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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2019

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ISBN 978-3-644-00332-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00332-3

Fläche: 891,68 km²

Einwohner: 3723914

Einwohner ohne Migrationshintergrund: 66,6 %

Einwohner mit Migrationshintergrund: 33,4 %

Bevölkerungsdichte: 4176 Einwohner/km²

Durchschnittsalter: 42,7

Arbeitslosenquote: 7,8 %

Regierender Bürgermeister: Michael Müller (SPD)

Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus: SPD (38), CDU (31), Grüne (27), Linke (27), AfD (22), FDP (12), Fraktionslose (3)

An einem heißen Sommertag stieg ich in die S1, ließ das Stadtzentrum hinter mir und sah zu, wie Berlin ausdünnte. Südwestwärts drückte der Himmel die Häuser zu Boden – der blaue Streifen hinter den Zugfenstern wurde breiter, der graue schmaler. Als beide von der grünen Uferbewaldung des Schlachtensees abgelöst wurden, stieg ich aus.

Der S-Bahnhof Schlachtensee liegt genau an der Grenze zwischen Zehlendorf und Nikolassee, zweien von insgesamt 96 Ortsteilen Berlins. Die drei Herren, die mich vor dem Bahnhofsgebäude in Empfang nahmen, sahen das allerdings anders.

«Willkommen in Schlachtensee», rief ihr Wortführer. «Willkommen in Berlins siebenundneunzigstem Ortsteil!»

Triumphierend grinsten die drei. So, dachte ich, sehen also Berliner Separatisten aus.

Die Begegnung war keine zufällige. Sie hatte mit einer Kolumne zu tun, die ich damals für den «Tagesspiegel» schrieb. Jede Woche porträtierte ich einen der Berliner Ortsteile. In mehr oder weniger zufälliger, nämlich alphabetischer Reihenfolge reiste ich kreuz und quer durch die ganze Stadt, um Berlins kleinste Verwaltungseinheiten abzuklappern. Etwa drei Viertel dieser Kiezwanderungen lagen zu jenem Zeitpunkt hinter mir – gerade eine Woche zuvor war ich in Rummelsburg gewesen (Ortsteil Nr. 74), als Nächstes hätte auf meiner alphabetischen Liste statt Schlachtensee eigentlich Schmargendorf gestanden (Nr. 75).

Wäre da nicht dieser Leserbrief gewesen. Er hatte mich ein paar Wochen zuvor erreicht, als ich gerade über Nikolassee geschrieben hatte, jenen Ortsteil, dem gemeinhin die westlichen Hälften des Schlachtensees und der gleichnamigen Villenkolonie

Ein paar Wochen später stand der Leserbriefschreiber dann also vor mir: Dirk Jordan, der Simón Bolívar des Berliner Südwestens. Begleitet von zwei Mitstreitern führte er mich durch den Möchtegernortsteil Schlachtensee – vorbei am S-Bahnhof («älter als der von Nikolassee!»), der Villenkolonie («früher gegründet!»), dem Marktplatz («besserer Fisch!») und der berühmten Bankfiliale, die 1995 durch einen 20 Meter langen Tunnel ausgeraubt wurde («selbst unsere Diebe sind cleverer!»). Die Komparative prasselten nur so auf mich ein – in allen Punkten triumphierte Schlachtensee über die beiden Nachbarortsteile, aus deren gewaltsamer Umklammerung der Kiez endlich befreit werden musste.

Während ich stumm den kämpferischen Ausführungen der drei Ortsteildissidenten zuhörte, ging mir der eine oder andere Gedanke durch den Kopf, der mich bei meinen Berlin-Spaziergängen in den zurückliegenden anderthalb Jahren immer mal wieder beschäftigt hatte.

Begonnen hatte das ganze Projekt mit dem Gefühl, dass ich die Stadt nach rund 20 Jahren als Berliner und rund 15 Jahren als Berliner Journalist zwar in Teilen sehr genau, aber insgesamt nur sehr ausschnittsweise kannte. Wie ich in Gesprächen mit Freunden und Kollegen bald feststellte, war ich mit diesem Gefühl nicht alleine – selbst Menschen, die deutlich länger als ich oder sogar schon immer in Berlin gelebt hatten, bewegten sich in der Regel zwischen ihren Wohngegenden und den immer gleichen Zentralbezirken hin und her, während sie von den übrigen Ecken

Als ich durchzählte, in wie viele der 96 Berliner Ortsteile ich schon einmal einen Fuß gesetzt hatte, kam ich auf 41. Nicht einmal die Hälfte also, und selbst darunter waren noch einige, von denen ich nicht viel mehr als einen U-Bahnhof, eine Einkaufsstraße, ein Uni-Institut, den Ort eines journalistischen Termins oder die Wohnung eines Freundes kannte.

Dabei war ich so oft in all den Berliner Jahren morgens mit dem Gedanken aufgewacht: Du müsstest mal irgendwo hinfahren, wo du noch nie warst. Irgendwohin, wo du auch ohne guten Grund nie landen würdest, in eine der vielen kleinen unbekannten Ecken, aus denen diese große Stadt besteht. Wenn ich dann abends einschlief, hatte ich den Tag meist aber doch wieder nur in jenen altbekannten Innenstadtteilen verbracht, aus denen man ohne guten Grund schwer rauskommt, weshalb sich selbst die größten Städte oft verblüffend klein anfühlen.

Und so keimte langsam eine Idee in mir: ganz Berlin abwandern – Ortsteil für Ortsteil. Nicht lange überlegen, keinen Grund suchen, einfach blind hinfahren und loslaufen. Stromern, stöbern, Leute anquatschen, Abenteuer erleben. Die toten Winkel und blinden Flecken meines inneren Stadtplans mit städtischem Leben füllen, alle Puzzlestücke entdecken, aus denen Berlin zusammengesetzt ist, um am Ende das ganze Bild sehen zu können.

Ziemlich genau zwei Jahre habe ich damit insgesamt verbracht. Von A bis Z, von Adlershof bis Zehlendorf bin ich durch die Stadt gereist, um in jedem Ortsteil einen Tag lang mein Berlin-Bild mit der Wirklichkeit abzugleichen. Nicht immer, aber verblüffend oft fühlten sich diese Touren tatsächlich wie Reisen durch eine fremde Stadt an – inklusive des Gefühls, plötzlich Dinge zu bemerken, die einem sonst nie auffallen würden, weil man in der Fremde die Augen instinktiv ein Stück weiter aufreißt als daheim.

Trotzdem gab es keine Kieztour, die nicht auf ihre Weise bereichernd gewesen wäre, weil sie mir eine Ecke der Stadt erschloss, von der ich vorher wenig bis gar keine Ahnung hatte. Neben unzähligen lokalen Entdeckungen, um die es auf den folgenden Seiten gehen wird, verdanke ich diesen Ortsteilwanderungen auch ein paar allgemeinere Erkenntnisse über Berlin. Etwa, dass es in kaum einer anderen Stadt so viele Friseure mit Kalauer-Namen geben dürfte (mein Favorit: «Mata Haari» in Friedenau). Oder, dass in Berlins zentralen Bezirken zwar die typischen fünfstöckigen Mietshäuser dominieren, gleichzeitig aber ein überraschend großer, wenn nicht gar der größere Teil der Stadtfläche mit Einfamilienhäusern bebaut ist, deren Bewohner im öffentlichen Stadtgeschehen unproportional wenig von sich reden machen. Dass die Nachkriegsarchitektur im Osten der Stadt auf eine andere Art hässlich ist als die im Westen, und dass dieser Unterschied kein zufälliger ist. Dass in Hermsdorf die Hunde anders bellen und die Busfahrer anders schnauzen als in Heinersdorf, und dass hier wie dort nur selten einer von ihnen beißt. Dass einem das immense Wohlstandsgefälle innerhalb dieser Stadt erst so richtig

Erwandert habe ich mir außerdem Antworten auf die Frage, was Berlins Unterteilung in Ortsteile eigentlich bedeutet – und warum es 96 davon gibt. Die Stadt erlebte ihre letzte maßgebliche Ausdehnung im Jahr 1920, als die alten preußischen Gemeindegrenzen ruckartig auf Metropolenformat erweitert wurden. Das so entstandene «Groß-Berlin» war mit 878 Quadratkilometern Fläche und 3,8 Millionen Einwohnern auf einen Schlag die flächenmäßig zweitgrößte (nach Los Angeles) und der Bevölkerung nach drittgrößte Stadt der Welt (nach London und New York). Seitdem haben sich die äußeren Stadtgrenzen nur noch unwesentlich verschoben – bis heute hat Berlin ziemlich genau die Silhouette von 1920, die mit etwas Phantasie an ein Kotelett erinnert.

Berlins innere Grenzen dagegen blieben nach 1920 in ständiger Bewegung. Zahllose Gebiets- und Bezirksreformen – erst in der Weimarer Republik, dann im Dritten Reich, später in den geteilten Stadthälften der Mauerära sowie zuletzt mehrfach nach der Wiedervereinigung – haben die Anzahl und Dimensionen der Berliner Ortsteile stetig verändert. Das Ergebnis dieser jahrzehntelangen Grenzverschiebungen ist eine nicht immer ganz logische Stadtstruktur, deren Unstimmigkeiten mir bei meinen Wanderungen auf Schritt und Tritt begegneten. Der Halensee etwa liegt aus unerfindlichen Gründen nicht im gleichnamigen Ortsteil Halensee, sondern im Nachbarortsteil Grunewald. Der Wasserturm Hermsdorf findet sich in Frohnau, das Hundeauslaufgebiet Frohnau dagegen in Hermsdorf. Der Zentralfriedhof Friedrichsfelde ist im benachbarten Lichtenberg angesiedelt, der

Erkennbar decken sich die heutigen Grenzen der Ortsteile also nicht immer mit den historisch gewachsenen Stadtbereichen, deren Namen sie tragen. Konsequenzen hat das keine, da die Ortsteile verwaltungstechnisch ohnehin kaum von Bedeutung sind – die politische Gestaltungsmacht liegt bei den übergeordneten zwölf Bezirken, die anders als ihre 96 Untereinheiten eigene Rathäuser, Bürgermeister und Volksvertretungen haben. Die Ortsteile dagegen sind mehr oder weniger symbolische Einheiten. Sie sind weder mit den Wahlbezirken identisch noch mit den Postleitzahlbereichen, den Kirchgemeinden oder den Planungsräumen der Berliner Statistiker. In vielen Fällen sind sie nicht einmal deckungsgleich mit dem, was die Berliner als Anfang und Ende ihres jeweiligen Kiezes wahrnehmen – viele, die im Südwestteil von Schöneberg leben, halten sich für Friedenauer, viele Gesundbrunnener nennen sich Weddinger, für viele Rummelsburger ist der Kaskelkiez eine wichtigere Bezugsgröße als der übergeordnete Ortsteil, in dem ihr Kiez liegt.

Ihren Sinn haben die Ortsteile trotzdem, denn in der Regel sind sie in Berlin die kleinste Messeinheit der Selbst- und Fremdverortung. Sie sind die städtischen Schubladen, in die man sich und andere steckt, um miteinander über Berlin reden zu können, sie sind die simple Antwort auf die Frage: Und wo wohnst du so? Man könnte auch sagen: Sie sind Heimat. Genau das macht sie so wichtig für Lokalpatrioten wie die Separatisten von Schlachtensee.

Deren Unabhängigkeitskampf war übrigens bisher nicht von Erfolg gekrönt. Knapp ein Jahr nach meiner Begegnung mit Dirk Jordan und seinem Dissidententrupp wird Schlachtensee von offizieller Seite nach wie vor als Teil von Nikolassee und Zehlendorf betrachtet. Es ist nicht ausgemacht, dass es dabei bleibt. Im Berliner Nordwesten schafften es 2012 zuletzt die Borsigwalder,

Ich erinnere mich gut an das Ende meiner Wanderungen. Angekommen beim Buchstaben Z, stand ich an einem nasskalten Januartag in Zehlendorf vor den nachgebauten Mittelalterhütten des Museumsdorfs Düppel. So also, dachte ich, während der Winterregen von den reetgedeckten Dächern troff, sah es in Berlin aus, als alles anfing: als sich im Spreeraum des 12. und 13. Jahrhunderts jene Siedler niederließen, aus deren Dörfern unsere Stadt wurde. Und wie im Zeitraffer spielte sich vor meinem inneren Auge ab, wie es weitergegangen war: wie die Stadt aus ihrer historischen Mitte am Spreeufer herausgewachsen und stetig größer geworden war, wie sie ein Dorf nach dem anderen verschlungen und überwuchert, wie sie ihr Umland allmählich erobert und gefressen hatte, bis sie am Ende aus jenen 96 Ortsteilen bestand, die mir nun in den Knochen steckten.

Einwohner: 338923 (entspricht 9,4 Prozent der Berliner Gesamtbevölkerung)

Einwohner ohne Migrationshintergrund: 58,8 % (Berlin gesamt: 66,6 %)

Einwohner mit Migrationshintergrund: 41,2 % (Berlin gesamt: 33,4 %)

Arbeitslosenquote: 7,3 % (Berlin gesamt: 7,8 %)

Bezirksbürgermeister: Reinhard Naumann (SPD)

Sitzverteilung in der Bezirksverordnetenversammlung: SPD (16), CDU (14), Grüne (11), FDP (6), AfD (5), Linke (4)

* * *

Charlottenburg-Wilmersdorfs gefühlte Mitte liegt da, wo die beiden namensgebenden Ortsteile des Bezirks aneinandergrenzen: rund um den Kurfürstendamm. Die alte Flanier- und Amüsiermeile war zu Mauerzeiten so etwas wie das Filetstück der westlichen Stadthälfte. Seitdem ist viel passiert – und nicht alles davon hat die innerstädtische Strahlkraft der sogenannten City West gemehrt. Dass etwa der Bahnhof Zoo nach dem Mauerfall zum Regionalbahnhof ohne ICE-Anbindung degradiert wurde, schmerzt eingefleischte West-Berliner bis heute. Doch obwohl die Ku’damm-Gegend im wiedervereinigten Berlin heute eher die zweite Geige spielt (böse Zungen würden sogar von der Bratsche sprechen), zählt sie nach wie vor zu den zentralen Geschäfts- und Ausgehvierteln der Stadt. Manche munkeln gar, sie werde gerade wieder hip. Und für die Charlottenburg-Wilmersdorfer bleibt sie eh der Nabel Berlins.

Weniger urban, dafür umso exklusiver sind die westlichen Villenviertel Grunewald und Westend. So etwas wie die Schmuddelecke des ansonsten gutsituierten Bezirks ist der Ortsteil Charlottenburg-Nord, dessen charakteristische Sozialbauten viele Berliner nur deshalb kennen, weil am U-Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz die Zubringerbusse zum Flughafen Tegel abfahren.

Charlottenburg

Wo die Euros locker sitzen

Charlottenburg: ein derart weitläufiger, einwohnerreicher, geschichtsträchtiger und mit Touristenattraktionen gesegneter Ortsteil, dass es fast aussichtslos ist, ihm in diesem Rahmen gerecht zu werden. Von vornherein ließ ich deshalb bei meinem Besuch alle Sehenswürdigkeiten links liegen – und ging shoppen. Ich wollte mich auf das beschränken, was in dieser Stadt wirklich nur im luxusverliebten Charlottenburg geht: sinnlos Geld verprassen.

Staunend zog ich also durch die Edelläden rund um den Ku’damm und stellte mir vor, wie es wäre, nur das Teuerste vom Teuersten einzukaufen. Unter dem Vorwand, ein Hochzeitsgeschenk zu suchen, ließ ich mir im Showroom der Königlichen Porzellan-Manufaktur ein sechsteiliges Bauhaus-Kaffeeservice für 3124 Euro vorführen – und lehnte pikiert ab, als der Verkäufer mir das Zuckerdöschen gratis dazugeben wollte. Bei einem Innenausstatter in der Kantstraße erstand ich in Gedanken zwei Sofakissen für 255 Euro das Stück, bei einem Antiquar in der Fasanenstraße einen Russland-Baedeker von 1888 für 450 Euro, in der Havanna-Bar ein paar Häuserblöcke weiter eine Zehnerbox Cohibas für 410 Euro. Weil ich irgendwann nur noch auf die Preisschilder in den Auslagen achtete, fuhr mir am Savignyplatz fast ein Porsche Cayenne über die Füße. «Was kostet die Karre?», brüllte ich durchs offene Seitenfenster. Die sonnenbebrillte Fahrerin ignorierte mich.

Etwas Überwindung kostete es mich, den Schönheitssalon in der Grolmanstraße zu betreten, der im Schaufenster mit «Brustvergrößerungen für 24 Stunden» wirbt. Ließen sich hier, fragte ich mich, Charlottenburgerinnen für ihre Milliardärs-Dates aufpimpen? Unter dem durchsichtigen Vorwand, eine interessierte

Obwohl ich so kompetent wie möglich nickte, schien die Dame zu ahnen, dass ich nichts begriff. Es gehe hier nicht darum, sich auf ein besonderes Abend-Event vorzubereiten, erläuterte sie mir. «Das würde auch gar nicht funktionieren – die Lösung läuft aus den Einstichlöchern raus, damit machen Sie niemanden glücklich.» Vielmehr sei die Behandlung als optischer und psychischer Testlauf für eine dauerhafte Brustvergrößerung gedacht. «Wenn sich Ihre Freundin danach für eine Operation entscheidet, rechnen wir ihr die 1000 Euro natürlich auf den Preis an.» Ich versprach, meiner Freundin gut zuzureden.

Manche Preise wirkten rätselhaft. Bei einem Herrenausstatter in der Fasanenstraße kostete ein Polohemd ohne besondere Merkmale schwindelerregende 598 Euro. Vergleichsweise billig kamen mir dagegen die Austern in einer Ku’damm-Brasserie vor: Drei Stück nur zwölf Euro? Charlottenburg, you can do better!

Dann sah ich ihn. Er lief die Knesebeckstraße entlang, ein Mann um die 60, gekleidet mit müheloser Eleganz, umweht von unaufdringlichem Wohlstand, ein besserer Charlottenburger, als ich es je sein würde. «Entschuldigung», rief ich atemlos, «wo kaufen Sie Ihre Klamotten ein?» Der Mann zog amüsiert eine Augenbraue hoch. «So was kriegen Sie in dieser Gegend nicht», sagte er. «Da müssen Sie schon nach Paris.»

* * *

Gefühlte Mitte: Savignyplatz

Besatzungssektor bis zur Wiedervereinigung: Britisch (West-Berlin)

Fläche: 10,6 km² (Platz 29 von 96)

Bevölkerungsdichte: 12171 Einwohner/km² (Berlin gesamt: 4176 Einwohner/km²)

Durchschnittsalter: 44,0 (Berlin gesamt: 42,7)

Verkehrsanbindung: Fern- und Regionalbahn (Bahnhöfe Charlottenburg, Jungfernheide und Zoo), S-Bahn (Linien S3, S5, S7, S9, S41, S42, S46), U-Bahn (Linien U1, U2, U3, U7, U9), Bus (diverse Linien)

Leute: Sophie Charlotte (Ortsteilnamensgeberin, Schlossherrin, Gattin von Friedrich I.), Rolf Eden (Playboy, bis 2002 Eigner der Ku’damm-Disco «Big Eden»)

Sehenswürdigkeiten: Schloss Charlottenburg (barocke Sommerresidenz von Sophie Charlotte, gebaut Anfang des 18. Jahrhunderts, Spandauer Damm 20– 24), Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (neoromanischer Sakralbau mit Mosaikdarstellungen der Hohenzollerndynastie, gebaut 1895, zerbombt 1943, heute Ruine und Weltkriegsmahnmal, Breitscheidplatz), Jüdisches Gemeindehaus (Gemeindezentrum von 1959, Baudenkmal der Nachkriegsmoderne, Fasanenstr. 79–80), Europa-Center (Geschäfts- und Bürozentrum von 1965, West-Berliner Architekturwahrzeichen, Tauentzienstr. 9–12), Bikini-Haus (Einkaufszentrum von 1957, modernisiert 2013, Budapester Str. 38–50), Ludwig-Erhard-Haus (Wirtschaftszentrum, gebaut 1998, Fasanenstr. 85), Technische Universität (Straße des 17. Juni 135), Universität der Künste (Kunsthochschule, Hardenbergstr. 33), Villa Grisebach (Auktionshaus, Fasanenstr. 25)

Theater: Deutsche Oper (Opernhaus, Bismarckstr. 35), Theater des Westens (Musical und Operette, Kantstr. 10–12), Renaissance-Theater (Gegenwartsdramatik, Knesebeckstr. 100), Schillertheater (Boulevard, Bismarckstr.  110), Zoo-Palast (Filmtheater, Hardenbergstr. 29a)

Museen und Galerien: Museum Berggruen

Grünste Ecke: Schlossgarten

Gute Currywurst: Bier’s Currywurst (Ku’damm 195), Curry 36 (Hardenbergplatz 9)

Gute Kneipen: Schwarzes Café (Kantstr. 148), Paris Bar (Kantstr. 152), Zum Hecht (Kaiser-Friedrich-Str. 54)

Kalauer-Friseure: Haarscharf (Suarezstr. 48), James Blond (Wilmersdorfer Str. 69)

Ortsteilhymnen: Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm (Bobby Kamp/Günther Schwenn, 1949), Auf’m Bahnhof Zoo (Nina Hagen Band, 1978), Zoo Station (U2, 1991)

Charlottenburg-Nord

Wo die Raucher Witze reißen

Vermutlich sind auch Sie schon einmal am Jakob-Kaiser-Platz aus der U7 gestiegen, um mit dem Flughafenbus weiter nach Tegel zu fahren. Vielleicht haben auch Sie sich beim Umsteigen gefragt, ob es in Berlin einen hässlicheren Ort gibt als diese Bushaltestelle, wo Sozialbauten achtstöckig den Himmel verdunkeln und Autos zwölfspurig die Luft verpesten. Eventuell hat es auch Sie geärgert, dass die Stadt Ihnen den Weg in den Urlaub ausgerechnet mit diesem Anblick vermiest, den Sie noch ein bisschen kränkender fanden, als Sie nach dem Urlaub wieder am Jakob-Kaiser-Platz ankamen und deprimiert in die U7 stiegen. Sie fragten sich, wozu man überhaupt in eine Stadt zurückkehrt, die sich zur Begrüßung von ihrer garstigsten Seite zeigt.

Es fühlte sich ziemlich seltsam an, mit der U7 am Jakob-Kaiser-Platz anzukommen und nicht in den Flughafenbus zu steigen. Ich wartete, bis alle Touristen ihre Rollkoffer in den X9er gewuchtet hatten, dann kehrte ich dem Kurt-Schumacher-Damm den Rücken, duckte mich unter einer Platane hindurch und betrat einen Trampelpfad, der ins Sozialbauviertel führte. Es kam mir vor, als durchschreite ich ein Geheimportal, an dem ich vorher tausendmal ahnungslos vorbeigelaufen war. Ich war Alice, und die Welt hinter den Spiegeln hieß Charlottenburg-Nord.

Zum Alice-Gefühl passte, dass mir auf den Wiesen zwischen den Hochhäusern lauter Kaninchen über den Weg hoppelten. «Die stehen hier unter Schutz», erklärte mir eine ältere Dame, die ihren Dackel ausführte. «Das wissen die auch. So zahme Kaninchen gibt’s sonst nirgends. Die schert’s nicht mal, wenn ich mit dem Hund an ihnen vorbeilaufe.» Vielleicht lag es an den Kaninchen, vielleicht aber auch an den hohen Kiefern, Kastanien und Robinien, dass mir das Viertel von innen nicht halb so abschreckend vorkam wie von außen. Mit ein bisschen Phantasie konnte man sich sogar einbilden, dass das stetige Rauschen in der Luft dem Wind in den Bäumen zu verdanken war – und nicht der nahen Stadtautobahn.

Im «Brinks Treff» am Heckerdamm lief Cat Stevens. Ein paar ältere Pilstrinker unterhielten sich über ihre Nikotinsucht, einer gab Lungenkrebslyrik zum Besten: «Siehst du die Leichen dort am See? / Das sind die Raucher von HB. / Siehst du die Leichen dort am Strand? / Das sind die Raucher von Stuyvesant.» Ein paar Zuhörer lachten. Andere husteten.

Nach Osten hin drängten sich Kleingärten bis an die hohen Mauern der Justizvollzugsanstalt Plötzensee. Beim Lesen der Vereinsprosa in den Aushangkästen stieß ich auf diese Meldung: «Multi-Kulti-Fest am 24. Juni 2017 fällt leider aus, wegen Mangel an Beteiligung der verschiedenen Kulturen.»

Als ich abends wieder den Jakob-Kaiser-Platz erreichte, hatte ich das Gefühl, einen langen Flug hinter mir zu haben.

* * *

Gefühlte Mitte: U-Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz

Besatzungssektor bis zur Wiedervereinigung: Britisch (West-Berlin)

Fläche: 6,2 km² (Platz 62 von 96)

Einwohner: 19506 (Platz 56 von 96)

Bevölkerungsdichte: 3146 Einwohner/km² (Berlin gesamt: 4176 Einwohner/km²)

Durchschnittsalter: 44,3 (Berlin gesamt: 42,7)

Verkehrsanbindung: Regionalbahn (Bahnhof Jungfernheide), S-Bahn (Linien S41, S42), U-Bahn (Linie U7), Bus (diverse Linien)

Leute: Harald Poelchau (Antifaschist, in der Nazi-Ära Gefängnispfarrer in der Haftanstalt Plötzensee)

Sehenswürdigkeiten: Gedenkstätte Plötzensee (ehemalige Gefängnisbaracke, in der zu NS-Zeiten Regimegegner hingerichtet wurden, Hüttigpfad 16), Gemälde «Plötzenseer Totentanz» von Alfred Hrdlicka (im Ökumenischen Gedenkzentrum, Heckerdamm 226), Maria Regina

Grünste Ecke: Volkspark Jungfernheide

Gute Kneipe: Brinks Treff (Heckerdamm 225)

Grunewald

Wo die Sphinxen überborden

Ich habe Grunewald mit den Augen eines Verzweifelten gesehen, mit den Augen eines Kaisers, eines Hipsters und eines Bekehrten.

Aber der Reihe nach.

Am Anfang war Grunewald wüst und leer. Man schrieb das Jahr 1157, Berlin gab es noch nicht, auch keine Ortsteile, nur einen Wald am Havelufer. Von der anderen Flussseite (wo noch nicht Spandau lag) waberte im Juni jenes Jahres Kriegsgeschrei über den Fluss, dann trieb ein Mann, der Slawenfürst Jaczo, sein Pferd ins Wasser, auf der Flucht vor Albrecht dem Bären und seinem Heer. Vergeblich rief der schwimmende Fürst seine heidnischen Slawengötter um Hilfe an – und schwor schließlich, den Glauben seiner germanischen Verfolger anzunehmen, falls deren Gott ihn retten sollte. Als er glücklich das andere Ufer erreichte, hängte Jaczo seinen Schild an eine Eiche und lebte fortan als Christ.

Albrecht der Bär wiederum gründete nach seinem Sieg über die Slawen die Mark Brandenburg, wo sieben Jahrhunderte später der romantische Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. ein Denkmal für Fürst Jaczo aufstellen ließ, eine steinerne Eiche mit steinernem Schild. Es ziert bis heute einen Hügel am östlichen Havelufer, und als ich davor stand, sah ich Grunewald mit den Augen eines Bekehrten.

Kurz nach Wilhelms Tod wurde am westlichen Ende des Ku’damms die «Millionärskolonie Grunewald» angelegt, Berlins prächtigstes Villenviertel. Nobler als hier kann man in dieser Stadt bis heute nicht wohnen. Lange lief ich staunend zwischen den überbordenden Steinfassaden mit ihren Greifen und Sphinxen, Drachen und Schlangen, Löwen und Putten umher, bis ich schließlich am Herthasee die selbst für hiesige Verhältnisse überkandidelte Villa Walther erreichte. Ihr Erstbewohner, der Architekt und Baurat Wilhelm Walther, soll sich mit diesem Prestigeprojekt finanziell derart übernommen haben, dass er sich kurz nach dem Einzug in einem Turmzimmer erhängte. Er dürfte nicht der einzige Bewohner dieses Ortsteils gewesen sein, den die Sucht nach Repräsentation ruinierte. Ich versuchte, mir die grausige Turmzimmerszene vorzustellen, und sah Grunewald mit den Augen eines Verzweifelten.

Wieder ein halbes Jahrhundert später wurden im Wald die Trümmer von zwei Weltkriegen zum Teufelsberg aufgeschüttet, auf dessen Gipfel die US-Armee eine gigantische Abhöranlage errichtete. Zwischen den pittoresk verfallenen Kuppeltürmen laufen heute junge Hobbyfotografen aus aller Welt herum, weil man nur hier Berlin-Selfies schießen kann, auf denen Graffiti UND Ruinen UND die Havel UND der Sonnenuntergang UND der Kalte Krieg zu sehen sind. Ich zückte mein Handy und sah Grunewald mit den Augen eines Hipsters.

Gefühlte Mitte: Herthasee

Besatzungssektor bis zur Wiedervereinigung: Britisch (West-Berlin)

Fläche: 22,3 km² (Platz 4 von 96)

Einwohner: 10830 (Platz 77 von 96)

Bevölkerungsdichte: 486 Einwohner/km² (Berlin gesamt: 4176 Einwohner/km²)

Durchschnittsalter: 49,4 (Berlin gesamt: 42,7)

Verkehrsanbindung: S-Bahn (Linien S3, S5, S7, S9, S41, S42, S46), Bus (diverse Linien)

Leute: Jaczo (slawischer Fürst), Wilhelm I. (deutscher Kaiser)

Sehenswürdigkeiten: Grunewaldturm (Aussichtsturm am Havelufer, gebaut 1899), Abhöranlage am Teufelsberg (im Kalten Krieg Spionageeinrichtung der US-Armee, heute Ruine und Sprayer-Paradies), Schildhorndenkmal (Skulptur zum Andenken an den christlich bekehrten Slawenfürsten Jaczo, Schildhorn-Landzunge am Havelufer), Mahnmal Gleis 17 (Gedenkanlage für jüdische Berliner, die von hier aus in Ghettos und Konzentrationslager deportiert wurden, am S-Bahnhof Grunewald), Palais Mendelssohn (Anwesen der Bankiersfamilie von Mendelssohn, gebaut Ende des 19. Jhdts., heute Hotel, Bismarckallee 23), Wissenschaftskolleg zu Berlin (interdisziplinäres Forschungsinstitut, Wallotstr. 19)

Grünste Ecke: Grunewald

Ortsteilhymne: Im Grunewald ist Holzauktion (Otto Teich/Franz Meißner, 1890)

Halensee

Wo die Promis Wurst verschmähen

Als 2006 aus Wilmersdorf der neue Ortsteil Halensee herausgelöst wurde, zog die Bezirksverwaltung seine westliche Grenze genau zwischen dem namensgebenden See und Berlins größtem Bordell, dem Artemis. Ergebnis: Zu Halensee gehört jetzt der Puff, aber nicht der Halensee – der liegt im Nachbarortsteil Grunewald.

Im Geiste wird der See mit seinen luxuriösen Ufervillen von den Halenseern trotzdem gerne eingemeindet. Die Promidichte an seinen Ufern sei die höchste in Berlin, versicherte mir ein älterer Herr, mit dem ich vor einer Currywurstbude am Ku’damm ins Gespräch kam. Als ich nachfragte, wer denn da so wohne, zuckte er mit den Schultern. «Det sind diskrete Leute. Uff der Straße erkennt unsereiner die nich, die sehn im echten Leben janz anders aus wie im Fernsehen.» Die Currywurstverkäuferin fügte hinzu, dass an ihrem Stand noch nie ein Promi aufgetaucht sei. «Keen Wunder, die essen lieber so Teller, wo außer drei Blatt Salat nüscht druff ist.»

Ich kann den Promis dieser Stadt nicht raten, in den Ortsteil Halensee zu ziehen. Das scheint meist kein gutes Ende zu nehmen – an vielen Häusern erinnern hier Plaketten an örtliche Berühmtheiten, die unter unguten Umständen anderswo den Tod fanden. Die Schriftstellerin Else Lasker-Schüler (Katharinenstraße 5) starb 1945 verarmt in Jerusalem. Ihr Mann, der Publizist Herwarth Walden, kam 1941 in einem sowjetischen Knast um. Der Polarforscher Alfred Wegener (Georg-Wilhelm-Straße 9) erfror 1930 im grönländischen Eis. Der Schauspieler Albert Bassermann (Joachim-Friedrich-Straße 54) starb 1952 während eines Flugs von New York nach Zürich. Rudi Dutschke wohnte nicht in Halensee, wurde hier aber 1968 angeschossen und erlag 1979 in Dänemark den Folgen dieses Attentats.

Es muss der Ortsteil Halensee gewesen sein, der Nabokov auf solche Gedanken brachte, denn hier, in der Nestorstraße 22, lebte er von 1932 bis zu seiner Emigration im Jahr 1937. Im Erdgeschoss des Hauses liegt heute die Kneipe «Kleine Weltlaterne». Ich fand sie geschlossen vor, aber zufällig lief mir der Wirt über den Weg, der gerade dabei war, zwei Pakete Katzenstreu ins Haus zu tragen. Nabokovs ehemalige Wohnung, erzählte er, liege im dritten Stock. «Steht leer», fügte er hinzu. «Die Hausverwaltung sucht einen Nachmieter.»

Ich traute meinen Ohren nicht.

Als ich am nächsten Werktag die Hausverwaltung anrief, beschied mir eine Mitarbeiterin, die Wohnung sei gerade vergeben worden. Obwohl ich gar keine Wohnung suchte, hat es mich selten so geschmerzt, zu spät dran zu sein.

* * *

Gefühlte Mitte: Kurfürstendamm

Besatzungssektor bis zur Wiedervereinigung: Britisch (West-Berlin)

Fläche: 1,3 km² (Platz 95 von 96)

Einwohner: 15356 (Platz 69 von 96)

Durchschnittsalter: 46,0 (Berlin gesamt: 42,7)

Verkehrsanbindung: S-Bahn (Linien S3, S5, S7, S9, S42, S46), Bus (diverse Linien)

Leute: Rudi Dutschke (Politaktivist, wurde 1968 in Halensee angeschossen), Vladimir Nabokov (Schriftsteller, lebte in den 1930er Jahren in Halensee)

Sehenswürdigkeiten: Artemis (Berlins größtes Bordell, Halenseestr. 32–36), Gedenktafel für Rudi Dutschke (am Ort des Attentats, Kurfürstendamm 141)

Gute Currywurst: Franky’s Currystation (bekannt aus dem gleichnamigen Lied von Gunter Gabriel, Kurfürstendamm/Henriettenplatz)

Gute Kneipe: Die kleine Weltlaterne (Nestorstr. 22)

Schmargendorf

Wo die Liebe den Tod besiegt

Im kleinen Ortsteil Schmargendorf gibt es zwei Butter-Lindner-Filialen, eine Wiener-Conditorei-Filiale, eine Udo-Walz-Filiale, viele große Autos und viele schicke Villen. Im Vergleich zum Rest des wohlhabenden Südwestens machte Schmargendorf auf mich trotz all dieser Preziosen einen eher bodenständigen, um nicht zu sagen berlintypisch wurstigen Eindruck. In der Rheinbabenallee fiel mir ein Mann auf, der auf dem Fahrersitz seines geparkten Porsche Cabrios eine Currywurst vertilgte. Das Bild schien mir den Ortsteil ganz gut zusammenzufassen.

Im April 1943 zieht die versteckt lebende Jüdin Felice bei der deutschen Hausfrau Elisabeth ein. Ihre Schmargendorfer Nachbarin Leni Riefenstahl verfilmt zu diesem Zeitpunkt Eugen d’Alberts Oper «Tiefland». Bei den Aufnahmen in Berlin kommen zwangsrekrutierte Sinti- und Roma-Komparsen zum Einsatz, die nach dem Dreh in Auschwitz ermordet werden.

Am 2. September 1943, ein halbes Jahr nach ihrer ersten Liebesnacht, schenken Felice und Elisabeth einander Eheringe. Leni Riefenstahl heiratet am 21. März 1944 den Gebirgsjägeroffizier Peter Jacob.

Am 21. August 1944 fahren Felice und Elisabeth mit ihren Fahrrädern zur Havel. Am Flussufer nehmen sie mit dem Selbstauslöser von Elisabeths Leica ein Foto auf, das die beiden in Badekleidern zeigt, sich küssend. Es wird das letzte Bild der Liebenden sein. Bei der Rückkehr lauert ihnen in der Schmargendorfer Wohnung die Gestapo auf.

Leni Riefenstahl verkauft nach dem Krieg ihre Villa in der Heydenstraße und zieht nach Bayern, wo sie 2003 im Alter von 101 Jahren stirbt.

Elisabeth Wust sucht lange erfolglos nach ihrer deportierten Geliebten, deren Spuren sich in Auschwitz verlieren. Nach zwei misslungenen Selbstmordversuchen lebt sie bis zu ihrem Tod im

Die Buchhandlung in der Breiten Straße hatte «Aimée und Jaguar» nicht vorrätig. Seit der Verfilmung sei das Interesse am Buch etwas abgeflaut, verriet mir die Buchhändlerin, die, wie der Zufall es will, heute im Hofgebäude von Elisabeth Wusts ehemaligem Wohnhaus lebt. Im Buch, erzählte sie mir, sei beschrieben, wie Felice am Tag ihrer Festnahme um ein Haar der Gestapo entkam. Sie stürzte durch die Wohnungstür ins Treppenhaus, rannte hinab in den Hof und versteckte sich in der Hinterhauswohnung einer Nachbarin. Leider beobachtete sie dabei ein anderer Nachbar, der sie aus der Wohnung zerrte und der Gestapo übergab.

«Ich hoffe bis heute», sagte die Buchhändlerin, «dass das nicht meine Wohnung war.»

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Gefühlte Mitte: Rathaus Schmargendorf

Besatzungssektor bis zur Wiedervereinigung: Britisch (West-Berlin)

Fläche: 3,6 km² (Platz 81 von 96)

Einwohner: 21704 (Platz 52 von 96)

Bevölkerungsdichte: 6046 Einwohner/km² (Berlin gesamt: 4176 Einwohner/km²)

Durchschnittsalter: 48,0 (Berlin gesamt: 42,7)

Verkehrsanbindung: S-Bahn (Linien S41, S42, S46), U-Bahn (Linie U3), Bus (diverse Linien)

Leute: Felice Schragenheim (Jaguar), Elisabeth Wust (Aimée)

Sehenswürdigkeiten:

Grünste Ecke: Grünanlage am Sommerbad Wilmersdorf

Kalauer-Friseure: Hauptsache (Heiligendammer Str. 17A), Kurz oder Lang (Zoppoter Str. 9)

Westend

Wo die Winde ostwärts wehen

Das Berliner Westend ist nach dem Londoner West End benannt, sieht aber rund um die gleichnamige S-Bahnstation erst einmal mehr nach dem Londoner East End aus. Eine schmutzgraue Betonbrücke führt über die Gleise hinweg in den Ortsteil hinein, flankiert von Kebabbuden, dem Friseurladen «Afric Haircare» und dem «Sleep Cheap Hostel (10 €/night)».

Aber dieser erste Eindruck trügt.

Ost und West sind in Berlin derart politisch überformte Begriffe, dass ihre Bedeutung im stadtplanerischen Kontext etwas aus dem Blick geraten ist. In London war es wie etwas später in Berlin vor allem der vorherrschende Westwind, der den industrialisierten Städten ihre ständisch geprägte Geographie einblies: Die stinkenden Fabriken und dazugehörigen Arbeiterviertel landeten im Osten, die Fabrikeigentümer und Bankiers ließen sich im Westen nieder, wo die dicke Luft des Proletariats selten ankam.

So war es auch im Berliner Westend, wo ab den 1860er Jahren ein findiges Entwicklerkonsortium parzellierte Baugrundstücke an den frischgebackenen Industrieadel der Stadt verkaufte. Die Villen, die hier in der Folge entstanden, liegen heute im Areal

Beim Schlendern durch den Rest des weitläufigen Westends hatte ich den alten Song der Pet Shop Boys im Ohr: West! End! Girls! Dadam-dadam! Irgendwann fing ich an, zu dieser Melodie alle lokalpatriotischen Ladenbezeichnungen vor mich hin zu summen, die mir unterwegs begegneten: West! End! Grill! Dadam-dadam! West! End! Klause! Dadam-dadam! West! End! Velo! Dadam-dadam! West! End! Bestattungen! Dadam-dadam …

Summend umrundete ich das Olympiastadion, passierte den Funkturm und das Messegelände, lief schließlich am toten ICC vorbei, dessen bizarre Aluminiumsilhouette wie ein gestrandetes Schiffswrack an Berlins Westküste liegt. Rund um das stillgelegte Congress Centrum schlingt sich einer der irrsten und fußgängerunfreundlichsten Verkehrsknoten der Stadt, auf dessen fahrzeugumtosten Mittelinseln, so munkelt man, schon Menschen beim Warten auf grünes Licht verhungert sein sollen. Voller Mitleid dachte ich an all die armen Handelsvertreterchen, die bei ihren Berliner Messebesuchen auf dem abendlichen Weg vom Ibis-Hotel zum Steakhaus genau hier den Ausbruch lange unterdrückter Nervenleiden erlebt haben müssen.

Am Ende des Tages landete ich im Wiener Conditorei Caffeehaus am U-Bahnhof Neu-Westend. Es liegt gleich neben Butter Lindner und scheint für den gut betuchten Teil der Westendler Bevölkerung so etwas wie der In-Treffpunkt des Ortsteils zu sein. Wenn man hier Kaffee bestellt, fragen die Kellnerinnen freundlich nach, ob es denn Filter oder Crema sein soll, und wenn man Crema sagt, fühlt sich das nicht ganz comme il faut an. Alle hier tragen Kaschmir oder wenigstens Merinowolle, und alle,

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Gefühlte Mitte: Theodor-Heuss-Platz

Besatzungssektor bis zur Wiedervereinigung: Britisch (West-Berlin)

Fläche: 13,5 km² (Platz 16 von 96)

Einwohner: 41574 (Platz 31 von 96)

Bevölkerungsdichte: 3080 Einwohner/km² (Berlin gesamt: 4176 Einwohner/km²)

Durchschnittsalter: 47,3 (Berlin gesamt: 42,7)

Verkehrsanbindung: Fernbus (Zentraler Omnibusbahnhof), S-Bahn (S3, S5, S7, S9, S42, S46), U-Bahn (Linie U2), Bus (diverse Linien)

Leute: Conrad Bechmann (Gastwirt, gründete in den 1840er Jahren das erste Ausflugslokal im heutigen Westend), Johannes und Heinrich Quistorp (Bodenspekulanten und Gründer der Villenkolonie Westend), Curd Jürgens (Schauspieler, wuchs in Westend auf und beschrieb den Ortsteil 1976 in seiner Autobiographie «… und kein bisschen weise»)

Sehenswürdigkeiten: Olympiastadion (gebaut für die Olympischen Spiele 1936, heute Heimspielstätte von Hertha BSC, Olympischer Platz 3), Funkturm (West-Berliner Architekturwahrzeichen, gebaut 1926, Hammarskjöldplatz), Messegelände (Messedamm), Internationales Congress

Museen und Galerien: Georg-Kolbe-Museum (klassische Moderne und Gegenwartskunst, Sensburger Allee 25/26), Sportmuseum (Ausstellung zu den Olympischen Spielen 1936, auf dem Olympiagelände, Hanns-Braun-Str./ Adlerplatz), U-Bahn-Museum (Berliner Nahverkehr, Erich-Kurz-Str. 4, Eingang im U-Bahnhof Olympiastadion), West-Alliierte in Berlin e.V. (Privatausstellung zu den drei West-Berliner Besatzungsmächten, Olympischer Platz 7)

Grünste Ecken: Olympiapark, Murellenberge und Schanzenwald, Fließwiese Ruhleben, Brixplatz, Park Ruhwald, Friedhof Heerstraße

Gute Kneipe: Westendklause (Reichsstr. 80B)

Ortsteilhymne: West End Girls (Pet Shop Boys, 1984)

Wilmersdorf

Wo die Bauern Kasse machten

In der Auenkirche im alten Dorfkern von Wilmersdorf kam ich am Vorabend des Dreikönigstags mit einer Gemeindeschwester ins Gespräch, die einen der drei Könige im Arm trug. Sie war dabei, die Krippenfigur näher an das Jesuskind heranzurücken, pünktlich zum 6. Januar. Wie sich herausstellte, hatte die recht kleine Gemeindeschwester den recht großen König selbst getöpfert, wie auch den Rest der tönernen Krippe.

Stolz zeigte mir die ältere Dame ihr Werk, dem sie im Laufe mehrerer Jahrzehnte immer neue Figuren hinzugefügt hatte, viele davon mit zeitgeschichtlichen Bezügen. Es gibt in der Wilmersdorfer Krippe einen Drogensüchtigen mit Spritze im Arm, der wie ein Kind vom Bahnhof Zoo aussieht; einen Verkündigungsengel, der seine Botschaft auf einem Plakat vor sich

Die Gemeindeschwester zeigte mir auch noch die Sakristei, in der ein altes Schwarzweißfoto der Auenkirche hängt. Es muss Anfang des 20. Jahrhunderts aufgenommen worden sein, denn es zeigt die Kirche noch am Ufer des Wilmersdorfer Sees, den es heute nicht mehr gibt. Er wurde um das Jahr 1915 herum zugeschüttet, vor so langer Zeit also, dass sich wohl kaum noch ein lebender Bewohner des Ortsteils an ihn erinnern kann, nicht einmal die sprichwörtlichen «Wilmersdorfer Witwen», jene verhärmten Gattinnen gefallener Nazi-Militärs, die im Berlin-Musical «Linie 1» dem Dritten Reich nachweinen.

Dabei war der See einst das Herz von Wilmersdorf. An seinem Ufer gründete ein findiger Gastronom namens Otto Schramm in den 1880er Jahren eine Badeanstalt und den «Tanzpalast Schramm», der für das damalige Berlin so etwas wie das Berghain seiner Zeit gewesen sein muss. «Wat meenste, morjen jehn wa bei Schramm een danzen», so lautete nach Überlieferung des Schriftstellers Hanns Fechner die Formel, mit der im späten 19. Jahrhundert junge Berlinerinnen zu elektrisieren waren.