Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2015
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ISBN Printausgabe 978-3-499-61745-4 (1. Auflage 2015)
ISBN E-Book 978-3-644-52151-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-52151-3
http://www.uniklinik-freiburg.de/nephrologie/live/Transplantationszentrum/ABOinkompLS.html
«Für einen Sterbenden ist es keine schwierige Entscheidung, denn er weiß, er ist am Ende. Wenn ein Löwe Sie zum Ufer eines Flusses voller Krokodile treibt, werden Sie mit der Überzeugung ins Wasser springen, dass Sie eine Chance haben, die andere Seite des Flusses lebend zu erreichen.»
Dr. Christiaan Barnard im Jahr 1967, nachdem er in Kapstadt erstmals ein menschliches Herz transplantiert hatte
Dieses Buch soll keine Provokation sein. Es stellt gewiss keine Rechtfertigung für meinen Entschluss dar, mir eine neue Niere zu kaufen. Es ist aber auch keine Anleitung, wie man sich auf dem internationalen Organmarkt eine Niere, ein Herz oder gar eine Lunge besorgen kann. Deshalb habe ich fast alle Namen verändert.
Ich versuche mit diesem Buch in erster Linie, ungeschminkt die subjektive Sicht eines Betroffenen darzustellen. Es gibt unzählige und beeindruckende Dokumentationen in Wort, Bild und Film über den Organhandel und über die Menschen, die eine ihrer Nieren verkaufen. Diesen Schwarzmarkt gibt es weltweit, und er hat sich in den vergangenen Jahren allen gesetzlichen und internationalen Maßnahmen zum Trotz sprunghaft entwickelt.
Der Schriftsteller David Wagner beschreibt in seinem wunderbaren und eindrücklichen Buch «Leben» die Erfahrungen, die er in seinem Leben vor, während und nach seiner Lebertransplantation machte. Es gibt, wenn überhaupt, nur wenige Beschreibungen aus der Sicht von Kranken, die ein Organ benötigten und sich auf dem Schwarzmarkt umgesehen haben. Schätzungen zufolge liegt ihre Zahl jährlich weltweit allein bei Nieren bei über 75000 Patienten. Fast alle verstecken sich verständlicherweise und sprechen nicht gerne über die Herkunft ihrer transplantierten Organe.
Ich bin bestens mit den vielen moralischen und legalen Einwänden vertraut, die gegen den kommerziellen Transplantationsmarkt erhoben werden. Ich habe sie auch lange selbst geteilt. Während meiner Krankheit stellte ich fest, in welch atemberaubendem Tempo diese Vorbehalte an Bedeutung verloren. Ich bewundere jeden Patienten, der über die Stärke verfügt, seinen Namen auf eine Liste setzen zu lassen, jahrelang zu warten und die Hoffnung zu bewahren. Die Versuchung, sich fatalistisch seinem Schicksal zu ergeben und der Dinge zu harren, ist immens. Ich hätte wahrscheinlich nicht genug Kraft besessen, um die Ungewissheit zu ertragen, ob sich rechtzeitig eine Spenderniere findet.
Seit dem Eingriff geht es mir gesundheitlich gut. So gut, dass ich ohne die Beule in meiner Leiste, unter der die fremde Niere sitzt, manchmal vergessen würde, wieso ich so normal leben kann. Ich wünsche diese Erfahrung jedem Kranken, der ein fremdes Organ benötigt – und ich hoffe, dass die Organspendebereitschaft trotz aller Kontroversen steigt.
Ich sterbe seit rund sechs Monaten. Es geht zwar im Schneckentempo abwärts, aber deutlich spürbar. Langsam neigt sich auch meine Geduld dem Ende zu, denn der schleichende Tod ist abwendbar. Vor einem halben Jahr haben meine Nieren nach Jahren der stetigen Verschlechterung vollständig ihre Funktion eingebüßt. Seitdem muss ich mich dreimal pro Woche einer Dialyse unterziehen. Die Maschine wäscht das Blut von Menschen, deren Nieren nicht mehr funktionieren. Sie hält mich am Leben und zerstört gleichzeitig langsam, aber sicher meinen Körper.
Als ich an diesem späten Montagvormittag mitten im Hochsommer in einer nordmexikanischen Stadt aus dem Dialysezentrum in die grelle Wüstensonne hinaustrete und mir eilig einen breitkrempigen Hut auf den Kopf setze, bin ich zum ersten Mal seit Monaten nicht ungeduldig. Ich habe während der vergangenen vier Stunden bei der Behandlung zwar wieder ein paar Nervenfunktionen eingebüßt, aber zum ersten Mal in rund sechs Monaten kann die übliche Erschöpfung nach der Blutwäsche meiner guten Laune nichts anhaben. Stattdessen tobt in meinem Innern ein Chaos aus Vorfreude, unbestimmter Nervosität, Furcht und banger Erwartung.
Vor allem schwelge ich in Emotionen, die ich seit meinem Nierenversagen nicht mehr kenne: Ich fühle mich wie ein Glückspilz. Dabei habe ich mich gerade erst voller Verlegenheit aus dem Behandlungszentrum mit dem freundlichen Personal und den netten mexikanischen Patienten gestohlen. «Verabschiedet euch von Willi», verkündet plötzlich und ohne mich zu fragen, die Leiterin des Zentrums, als sie die Verbindungskanülen zwischen mir und der Dialysemaschine trennt. «Wünscht ihm viel Glück, denn heute ist er wahrscheinlich zum letzten Mal bei uns zu Besuch. Er soll morgen eine neue Niere erhalten.» Es ist mir peinlich und unangenehm, dass meine Leidensgenossen auf diese Weise von meinem Plan erfahren. Schließlich bin ich der Glückliche, der dem schleichenden Tod entkommt, zu dem sie dank der Dialysebehandlung und mangels Spenderniere zumindest vorerst verurteilt bleiben – falls bei meiner geplanten Operation alles gutgeht.
Außer mir ist keine Menschenseele auf den Straßen dieses Ortes voller Spielkasinos, gigantischer Supermärkte mit riesigen Parkplätzen und einer Unzahl von medizinischen Kliniken zu sehen. Der Sommer in der nordmexikanischen Wüste eignet sich nicht für Spaziergänge kurz vor der Mittagszeit. Der Asphalt scheint zu kochen, jeder Schweißtropfen verdunstet sofort auf der Haut.
Ein paar hundert Meter entfernt erhebt sich das meterhohe, hässliche und verrostete Monstrum aus Stahl, mit dem die USA sich von Lateinamerika abschirmen. Die düstere Barriere trennt den amerikanischen Kontinent in den wohlhabenden Norden und die ärmlichere Region des Südens. Dank der zahllosen, oft namenlosen Kreuze auf der mexikanischen Seite wirkt die Stahlwand wie der Todesstreifen, den Deutschland im Jahr 1989 endlich abschaffen konnte.
Trotz der gemeinen Abweisung durch den Norden haben Lateinamerikaner jahrelang fast alles unternommen, um diese stählerne Hürde zu überwinden. Für viele US-Bürger, die sich die hohen Kosten einer medizinischen Behandlung nicht leisten können oder wollen, hat diese Grenze einen großen Vorzug: Mexikos Ärzte kurieren und operieren für weitaus weniger Geld als ihre Kollegen im Norden. Deshalb strömen US-Amerikaner zu Tausenden über die Grenze in den Norden Mexikos, um sich dort trotz gewalttätigem Drogenkrieg für vergleichsweise niedrige Honorare behandeln zu lassen. Die Ärzte südlich des Rio Grande schneiden auch im Preisvergleich mit Europa besser ab, wie die verknüllte, handgeschriebene Rechnung in meiner Hosentasche beweist. Ich habe nur einen Bruchteil der Summe bezahlt, die ich in Deutschland für eine Dialyse auf den Tisch legen müsste.
Vor vier Stunden war ich mit meiner Flasche Wasser, ein paar belegten Broten und einem Buch im Behandlungszentrum angekommen, in dem ich seit meiner Ankunft in Mexiko gezwungenermaßen alle zwei Tage zu Gast war – heute zum letzten Mal, wenn alles nach Plan geht. Vor ein paar Wochen hätte ich dank der Dialyse nur eine paar Tage länger überlebt. Heute wurde mein Körper entgiftet, damit auch noch 24 Stunden später nicht zu viel Schmutz in meinen Adern herumschwimmt – denn morgen früh, so ließ mir mein mexikanischer Chirurg aus einem nahegelegenen Privatkrankenhaus ausrichten, soll es so weit sein.
Ich werde eine fremde Niere erhalten.
Ich, der vergleichsweise betuchte Europäer, habe einem jungen Afrikaner Geld für eine seiner gesunden Nieren bezahlt. Ich bin die wandelnde Inkarnation des kranken Patienten, der sich auf dem florierenden, aber weltweit geächteten, gesetzlich regulierten und von vielen als verwerflich betrachteten Organmarkt eine Zukunft gekauft hat. Ab Dienstagnachmittag werde ich, wenn die Operation wie geplant verläuft, wieder die Chance haben, ein «fast normales Leben zu führen», wie mir einer der vielen, während der vergangenen Monate von mir konsultierten Spezialisten versprochen hatte.
Von einem solchen normalen Leben ist kaum etwas übrig geblieben, seit vor etwas mehr als sechs Monaten meine beiden Nieren wegen eines genetischen Defekts endgültig ihren Dienst quittiert hatten. Seitdem diktiert die Dialysemaschine meinen Alltag.
Da meine Nieren keine verbrauchten Nährstoffe mehr ausscheiden, sammeln sich Flüssigkeit und Schadstoffe im Körper. Ich vergifte mich quasi selbst. Alle zwei, spätestens alle drei Tage muss mein Blut deshalb mit Hilfe der sogenannten Dialyse sprichwörtlich ausgewaschen werden. Ob zu Hause oder unterwegs: Seit sechs Monaten bildet die Blutwäsche den neuen Mittelpunkt meines Lebens. Ich ordne meine Verabredungen dem Behandlungsstundenplan unter. Bestellungen in Restaurants müssen mit meinem Diätplan abgestimmt werden, den mir Ärzte mit einem Sammelsurium von Medikamenten in die Hände gedrückt haben.
Oberhalb meines rechten Schlüsselbeins ragen zwei schmale Plastikschläuche aus meinem Hals, die ein bis zwei Zentimeter über meiner Brustwarze enden. Zehn Zentimeter der biegsamen Kanülen stecken jeweils in einer Vene und einer Arterie im Körper. Sie reichen fast bis ins Herz. Die äußeren Enden der schmalen Schläuche sind sorgsam in Mull und steriles Plastik verpackt auf meinem Brustkorb festgeklebt, wenn ich nicht an der für mich überlebenswichtigen Maschine hänge.
Die Ärzte haben sich mit diesen provisorischen «Tankstutzen» zufriedengegeben, weil ich darauf bestand. Schon vor dem ersten Dialysetermin verkündete ich ihnen, dass ich bald per Transplantation eine fremde Niere erhalten würde. Normalerweise wird Patienten ein «Shunt», ein spezieller Gefäßzugang, am rechten oder linken Unterarm gelegt, ein permanenter Anschluss, an den bei jeder Blutwäsche die Maschine angedockt werden kann. Die provisorische Übergangslösung, die aus meiner Halsbeuge baumelt, birgt das Risiko vieler Komplikationen.
Shunt und hervorstehende Kanülen haben ohnehin viele Tücken. Im Laufe der Zeit können sie verstopfen, die direkt mit Adern verbunden Öffnungen können Infektionen direkt ins Blut befördern. Deshalb ist strenge Hygiene rund um die Kanülen das höchste Gebot. Es gilt eine eiserne Regel, die irgendwann fast jeden Dialysepatienten nervt: Der Waschlappen ersetzt das Vollbad. Man darf sich weder baden noch duschen, damit keine Feuchtigkeit an die Öffnungen zum Körperinneren gerät. Krankenschwestern reinigen die unmittelbare Umgebung der «Tankstutzen» mit Alkohol.
Selbst wenn es keine anderen Einschränkungen im Leben mit der Dialyse gäbe: Das Badeverbot genügt, um mich schier in den Wahnsinn zu treiben. Die Haut juckt unter dem Mullverband, und der Waschlappen spendet keine Labsal. Er provoziert Wutanfälle. Die Sehnsucht nach einem Vollbad gerät schnell zur Besessenheit.
Nur der ewige Durst und die unersättliche Gier nach kalten Getränken übertrifft den Ingrimm über das Badeverbot. «Maximal zwei Liter Flüssigkeit pro Tag», lautet die Anweisung der Mediziner. Das klingt erst mal nicht nach mühevoller Einschränkung. Ich habe zwei volle Literflaschen mit Mineralwasser vor Augen. Es stellt sich schnell heraus, dass diese Rechnung nicht funktioniert. Jeder Tropfen zählt. Suppen landen deshalb als Erstes auf der Liste verbotener Speisen. Gemüse und gekochte Kartoffeln füllen das Zwei-Liter-Maximum schneller, als Nierenpatienten lieb sein kann. Da helfen nur gelegentliche Eiswürfel und viele saure, dünngeschnittene Zitronenscheiben, um den allgegenwärtigen Durst zu beherrschen.
Der Grund für das strikte Regiment: Nierenversagen bedeutet, dass fast kein Urin mehr ausgeschieden wird. Jeder Tropfen muss deshalb auf andere Weise aus dem Körper gesaugt werden. Das ist einer der Prozesse, die während der drei bis vier Stunden langen Blutwäsche ablaufen. Der Entzug von zwei bis vier Kilogramm Körperflüssigkeit stellt wiederum eine schwere Belastung des Kreislaufs dar. Andererseits hängt die Menge von der Flüssigkeitsaufnahme während der Tage zuvor ab. Wer zu viel hat, geht mit Wasser im Leib wieder nach Hause. Flüssigkeit samt Schadstoffe im Körper müssen bei der nächsten Dialyse entsorgt werden, wenn der gesamte Blutkreislauf wieder durch die Filtermembrane der Dialysemaschine geleitet wird. Außerdem sammelt sich die Flüssigkeit in Füßen und Beinen und beschädigt dort die Nerven.
Die Blutwäsche verhindert, dass der Körper vergiftet wird. Sie verlängert Leben. Aber die Dialyse ist eine Maschine und keine Niere. Sie zerstört gleichzeitig in minimalen, aber kontinuierlichen Schritten den Körper. Als Erstes leiden die Nerven. Das Sexualleben endet schnell, weil dank der Dialyse die Reiznerven absterben. Je mehr Dialysesitzungen ein Nierenkranker absolviert, umso stärker und umso spürbarer werden die gesundheitlichen Nebenwirkungen.
Außerdem kann die Blutwäsche manche Stoffe nicht entfernen. Das Wort Kalium verfolgt Dialysepatienten auf Schritt und Tritt. Frisches Obst und Salate stehen ganz oben auf der Tabuliste, auf der neben Schokolade und Nüssen sogar gesundes Vollkornbrot aufgeführt wird. Nicht einmal frische Avocados und Tomaten sind erlaubt, weil sie zu viel Kalium enthalten, das die Filter der Blutwäsche nicht sieben können.
Dialysepatienten werden gezwungenermaßen zu Freunden englischer Küche mit ihren bis zur Geschmacklosigkeit zerkochten Mahlzeiten. Denn Kalium verschwindet beim Kochen. Das auch Potassium genannte Element vergrößert in Überdosis das Risiko von Herzinfarkten und ist deshalb verboten. Im Klartext: Nein zu Bananen. Manche Broschüren empfehlen deshalb, auf Konservenkost umzusteigen. Der Nachteil: Obst aus der Konserve ist sehr süß.
Dieses Labyrinth von Diätregeln, diese ewige Quälerei soll morgen früh beendet werden. Noch 20 Stunden, und dann gehören ungestillter Appetit, nagender Durst und strenge Diätregeln wieder der Vergangenheit an. Einen Tag noch, und ich muss mir das gleichförmige Saugen der Dialysepumpen, das mich selbst in meinen Träumen verfolgt, nicht mehr anhören. Sechs Monate habe ich diesen bedrückenden Kreislauf miterlebt. Stunden der Erschöpfung, gefolgt von einem fast normalen Tag, an dessen Ende die Symptome des Nierenversagens meine Leistungsfähigkeit wieder deutlich mindern. Ich kann es kaum erwarten, auch wenn es letzten Endes um Leben und Tod geht. Eine mehrstündige Operation ist keine Nebensache.
Dabei habe ich im Behandlungszentrum in einer Seitenstraße dieser mexikanischen Stadt meine schönsten Dialysestunden verbracht. In dem Raum, in dem sechs Blutwäschemaschinen neben gepolsterten Liegesesseln aufgereiht sind, habe ich fast so schnell Bekanntschaften geschlossen wie sonst an einer Biertheke in Köln. Mexikaner sind lebenslustige und aufgeschlossene Menschen, und das gilt auch für meine Leidensgenossen.
Die bestens eingerichtete Blutwäscheabteilung in meiner Wahlheimat Bangkok hält dagegen keinen Vergleich aus. Das Krankenhauspersonal in dem thailändischen Königreich gibt sich alle erdenkliche Mühe, aber die anderen Patienten sind fast alle so gebrechlich, das meine Laune bei jedem Termin in den Keller sackt. Schließlich liegt in den anderen Betten sozusagen meine Zukunft: siechende Menschen, die nach Jahren der Dialyse mehr und mehr verfallen. Kaum einer von ihnen zeigt noch einen Funken Lebensfreude.
Weltweit, so scheint es, folgt das Personal von Dialysezentren der gleichen Devise: Munter wirken, fröhlich bleiben und es Patienten möglichst bequem machen. In Deutschland schafft es das Personal nach meinen Erfahrungen selten, die missmutige Stimmung nörgelnder Patienten zu verbessern. Stattdessen gibt es ewigen und sehr deutschen Streit: So wie deutsche Urlauber in der ganzen Welt berüchtigt sind, weil sie in aller Frühe schlaftrunken mit Handtüchern an die Swimmingpools schlurfen und ihre Lieblingsliegen reservieren, beanspruchen manche Dialysepatienten in deutschen Kliniken die Hoheit über die Fernsehfernbedienung. Prompt gibt es Ärger wegen des Programms.
Dagegen herrscht hier in Mexiko eine geradezu erholsame Atmosphäre. Der Rechtsanwalt, ein lebhafter Mittdreißiger, gibt die neuesten Anekdoten aus seinem Berufsalltag zum Besten. Eine pensionierte Lehrerin redet am liebsten über den neuesten Klatsch aus der Stadtverwaltung. Ein etwas fülliger junger Mexikaner, der während der stundenlangen Behandlung vorzugsweise Filme auf seinem Tablet-PC schaut, träumt nicht etwa davon, die Handvoll Kilometer über den Rio Grande bis zum großen Nachbarn USA zu bewältigen. Er will lieber endlich mal die Hauptstadt Mexiko-Stadt besuchen.
Und dann gibt es die neuesten Kuriositäten und tragischen Anekdoten vom eisernen Grenzzaun. Die vielen Kreuze, die an dem rund eineinhalb Stockwerke hohen Ungetüm hängen, erzählen schließlich von den vielen Menschen, die ihr Glück suchten und den Tod fanden. Sie waren sozusagen Verwandte im Geiste, schließlich suche ich hier ebenfalls mein Glück. Ich riskiere mein Leben, um dem schleichenden Verfall zu entkommen.
Manchmal, wenn die Dialyse wieder einmal richtig heftig wirkt und ich zwischen Kopfschmerzen und Erschöpfung nicht weiß, was ich mit meinen zwickenden und rastlosen Beinen machen soll, frage ich mich, worauf ich mich mit dieser Nierentransplantation eigentlich einlasse. In solchen Momenten geht mir der Satz eines britischen Nierenspezialisten durch den Kopf, der angesichts des Nierentourismus pakistanstämmiger Briten in ihr Herkunftsland die Bemerkung fallen ließ: «Wir hören viel von Leuten, die mit einer neuen Niere nach Großbritannien zurückkehren. Aber wir erfahren nie von den Leuten, die nicht zurückkommen, weil sie die Operation nicht überleben.»
Meine Transplantation wird nicht in einer bestens ausgerüsteten Spezialklinik stattfinden. Das kleine, schmucke Krankenhaus, das ich bereits mehrmals besichtigt habe, ist zwar sauber und gut geführt. Aber als mich das Personal kurz nach meiner Ankunft das erste Mal an die klinikeigene Dialysemaschine anschließen will, geht alles schief. Niemand im Krankenhaus weiß, wie der komplizierte Apparat bedient wird. Herauslaufendes Wasser wird so lange in irgendwelchen Eimern aufgefangen, bis sie überlaufen und den Boden überschwemmen. Nach zwei Stunden vergeblicher Mühen gibt das Krankenhauspersonal schließlich auf und schickt mich zum Behandlungszentrum in der Stadt.
Diese Pleite an der Maschine wiegt schwer, wenn ich mir Sorgen wegen der bevorstehenden Operation mache. Jetzt, ein paar Stunden bevor es so weit ist, benötige ich meine ganze Entschlusskraft und verdränge einfach die Frage, ob die Ärzte im Fall einer schweren Krise während der Transplantation mein Leben retten können.
Allerdings spüre ich auch, wie mir langsam die Kontrolle über die Geschehnisse entgleitet. Ich fühle mich zunehmend wie ein Passagier in einem Zug, den ich in Gang gesetzt habe und der nun unaufhaltsam und mit wachsender Geschwindigkeit auf ein unbekanntes Ziel zusteuert. Wie sehr ich zum Mitfahrer geworden bin, macht die Betreiberin des Dialysezentrums zu meinem Schrecken deutlich, als sie zu meinem Abschied den anderen Patienten kurzerhand von der geplanten Transplantation erzählt.
Mir wäre es sehr viel lieber gewesen, sie hätte den Mund gehalten. Ich habe während der vergangenen Monate nur einen ganz kleinen Kreis von Freunden und Bekannten in meine Pläne eingeweiht. Die mexikanischen Patienten, davon bin ich überzeugt, können sich an fünf Fingern ausrechnen, dass bei meiner Transplantation Geld im Spiel sein muss. Manche der vielen Panikattacken, die mich überfallen, kreisen um eine einzige Befürchtung: Behörden könnten Wind von der Sache bekommen und die Operation stoppen.
Die anderen Patienten im Dialysezentrum reagieren mit höflichem Applaus und ohne eine Spur von Begeisterung auf die Ankündigung. Während der letzten beiden Wochen haben wir zwar über Gott und die Welt geredet, aber einen großen Bogen um alle Themen geschlagen, die mit Nierenversagen zu tun haben. Zu den Tabus gehören die Gründe des jeweiligen Nierenversagens. Die Frage, warum die Mexikaner keine Spendernieren finden können, wird höflich ignoriert. Vielleicht wäre das Thema für meine mexikanischen Leidensgenossen zu persönlich. Schließlich gilt Mexiko mit seinem starken Familienzusammenhalt als Land, in dem die Verwandtschaft bereitwillig mit Spenderorganen einspringt – im Gegensatz zu den benachbarten USA, wo laut Ärzten selbst erwachsene Kinder ihren Eltern keine Nieren spenden wollen.
Freundlich verabschiede ich mich von den mexikanischen Patienten und schleiche mich aus dem Gebäude. Fast meine ich, ihre Gedanken zu hören: «Da geht er, der reiche Gringo, der ausländische Glückspilz.» Ich könnte ihnen die Vorwürfe noch nicht einmal übelnehmen. Stattdessen verabschiedet man mich mit einem freundlichen «mucho suerte» – viel Glück.
Ich glaube, dass ich es gebrauchen kann. Die Uhr tickt, und mir fällt ein, was und wie viel in letzter Minute alles schiefgehen kann. Das Krankenhaus könnte den Termin plötzlich verschieben. Raymond, mein afrikanischer Spender, könnte plötzlich erkranken oder sich umentscheiden. Bei mir könnte unerwartet eine Infektion auftreten. Am Abend soll die abschließende Untersuchung des Arztes stattfinden, und meine Phantasie schlägt Purzelbäume.
Es gibt viel zu tun: Ein kleiner Kreis von Verwandten und Bekannten wird über den bevorstehenden Eingriff informiert. Gegen Abend sind ein paar Telefongespräche nach Deutschland und Thailand fällig. Die Idee, zwei Bekannte einzufliegen, erweist sich als nahezu genial. Eigentlich sind sie für den GAU, den größten beziehungsweise schlimmsten anzunehmenden Unfall, da. Sollte die Transplantation schiefgehen und ich nicht lebend aus dem Operationssaal zurückkehren, müssen sie die Überführung des Sarges mit meinen sterblichen Überresten organisieren. Wir sprechen das Thema nur einmal an. Was sie denn machen sollten, wenn alles schiefgehen sollte, wollen sie wissen. Mir ist dies herzlich egal, und ich entscheide mich kurzerhand für den Friedhof im Heimatdorf der engeren Verwandtschaft.
Aber den Vorabend der Operation verbringen wir recht entspannt: Wir klopfen einige Skatrunden im Krankenhaus, um die Zeit zu vertreiben. Nach der abendlichen Untersuchung durch den Arzt – er gibt grünes Licht – bin ich dank der Dialyse vom Morgen erschöpft. Als ich schließlich alleine im Krankenbett liege, schlafe ich trotz gewaltiger Nervosität schnell ein.
Es klopft an der Hospitaltür. «Listo?», fragt die Krankenschwester, «Bereit?». Es ist Dienstagmorgen, der Termin meiner Operation nur noch ein paar Minuten entfernt. Die Krankenschwester wartet gar nicht erst auf meine Antwort. Bevor ich mich’s versehe, rolle ich den langen Krankenhausflur entlang in Richtung OP. Krankenschwestern eilen umher. Ich zittere. Die letzten Sekunden meines bisherigen Lebens sind angebrochen. «Jetzt», schießt es mir durch den Kopf, während ein Anästhesist sich an mir zu schaffen macht, «jetzt ist der letzte Augenblick gekommen, die letzte Gelegenheit, ‹Stopp› zu rufen und es mir noch einmal zu überlegen.» Aber durch eine Kanüle am linken Handrücken wird schon ein Betäubungsmittel in meinen Kreislauf geleitet, und die medizinische Routine rollt wie ein nicht zu stoppender Bulldozer. Schließlich wurde Raymond, mein Nierenspender, bereits operiert.
Einen Anteil von rund 30000 US-Dollar hat der 28-jährige Raymond von dem Geld erhalten, das ich einem Agenten überwiesen habe.
Als wir ein paar Wochen zuvor von zwei verschiedenen Kontinenten auf getrennten Wegen fast gleichzeitig in unserem mexikanischen Hotel eintreffen, wird schnell deutlich, dass es bei dieser Variante der Nierentransplantation kaum Distanz zwischen mir, dem Empfänger, und Raymond, dem Spender, geben wird. Wir begegnen uns fast täglich irgendwo im Hotel, fahren gemeinsam zu Voruntersuchungen. Er bittet mich um Hilfe bei alltäglichen Problemen. Abends sitzen wir in der Dunkelheit am Swimmingpool und genießen die kühle Luft, die nach Sonnenuntergang aus der Wüste in die Stadt weht.
Es ist nicht immer einfach, im Netz von Halbwahrheiten rund um die Transplantation den Überblick zu bewahren. Zum meinem Glück erweist Raymond sich als grundsolider Mensch, der nicht von Zweifeln geplagt zu werden scheint. Rund eine Woche nach unserer Ankunft versichert er mir, dass die vereinbarte Summe auf seinem Konto angekommen sei. Es ist das grüne Licht von Raymond für die Transplantation.
Als wir vor der Operation gemeinsam in der Abenddämmerung bei einem Glas Sprudelwasser am Rand des Hotelpools ausspannen, sagt er voller «Spenderstolz»: «Bei mir kannst du sicher sein, dass du eine richtig gute Niere bekommst.» Später sehe ich auf einem Foto, dass Raymonds rosarote Niere nicht einmal einen ganzen Handteller füllt.
Aber erst einmal suche ich nach einer passenden Antwort. Ich murmele schließlich, dass ich aufs tiefste dankbar für seine Bereitschaft zur Nierenspende sei. Was kann, was soll man in solchen Situationen sagen? Es ist ein weiterer Moment großer Verlegenheit. Und es ist das einzige Mal, dass wir beide über die bevorstehende Transplantation und über den Organaustausch sprechen.
Der kerngesunde Raymond und ich, der Mann mit der finalen Niereninsuffizienz, verbringen in den Wochen vor der Transplantation gemeinsam viel Zeit bei medizinischen Routinetests. Er leidet unter Anpassungsschwierigkeiten, und ich rutsche in Mexiko unversehens ein wenig in die Rolle des Gastgebers, der ihm Hindernisse des mexikanischen Alltags aus dem Weg räumen muss. Das ist nicht immer einfach. Stur wehrt er sich mit Händen und Füßen gegen eine Spezialbrille für einen 3-D-Kinofilm – und ist dann doch begeistert von den visuellen Effekten.
Neben dem putzmunteren Raymond wirke ich wie ein wandelndes Wrack. Per Dialyse wurde ich auf ein Körpergewicht von 68 Kilo gedrosselt. Nun schlottern nicht nur alle Kleider an meinem Leib – auch das Gesicht ist eingefallen, grau und von tiefen Furchen durchzogen. Ich bewege mich langsam wie ein Greis und habe kaum die Energie für einen Kinobesuch. Gesellige Abendessen mit Bekannten waren während des vergangenen Jahres eher mühsam als unterhaltend, weil das Nierenproblem immer im Raum schwebt.
Am schlimmsten für die Gemütsverfassung erweist sich freilich die Suche nach einer Spenderniere auf dem kommerziellen, grauen Markt. Jeder Absage folgt ein Stimmungsabsturz. Jede Verzögerung provoziert Zweifel an der Seriosität der Vermittler und Agenten, die die Transplantation organisieren. Im Internet behaupten tatsächlich vereinzelt Empfänger von Spendernieren, sie würden lieber zurück an die Dialyse gehen. Die auf dem Spiel stehenden hohen Geldsummen, die ohne Quittung und ohne klaren Verwendungszweck zwischen Banken in verschiedenen Ländern der Welt umhergeschoben werden, fördern die Unsicherheit. Ich weiß ganz genau, dass ich keinen Cent wiedersehen werde, wenn ich einem Betrüger auf den Leim gehe.
Mir fällt daher ein Stein vom Herzen, als ich nach Monaten der Anspannung endlich in Mexiko ankomme, Ärzte und Klinikpersonal treffe und das Hospital mit eigenen Augen in Augenschein nehmen kann. Ein paar Kilometer nördlich der Grenze in den USA besitzt das kleine Krankenhaus mit gerade mal zwei Dutzend Einzelzimmern den Ruf einer zuverlässigen Klinik, in der Ärzte Operationen aller Art ausführen. Chronisch fettleibige Patienten kommen zur Magenverkleinerung, Frauen lassen sich wegen künstlicher Befruchtung behandeln. Das Krankenhaus bietet auch plastische Chirurgie an. Als letzter Punkt auf seiner Angebotsliste steht das spanische Wort «Transplante» für Transplantationen.
Zumindest auf dem Papier scheint alles möglich: Auf der Webseite offeriert das Krankenhaus Leber-, Herz-, Lungen-, Eingeweide- und Pankreasverpflanzungen. Aber am häufigsten kommen Nierentransplantationen vor, rund 70000 bis 100000 Nieren werden jährlich laut offiziellen Zahlen weltweit verpflanzt. Im grauen kommerziellen Sektor, so wird spekuliert, soll die Zahl etwa gleich hoch liegen.
Meine Hoffnung, dass die paar Tage von der Ankunft bis zur Transplantation reine Routine sein werden, entpuppt sich schnell als Illusion. Beim Röntgen läuft noch alles nach Plan, auch der Kardiologe in der kleinen Praxis an einer Straßenecke gibt nach einer Untersuchung seine Zustimmung für Raymond und mich. Mit einem Achselzucken nehme ich hin, dass die Zahnärztin die Gelegenheit nutzt, um mein komplettes Gebiss zu röntgen. Ich habe vor meiner Abreise extra meine Zähne überprüfen lassen. Trotzdem bestellt mich die mexikanische Zahnärztin gleich zweimal zur Reinigung der Zähne ein.
Ich meutere nicht, denn schließlich kenne ich die Praktiken des Medizintourismus dank einschlägiger Privatkrankenhäuser in Thailand. Zu relativ billigen Preisen werden im Vergleich zu Europa möglichst viele Untersuchungen angeordnet – auch wenn sie überflüssig sind.