Melanie Wolfers
Trau dich, es ist dein Leben
Die Kunst, mutig zu sein
Knaur e-books
Melanie Wolfers, Dr. theol., Mag. Phil., studierte Theologie und Philosophie in Freiburg und München und arbeitete anschließend als Hochschulseelsorgerin in München. 2004 trat sie in den Orden der Salvatorianerinnen in Österreich ein. Seitdem lebt sie in Wien und engagiert sich vielfältig in der Beratungs- und Bildungsarbeit. Melanie Wolfers schöpft aus ihrer langjährigen Erfahrung als Seelsorgerin, ist Bestsellerautorin und gefragte Referentin.
www.melaniewolfers.de
© 2018 der eBook-Ausgabe bene! eBook
© 2018 bene! Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe
Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
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Redaktion: Stefan Wiesner
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Innengestaltung und Satz: Maike Michel
ISBN 978-3-96340-023-0
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Jon Foreman, in Melchior Magazin Nr. 3/2015, © Melchior Magazin, Wien & Zug
Franz Kafka, Tagebucheintrag, Oktober 1921
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Eberhard Bethge (Hrsg.), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House, München
Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, Hamburger Edition, Hamburg, 6. Auflage 2016, 25 f.
http://blog.juleblogt.de/selbstoptimierung/
Adler, G., und Jaffé: C. G. Jung, Briefe, Erster Band 1906–1945, Walter Verlag, Olten 1973
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Eberhard Bethge (Hrsg.), Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House, München
Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz, Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1950
Zitiert aus: Brené Brown, Laufen lernt man nur durch Hinfallen: Wie wir zu echter innerer Stärke finden, München 2016, S. 205; Titel der amerikanischen Originalausgabe: C.S. Lewis, The Four Loves © C.S. Lewis Pte Ltd 1960. Übersetzung: Margarete Randow-Tesch
Virgina Satir, Mein Weg zu dir, © 2001, Kösel Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House, München
Andreas Knapp, Gedichte auf Leben und Tod, © Echter Verlag Würzburg, 4. unveränderte Auflage 2016, S. 39
Zitiert aus: Brené Brown, Verletzlichkeit macht stark. Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden, Kailash Verlag, München 2013, S. 222
Aus: Silvia Ostertag, Einswerden mit sich selbst, Kösel München 1981, S. 44 f.
vgl. Melanie Wolfers, Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein, adeo Verlag, Asslar, 2016, S. 99 ff.
Marianne Williamson, Rückkehr zur Liebe. Harmonie, Lebensfreude und Sinn durch »Ein Kurs in Wundern«, © 1993 Arkana Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House, Übersetzung: Susanne Kahn-Ackermann (Printausgabe) / Übersetzung aus der amerikanischen Originalausgabe: A Return to Love by Marianne Williamson. © 1992 by Marianne Williamson, Reprinted by permission of HarperCollins Publishers, Übersetzung: Susanne Kahn-Ackermann (E-Book-Ausgabe)
»Der Wächter« aus: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, © 1949, Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House, München
aus: Günter Eich, Träume, in: ders., Gesammelte Werke in vier Bänden. Revidierte Ausgabe. Band II. Die Hörspiele 1. Herausgegeben von Karl Karst, © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1973, 1991. Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag, Berlin
Andreas Knapp, Heller als Licht. Biblische Gedichte, © Echter Verlag, Würzburg, 4. Auflage 2018, S. 61
Gekürztes Zitat aus: Karl Rahner, Über die Erfahrung der Gnade. In: Ders., De Gratia Christi, Schriften zur Gnadenlehre, Sämtliche Werke Bd. 5, Erster Teilband, S. 84–87, hier S. 85 © 2015 Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau.
Paul Roth, Wir alle brauchen Gott, 1975, Echter Verlag, Würzburg
Andreas Knapp, Brennender als Feuer. Geistliche Gedichte, © Echter Verlag, Würzburg, 8. Auflage 2017, S. 72
Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg, Verlag Freies Geistesleben & Urachhaus GmbH, Stuttgart, S. 137
»Die Frage der Fragen« aus: Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, © 1949, Manesse Verlag, Zürich, in der Verlagsgruppe Random House, München7
Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, Paul Raabe (Hrsg.), Fischer Verlag, Frankfurt am Main, S. 320 f.
Virgina Satir, Mein Weg zu dir, © 2001, Kösel Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House, München
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/depressionen-jeder-vierte-junge-mensch-hat-psychische-probleme-15462273.html
https://www.unicef.de/lpg/hunger-helfen/
Hier eine Auswahl aus zahlreichen Zuschriften, die mich erreichten
Meine Seele weit öffnen und andere Menschen, die mir nahestehen, an meinem Glück teilhaben lassen. // Der Entdeckerfreude in mir mehr Raum geben als der Ängstlichkeit. // Das Wagnis eingehen, andere in mich hineinschauen zu lassen. // Mut ist, wenn ich zugebe, dass ich Angst habe. // Mut bedeutet, dass ich trotz Widerstand und Angst fähig bin, etwas zu wagen. Es geht um ein Heraustreten aus der Komfortzone, hinein ins Ungewisse – im Sinne von »komm vor«, zeig dich. // Vertrauen, dass mein Tun gut ist, auch wenn ich ein Versagen riskiere. // Neuland betreten. Eingefahrene Lebensmuster hinter sich lassen, die Sicherheit gegeben, aber auch unfrei gemacht haben. Für Gerechtigkeit eintreten, auch mit dem Wissen der Ablehnung. // Mut ist ein Gegenspieler von Angst und ein Zwillingsbruder von Vertrauen – sichtbar in den Augen eines Kleinkinds bei seinen ersten Gehversuchen; spürbar beim Ringen, meine Wunden offenzulegen. // Mut ist die Kraft, die Träume Wirklichkeit werden lässt! // Meine Sucht nach Anerkennung loslassen. // Meinem Herzen folgen – inmitten der Angst. // Mutig zu sein ist eine große Freude! // Die eigenen Grenzlinien überspringen – ob selbst geschaffen oder vom Umfeld gezogen. Im besten Fall: um Unheil abzuwenden, um Besseres zu erwirken. // Trotz Angst für etwas kämpfen, wofür es sich lohnt. Mit dem Risiko, auch verletzt werden zu können. // Mut ist für mich, wie noch im Bauch der Mutter zu sein und das Leben trotz des Lebensrisikos einfach zu wagen. // Immer klarer, aufrichtiger und entschiedener zu dem stehen, was ich liebe. // Ich bin eine mutige Frau. In meinem Leben auch schon zu mutig gewesen. Darum ist für mich Mut, das richtige Maß an Mut für mich und mein Umfeld zu finden. // Trotz Erfahrungen von Tod und Trauer, von Depression und Alleingelassensein den Mut haben weiterzuleben! // Etwas tun, von dem ich weiß, es kann scheitern, es nützt einem nichts, es kann einem sogar schaden – und das, weil ich meinem Gewissen folgen »muss« und will. // Mir die Erlaubnis geben, glücklich zu sein. // Mut ist, mit der Angst etwas zu wagen. // Immer wieder innehalten und mir ehrlich Rechenschaft ablegen, ob mein Leben sich noch richtig anfühlt. Und wenn nicht, dann die Komfortzone verlassen und die notwendigen Veränderungen angehen, auch wenn es schwierig ist. // Veränderungen in meinem Leben begrüßen, statt sie zu fürchten.
Verliebe dich, kämpfe für etwas, an das du glaubst, paddle raus an einem Tag, der dir Angst macht – das Risiko ist immer da. Aber das wahrscheinlich größere Risiko ist, ein seichtes Leben zu führen und vor deinen Ängsten und Träumen davonzulaufen.
Jon Foreman[1]
Kapitel Eins
Eigentlich sollte ich auf meine Nachbarin zugehen. Schon lange habe ich den Eindruck, sie mag mich nicht. Immer wieder wirft sie mir Zettel in den Briefkasten, anstatt mich anzusprechen, wenn ihr etwas nicht passt. Scheinbar kann ich ihr nichts recht machen. Aber vielleicht wird es am Ende schlimmer, wenn ich mit ihr das Gespräch suche. Was, wenn ich einer Diskussion nicht gewachsen bin?
Die angebotene Stelle als Abteilungsleiterin klingt super! Und vermutlich würde ich sie auch ganz gut auf die Reihe bekommen. Aber will ich diesen Posten wirklich? Zahlreiche Meetings, viel Verwaltung, wenig Kontakt mit Kunden … Die Chefetage erwartet eine Zusage. Was passiert, wenn ich sie mit meinem Nein brüskiere? Und außerdem könnten wir das Geld gut brauchen.
Soll ich es wagen? Oder besser nicht? Ihn ansprechen, einfach so? Den ersten Schritt machen, ihn fragen, ob er die gleichen Gefühle empfindet wie ich?
Ist die Zeit überhaupt dafür reif, eine neue Beziehung einzugehen? Das letzte Mal ging es schief, und das will ich nicht noch einmal erleben.
Schon lange träume ich davon, einmal nach Indien zu reisen. Aber was, wenn mir das Land gar nicht gefällt? Außerdem habe ich schon mehrfach gehört, dass eine solche Reise nicht ganz ungefährlich ist. Und wie wird es sein, wenn ich dort alleine unterwegs bin? Was, wenn ich krank werde und Hilfe brauche?
Wer kennt solche Situationen nicht? Da hegt man schon lange einen Traum und traut sich dann doch nicht, loszugehen. Man dürstet nach Nähe, zeigt dies aber nicht, aus Angst, erneut enttäuscht zu werden. Man leidet unter einem Alltag, der einem die Luft abschnürt – und bleibt doch lieber im vertrauten Unglück hocken, als sich auf unbekanntes Gelände vorzuwagen. Viele leben ihren Alltag so, wie er sich »irgendwie« ergeben hat.
Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Reise in die Tiefe der Seele. Dorthin, wo die unstillbare Sehnsucht lodert, mutig zu leben. Wo eine Stimme in uns spricht: Trau dich, es ist dein Leben! Dein einmaliges, kostbares Leben.
Als Reisende, so verstehe ich mich selbst. Auch ich kenne Situationen, in denen ich vor einer wichtigen Entscheidung zurückscheue. In denen ich zu viel auf fremde Ratschläge und zu wenig aufs eigene Herz höre. Selbst beim Schreiben dieser Zeilen kommen mir Zweifel, ob ich mich zeigen kann mit dem, was ich da formuliere …
Ich kenne aber auch das Glück, das darin liegt, unerschrocken zu leben. Einmal stand für mich eine große Entscheidung an.
»Du lässt alles hinter dir zurück, um dich einer Ordensgemeinschaft anzuschließen – dabei fühlst du dich privat und beruflich doch pudelwohl. Hast du keine Angst davor, am Ende falschzuliegen und die Gemeinschaft wieder zu verlassen? Hast du keine Angst vorm Scheitern?« Oft haben mir Studierende diese Frage gestellt, als ich meine Arbeit an der Universität beendete und alle Zelte hinter mir abbrach, um in die Ordensgemeinschaft der Salvatorianerinnen einzutreten.
Diese Fragen hallten in mir nach wie ein Echo meiner eigenen Ängste. Und sie verstärkten sie noch! »Was ist«, so wisperte eine Stimme in mir, »wenn du im Lauf der Zeit feststellen musst, dass das Leben als Ordensfrau nicht zu dir passt? Dann kannst du deine Sachen packen und musst irgendwo wieder von vorne anfangen. Und auch das spöttisch mitleidige Lächeln jener ertragen, die es immer schon besser wussten. Willst du dieses Risiko wirklich eingehen?« Eine andere Stimme malte mir in schönsten Farben aus, in welch guten Bahnen mein Leben seit geraumer Zeit verlief. Und in der Tat: Ich hatte eine herausfordernde Arbeitsstelle, die meinen Begabungen und Interessen entsprach. Ich fühlte mich in meinem Freundeskreis zu Hause, unternahm viel, hatte eine schöne Wohnung und führte ein Leben in großer Freiheit. Ein glückliches Leben! Jetzt all das aufgeben für einen Aufbruch, von dem ich nicht sicher wusste, wohin er mich führt? Bin ich verrückt?!?
Vor allem aber saß mir die Angst im Nacken, wie groß mein Schmerz sein würde, wenn mein lang gehegter Lebenstraum sich als Seifenblase erweisen sollte. Was, wenn alles zerplatzt und nur Leere übrig bleibt? Ja, was dann? – Ich konnte darauf keine Antwort geben.
Natürlich: Was im Vorfeld einer solch weitreichenden Entscheidung in Blick zu nehmen war, hatte ich geklärt. Und ich kannte mich gut genug, um zu wissen, dass es viele Gründe gab, diesen Aufbruch zu wagen. Doch den Ausschlag gab etwas anderes. Ich wusste: Wenn ich jetzt nicht auf mein Herz höre und mich auf den Weg mache, dann werde ich mich in einigen Jahren mit der Frage herumschlagen, ob ich nicht eine Chance verpasst habe und an einer besseren Möglichkeit meines Lebens vorbeilebe – an einer Möglichkeit, die unwiderruflich vorübergegangen ist. Ob ich nicht hinter dem zurückgeblieben bin, wofür ich eigentlich stehen und wie ich leben will. Und mit diesem nagenden Zweifel wollte ich nicht leben! Ich wagte den Aufbruch ins Unbekannte.
Im Alltag aller Menschen gibt es zahlreiche Momente, die zur Mutprobe werden. Einige Beispiele: Da wagt ein Student, in einem Seminar eine Frage zu stellen, auch wenn er sich dadurch die Blöße gibt, das Ganze nicht richtig verstanden zu haben. Da reduziert eine Frau ihren Stellenumfang, um mehr Zeit für sich und ihren Partner zu haben. Da möchte ein Pensionär gerne einen Tanzkurs besuchen, aber seine Furcht, eine blöde Figur zu machen, hält ihn davon ab.
Mut beginnt nicht erst bei nobelpreisverdächtigen Großtaten (die ohnehin höchst selten vorkommen). Sein eigentliches Revier ist der konkrete Alltag!
Egal, ob wir eine weitreichende Entscheidung treffen, jemandem unsere Liebe eingestehen, in einer Konferenz eine unkonventionelle Idee präsentieren oder einen schwer kranken Menschen besuchen – in all diesen Situationen sind wir mutig. Denn ob die Entscheidung sich als richtig erweist oder alles eine ganz andere Wendung nimmt. Ob unsere Liebe erwidert wird oder im Leeren verhallt. Ob unsere Idee vom Team aufgegriffen oder belächelt wird. Ob der Besuch bei einem Schwerkranken uns überfordert oder bereichert – all das entzieht sich unserer Kontrolle und ist ein Geschehen mit offenem Ausgang.
Daher braucht es in diesen Augenblicken Mut. Mutig sein bedeutet: Wir bringen uns selbst ins Spiel. Wir machen uns emotional berührbar; wir lassen uns auf etwas ein, dessen Ausgang ungewiss ist. Und wir gehen damit zugleich das Risiko ein, enttäuscht oder verletzt zu werden.
Und das bedeutet auch: In dem Maß, in dem wir uns ins Leben hineinwerfen, riskieren wir, dass wir uns Schrammen und blaue Flecken holen. In dem Maß, in dem wir auf der Bildfläche des Lebens auftauchen, anstatt unter dem Radarschirm zu fliegen, laufen wir Gefahr, dass wir verletzt werden. Und dies ängstigt – denn niemand will verwundet werden!
In meinem Leben nimmt das Thema Mut einen hohen Stellenwert ein. Mal wünsche ich mir mehr Einsatzfreude und bete darum. Mal halten meine Bedenken und Ängste mich im Griff. Etwa wenn ich vor einer wichtigen Entscheidung stehe. Oder wenn ich mit meiner Meinung hinterm Berg halte, weil sie vermutlich nicht gut ankommen würde. Und ebenso gibt es Situationen, in denen mich eine dankbare Zufriedenheit erfüllt, weil ich mich mutig zu mir und meinen Überzeugungen bekannt habe. Allein dies schmeckt nach echtem Leben!
Mein Streben nach Mut halte ich für nichts Außergewöhnliches. Im Gegenteil: Jede und jeder will mutig sein! Und dies aus gutem Grund. Denn nichts hinterlässt einen schaleren Nachgeschmack als der Eindruck: Ich bleibe Zuschauerin im eigenen Leben und lasse es auf diese Weise an mir vorüberziehen – weil ich mutlos bin. Ich lasse mich auf dem Beifahrersitz durch mein Leben kutschieren – während andere die Richtung vorgeben. Der Wunsch nach Sicherheit oder das ängstliche Schielen, was andere von einem denken, lähmen.
Vor allem aber ist Mut so bedeutsam, weil er uns die Tür zum Leben öffnet! Das beginnt bereits beim Laufenlernen: Es fasziniert mich immer wieder, mit welcher Beharrlichkeit Kinder dies üben. Bis zu dem Tag, an dem sie alleine ihre ersten Schritte gehen können, sind sie zigfach hingefallen, und manche Pflaster zierten ihre Hände, Knie und Ellenbogen. Mit ihrer Bereitschaft, zu stürzen und sich wehzutun, erschließen sie sich einen neuen Lebensradius. Ähnlich verhält es sich in allen anderen Augenblicken, in denen uns das Leben lockt: Fassen wir den Mut, nicht auf Nummer sicher zu gehen, sondern Neues zu wagen und uns einzubringen, dann können wir das Glück eines couragierten Lebens erfahren.
Dieses Buch handelt vom Glück, das darin liegt, beherzt zu leben. Es handelt von der Kunst, mutig zu sein – eine Kunst, die den Mut zur Verletzbarkeit in sich einschließt. Und es handelt von der Angst, die uns vor Leichtsinn und Tollkühnheit warnt und uns schützt – die uns aber auch am Leben hindern kann. Ja, die das Leben zu zerstören vermag.
»Hast du keine Angst davor, zu scheitern?«, fragten mich die Studierenden bei meinem Abschied von der Universität. Mir war bei meinem Aufbruch vor vielem bange. Zum Beispiel davor, dass ich mich in der Ordensgemeinschaft nicht heimisch fühlen würde, oder dass mir der Lebensrahmen auf Dauer zu eng wird und die Luft abschnürt. Aber ich hatte nicht die Befürchtung zu scheitern. Den Aufbruch gar nicht erst zu wagen, das hätte für mich nach Kapitulation und Scheitern geschmeckt.
Wir haben jeden Augenblick neu die Wahl: Wir können am Ufer sitzen bleiben oder uns mit unserem Lebensschiff aufs Wasser hinauswagen. Natürlich lockt das sichere Ufer. Denn dort haben wir festen Boden unter den Füßen. Wir vermeiden das Risiko, zu kentern oder uns zu verletzen. Vor allem aber könnten wir uns am Ufer weiterhin hingebungsvoll der Aufgabe widmen, die Sicherheitsstandards unseres Bootes zu perfektionieren. Denn schließlich wollen wir ja eines Tages hinausrudern! Doch das Fatale ist: Wer auf ein »Rundum-sorglos-Paket« spekuliert, wartet auf den Sankt-Nimmerleins-Tag!
Woher den Mut nehmen, sich aufs Wasser zu wagen, wenn einem die Angst im Nacken sitzt? Der bloße Appell, mutiger zu sein, verhallt wirkungslos. Und darüber hinaus vermittelt er den Eindruck, dass man mit seinen Gefühlen nicht ernst genommen wird.
Beherzt leben können wir in jenem Maß, in dem wir unsere Angst wahrnehmen, verletzt zu werden. Wenn wir uns dieser Angst stellen, und wenn wir ihr nicht die Deutungshoheit über unser Leben geben. Ihr nicht das letzte Wort überlassen. Kurz gesagt: Mut ist, wenn anderes wichtiger wird als unsere Angst! Wer mutig seine Angst durchwatet, wird die Erfahrung machen: Ich spüre Lebendigkeit, wenn ich mich ins Tiefe wage und dem Strom des Lebens überlasse. Solche Erfahrungen stärken wiederum das Vertrauen hinauszupaddeln. Gerade an einem Tag, der Angst macht. Es ist das Leben selbst, das fragt: Bist du mit an Bord?
Seit jeher träumt die Menschheit davon, unverwundbar zu sein. Zahlreiche Mythen und Märchen aus uralter Zeit, aber auch Science-Fiction-Filme erzählen von Siegertypen und unschlagbaren Helden. Doch es bleibt nicht bei diesem Traum. Immer schon unternehmen die Menschen größte Anstrengungen, um Stamm, Sippe, Gesellschaft und das eigene Leben zu schützen. Heute kennzeichnet der Megatrend Sicherheit unsere Welt: vorgeburtliches Screening, um jedes Risiko auszuschließen; in Windeln eingebaute Chips, um per Smartphone Ausscheidung und Herzschlag des Säuglings zu kontrollieren; Banken, die dem Kind schon den Finanzierungsplan für die Altersvorsorge in die Wiege legen. Eine boomende Versicherungsbranche, die uns für jeden Ernstfall des Lebens abzusichern verspricht.
Doch das Dasein ist von mehr Ungewissheiten und Chaos durchsetzt, als wir uns eingestehen wollen. Bereits Kleinigkeiten konfrontieren einen damit, dass man nicht alles in der Hand hat: ein verregneter Urlaub trotz der im Katalog versprochenen »Insel des ewigen Frühlings« oder ein nerviger Kollege, mit dem man sich ab jetzt das Büro teilen muss. Eigene Launen, die einen bisweilen vor sich hertreiben, oder die Schlaflosigkeit, welche den Alltag in eine einzige Anstrengung verwandelt. Niemand ist davor geschützt, dass Pläne und Gewohnheiten im Handumdrehen zunichtegemacht werden. Böse Überraschungen können über einen hereinbrechen – etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, die bittere Erfahrung, hintergangen zu werden, oder der Unfall einer uns nahestehenden Person.
All dies zeigt: Ungeachtet aller Vorsichtsmaßnahmen lässt sich körperliche und seelische Verwundbarkeit nicht ausschalten wie ein fehlerhaftes Programm. Sie ist und bleibt in unser Leben eingeschrieben. Ja, sie gehört sogar zur Mitte unserer Existenz. Ob es uns passt oder nicht: Absolute Sicherheit erweist sich als eine Illusion!
Das Streben nach Sicherheit wirkt sich oft verhängnisvoll aus. Denn wann ist sicher eigentlich sicher genug?!? Genügt ein weiteres Schloss gegen findige Einbrecher? Oder wäre nicht doch eine zusätzliche Alarmanlage angesagt? Reicht es, eine Schneeballschlacht auf dem Schulhof zu verbieten, oder birgt nicht jedes Kinderspiel potenzielle Gefahren? – Einer Rundumsicherheit kann man sich bestenfalls nur annähern. Selbst die höchste Lebensversicherung kann an der Tatsache nichts ändern, dass, statistisch gesehen, die Sterblichkeit der Menschen gegen hundert Prozent tendiert.
Auf gesellschaftlicher Ebene führt der Megatrend Sicherheit in manche Sackgassen und kann unsere Freiheit und Demokratie gefährden, dazu mehr im Kapitel sieben. Auf der individuellen Ebene behindert er Wachstum und Entfaltung. Etwa wenn ich nur das tue, was ich bereits gut kann, und von allem anderen die Finger lasse, um mir nicht die Pfoten zu verbrennen. Dann lerne ich keine neue Sprache, um mir nicht die Blöße zu geben, wie ein Fünftklässler rumzustammeln. Andere führen das Leben eines einsamen Wolfs. Um auf Nummer sicher zu gehen, lassen sie niemanden an sich heran. Oder sie gönnen sich erst dann Ruhe, wenn alle Aufgaben perfekt erledigt sind. Jede noch so kleine Schwäche muss ausradiert werden, um keine Angriffsfläche zu bieten.
Ob Sie diese oder andere Sicherheitsmaßnahmen aus Ihrem Leben kennen? Dann sind Ihnen vielleicht auch deren fatale Nebenwirkungen vertraut. Die inneren und äußeren Mauern, die uns schützen sollen, schließen uns zugleich ein! Sie verwandeln sich in ein Gefängnis.
Wer die »Zentralverriegelung Angst« dauerhaft aktiviert, schiebt allen tieferen Beziehungen einen Riegel vor. Derjenige, der sich einen wehrhaften Panzer aus Stärke und Überlegenheit zulegt, kann zweifelsohne nicht mehr so leicht getroffen werden. Aber den kann auch nichts oder niemand mehr berühren. Und wer in einer Rüstung steckt, kann niemanden umarmen.
Wenn wir Verwundbarkeit gegen Sicherheit eintauschen wollen, zahlen wir dafür einen hohen Preis. Gehen wir auf Sicherheitsabstand zu allem und jedem, dann leben wir nicht mehr in Tuchfühlung mit uns selbst und mit anderen. Viele Signale des Lebens vermögen uns nicht mehr zu erreichen. Schon bald werden sich Empfindungen einstellen wie: Mein Tag fühlt sich grau, kalt und leer an. Ich bekomme keinen Draht mehr zu meiner Umgebung. Nichts spricht mich an, und ich komme mir völlig überflüssig vor. Langeweile und Traurigkeit, Furcht oder Groll machen sich breit. Todsicher.
Natürlich, wir schulden es unserer Verletzbarkeit und Selbstachtung, dass wir uns schützen! Aber ebenso gilt: Wir finden nur ins echte Leben hinein, wenn wir etwas wagen!
Nicht allein bei den ersten Gehversuchen braucht es Mut. Auch wenn wir den Kinderschuhen längst entwachsen sind und als Erwachsene durchs Leben gehen, bleibt das Risiko bestehen, dass wir stolpern und stürzen. Unser Dasein bringt Verwundbarkeit mit sich – ob wir wollen oder nicht. Wir haben allerdings die Wahl, wie wir mit unserer Verletzlichkeit umgehen wollen! Wir stehen vor der Entscheidung, ob wir unser Leben vorbeugend einwattieren, um nirgendwo anzuecken. Ob wir unsere Berührbarkeit bemänteln, indem wir ein cool-distanziertes Gehabe pflegen oder uns mit Wissen und Macht brüsten, um andere auf Abstand zu halten. Oder ob wir bereit sind, unsere Verletzbarkeit zuzulassen.
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass wir Menschen im Allgemeinen einen solchen Freiheitsspielraum haben, mit unserer Verletzbarkeit umzugehen. Dieser kann weiter oder enger ausgeprägt sein. Doch es gibt auch Personen, für die jeder Regentropfen wie ein Peitschenhieb wirkt. Solche hochsensiblen Menschen mit ihrer spezifischen Begabung und Not müssen sich in besonderer Weise schützen – etwa indem sie genügend Ruhepausen in den Alltag einplanen. Andere können aufgrund traumatischer Erfahrungen nur sehr eingeschränkt oder gar nicht mit ihrer Verletzlichkeit aktiv umgehen. Sie erleben sich als ausgeliefert. In solchen Situationen kann eine Therapie helfen, mehr Boden unter die Füße zu bekommen und eine neue Freiheit zu gewinnen.
Doch ob der eigene Spielraum größer oder geringer ausfallen mag – unabhängig davon hat C. G. Jung, Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie, betont: Es gibt viele unnötige Leiden, weil wir uns weigern, das »berechtigte Leiden« zuzulassen, das unser Menschsein mit sich bringt. Denn wenn wir uns gegenüber dem unvermeidbaren Schmerz abschotten, führt dies auf lange Sicht zu viel größerem Schmerz.
In vielen Beratungsgesprächen finde ich diesen Zusammenhang bestätigt. Eindrücklich etwa jener erfolgreiche, vor Kraft strotzende Mann, der am Ende einer spirituellen Schweigewoche mit belegter Stimme erzählt: »Ich habe erkannt, dass ich all die Jahre Angst vor meiner Verletzlichkeit hatte. Ohne dass ich es bemerkt habe, war ich ständig auf der Flucht vor ihr. So habe ich dauernd versucht zu gefallen und niemanden wirklich an mich herangelassen. Ich habe nicht gewagt zu lieben.« In seinem Versuch, sich gegen Schmerz und Enttäuschung abzuschotten, hatte dieser Mann ungewollt auch den heiß ersehnten Gefühlen von Geborgenheit und Liebe einen Riegel vorgeschoben. Das zu spüren tat weh!
Um nicht verletzt zu werden, legt es sich nahe, Schutzmauern um sich herum zu errichten. Doch wer sich nicht traut, das Gehäuse seines auf Sicherheit bedachten Ich zu verlassen, bleibt mit sich allein. Wem der Mut fehlt, sich ins Spiel zu bringen, sich auf Ungewisses einzulassen und emotional zu öffnen, verbaut sich den Zugang zu einem sinnerfüllten Leben. Wer nicht riskiert, sich verletzbar zu machen, hat in der Tat verloren!
Hier deutet sich eine Einsicht an, die im Verlauf des Buches konkret entfaltet wird: Die menschliche Verwundbarkeit bildet das Einfallstor für Schmerz und Leid. Daher gilt es, uns zu schützen. Und es ist wichtig, dass wir auch andere schützen – insbesondere jene, die sehr verletzbar sind. Eine andere Facette ist jedoch weitgehend unbekannt: Unserer Verletzlichkeit wohnt eine humane Kraft inne. Berührbarkeit und damit auch die Risikobereitschaft, schmerzlich enttäuscht zu werden, stehen am Ursprung unserer vitalsten Erfahrungen! Dies gilt auch für das ersehnte Gefühl der Freude.
Sich vorbehaltlos zu freuen fällt manchmal nicht leicht. Eine Studentin berichtet: »Ich fahre leidenschaftlich gerne Mountainbike, besonders am frühen Morgen, wenn alles noch ganz still ist. Wenn ich dann oben auf dem Berg ankomme, raubt mir der Blick in die Weite manchmal den Atem, so schön ist es. Doch dann passiert etwas, mit dem ich nicht klarkomme: Wie aus dem Nichts zieht sich in mir etwas schmerzhaft zusammen, ich werde unruhig, und meine Freude ist wie weggeblasen.«