Sophia Kroemer

Dieselbe und doch nicht die Gleiche

Mein Weg durch das Trauma

FISCHER E-Books

Über Sophia Kroemer

Sophia Kroemer wurde 1999 in Hamburg geboren und ist dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. "Dieselbe und doch nicht die Gleiche" ist ihr erstes Buch, mit dem sie das traumatisches Erlebnis ihrer Vergewaltigung aufarbeitet. Sie möchte damit anderen Betroffenen Mut machen: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der nach schlimmen Ereignissen schnell wieder Alltag einkehren soll. Der Versuch, schnellstmöglich alles wieder zum Alten führen zu wollen, verschlimmert nur alles. Jeder hat einen eigenen Weg damit umzugehen, aber es ist wichtig zu wissen, dass es einen Weg gibt.“

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Sakari ist eine lebenslustige 19-Jährige, als ihr Leben aus den Fugen gerät: Sie wird auf einem Stadtfest vergewaltigt. Danach ist nichts mehr, wie es mal war. Doch plötzlich ist da Kari, ihr zweites Ich, das sie immer wieder an ihre Stärke erinnert. Zusammen mit ihrem besten Freund und ihrer Familie kämpft sich Sakari zurück ins Leben und zu sich selbst.

 

Sakaris Geschichte ist Sophia Geschichte – mit absoluter Wucht und Authentizität schildert sie die Folgen einer Vergewaltigung. Ohne jemals den Zeigefinger zu erheben, gibt sie Antworten auf die Frage, wie man Menschen begegnet, die sexualisierte Gewalt erleben mussten. Es ist auch die Geschichte einer Familie, die daran fast zerbricht. Und es ist eine Geschichte über den Wert und die heilende Kraft von Freundschaft und Liebe.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Originalausgabe

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Pia Keller | ZERO Werbeagentur, München

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491280-6

Sophia Kroemer = Sakari Weber? Das ist sicherlich eine Frage, die sich vielen Leser*innen meines Buches stellen wird. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Sakaris konkrete Familie, ihre Freunde und ihr zweites Ich sind in dieser Form ausgedacht. Gleichzeitig mache ich jedoch kein Geheimnis daraus, dass ich selbst Opfer einer Vergewaltigung geworden bin. Weil ich diese traumatische Erfahrung machen musste, war ich in der Lage, darüber eine Geschichte zu schreiben – sicherlich sind Realität und Fiktion dabei manchmal schwer trennbar. Aber es geht auch nicht darum, einzelne Teile der Geschichte dem einen oder anderen zuzuordnen.

Einige Situationen, die Sakari erlebt, mögen wirklich so passiert sein. Was aber immer und vollkommen echt ist, ist ihr Gefühlsleben. Die Verfremdung hat mir geholfen, Abstand zu der Geschichte zu wahren und trotzdem meine eigenen Gefühle und Gedanken zu verarbeiten und mit einzubringen. Das ist es, was die Geschichte für mich besonders macht. Auch die Idee einer zweiten, mutigeren Version Sakaris entspringt meiner persönlichen Erfahrung. Ich habe mich oft als die schönere, witzigere, fröhlichere, mutigere Version gesehen; das hat mich durch den Alltag begleitet. Ich denke, viele Menschen wünschen sich eine bessere, zweite Version von sich. Ich habe mir gerne vorgestellt, mit dieser zweiten Sophia sprechen zu können, besonders wenn

An dem Abend, an dem meine Welt aus den Fugen geriet, all ihre Fundamente brachen und einrissen, hatte ich ein Bild gemalt. Es war schwarz, so schwarz wie die Dunkelheit da draußen. Inmitten der Schwärze war ein Licht zu erkennen. Rot, gelb, violett. Vergleichbar mit einem Sonnenaufgang, der den Himmel in Brand setzt. Ich legte den Pinsel zur Seite und rannte zum Fenster, bekam keine Luft mehr. Nate hatte immer gesagt, aus mir würde mal eine große Künstlerin werden. So groß wie Picasso vielleicht. Nate war mein bester Freund, seitdem ich denken kann. Wir machten so gut wie alles zusammen. Er hatte schon seinen eigenen Wagen, eine eigene Etage im Haus seiner Eltern und durfte jeden Abend so lange wegbleiben, wie er wollte. Ich tat immer so, als würde mir das nichts ausmachen, aber Nate wusste es besser. Jeden Freitag fuhr er mit seinem VW in unsere Parallelstraße und schickte mir eine Nachricht mit einem Zwinker-Smiley. Ich hatte meistens schon ungeduldig darauf gewartet, zog mir schnell meine uralte, abgewetzte Lederjacke über, deponierte mehrere Kissen unter meiner Bettdecke und kletterte aus dem Fenster.

Ich lief eilig los, damit kein Nachbar auf die Idee kam, mich zu verpetzen. So machten Nate und ich das seit meinem sechzehnten Geburtstag. Meistens stand er an die Motorhaube gelehnt, die wilden braunen Haare von allen Seiten abstehend und ein schelmisches Grinsen im Gesicht.

 

Jetzt tun wir das nicht mehr. Das letzte Mal, der letzte gute Tag mit ihm ist schon zu lange her. Zu lange für eine Freundschaft, die dazu bestimmt war, ein ganzes Leben lang anzudauern. Meine Panikattacke kam wie immer schleichend und unangekündigt. Sie baute sich langsam auf, ein sich anbahnender Sturm, der am Ende mit all seiner Kraft über mich hereinbrach.

Meine Eltern waren zum Essen eingeladen. Die Wohnung war still und verlassen. Ich hatte nicht daran gedacht, Musik oder den Fernseher anzumachen, obwohl ich in diesem Moment nichts lieber als beruhigende Geräusche um mich herum gehabt hätte.

Meine Brust war ein zugezogener Reißverschluss. Keuchend und japsend drückte ich meine Stirn gegen das kühle Fensterglas und versuchte, Kontrolle zu erlangen. Es dauerte eine halbe Stunde, bis ich wieder klar denken konnte.

Panisch ging ich ins Wohnzimmer, öffnete unsere schmale, altmodische Kommode und griff mir eine Flasche Jack Daniels aus Dads Vorrat. Ich hatte Nate vor Augen, wie er die Nase rümpfte, weil er Whiskey verabscheute. Ich dagegen mochte das Brennen in der Kehle und die rauchige Note auf der Zunge.

So hockte ich mich auf mein Bett und schenkte mir ein Glas nach dem anderen ein. So lange, bis sich meine Brust wieder lockerte. Das Rauschen in den Ohren einsetzte und meine Gedanken auseinanderdrifteten, alle in entgegengesetzte Richtungen. Ich versuchte gar nicht erst, sie festzuhalten oder zu ordnen. Ich

An diesem Abend malte ich das Bild nicht zu Ende. Ich torkelte in Mantel und Hausschuhen aus der Wohnung, vergaß sogar den Schlüssel und lief los. Ich lief so lange, bis ich nicht mehr wusste, in welchem Stadtteil ich mich befand. Die Nacht war ruhig und friedlich. Keine Partygänger, keine grölenden Jugendlichen, die genauso betrunken wie ich durch die Straßen zogen, um ihren Eltern zu trotzen. Hier standen die Häuser weit auseinander, fast alle Lichter waren ausgeknipst, keine Autoscheinwerfer, nur der weit entfernte Lärm vom Zentrum der Stadt war leise zu vernehmen.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich lief immer weiter, aber die Gedanken hörten nicht auf. Die Stimmen in meinem Kopf schrien lauter. Mein Schädel pochte, als hätte ich ihn gegen eine Mauer gerammt.

»Hört auf«, flüsterte ich. Aber das taten sie nicht. Sie trieben mich immer weiter, bis ich eine Brücke erreichte. Laternen beleuchteten den Gehweg, ich packte das Geländer mit beiden Händen und hielt das Gesicht in den Wind. Jene Sommernacht war ungewöhnlich kalt, doch ich genoss das taube Gefühl meiner Haut. Tränen rannen meine Wangen hinab, ich hatte nicht gemerkt, dass ich weinte. Ich wünschte, Nate könnte hier sein. Ich wünschte, es wäre okay für mich, wenn er da wäre.

Nate hat immer gesagt, dass die Vergangenheit uns nichts anhaben kann. Dass selbst Gedanken ihre Macht verlieren, wenn wir das so bestimmen. Er war immer furchtlos und guter Dinge. Wir beide waren es. Er sagte: »Gib dich nie dem Schmerz hin. Lass nicht zu, dass er dich besitzt.«

Nate hatte sich geirrt. Nate hatte keine Ahnung von diesem

Wie lange ich brauchte, um zu verstehen.

Es ist passiert. Es ist wirklich passiert.

Heute weiß ich nicht mehr, wie ich es schaffte, hinaufzuklettern, die Füße baumeln zu lassen und mich so weit herunterzubeugen, dass ich die vielen Autos genau erkennen konnte, die in kurzen Abständen unter mir hinwegbrausten. Ich saß einfach da. Spürte, wie sich mein Griff um das Geländer lockerte.

Wünschte, ich könnte loslassen.

Drei Monate später

Ich begegnete meinem zweiten Ich zum ersten Mal vor drei Tagen in meinem Badezimmer. Im Grunde genommen sah es genauso aus wie ich: dicke kastanienbraune Locken, von Natur aus gebräunte Haut und die Augen meiner Mutter. Grün mit kleinen dunklen Sprenklern. Aber es war nicht ich. Es hatte einen anderen Stil als ich: irgendwie bunt, alles farblich miteinander kombiniert und weitaus auffallender, als ich rumlaufen würde. Außerdem saß diese herzchenförmige Sonnenbrille in seinem Haar, die ich niemals tragen würde.

Es hockte auf dem Badewannenrand, als ich hereinkam. Ich bekam einen Heidenschreck, aber doch nicht so einen großen, wie eigentlich hätte der Fall sein sollen. Wenn man einmal bedenkt, dass da ein fremdes Mädchen in unserem Badezimmer saß. Ein fremdes Mädchen, das haargenau so aussah wie ich.

»Du siehst vielleicht scheiße aus«, sagte es. Mit meiner Stimme. Ich starrte es unverwandt im Spiegel an, das Herz pochte mir bis zum Hals, meine Hände begannen zu zittern. Das Mädchen kaute Kaugummi. Das Schmatzen war so deutlich zu hören wie der rasende Puls in meinen Ohren.

Aus irgendeinem Grund fiel mir nichts Besseres ein als: »Wie bitte?«

»Mach dir nicht gleich ins Hemd. Ich bin niemand anderes als du.«

Es war so weit. Ich war völlig hinüber. Geistig verwirrt. Ich versuchte, in kürzester Zeit herauszufinden, ob ich mir in den letzten Stunden vielleicht aus Versehen etwas eingeworfen hatte. Hatte ich vielleicht zu viel Gras geraucht? Irgendetwas, was das hier erklären würde? Aber das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, du hast keine Drogen genommen. Und ja, ich bin eine waschechte Halluzination.«

»Na klasse«, erwiderte ich und stolperte gegen das Waschbecken. Dabei krachten ein paar Shampoos in die Badewanne, und mein zweites Ich sprang leichtfüßig auf.

Wir standen uns direkt gegenüber. Es trug sogar mein Parfüm. Vielleicht hätte ich schreien sollen. Fliehen sollen, meinen Eltern Bescheid sagen sollen, dass sie mich direkt wieder für weitere drei Monate in die Klapse schicken konnten. Doch ich war neugierig. Also streckte ich die Hand aus und berührte es. Es fühlte sich echt an, und meine Hand zuckte zurück, als hätte ich einen Stromschlag abbekommen. Da stand es und grinste mich an. Dieses Grinsen sorgte für großen Aufruhr in mir. Fragen über Fragen, die alle gleichzeitig beantwortet werden wollten.

»Was ich hier tue?«, übernahm es meine Aufgabe. Ich nickte langsam.

»Ich bin dafür zuständig, dass du wieder ein bisschen zu dir kommst.« Ich runzelte die Stirn. Bevor ich nachhaken konnte, klopfte es an der Tür. Mein Bruder Sabri wollte rein.

Mein Bruder und ich sind beide mit den merkwürdigsten

Ich schloss auf und sah mein zweites Ich an meinem Bruder vorbeischlendern, als wäre es das Normalste auf der ganzen Welt. Es wanderte durch den Flur und verschwand in der Küche. Ich beachtete meinen Bruder gar nicht, rannte, so schnell ich konnte, in die Küche und prallte unmittelbar gegen meinen Vater. Verdutzt schob er mich eine Armeslänge von sich. »Wo brennt’s denn?«, fragte er. Mein zweites Ich war verschwunden. In der Küche befanden sich nur mein Dad und ich. Ich suchte es, mich, in der gesamten Wohnung, aber ich fand nichts. Keine Spur. Niemand hatte es gesehen oder bemerkt.

Niemand außer mir.

Vor drei Tagen bin ich ihm begegnet. Vor drei Tagen habe ich mich selbst aus der psychiatrischen Klinik entlassen, die unten im Zentrum der Stadt liegt, umgeben von einer kleinen Parkanlage und Grünflächen. Der Oberarzt war nicht gerade begeistert von meiner Idee, aber da ich volljährig bin, kann ich selbst entscheiden. Meine Therapeutin befürwortete es sogar. Sie hielt mich für bereit, wieder in den Alltag zurückzukehren. Aber der Grund, weswegen ich gehen wollte, ist einfach. Ich hielt es nicht länger aus. So eine Therapie ist verflucht nervenaufreibend. Hätte man mir das vorher gesagt, hätte ich mir das Ganze zehnmal überlegt. Trotzdem wäre es gelogen zu behaupten, dass mir die Zeit da drin nicht geholfen hätte. Ich kam zur Ruhe. Konnte Abstand von meinem realen Leben gewinnen. Ich dachte, ich hätte große Fortschritte gemacht. Doch kaum bin ich zurück in der echten Welt, schon spaziert eine zweite, viel coolere Version von mir durch die Gegend, die offenbar niemand wahrnehmen kann – außer mir selbst.

Herzlichen Glückwunsch!

All diese Dinge schießen mir durch den Kopf, als ich im Garten meiner Eltern sitze und mein Handy betrachte, das ich sehr lange und absichtlich nicht angerührt habe.

Hundertdreißig verpasste Anrufe. Fünfzig ungelesene Nachrichten. Alle von ein und derselben Person. Nate. Mein bester

Dad harkt Laub im Garten. Der Spätsommer geht zur Neige, und so verwandeln sich alle Gärten in riesige Blätterhaufen und die Bäume in teils bunte, teils kahle Wesen.

Mein alter Herr hat keine Haare mehr auf dem Kopf. Früher habe ich es geliebt, ihn mit einer Feder oder anderen kitzeligen Dingen zu ärgern. Heute sitze ich nur da und beobachte den nackten Kopf, der durch den Garten wandert und manchmal in der Herbstsonne anfängt zu leuchten. Er bemerkt, dass ich ihn beobachte, und hält in seinem Geharke inne.

»Hast du dich bei Nate gemeldet?«, fragt er, als wisse er genau, wieso ich hier draußen sitze.

Ich schüttele den Kopf. »Er ist fast jeden Tag hier aufgetaucht, während du weg warst.« Dad möchte mir ein schlechtes Gewissen machen, und damit hat er einen Riesenerfolg. Ich knabbere frustriert an meiner Unterlippe und bin schon dabei, die PIN für mein Handy einzugeben, bis mir einfällt, dass ich Nate nichts zu sagen habe. Was soll ich ihm sagen? Er wird es eh wissen.

Also, was soll ich dem einzigen Jungen, dem ich – meinen Vater und meinen Bruder ausgenommen – je vertraut habe, bitte sagen? Dass ich kurz davor war, von einer Brücke zu springen, und deshalb in der Klapse gelandet bin?

Oder gleich die ganze Geschichte davor? Alles was danach passierte? Ich kenne Nate. Er wird nichts zu sagen wissen. Er ist genauso ein ahnungsloser Dummkopf wie ich.

Und während ich so dasitze und über das Ganze nachdenke,

Mein zweites Ich hopst mit seinen schwarzen, perlenbesetzten Stiefeln um Dad herum und lehnt schließlich am Stamm unseres Flieders. »Das, was du sagen möchtest!«, ruft es, den Joint zwischen ihren Lippen, und streckt die Arme in die Luft. Dabei rutscht sein Pullover hoch, und ich sehe, dass es ein Tattoo hat. Eine fliegende Schwalbe. Ein Tattoo, das ich mir mit achtzehn unbedingt hatte machen lassen wollen und an das ich jetzt, ein Jahr später, gar keinen Gedanken mehr verschwendet habe.

Was ich sagen möchte? Ich weiß nicht, was ich sagen möchte. Mein zweites Ich verlässt den Flieder und hockt sich neben den Laubhaufen, den Dad in den letzten zwei Stunden errichtet hat. »Sag ihm, du willst ihn treffen.«

Ich schüttele hektisch den Kopf, beinahe panisch, und kann von Glück reden, dass Dad das nicht sieht. »Warum nicht?«, fragt es und legt den Kopf schief.

Ich kann nicht. Es verdreht wieder die Augen.

»Feigling!«, sagt es, steht auf und streicht Dad für eine Sekunde über die Glatze. Er harkt unbekümmert weiter.

»Hey, Dad!«, rufe ich. Er dreht sich zu mir um und hebt fragend die Augenbrauen.

»Was würdest du sagen, wenn gerade in diesem Moment eine zweite, viel coolere Version von mir neben dir stehen und deinen Kopf streicheln würde?«

»Ich würde sagen, dass du sie echt nicht mehr alle beisammenhast.« Und so sind wir alle drei im Garten, hören den Singsang der Vögel, das gleichmäßige Schaben der Harke, und hin und wieder kommt meine Mutter heraus, um zu gucken, ob ich noch da bin, so wie jeden Tag seit meiner Rückkehr.

Es ist Freitagabend. Ich stehe mit einer Mischung aus Wodka und irgendeinem süßen Saft in der Ecke und beobachte das Partygeschehen. Meine Schulfreundin Alex hat mich eingeladen. Sie amüsiert sich prächtig und ist wohl gerade dabei, einen völlig besoffenen, schlaksigen Typen abzuschleppen. Der Rest ist am Tanzen. Oder Trinken. Oder Kiffen. Von allem ist was dabei. Mein Bruder Sabri ist mit mir zusammen hier, ich vermute mal, um auf mich aufzupassen. Nicht, dass er das gemusst hätte, ich rede kaum mit jemandem, trinke einfach ein Glas nach dem anderen und warte darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigt. Sabri tanzt mit irgendeinem Mädchen und kommt ab und zu vorbeigeschneit, um sich zu vergewissern, dass ich nicht zusammenklappe.

Die Hälfte der Leute hier kenne ich noch aus der Schule. Viele stellen neugierige Fragen, wo ich denn die letzten drei Monate war und ob ich bald wieder in die Schule kommen würde. Ich weiß selber, dass sich dieses Thema nicht mehr lange aufschieben lassen wird. Mom sagt immer, egal, wie schlimm es manchmal ist, das Leben muss weitergehen. Man braucht ein Ziel, dann funktioniert es.

Ich hätte ihr gerne verklickert, dass ich nicht mal mehr weiß, wie ich Ziel definieren soll. Außerdem habe ich immer noch Panikattacken, auch wenn sie weniger werden. Sie kommen

Es ist nicht die Menge. Es sind auch nicht die Menschen. Es sind die Berührungen selbst. Sie brennen auf mir, legen einen Schalter in meinem Kopf um, der jede Coolness fortwischt. Sie erinnern mich an das, was ich zu vergessen versuche.

Keine Ahnung, was mich hierhergebracht hat. Vielleicht wollte ich einfach wieder die normale Sakari sein, die sich ganz schön die Kante geben konnte, ohne schnell aufzugeben. Ich war ein absolutes Partygirl. Ich liebte das Feiern, liebte es, die Kontrolle zu verlieren und dabei das Gefühl zu haben, jede Nacht könnte die Nacht meines Lebens sein.

Inzwischen mag ich davon nur noch meinen vernebelten Kopf und das Taubheitsgefühl, als wäre ich in Watte gepackt und nichts und niemand könne mir etwas anhaben. Also trinke ich, schlängle mich an den Leuten vorbei und flüchte schließlich auf den Balkon, den die meisten gerade wieder verlassen, weil ihre Joints runtergebrannt sind. Ein paar Klassenkameraden grüßen mich. Ich habe Schwierigkeiten, mich an ihre Namen zu erinnern. Ich war nur für zwei Wochen in der Oberstufe, bevor ich in die Klinik ging. Direkt am Anfang des neuen Schuljahres. Um ehrlich zu sein, wundert es mich, dass sich überhaupt noch jemand an mich erinnert, Alex ausgenommen.

Die Luft ist rein und klar, was meinem Kopf guttut, der sich bereits zu drehen beginnt. Wenn ich so weitermache, darf Sabri mich nach Hause tragen. Ich stecke mir eine Zigarette an und meide mit Absicht das Balkongeländer. Nicht dass jemand auf komische Gedanken kommt, nicht wahr?

»Hey, hey«, ruft seine Stimme beruhigend. Warm wie heiße Schokolade im Winter. Mein Körper gefriert zu Eis. Zum ersten Mal bin ich verdammt froh, dass ich so ein gutes Reaktionsvermögen habe, egal mit wie viel Promille. Bevor ich zur Seite wegkippe, kriege ich noch einen Stuhl zu fassen, der an die Balkontür gelehnt ist.

»Nate«, ich klinge weder erfreut noch unglücklich. Neutral ist vielleicht das passende Wort. Nate. Tausend Stimmen quatschen in meinem Kopf durcheinander, jede sagt etwas anderes, und keine weiß, was sie meinem Mund zum Aussprechen schicken soll.

Da steht er vor mir, die Hände in den Hosentaschen, die Kapuze jetzt im Nacken, so dass sein braunes Haar wie immer widerspenstig und wild vom Kopf absteht. In Sekundenschnelle nehme ich all die neuen und zugleich vertrauten Details auf. Er hat sich einen Bart wachsen lassen. Die meerblauen Augen wirken müde und erschöpft. Der Mund ist zu einem harten Strich verzogen.

»Was machst du hier?«, fragt er.

Ich hebe mein Glas. »Ich trinke.«

Nate schüttelt den Kopf. »Was machst du hier? Wieso hast du mich nicht zurückgerufen? Mir nicht geschrieben?«

Tja, Mister, das ist eine gute Frage. Ich kann sie nicht beantworten. Und selbst wenn ich es könnte, würde es nichts wiedergutmachen. Nichts von dieser riesigen Kluft zwischen uns, die ich geschaffen habe. Selbst wenn ich es erklären könnte, würdest du nicht verstehen.

Ich erwidere Nates Blick, aber ich kann es nicht lange ertragen.

Die Stille ist so greifbar, dass ich das Gefühl habe, gleich wird sie lebendig. Doch Nate war noch nie gut im Schweigen. Er macht einen Schritt auf mich zu, schnell und unvorhersehbar, streckt eine Hand aus, um sie auf meine Schulter zu legen. Bevor ich verstehen kann, hat mein Körper schon verstanden. Ich schlage Nates Hand weg und lasse dabei mein Glas fallen.

»Nicht«, flüstere ich erstickt.

Ich muss fort. Die Partygäste fragen sich, was hier draußen los ist. Ich zwänge mich durch die geiernden Mädels und Jungs, kriege noch meine Jacke zu packen und fliehe aus dem Haus, ohne meinen Bruder zu suchen oder irgendjemandem Bescheid zu sagen.

Wie ich schon sagte. Es sind die Berührungen. Sie erinnern mich an das, was ich zu vergessen versuche. Sie sorgen dafür, dass ich völlig verschreckt und auf wackligen Beinen diese Party verlasse und damit die Nacht beende, die früher vielleicht mal zu der Nacht meines Lebens hätte werden können. Gott sei Dank habe ich Nate nicht mehr ins Gesicht gesehen. Ich will nicht wissen, wie weh es ihm getan hat.

Ich Nr. 2 wartet unten auf der anderen Straßenseite. Würde es nicht so fröhlich vor sich hin pfeifen, hätte ich es nicht mal bemerkt. Ich torkele ein Stück auf es zu, bevor ich es mir anders überlege und schnurstracks in Richtung Heimat laufe.

Natürlich folgt es mir. Dabei braucht es nicht mal an Tempo zuzulegen, denn ich stolpere die ganze Zeit. Während es so neben mir herschlendert, spielen sich alle möglichen Emotionen in mir ab. Ich bin unheimlich wütend. Wütend, dass Nate zu dieser Party kommen musste, und wütend, dass ich einfach weggerannt bin. Ich bin traurig, weil ich ihn am liebsten fest in die Arme geschlossen hätte, ihm alles erklärt hätte. Warum ich den Kontakt vermieden habe und ihm aus dem Weg gegangen bin. Aber was mache ich? Ich renne wie eine Irre davon.

Mein zweites Ich lässt eine Kaugummiblase platzen. »Jep. Das war nicht dein coolster Auftritt.« Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu. »Was willst du?«

Die Frage ist ernst gemeint. Ich habe keinen blassen Schimmer, was das alles soll. Um ehrlich zu sein, es geht mir gehörig auf den Wecker.

Ich Nr. 2 bleibt stehen und erwidert gelassen meinen Blick. Da erst fällt mir auf, wie schick es angezogen ist. Schwarzes Kleid, nicht zu kurz, nicht zu dünn. Durchsichtige Strümpfe und Stiefel bis zu den Knien.

Ich nicke so energisch, wie eine Betrunkene nur nicken kann.

»Woher soll ich das wissen«, sagt es und spuckt das Kaugummi auf den Gehweg. »Ich bin du. Was willst du?«

Ich schüttele den Kopf. »Verschwinde einfach und komm nicht wieder.«

»Kann ich nicht.«

»O Gott.« Mein Kopf dreht sich schon wieder. Ich setze mich auf die Bordsteinkante und atme mehrmals tief durch, damit mein Magen nicht auf dumme Ideen kommt. Beobachte das wunderschöne, aufgetakelte Mädchen, das ich sein soll, wie es auf der verlassenen Straße umhertanzt, als würde ihm niemand dabei zusehen. Ich habe auch mal so getanzt. Genauso. Haltlos, lächelnd, glücklich. Der Anblick macht mich traurig.

»Also, was sollte das mit Nate? Wieso redest du nicht mit ihm?« Es streckt seine Arme aus und wirbelt wie eine Ballerina im Kreis, so schnell, dass mir schon vom Zuschauen schwindelig wird.

»Ich weiß nicht.«

»Mit mir sprichst du doch auch.«

Ein nicht gerade damenhaftes Schnauben meinerseits. »Ich rede mit mir selbst. Das ist was ganz anderes.«

Ich Nr. 2 hält in seinem Tanzen inne und mustert mich von oben bis unten. »Ist Nate nicht deine zweite Hälfte? Dein Seelenverwandter und so? Du bist weggerannt, als hätte er dich geschlagen.«

Bei diesen Worten zucke ich zusammen. Es nimmt echt kein Blatt vor dem Mund.

»Das ist es nicht. Er wollte … er hat …«

»Er wollte dich berühren und nicht betatschen! Er wird dir mit

»Scht.« Mein Herz rast schon wieder. »Sei still.«

So stehen wir da, bis ich mich halbwegs beruhigt habe und von ihm ablasse. Mein zweites Ich lächelt. »Du willst es nicht hören, was?«

Nein. Niemals. Nie wieder.

Den Rest des Weges schweigen wir. Mir begegnen einige Spaziergänger, mein Nachbar und ein Pfandflaschensammler. Immer hoffe ich darauf, dass einer von ihnen mein Anhängsel bemerkt. Uns beide ansieht, nicht nur mich. Ein Beweis dafür, dass ich nicht völlig verrückt geworden bin. Leider wird mein Wunsch nicht erfüllt. Und zu meinem Verdruss scheint mein zweites Ich noch keine Lust zu haben, wieder zu verschwinden. Also suche ich schließlich meine Bank auf, eine Bank kurz vor unserem Haus. So sitzen wir zwei da. Starren ins Nichts. Bis es fragt, ob wir ein Spiel spielen wollen.

»Welches?«

»Wahrheit oder Pflicht.« Es grinst, und ich schüttele den Kopf. »Das Spiel ist scheiße.«

»Komm schon. Spiel mit mir. Danach haue ich ab, versprochen.«

»Du kommst doch sowieso wieder.«

Aber seine, meine Augen leuchten so kindlich und aufgeregt, dass ich nicht anders kann, als seufzend zuzustimmen. »Also gut. Du fängst an.«

Ich Nr. 2 wählt Pflicht. Ich muss nicht lange nachdenken. Schließlich ist es nicht real, oder? Und da es mir sowieso ganz schön auf die Nerven geht, kann es ruhig was abbekommen.

»Mach hundert Liegestütze.«

»O nein!« Frustriert schaut es mich an und zupft an seinem Kleid. »Ich will mein Kleid nicht dreckig machen!«

»Du wolltest spielen.«