte sie eine Heimkehr kategorisch abgelehnt, doch in Gedanken hatte sie diesen Moment oft durchgespielt, sich ihn in allen Einzelheiten ausgemalt. War sie bereit dazu? Dalia zögerte.
Stille lag über der alten Villa, die ihr Urgroßvater Wilhelm Sandner Mitte des neunzehnten Jahrhunderts errichten ließ. Direkt daneben lag ein kleineres Haus. Gerüchten zufolge, hatte der Urgroßvater es für seine Geliebte gebaut und war nachts heimlich hinübergeschlichen. Nach seinem Tod hatte die Urgroßmutter die Geliebte hinausgeworfen und das Haus an die Familie Weizmann verkauft. Als Abgrenzung wurde zwischen den beiden Grundstücken eine Mauer gezogen. Der Baufirma unterlief ein kleiner Fehler, als sie unaufgefordert ein Gartentürchen in die Mauer setzten. So war es dann geblieben.
Dalia blieb stehen und sah den holprigen Weg entlang, über den sie gerade mit dem Taxifahrer gesprochen hatte. Einem Impuls folgend, nahm Dalia jetzt ihre Tasche auf und lief den schmalen Weg entlang. Vom nahegelegenen Tennisplatz hörte sie das Schlagen der Bälle und das Lachen der Spieler. Geräusche eines entspannten, ruhigen Sommertags am See.
Ihre Schritte wurden langsamer, als sie den Friedhof betrat, zögernder, als sie den Mittelweg zum Familiengrab der Sandners nahm. In ihrer Erinnerung war der Friedhof größer, weitläufiger, die Zypressen und Thujen niedriger als jetzt. Vor dem Grab ihrer Großeltern blieb sie stehen. Ein pompöser Grabstein, rechts und links Engel, die ihr Gesicht in den Händen vergruben. Der Stein trug die Inschrift »Wäre der Tod nicht, es würde keiner das Leben schätzen«. Sie waren ein Ehepaar gewesen, das den Sinn des Lebens im Luxus suchte. Sie starben 1953, als sie mit ihrem Wagen eine Absperrung durchbrachen und über die Böschung in einen Abgrund stürzten. Dalia war damals dreizehn Jahre alt. Sie hatte nur vage Erinnerungen an ihre Großeltern. Viele Jahre lang war Dalia mit ihrer Mutter hierhergekommen, um Blumen auf das Grab zu legen. Manchmal hatte Irene ihrer Tochter von ihren Eltern erzählt. Verschwenderisch seien sie gewesen, leichtsinnig, aber auch liebenswert und großzügig. Dalia ging die paar Schritte weiter zum Grab ihrer Mutter. Irene Rheinberg, 3. März 1914–18. Januar 1958. Unter dem schmiedeeisernen Kreuz lag ein frischer Strauß gelber Rosen.
Dalia hatte an der Beerdigung ihrer Mutter nicht teilgenommen, sondern war erst einige Zeit danach hier gewesen, erst, als sich der Medienrummel gelegt hatte. Wochenlang hatte sich die Boulevardpresse mit dem Ehepaar Rheinberg beschäftigt. Dalia ging langsam weiter, an mehreren Gräbern vorbei, ließ ihren Blick flüchtig über die Inschriften gleiten, bis er an dem schlichten Kreuz eines kleinen Grabes hängen blieb. Dalia blieb stehen und las die Inschrift: Rachel Weizmann, 30. April 1939–2. November 1939. Darunter stand: Der Tod kann nicht trennen, was die Liebe eint.
Dalia erinnerte sich an einen Nachmittag, als sie mit ihrer Mutter das Grab der Großeltern besucht hatte. Danach waren sie hierhergekommen, und Irene hatte einen Strauß Vergissmeinnicht auf Rachels Grab gelegt. Schweigend waren sie dagestanden, bis Dalia schüchtern nach der Hand der Mutter griff.
Erst nach einem Moment, der Dalia eine Ewigkeit erschien, beugte sich Irene zu ihrer Tochter hinunter.
»Weißt du, ich habe dieses kleine Mädchen gekannt, ich habe erlebt, wie sie geboren wurde und wie sie starb. Rachel war die Tochter von Leah Weizmann, meiner Freundin.«
»Wo ist Leah jetzt?«, fragte sie.
»Sie ist tot«, erwiderte ihre Mutter mit leiser Stimme. »Irgendwann werde ich dir von ihr erzählen«, setzte sie hinzu und strich Dalia übers Haar. Aber dazu war es nie gekommen, und Dalia hatte auch nicht mehr danach gefragt.
Ein Blick auf die Uhr ließ Dalia aus ihren Gedanken hochfahren. Dr. Küppers hatte ihr eingeschärft, Frau Karl nicht warten zu lassen. Daher wandte sich Dalia rasch um und lief mit ihrer Reisetasche in der Hand den Weg zurück.
Atemlos blieb sie vor der Villa stehen. Im Licht der Nachmittagssonne glitzerte und funkelte der See, und wie in ihrer Kindheit schaukelten mehrere alte Kähne am Steg. Morsch und brüchig lagen sie halb im See, halb am steinigen Ufer.
Tief sog sie die Wärme des Sonnentages ein und lauschte auf die Stille des Nachmittags. Sie war nach Hause gekommen, doch ihre Angst stieg.
Emma Karl erwartete sie auf der Terrasse.
»Ich habe Sie mit dem Taxi unten ankommen sehen, Frau Marai. Aber dann waren Sie plötzlich verschwunden. Ist etwas nicht in Ordnung, hat ein Reporter sie aufgehalten?«, wollte sie nach der kurzen Begrüßung wissen.
»Nein, nein, ich wollte mich nur ein wenig umsehen«, antwortete Dalia.
»Ich habe nämlich einen wichtigen Arzttermin«, erklärte die Haushälterin. »Deshalb muss ich mich beeilen. Danach bin ich bis nächsten Freitag in Urlaub. Aber wenn Sie möchten, komme ich gern früher zurück.«
»Ich denke, ich werde mich schon zurechtfinden«, lautete Dalias Antwort. Aber entsprach das der Wahrheit? Wie würde sie sich fühlen, so allein in der großen Villa, mit all den Erinnerungen, die dieser Ort für sie barg?
Emma Karl drückte Dalia eine Gebrauchsanweisung in die Hand. »Das ist die Beschreibung für die Alarmanlage, sie ist leicht zu bedienen. Sicher haben Sie die Kameras am Tor zur Seeseite bemerkt. Das ganze Anwesen wird überwacht. Niemand kommt ungesehen hinein, aber Sie dürfen natürlich nicht vergessen, die Anlage einzuschalten.« Dann informierte sie Dalia noch rasch, dass neben dem Telefon in der Halle eine Liste mit allen wichtigen Nummern und das Verzeichnis sämtlicher Durchwahlen der Zimmer des Hauses lägen.
»Unten in der Küche steht eine Schale mit Obst auf dem großen Tisch. Im Kühlschrank finden Sie die verschiedensten Lebensmittel. Ich hoffe, ich habe Ihren Geschmack getroffen, auch wenn wir uns nicht kennen.«
»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.«
»Das übrige Personal ist im Urlaub, während Ihr Vater in der Klinik ist. Nur ich bin noch hier in der Villa geblieben.«
»Seit wann arbeiten Sie für meinen Vater?«, fragte Dalia höflich.
»Seit einundzwanzig Jahren, seit diese … Geschichte passiert ist.«
»Also haben Sie damals Frau Reisinger abgelöst?«
»Ja, das habe ich. Jetzt muss ich leider gehen. Das Gäste-Appartement im Erdgeschoss ist für Sie hergerichtet. Ich hoffe, das ist Ihnen recht?«
»Ja, ja, natürlich, vielen Dank.«
Während sie sich den Mantel anzog, erwähnte Emma Karl noch, dass Dalias Vater sich nur selten in der Villa aufhielt. »Er kommt ausschließlich zu den jährlichen Präsentationen der nächsten Schuh-Kollektion hierher. Die sind immer ein großes Ereignis. Da haben wir Kunden aus Mailand, Paris und Rom hier. Natürlich auch Presse, Vertreter der Vogue und Harper’s Bazaar.«
Plötzlich hörte Dalia Schritte hinter sich und drehte sich unwillkürlich um. Durch das Gartentürchen in der Mauer konnte man auf das nahe gelegenen Nachbarhaus und dessen Terrasse sehen. »Es wurde aufwendig renoviert«, erklärte Frau Karl, die Dalias Blick bemerkt hatte. »Die alte Frau Jahn ist gestorben, und ihre Angehörigen haben das Haus verkauft. Irgendwie kam dabei heraus, dass die Jahns es sich im Jahr 1939 angeeignet haben, im Zuge der Arisierung.«
»Davon hatte ich keine Ahnung«, sagte Dalia überrascht und hörte interessiert zu, als Emma Karl weitersprach.
»Und jetzt hat ein Angehöriger der Familie Weizmann es zurückgekauft. Irgendjemand der Weizmanns in New York hat über Bekannte aus Wien erfahren, dass es zum Verkauf steht.«
»Ich weiß von meiner Mutter, dass ihre beste Freundin Leah Weizmann in diesem Haus gewohnt hat«, erzählte Dalia.
»Davon wusste ich nichts«, sagte Emma Karl erstaunt, »aber wir werden schon noch erfahren, wer dort einzieht. Jetzt muss ich wirklich gehen. Wenn ich nichts von Ihnen höre, bin ich nächsten Freitag wieder hier.«
»Da bin ich sicher schon wieder weg«, war Dalias Antwort, auf die Emma Karl nichts weiter entgegnete. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, sah Dalia ihr im Gehen nach. Eine große, sehr schlanke Frau mit grauen Haaren, die sie im Nacken zu einem strengen Knoten gebunden hatte. Dalia hörte, wie die Haustür zufiel. Die Haushälterin hatte die Villa verlassen. Sie war allein.
Am späten Nachmittag saß Dalia auf der Terrasse und bewunderte die Rhododendren, den Hibiskus und die weißen Rosen, die in großen Töpfen um sie herumstanden. Ihr Blick glitt über den Garten mit seinen alten Birken, unter denen sie an Sommertagen oft gefrühstückt hatten. Die dichten Jasminsträucher entlang der Mauer, die das Haus der Weizmanns von der Villa trennten, verbreiteten ihren schweren süßen Duft.
Dalia atmete tief ein, während sie einen kurzen Moment die Augen schloss. Dann aber erhob sie sich, holte ihre Tasche, die sie in der Halle hatte stehen lassen und ging damit in das Appartement. Früher war es das große Gästezimmer gewesen, jetzt aber wirkte es wie eine Suite in einem Luxushotel, elegant und unpersönlich. Dalia stellte ihre Reisetasche ab und ließ sich aufs Bett fallen. Sie blieb einfach liegen, vollkommen reglos, während die Zeit verstrich.
Es war ruhig im Haus, kein einziges Geräusch drang an ihr Ohr, auch wenn Dalia jetzt angestrengt nach draußen in den Garten horchte. Nichts. Diese Stille war bedrückend, so bedrückend, dass sie wieder aufstand, das Appartement verließ und in die Halle ging. Dort verharrte sie an der Treppe. Scheu sah sie sich um. Die Nachmittagssonne fiel schräg durch die hohen Fenster, ein flimmernder Strahl Helligkeit. Wenn sie noch hochgehen wollte, dann sollte sie es jetzt tun, nicht erst, wenn es dunkel wurde. War es ein Fehler gewesen, allein hierherzukommen? In Paris hatte sie sich noch stark gefühlt, ruhig und entschlossen, bereit, sich der Vergangenheit zu stellen. Und jetzt? Wieder sah sie sich um, gerade so, als stünde sie zum ersten Mal in der Halle mit den holzvertäfelten Wänden. Etwas war anders, das fiel ihr jetzt auf: Die mächtigen Hirschgeweihe an den Wänden und der wuchtige Gewehrschrank waren entfernt worden, und deshalb machte die Halle nicht mehr den Eindruck eines ländlichen Jagdschlosses.
Spontan wandte sich Dalia ab, ging zum Arbeitszimmer ihres Vaters und öffnete die Tür. Es war dämmrig im Raum, die schweren Vorhänge waren zugezogen und ließen kein Licht durch. Dalia tastete mit ihrer Hand nach dem Lichtschalter. Alles schien wie früher. Die dunklen Möbel aus Eichenholz, die dicken Perserteppiche, die jedes Geräusch verschluckten, die hohen verglasten Bücherschränke.
Ihr Blick blieb an den drei Bildern haften, die über dem Ledersofa hingen. Es waren Gemälde eines bekannten englischen Malers aus dem achtzehnten Jahrhundert, die Jagdszenen auf dem Lande darstellten. Hinter dem mittleren Bild befand sich der Safe, den sie öffnen sollte. Was würde sie darin finden? Nur geschäftliche Unterlagen ihres Vaters? Oder vielleicht auch Briefe, Tagebücher ihrer Mutter? Sie verwarf diesen Gedanken sofort. Ihr Vater hätte ihr nicht jahrelang etwas vorenthalten, was sie dann plötzlich in seinem Safe finden würde. Unschlüssig verharrte sie noch vor dem Sofa und schaute sich um. Ein unpersönlicher Raum, dem man anmerkte, dass er selten benutzt wurde. Ihr Vater hatte ja schon immer die meiste Zeit in Wien gelebt und war nur selten in der Villa gewesen. Darum hatte sie ihn früher auch nicht vermisst. Sie fühlte sich ihm durch die Kindheit kaum verbunden. Dalia schaltete das Licht wieder aus, drehte sich um und zog die Tür hinter sich zu.
Jetzt … dachte sie … jetzt … jetzt gehe ich hinauf und bringe es hinter mich. Wie oft hatte sie in den vergangenen Jahren diese Szene in Gedanken durchgespielt. Sie kommt nach Hause, sie steht in der Halle und dann geht sie langsam, ganz langsam nach oben …
Sie spürte ihr Herz rasen, Schwindel erfasste sie, sie blieb stehen, rang nach Atem. Es war nicht so einfach, das jetzt zu tun, was jahrelang nur eine Fiktion, eine Vorstellung gewesen war. Auf unsicheren Beinen gelangte sie bis zum Fuß der Treppe und umklammerte mit beiden Händen das Geländer.
Jetzt nicht, noch nicht. Sie hatte Zeit, es wurde nicht so schnell dunkel und überhaupt konnte sie auch erst morgen … Dalia setzte sich auf die unterste Treppenstufe und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Sie wandte ihren Kopf und sah die vielen Stufen hoch. Als sie angekommen war, hatte sie sich bereit gefühlt. Doch jetzt verließ sie der Mut, die Stille des Hauses wurde übermächtig, nahm von ihr Besitz und ließ ihr Herz weiterhin dumpf schlagen.
Schließlich erhob sie sich und ging durch die Halle ins Musikzimmer. Sie musste ihre Unruhe in den Griff bekommen, ihre Kraft wiederfinden, dann würde sie hinaufgehen. Sie hatte noch Zeit. Auch hier war alles so geblieben, wie sie es in Erinnerung hatte. Ein großer Raum, von Sonnenlicht durchflutet. Entlang der Wände standen ein paar Biedermeierstühle und ein passendes Sofa. Neben dem Flügel ein Tisch, auf dem sich Klaviernoten stapelten. Ihre alten Noten. An einer Wand hingen Fotos von ihr. Dalia, als sie mit zehn Jahren ihren ersten Klavierwettbewerb gewann, mit elf bereits den zweiten, und so ging es weiter. Ein hübsches, strahlendes Mädchen mit einem Pokal in der Hand. Zart, ein wenig zu dünn mit langen dunklen Locken. Schon damals, mit zehn Jahren wollte Dalia nichts anderes als Pianistin werden. Dafür war sie bereit, zu arbeiten, zu üben, alle Nachmittage und schulfreien Tage am Klavier zu sitzen, während andere Kinder zum Baden gingen, Tennis spielten oder irgendwelchen Unfug trieben. Einmal hatte sie eine Unterhaltung zwischen ihren Eltern belauscht. Ihr Vater hatte ihrer Mutter Vorwürfe gemacht, das Kind sei zu blass, Irene dürfe die Tochter nicht so zum Klavierspielen antreiben. »Mütter, die ihre Kinder unter Erfolgsdruck setzen, sind verantwortungslos. Kein Kind übt gern jeden Tag stundenlang Klavier.« Doch ihre Mutter hatte sich nicht beirren lassen. »Dalia hat einen starken Willen, sie möchte spielen, und ich fördere ihr Talent«, hatte Irene geantwortet. Dalia strich mit der Hand über die silbernen Pokale auf dem Regal und griff einen heraus. Sie erinnerte sich an das Konzert, gefördert von privaten Sponsoren, an dem Jugendliche aus Österreich, Deutschland und der Schweiz teilgenommen hatten. Sie war damals dreizehn Jahre alt gewesen. Sie dachte an den Beifall, an das unglaubliche Gefühl, auf der Bühne zu stehen, sich zu verneigen und zu sehen, dass sie mit ihrem Spiel die Zuhörer begeistert hatte. Es war einer der schönsten Momente ihres Lebens gewesen. »Aus dir kann einmal eine große Pianistin werden«, hatte einer der Sponsoren, ein berühmter deutscher Dirigent, zu ihr gesagt. »Aber Talent allein reicht nicht aus. Wenn du diesen schweren Beruf ernsthaft ausüben willst, bedeutet das Disziplin, Fleiß und Verzicht auf viele schöne Dinge. Aber du kannst es schaffen.« Seine Worte trug Dalia seit jenem Tag in ihrem Herzen. Sie war bereit, jedes Opfer zu bringen.
Manchmal hatte sich Dalia gefragt, ob sich die Liebe ihrer Mutter über das Klavierspiel definierte, über den Erfolg, den Dalia hatte. Wenn sie einen Wettbewerb gewann, strahlte Irene und umarmte sie. Zärtlich war sie nur in diesen kurzen Momenten. Dalia stellte den Pokal in das Regal zurück und griff nach einem Foto, das sie als Sechzehnjährige mit ihrer Lehrerin Maria Slomka zeigte. Die Wiener Klavierpädagogin genoss in ganz Europa Anerkennung. Irene hatte alles darangesetzt, dass sie ihre Tochter als Schülerin annahm. Maria Slomka hatte die ehrgeizige Mutter zunächst immer wieder abgewiesen, bis Irene endlich einen Termin für ein Vorspielen bekommen hatte. »So viel Hartnäckigkeit muss belohnt werden«, hatte Maria Slomka damals mit einem ironischen Augenzwinkern zu Dalia gesagt. Nach dem Vorspielen aber war sie sofort bereit gewesen, ihr Unterricht zu geben. Im Laufe der nächsten zwei Jahre wurde Maria Slomka zu ihrer engen Vertrauten, sie verstand Dalias Selbstzweifel am besten. »Weißt du«, sagte sie dann, »Zweifel am eigenen Talent gehören dazu. Diese Tiefpunkte macht jeder gute Künstler durch, da bist du nicht die Einzige.«
Maria Slomka war eine schlanke, drahtige Frau mit kleiner Brille und grauen Locken. Wenn sie am Klavier saß und sich ins »Zeug legte«, wie sie sich ausdrückte, baumelten ihre langen Türkisohrringe schwungvoll hin und her. Als Dalia dann nicht mehr nach Wien zurückkam, weil ihr Leben eine schreckliche Wendung genommen hatte, brach auch der Kontakt zu Maria ab. Sie war ein Teil ihrer Vergangenheit, den Dalia vergessen, hinter sich lassen wollte.
Sie wandte sich ab, und während sie zum Flügel ging, überlegte sie, wie alt ihre ehemalige Lehrerin jetzt war. Siebzig? Ob sie noch in Wien lebte? Dalia blieb vor dem Flügel stehen, dessen schwarze Oberfläche im Schein der Nachmittagssonne glänzte. Ob auch Tamás mit diesen Selbstzweifeln kämpfte, über die Maria Slomka gesprochen hatte? Kannte er dieses Ringen um Perfektion, um Anerkennung? Er sprach nicht darüber, er behielt seine Gefühle und seine Gedanken für sich. War sie auch nach über zwanzig Jahren Ehe nicht mehr als die schöne junge Frau an seiner Seite, die ihn überallhin begleitete? Nachdenklich beobachtete sie den Sonnenstrahl, in dessen Licht winzige Staubpartikel tanzten. Sie griff nach dem Klavierdeckel, zögerte, öffnete ihn dann nicht, sondern drehte sich um und verließ das Musikzimmer. Einen Moment stand sie vor der Tür, dann ging sie weiter bis zur Treppe und sah nach oben. Jetzt. Jetzt würde sie in den ersten Stock hinaufgehen und es hinter sich bringen. Und dann würde sie befreit sein. Ihre Hand umklammerte das Geländer, als sie die Stufen hinaufstieg, langsam, unerbittlich näher kam. Damals … an diesem Januarabend war sie ebenfalls die Treppe hochgegangen. Langsam. So wie jetzt … Stufe für Stufe. »Mama?«, hatte sie gerufen.
Oben schlich sie den dunklen Gang entlang bis zum Schlafzimmer ihrer Mutter. Genau wie damals. Ohne sich umzusehen ging sie weiter, stieß die Badezimmertür auf und blieb stehen. Die Erinnerung überfiel sie, sie durchlebte den Moment von damals so intensiv, dass sie eine Weile brauchte, bis sie es begriff: Es gab kein Badezimmer mehr.
Hier war nur noch ein Raum mit Einbauschränken, weiß und unpersönlich. Ein paar Wäschekörbe standen herum und ein langer Bügeltisch, sonst nichts. Die Wände waren nicht mehr gekachelt, sondern in einem diskreten Hellblau gestrichen.
Erst als sie den Raum verließ, erkannte sie, dass es auch das Schlafzimmer ihrer Mutter nicht mehr gab. Außer einem Sofa, bedeckt mit einem weißen Tuch und einem kleinen Regal war das Zimmer leer.
Dalia stand da, reglos, atemlos. Es dauerte, bis sie begriff: Nichts, gar nichts erinnerte an diesen Abend. Die Erinnerung nur noch ein Spuk.
Damals hatte die Tür zum Schlafzimmer einen Spalt offen gestanden, und sie war hineingegangen. Das Bett war zerwühlt gewesen, ein paar Kleidungsstücke lagen herum, aber das war nichts Ungewöhnliches bei ihrer Mutter. Auf dem Plattenspieler drehte sich eine Schallplatte. Langsam hatte sie das Zimmer durchquert. Durch den Spalt der angelehnten Badezimmertür drang ein Lichtstrahl. Ihre Mutter badete offenbar gerade. So war Dalia darauf zugegangen.
»Mama? Bist du da drin?« Es kam keine Antwort. In der Stille hörte sie nur das Rauschen des Wasserhahns. Hatte ihre Mutter vergessen, den Hahn abzudrehen, und war irgendwo im Haus unterwegs?
»Mama?«
Sie stand vor der angelehnten Tür, und als sie einen weiteren vorsichtigen Schritt vorwärts machte, rutschte sie auf dem Marmorboden aus, konnte sich gerade noch am Türgriff festhalten, während sie mit der anderen Hand nach dem Schalter an der Wand tastete. Das Licht ging an. Jetzt erst bemerkte Dalia das Wasser auf dem Boden, das unter der Badezimmertür durchlief und eine große Lache bildete. Starr vor Entsetzen sah sie zu, wie das Wasser sich rot färbte. War es Blut? Entsetzt gab sie der Tür einen Stoß. Der weiße Marmorboden im Badezimmer war bereits überschwemmt mit blutrotem Wasser. Dalia schrie auf, doch es war nur ein gurgelnder Laut, der ihr über die Lippen kam.
Ihre Mutter lag in der Badewanne. Aus dem Hahn rauschte das Wasser und lief unaufhörlich über den Rand auf den Boden. Dalia sah ihre Mutter dort liegen, aber noch begriff sie nicht, was sie sah: Irene Rheinbergs linker Arm hing schlaff über den Rand der Wanne. Aus mehreren tiefen Schnitten an ihrem Puls quoll Blut und rann weiter auf den Boden. Es hörte und hörte nicht auf zu bluten … Der Kopf ihrer Mutter war nach hinten gesunken. Das Schlimmste aber war, dass ihre Mutter diese Schallplatte aufgelegt hatte, bevor sie ins Badezimmer gegangen war. Niemals mehr würde Dalia diese Melodie vergessen können, die Melodie, die ihre unmusikalische Mutter im Moment ihres Todes gehört hatte.
Wien … Wien … nur du allein …
Da … wo ich glücklich bin …
War ihre Mutter jetzt glücklich? Das war Dalia damals durch den Kopf geschossen, bevor sie sich umdrehte, zur Treppe rannte, die Stufen hinunterstolperte, aus dem Haus und dann die rutschigen verschneiten Stufen hinunter zum Tor.
Sie hatte ihr eigenes entsetztes Schluchzen nicht wahrgenommen, bis sie unten die Tür von Maria Slomkas Auto aufriss und sich auf den Sitz fallen ließ. Die Lehrerin nahm sie mit zu sich nach Hause. Sie war es auch, die die Polizei verständigte, und sie blieb bei Dalia, als das Mädchen verhört wurde.
»Der tiefe Fall des Christian Rheinberg«
»Wo ist der Abschiedsbrief?«
»War es doch Mord?«
So lauteten damals die Schlagzeilen. Als Christian Rheinberg am nächsten Morgen seine Wiener Wohnung verließ, erwarteten ihn Vertreter aus Presse, Funk und Fernsehen. Er wurde von der Öffentlichkeit verurteilt, obwohl es nie einen Prozess gab. An dem Abend, an dem seine Frau sich das Leben nahm, war er bei seiner Geliebten, Feodora Mancini gewesen, einer jungen Designerin, die er kurz zuvor unter Vertrag genommen hatte. Sie sagte unter Eid aus, er habe sich zur fraglichen Zeit in ihrer Wohnung aufgehalten. Und davon hatte die Presse Wind bekommen.
Auch die Designerin wurde wochenlang von Paparazzi verfolgt.
Irene Rheinberg hatte Schlaftabletten genommen, bevor sie sich die Pulsadern aufschnitt. Ihr Arzt, ein berühmter Psychiater, sagte bei der Polizei aus, sie habe unter schweren Depressionen gelitten und sei schon seit Jahren suizidgefährdet gewesen.
Dalia erinnerte sich daran, dass Frau Reisinger ausgesagt hatte, sie habe ihrer Mutter noch einen Tee gebracht, dann aber sei sie wie jeden Tag um fünf Uhr nach Hause gegangen.
»Es kann sein«, bestätigte die Haushälterin, »dass ich aus Versehen die Terrassentür offen gelassen habe. Ich war in Eile und verließ die Villa zur Seeseite hinunter.«
Letztlich lösten sich alle Verdachtsmomente im Nichts auf. Doch die Angestellten der Schuhfirma Walter Sandner GmbH tuschelten über ihren Chef, und die vornehme Wiener Gesellschaft distanzierte sich von ihm.
Auch Dalia wurde auf der Straße von Journalisten verfolgt. Eines Tages brach sie weinend zusammen und wurde ins Krankenhaus gebracht. Sie konnte nicht einmal an der Beerdigung ihrer Mutter teilnehmen. Als es ihr besserging, holte Maria Slomka sie ab und brachte sie in ihre Wohnung in Wien. Niemand wusste, wo Dalia sich aufhielt. Jeden Kontakt mit ihrem Vater lehnte die Achtzehnjährige ab, und Christian Rheinberg schien ihre Ablehnung zu respektieren. Er unternahm keinen einzigen Versuch, seine Tochter zu sehen. Dalia blieb zwei Monate bei ihrer Lehrerin, bis sie an einem kalten Morgen im März in den Zug nach München stieg, um Tamás Marai vorzuspielen.
Später rief Dalia ihren Mann an.
»Ich war oben«, erzählte sie.
»Und wie war es für dich?«, fragte Tamás.
»Nicht so schwer, wie ich gedacht hatte.«
»Wie fühlst du dich jetzt?«
»Ich kann das gar nicht genau beschreiben. Erleichtert, das schon. Ich habe es endlich hinter mich gebracht, mehr kann ich gar nicht sagen. Nicht im Moment.«
»Es war mutig von dir«, sagte Tamás. »Ein erster Schritt. Vielleicht kannst du jetzt auch den nächsten gehen und dich mit deinem Vater versöhnen.«
»Tamás, ich muss das alles jetzt erst einmal verarbeiten. Ich will nichts überstürzen.«
»Ja, aber überlege es dir, vielleicht bleibt dir nicht mehr allzu viel Zeit.«
Dalia erschrak. »Du meinst, weil Vater schwer krank ist und vielleicht … stirbt?« Sie hatte von Dr. Küppers erfahren, dass er herzkrank war, aber sie hatte nicht realisiert, dass er bald sterben könnte.
»Ja, genau. Wenn das passiert, wirst du dir immer Vorwürfe machen. Ich denke, du solltest jetzt die Gelegenheit ergreifen, dich mit ihm auszusprechen.«
»Ach, Tamás.« Dalias Stimme klang müde und kraftlos. »Ich weiß doch gar nicht, wie krank er wirklich ist. Es ist auch so lange her, wer weiß, vielleicht ist es für eine Versöhnung längst zu spät.«
»Dazu ist es nie zu spät. Und es wäre wichtig. Auch für dich. Versuch es. Er wird dir entgegenkommen.«
»Wieso bist du dir so sicher?«, fragte Dalia.
»Ich kann es mir nicht anders vorstellen. Genau weiß ich es natürlich nicht«, antwortete Tamás.
»Es ist furchtbar schwierig«, Dalia blieb unsicher, »ich kann einfach nicht vergessen, was passiert ist und vor allem, warum es passiert ist. Ich denke, mein Vater hat meine Mutter sehr unglücklich gemacht. Sie war immer traurig und sehr einsam. Als dann herauskam, dass er eine Affäre hatte, war ich sicher, sie hatte sich aus diesem Grund umgebracht.«
»Dalia, was weißt du schon, was zwischen deinen Eltern passiert ist? Du hast mir erzählt, dass sie damals bereits seit Jahren nur noch offiziell verheiratet waren. Ihre Ehe war schon längst zerbrochen. Wieso sollte deine Mutter also darunter gelitten haben, dass dein Vater eine Geliebte hatte? Kein Außenstehender weiß, was ein Mensch fühlt, der beschließt, seinem Leben ein Ende zu setzen. Du hast nicht das Recht, deinen Vater zu verurteilen.«
»Das mache ich auch gar nicht mehr«, warf Dalia ein, doch Tamás sprach weiter, ohne ihren Einwand zu beachten. »Du warst jung, und für dich war es das Einfachste, ihm die Schuld zu geben. Aber heute bist du eine erwachsene Frau. Vielleicht gibt es Dinge, von denen du bis heute nichts weißt. Deine Mutter war offenbar selbstmordgefährdet, hochdepressiv. Warum bist du so sicher, dass die Affäre deines Vaters der Grund für ihre Entscheidung war? Warum muss er für ihre Traurigkeit, wie du es nennst, die Verantwortung tragen? Sprich dich mit deinem Vater aus, ich kann es nur noch mal sagen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, antwortete Dalia. Vielleicht war die Sache mit dem Safe und den Dokumenten für ihren Vater nur ein Vorwand, um sie nach Hause zu holen, um sich mit ihr zu versöhnen? Sollte sie dann nicht auch bereit dazu sein?
»Wie lange willst du bleiben, Dalia?« Sie war so vertieft in ihren Gedanken, dass Tamás seine Frage wiederholen musste.
»Das weiß ich noch nicht«, erwiderte sie zögernd.
»Ich muss zu Vorbesprechungen für das Konzert in Hongkong nach London fliegen, da möchte ich, dass du mitkommst«, erklärte Tamás, »das habe ich dir doch gesagt, oder?«
»Das geht nicht.« Und als sie merkte, wie irritiert Tamás war, fügte sie schnell hinzu: »Es tut mir leid.«
»Nun, dann gib mir Bescheid, wenn du weißt, wie lange du bleiben wirst.« Seine Stimme klang kühl, und er machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung.
»Tamás, bitte«, Dalias Stimme klang fast beschwörend. »Du sagst doch selbst, ich soll mich mit meinem Vater aussprechen, also muss ich noch hierbleiben. Ich bin ja heute erst angekommen und … einmal wirst du ja auch ohne mich auskommen.«
Warum konnte Tamás sie nicht verstehen? Er selbst hatte ihr eine Versöhnung mit ihrem Vater vorgeschlagen, aber dafür brauchte sie ein paar Tage, um sich vorzubereiten, ihre Gedanken und ihre Erinnerungen zu ordnen. Verstand er sie nur so lange, wie sie nicht seine eigenen Pläne umwarf?