Wolfgang Kaleck
Die konkrete Utopie der Menschenrechte
Ein Blick zurück in die Zukunft
FISCHER E-Books
Wolfgang Kaleck, geboren 1960, ist Rechtsanwalt und Publizist. 2007 gründete er das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das weltweit für die Menschenrechte kämpft. Er ist an zahlreichen Prozessen beteiligt, u.a. gegen die Bundesrepublik im Kunduz-Fall sowie transnationale Unternehmen. Für sein Engagement wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Hermann-Kesten-Preis des PEN Zentrum (2014) und dem Ehrenpreis der Bruno Kreisky Stiftung (2017). Er lebt in Berlin.
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Überall auf der Welt nehmen Ungleichheit und Armut zu, die Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Doch haben sie deswegen keine Bedeutung mehr? Oder muss man sie nur neu und frisch denken, um ihr transformatives Potenzial zu entfalten?
Wolfgang Kaleck ist nicht nur der Anwalt von Edward Snowden, sondern war an zahlreichen Strafverfahren u.a. gegen Donald Rumsfeld oder gegen die argentinischen Militärdiktatoren beteiligt. Als Praktiker in weltweiten Kämpfen, auch gegen transnationale Unternehmen, entwirft er jetzt eine neue, eine konkrete Utopie. Er kritisiert den derzeit geläufigen, zu eng gefassten Menschenrechtsbegriff und weitet die Perspektive: durch einen Blick in die Geschichte und durch einen Blick auf verwandte Kämpfe weltweit. Damit nicht immer alles gleich bleibt und sich wirklich etwas ändert.
Originalausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
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ISBN 978-3-10-491348-3
Theodor W. Adorno: »Etwas fehlt … Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Gespräch mit Ernst Bloch«, in: Tendenz-Latenz-Utopie, Gesammelte Werke (1964/1985, Frankfurt a.M., S. 350–367).
Walter Benjamin: »Über den Begriff der Geschichte«, in: Gesammelte Schriften Bd. I/2 (1974, Frankfurt a.M., S. 691f.).
Michel Foucault, Den Regierungen gegenüber: die Rechte des Menschen, in: Christoph Menke/Francesca Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte, Berlin 2011, S. 159–160.
»Was Utopie ist, als was Utopie vorgestellt werden kann, das ist die Veränderung des Ganzen. … was subjektiv abhandengekommen ist, die Fähigkeit, ganz einfach das Ganze sich vorzustellen, als etwas, das völlig anders sein könnte.«
Obwohl »im Innersten alle Menschen, ob sie es sich zugestehen oder nicht, wissen: Es wäre möglich, es könnte anders sein. Sie könnten nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst leben, sondern auch als Freie leben.«
»… dass die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, dass sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und die Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen.«[1]
Eigentlich sollte dieser Essay in der großen Stadt, in New York, geschrieben werden. Mit meinen dortigen Gesprächspartner*innen wollte ich darüber nachdenken, ob und wie wir mit juristischen Aktionen wirksam gegen Menschenrechtsverletzungen vorgehen können, ich wollte mit postkolonialen Theoretiker*innen die Herausforderungen für Jurist*innen bei der Aufarbeitung des Kolonialismus erörtern und mit Künstler*innen kreative und juristische Interventionen konzipieren. Mit meinen Kolleg*innen von führenden Menschenrechtsorganisationen aus den USA, Mexiko, Argentinien, Indien und Großbritannien wollten wir die in den letzten Jahren trotz aller Differenzen geknüpften Netze enger knüpfen, uns darüber austauschen, wie wir uns den systemischen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen und Missständen wie Ungleichheit intensiver widmen und eine engere Kooperation verabreden, auch zwischen meiner eigenen Organisation, dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), und ihren Partnern.
Reisen faszinieren mich, daher war ich gespannt, die Residuen der Sklaverei in den US-Südstaaten Mississippi und Alabama, speziell das von dem Bürgerrechtsanwalt Bryan Stevenson initiierte National Lynching Memorial in Montgomery, zu besichtigen. Meine Kolleg*innen in Haiti wollten mir einen Einblick in den schier nicht enden wollenden Kreislauf von Sklaverei, Verschuldung, Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen und Repression verschaffen, den auch das historische Ereignis der Revolution und die Befreiung vom Kolonialismus 1804 nicht durchbrechen konnte.
Doch es kam bekanntlich anders. Reisen können wir momentan kaum; die Bewegung und die Anregungen durch persönliche Erlebnisse und Begegnungen fehlen mir – und mehr noch: Der internationalistische Geist unserer Arbeit leidet unter diesem Mangel.
Am Ende wurde dieser Essay nicht in der vibrierenden Metropole, sondern im beschaulichen Berlin des ersten Lockdowns und in der noch beschaulicheren Brandenburger Provinz geschrieben. Natürlich trauere ich dem verpassten Aufenthalt nach, allerdings ohne wirklich in das menschenleere und unwirkliche New York des März 2020 zurückzuwollen. Auch ich genoss, wie viele Metropolen-Mittelschichtler*innen, das deutlich entschleunigte Leben – und mir wurde deutlich, wie sehr die aktuelle Krise mit dem zu tun hat, worüber ich schreiben wollte.
Natürlich erlebte ich auch Momente von Verzagtheit und Zukunftsangst, die kamen und gingen. Doch ich wurde nicht davon beherrscht, sondern war zornig auf diejenigen, die dieses Desaster mitverursacht hatten. Und nach und nach erfüllte mich die Zuversicht, dass andere Menschen diese Sicht nicht nur teilen, sondern dass wir rausgehen und den Lauf der Dinge verändern können. Diese Einsicht verdanke ich Freunden wie den beiden indischen Menschenrechtsanwälten Colin Gonsalves und Kranti.
Während ich noch im März meine Aussicht aus dem Büro der Universität auf die Hochbahn und Fabriken in Queens genoss, berichtete mir Colin am Telefon von den Pogromen gegen Muslim*innen und von seinen Fahrten in die muslimischen Slums in Delhi, wie er versuchte, drohende größere Massaker mit juristischen Mitteln aufzuhalten und den Menschen beizustehen. Besondere Vorkehrungen wegen Corona könnten sie nicht treffen, rief er mir sarkastisch lachend zu, sie hätten genug andere Probleme, die das Leben vieler Menschen und die Natur in Indien zu zerstören drohten.
Wie Dr. Rieux in Albert Camus’ Die Pest setzt sich der alternative Nobelpreisträger Gonsalves schon sein Leben lang mit – für Außenstehende so unvorstellbar massiven – Menschenrechtsverletzungen auseinander. Koloniales Unrecht, nie aufgearbeitete koloniale und postkoloniale Hierarchien, das nie de-kolonialisierte Rechtssystem, die Kasten- und Klassengegensätze drastisch wie eh und je, Verhältnisse so überwältigend, so nah und fern zugleich.
Nur Tage später erzählte Kranti mir dann, welchen Schaden der gänzlich unvorbereitete Lockdown in der Millionenstadt Bombay nach europäischem Vorbild in dem dysfunktionalen Staat anrichtete. Menschen auf der Suche nach Arbeit, nach Nahrung und Wasser wurden von der Polizei drangsaliert, mit Schlagstöcken von den Straßen vertrieben, geschlagen und getötet. Diejenigen, die das öffentliche Leben unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit bei nicht existenzsichernden Löhnen garantieren, die sogenannten Frontline-Arbeiter*innen, entbehrten jedes Schutzes vor dem Virus.
Die Organisation der beiden, Human Rights Law Network, klagte die Bereitstellung von Schutzausrüstungen für diese Menschen mittels Eilanträgen vor Gericht von der Regierung ein, scheiterte aber zunächst am Unwillen und der Unfähigkeit der indischen Richter. Weil diese sich vor dem Virus ungeschützt fühlten, wollten sie ihren Arbeitsplatz in den klimatisierten Räumen im Zentrum Bombays nicht aufsuchen. Das Anliegen der Kläger*innen sei doch wohl nicht so dringlich, dass sie es sofort verhandeln müssten. Eine toxische Mischung aus Ignoranz, Klassendünkel und der Nichtwertschätzung menschlichen Lebens, die nicht nur für die indische Geschichte charakteristisch ist.
Meine Bürde, solche Berichte aus erster Hand zu hören, ist zugleich mein Privileg. Auf diese Weise bin ich gewappnet gegen die gerade in Deutschland weitverbreitete Nabelschau und jenes Verständnis von Solidarität, das nicht weiter als bis zu den Grenzen der Nachbarschaft, der Stadt oder des Staates reicht. Meine Kolleg*innen auf der ganzen Welt und ich müssen seit März 2020 schmerzhaft realisieren, dass sich die Differenzen in und zwischen unseren Gesellschaften eher vertiefen und die Bedingungen unserer Menschenrechtsarbeit erschwert werden, während wir innerhalb der uns gesetzten nationalen Grenzen ausharren müssen.
Deswegen soll es hier um globale Solidarität gehen, nicht um paternalistische Formen von Solidarität; gleichzeitig sollte die reale Gefahr von Paternalismus auch nicht von jenen als Ausrede genutzt werden, die sich ohnehin aus allem heraushalten wollen. Wünschenswert wäre ein Verständnis der globalen Vernetztheit und Komplexität dieser Welt und dass wir überall dort, wo wir sind, im Sinne Immanuel Kants die Rechtsverletzung an einem Ort der Erde an allen anderen fühlen – und, so ergänze ich, dass wir eine Idee für die Einheit von Kämpfen an den verschiedenen Orten der Welt entwickeln und sie vom jeweils eigenen Platz angehen.
Von außen betrachtet mutet die tägliche Menschenrechtsarbeit oft erratisch und wenig strategisch an. Oft reagieren wir zu spät, mit unzureichenden Mitteln, machtlos angesichts der gewaltigen Gefahren. Trotz oder gerade wegen dieser alltäglichen Belastungen kommen wir nicht umhin, unsere Praxis kritisch zu reflektieren, und dürfen nicht zulassen, dass Theorie und Praxis gegeneinander ausgespielt werden.
Hier soll keine zur Praxis passende Theorie gesucht noch dafür plädiert werden, ein theoretisches Ideal künftig praktisch anzuwenden. Vielmehr geht es um einen produktiven Umgang mit den Ambivalenzen und Widersprüchen dieser Welt, namentlich dem Kontrast zwischen »der Unendlichkeit der Gerechtigkeit«, wie es Jacques Derrida so plastisch benannte, und dem Erkämpfen von Rechten im Hier und Jetzt.
Dieser Essay wird von jemandem geschrieben, der sich mit seiner Arbeit in diesem schizophrenen Spannungsverhältnis bewegt, jemandem, der sich das Nachdenken über Gerechtigkeit erlaubt, obwohl er mit den alltäglichen Kämpfen gegen das Unrecht meistens hinreichend beschäftigt ist. Hier ist selbstredend weder der Raum, all die angesprochenen Fragen und Probleme angemessen zu erörtern, noch sind diese so ausdiskutiert, dass sie für ein fertiges Konzept reif wären. Vielmehr versuche ich mit diesem Buch, einen Einblick in ein kontinuierliches dialektisches Selbstgespräch zu geben, um hoffentlich bald, in der kommenden Post-Pandemie-Zeit, den notwendigen Austausch zwischen bereits damit befassten Akteuren befördern und – darüber hinaus – die Diskussion weiter in die Gesellschaft tragen zu können.
Der vorliegende Text hat sich dem Ziel verschrieben, den Blick auf eine sehr konkrete Utopie zu öffnen, die sich in der Vergangenheit als ungeheuer wirkmächtig erwiesen hat: die Menschenrechte. Ihr Potenzial soll für die Zukunft fruchtbar gemacht werden. Der Rückgriff auf eine »konkrete Utopie« im Titel mag missverständlich erscheinen, ist doch mit diesem Begriff der Name eines Philosophen der kritischen Moderne, Ernst Bloch, verbunden, der sein Konzept geschichtsphilosophisch letztlich in einem Naturrecht verankert. Doch solch essenzielle theoretische Fundamente stehen einer (Legitimations-)Theorie der Gesellschaft heute nicht (mehr) zur Verfügung. Angeknüpft werden soll aber an die Potenziale einer Denkbewegung und Handlungsbegründung, die in die Zukunft weist, für die der Name Bloch auch steht. Mit dieser Anknüpfung soll ein transformatorisches Potenzial der Menschenrechte aufgezeigt und an eine politische Theorie der Menschenrechte angeschlossen werden.
Derzeit werden die Wirkungen menschenrechtlicher Aktivitäten nach eher kurzfristigen Maßstäben bemessen: Sieg oder Niederlage – wie beim Fußball. Die Realität wird mit Idealzuständen verglichen, das Ausbleiben Letzterer als die »Endzeit der Menschenrechte« konstatiert. Philanthropische Förder*innen der Menschenrechtsarbeit erzwingen ökonomistische Betrachtungen, Nichtregierungsorganisationen geben triumphalistische Pressemitteilungen heraus. Derartigen Betrachtungen möchte ich ein anderes, ein historisches und politisches Verständnis von praktischer Menschenrechtsarbeit entgegensetzen.
Ein Blick zurück in die Zukunft, auf die Französische und die Haitianische Revolution Ende des 18. Jahrhunderts, soll das transformative und utopische Potenzial der Menschenrechte veranschaulichen. Obwohl als bürgerliche Revolution der besitzenden männlichen Bourgeoisie gedacht, knüpften auch die Frauenbewegung, die haitischen Revolutionär*innen und die Arbeiterbewegung ebenso wie viel später die Bürgerrechtsbewegung ihre Ansprüche und Rechte an die Deklarationen der Universellen Menschenrechte. Diese historischen Bewegungen haben uns vor Augen geführt, dass die Überwindung der Zustände, in denen der Mensch vom Menschen geknechtet wird, nur über eine Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen und mit Herrschaft zu leisten ist – und schließlich: wie scheinbar Unmögliches real werden kann.
Wie keine andere hat die Corona-Krise verdeutlicht, wie problembehaftet und komplex unsere Welt derzeit ist und wie sehr alles mit allem zusammenhängt. Das aktuelle Desaster offenbart eine Zuspitzung und Synchronität von Problemen, die in den multiplen Krisen der Weltgesellschaft bereits angelegt waren, in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, den autoritären Tendenzen und der Klimakrise.
Dennoch war die alte Welt, wie wir sie kennengelernt haben, nicht nur schlecht. Deswegen gilt es hier, Vorhandenes, Aktivitäten und reale Akteure aufzuspüren, sie zu verbinden – und so im partikularen Nebeneinander, den scheinbar weit auseinanderliegenden Aktivitäten ein großes Ganzes, eine Vision aufscheinen zu lassen. Daher möchte ich einige der Felder benennen, auf denen es menschenrechtlich zu kämpfen gilt – und auf denen tatsächlich auch gekämpft wird, wenn auch oft unter anderer Flagge: Gegen Ungleichheit, Armut, Rassismus, die Verfolgung von Minderheiten, Repression und Überwachung wird allenthalben Widerstand geleistet. Utopien und sogar Heterotopien scheinen auf.
Welche Rolle spielen die Menschenrechte in diesen Kämpfen genau? Sind sie, so wie sie heute gemeinhin verstanden werden, die Lösung oder wenigstens Teil einer Lösung, und gehören sie zu einer Transformationsstrategie? Mit einem Blick auf die moderne Menschenrechtsbewegung möchte ich die von der westlichen Öffentlichkeit oft vorgenommene thematische Verkürzung auf politische und bürgerliche Menschenrechte ebenso wie die geographische Engführung auf die Hauptstädte der Menschenrechtsdiplomatie und -justiz, New York, London, Genf und Den Haag, konstruktiv kritisieren.
Eine über Reporte, Berichte und Kampagnen hinausgehende Form der Intervention sind juristische Aktionen. Von der Pinochet-Verhaftung in London im Herbst 1998 über Fälle gegen große transnationale Unternehmen bis hin zu kollektiven sozialen und rechtlichen Kämpfen in Afrika, Asien und Lateinamerika für das Recht auf Wasser und das Recht auf Nahrung hat sich in den letzten 25 Jahren Wesentliches bewegt – ohne allerdings, und auch das muss hier angesprochen werden, tatsächlich strukturelle Veränderungen herbeizuführen.
Wie notwendige Transformationsprozesse im Namen der Menschenrechte aussehen könnten, soll abschließend beleuchtet werden. Der Blick wird auf die einige unterschiedliche Bewegungen gerichtet, die sich als eine Alternative zum Bestehenden begreifen; bereits damit lassen sie utopische Momente aufscheinen. Dabei spielen auch die Kunst und engagierte Künstler*innen eine wichtige Rolle: Sie ermöglichen uns, das konkrete utopische Projekt der Menschenrechte emotional wie rational zu erfassen und uns handelnd an die Utopie heranzutasten – wissend, dass sie unerreichbar sein wird. Mit diesem Anspruch soll einem Denken Einhalt geboten werden, das Zygmunt Bauman als Retrotopia bezeichnet hat, das eine bessere Zukunft für nicht möglich hält und sich daher einer idealisierten Vergangenheit zuwendet. Davon gleich mehr.
Bereits für den neoliberalen Ökonomen Milton Friedman stand die klassische liberale Philosophie für eine freie Wirtschaft, eine freie Gesellschaft und auch für die Menschenrechte. Insofern sollte es niemanden überraschen, dass im Jahre 1990 der damalige US-Präsident George H. Bush in Reden eine neue Weltordnung »der Freiheit und Menschenrechte in jedem Lande der Erde« ausrief. Diese Proklamation trug dazu bei, dass in den jüngeren Erzählungen von den Menschenrechten diese einer selbstakklamierten evolutionären Fortschrittsgeschichte der westlichen liberalen Demokratien zugerechnet wurden. Aus Sicht vieler linker und progressiver Kräfte, besonders im Globalen Süden, war damit das Konzept der Menschenrechte nachhaltig diskreditiert. Zumal sie in den 1990er und 2000er Jahren von einigen westlichen Regierungen und von neokonservativen Ideologen zur Rechtfertigung militärischer Interventionen und für Regimewechsel instrumentalisiert wurden.
Es wurde vom »Ende der Geschichte« gesprochen, ausgehend vom Ende des Kalten Krieges und Francis Fukuyamas gleichnamigem Buch. Damit war nicht wirklich gemeint, dass die Geschichte zu Ende ginge. Es war der Ausruf der Triumphator*innen des Kalten Krieges: »There is no alternative« (TINA) – zunächst die Aufforderung zur Deregulierung und Privatisierung und nun, nach 1989, auch zur Anpassung des politischen Systems. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurden die totalitären Systeme für erledigt und der Weg für die liberale Demokratie für frei erklärt. Einmal mehr also sollte die Geschichte von den Siegern geschrieben werden, mit dem Willen, den weiteren Fortgang für möglichst lange Zeit zu bestimmen. Eine gute Weile hat dies in den 1990er und 2000er Jahren zweifelsohne funktioniert.
Heute sieht selbst Fukuyama die Demokratie durch autoritäre Regimes und populistische Regierungen wie die von Trump in den USA sowie durch Ungleichheit bedroht. Wenige teilen noch seinen damaligen Glauben, wonach der Endzweck des Fortschritts der Geschichte, ein Zustand vollkommener Freiheit und Vernunft, fast erfüllt sei.
Im Gegenteil: Zygmunt Bauman beschreibt in Retrotopia, einem seiner letzten Bücher, unsere heutige Zeit als eine Phase der Nostalgie, bestimmt von dem Versprechen, jene imaginierte ideale Heimat wiederzuerrichten, die im Zentrum einflussreicher Ideologien steht und die uns in nationalistischen Revivals überall auf der Welt begegnet. Da viele Menschen sich keine neue und bessere Welt vorstellen können als die, in der wir heute leben, speisen sich heutige Visionen nicht mehr aus der Zukunft, so Bauman, sondern »aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit«.
Bauman greift auf die geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins zurück. Ausgehend von einem Gemälde Paul Klees, das der Philosoph 1921 gekauft hatte, beschrieb dieser sein Bild vom Engel der Geschichte:
Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.[2]
Nach Benjamin führt »die Vergangenheit … einen zeitlichen Index mit sich, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Es besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Uns ist wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat.« Dabei ist nicht blinder Fortschrittsglaube gefragt, wie ihn die sozialdemokratische und die kommunistische Bewegung zu Zeiten Benjamins teilten, sondern die Inszenierung eines politischen Prozesses.
Bauman konstatiert, dass nunmehr der Engel der Geschichte entsetzt in die Zukunft blicke und unaufhörlich Richtung Vergangenheit treibe. Wir lebten »in einer Epoche der Brüche und Diskrepanzen, einer Epoche, in der alles – oder fast alles – möglich ist, während man nichts – oder so gut wie nichts – in der Gewissheit, es zu durchschauen, selbstbewusst angehen kann«. Um der vorherrschenden Angst vor der Zukunft zu begegnen, müssten wir den Engel der Geschichte dazu bringen, sich ein weiteres Mal umzudrehen.
Walter Benjamin argumentierte stets im Bewußtsein vergangener Kämpfe für Freiheit und Gleichheit und gedachte insbesondere der Besiegten. Er forderte von den zukünftigen Generationen »… zu vollenden, was uns vorenthalten worden ist« und »zu retten, was gescheitert ist«. Damit steht er für ein linkes Geschichtsbild, das sich in der Kontinuität vergangener und zukünftiger linker Kämpfe um Freiheit und Gleichheit sieht. Aus diesem Spannungsverhältnis lassen sich Bewusstsein und Energie für die Sache der Menschenrechte ziehen.
Der französische Philosoph Enzo Traverso schlägt eine linke, melancholische Geschichtsvision vor. Das 1989 besiegelte Ende des auch von Traverso kritisch betrachteten Realsozialismus habe die Dialektik zwischen Vergangenheit und Zukunft zerschlagen. Die vergangenen Ereignisse und Niederlagen könnten nun – insoweit entgegen der marxistischen Geschichtskonzeption – nicht mehr ins historische Bewusstsein eingeschrieben werden, damit sie in die Zukunft projiziert werden, als eine Art strategische Erinnerung an die vergangenen Kämpfe sowie eine auf die Zukunft orientierte Erinnerung.
Laut dem Historiker Reinhart Koselleck verleiht die Gegenwart der Vergangenheit Sinn. Letztere biete den Akteuren der Geschichte »ein Reservoir an Erinnerung und Erfahrungen, die es ihnen ermöglicht, ihre Erwartungen zu formulieren«. Koselleck wies darauf hin, dass zwar kurzfristig »die Geschichte von den Siegern gemacht wird, aber langfristig … die historischen Verdienste der Erkenntnisse von den Besiegten« kämen.
Mit Walter Benjamin geht es daher darum, »sich einer Erinnerung zu bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt«. Wir lebten in einer Zeit, die eine dialektische Verbindung zwischen einer unabgeschlossenen Vergangenheit und einer utopischen Zukunft bildet, »worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt«.
Was Benjamin da beschreibt, mutet heute undenkbar an. Wie er leben wir in einer ungerechten Welt, erfahren derzeit gar dystopische Momente, wünschen uns zwar, dass sich das ändert, vertrauen aber zu selten auf unsere Fähigkeit, dies tatsächlich umzusetzen. Die nachfolgende Betrachtung der Französischen Revolution und der Haitianischen Revolution zeigt, dass geschichtliche Zäsuren möglich sind – und derartige erwünschte und notwendige Ereignisse sehr wohl geschehen und mit den bisherigen geschichtlichen Verläufen brechen.
Inspiriert von diesen Gedanken, möchte ich die historische Perspektive auf die Menschenrechte weiten und an zwei wirkmächtige Ereignisse erinnern: die Französische Revolution mit ihrer Menschenrechtsdeklaration vom August 1789, die für viele Menschen die Geburtsstunde der universellen Menschenrechte markiert, und die bis heute oft vergessene Haitianische Revolution.
Am 26. August 1789 verkündete die französische Nationalversammlung die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte. Die Erklärung wirkt bis heute, doch die Rechte sind bis heute nicht eingelöst, und ebenfalls bis heute streiten sich nicht nur Historiker*innen, wie es eigentlich dazu gekommen ist. Die Menschenrechte stehen damit beispielhaft für die Kontingenz, die Offenheit von Geschichte und auch für die Hoffnung, gerade weil niemand dieses weltgeschichtlich so bedeutsame Ereignis vorhersagen konnte, auch wenn erste Anzeichen wie die philosophischen Werke der Aufklärung oder die Romane der Epoche zu erkennen waren.
In den 17 Artikeln der Erklärung heißt es unter anderem, dass »die Menschen … frei und gleich an Rechten geboren« (Art. 1) würden und der »Zweck jeder politischen Vereinigung … die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte« sei. »Diese sind das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung« (Art. 2). Daneben wurden die Religions- und Meinungsfreiheit sowie justizielle Grundrechte deklariert.
Einmal deklariert hieß noch lange nicht realisiert – zumal nicht für all die Gruppen, die von den männlichen besitzenden Schöpfern der großen Menschenrechtsdeklarationen in den Vereinigten Staaten von Amerika, 1776, und der Französischen Revolution, 1789, nicht bedacht worden waren. Wie die US-amerikanische Historikerin Lynn Hunt in ihrem Buch Inventing Human Rights einleuchtend darlegt, eröffneten sich dennoch komplett neue politische Sichtweisen und Wege für die bislang Exkludierten. Fortan hatten die Protestant*innen und Juden, die Frauen und Schwarzen Haitis, der vierte Stand und später die Arbeiterbewegung eine normative Leitlinie, die ihre politischen Kämpfe stützte.