Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung Simon Schmidt
Coverabbildung Simon Schmidt; Altrendo/Getty Images
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-20071-5
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-20071-5
Anna öffnete die Augen und sah ein Paar Hände, blutverschmiert und glänzend. Kein Gesicht. In ihren Ohren ein durchdringendes Kreischen. Zuerst dachte sie, sie sei in Utra, wo Ronald mit Josephs Hilfe noch ein Schwein schlachtete. Das hätte das Blut erklärt, die roten Hände und den grässlichen, schrillen Laut. Dann wurde ihr klar, dass sie selbst es war, die schrie.
Jemand legte ihr eine kühle Hand auf die Stirn und murmelte Worte, die sie nicht verstand. Sie spie ihm eine Beleidigung entgegen.
Mehr Schmerz.
So muss es sein, wenn man stirbt.
Die Wirkung des Medikaments schien nachzulassen, denn als sie die Augen wieder öffnete und in grelles künstliches Licht blickte, hatte sie einen plötzlichen Moment der Klarheit.
Nein, so ist es, wenn man ein Kind bekommt.
«Wo ist mein Baby?» Sie hörte selbst, dass ihre Worte durch das Pethidin etwas schleppend klangen.
«Er hatte Probleme, selbständig zu atmen. Wir haben ihm gerade etwas Sauerstoff gegeben. Es geht ihm gut.» Eine Frauenstimme. Eine Shetländerin, ein wenig zu bestimmend, aber überzeugend, und darauf kam es jetzt an.
Ein wenig abseits stand ein Mann mit blutverschmierten Unterarmen und grinste verlegen.
«Tut mir leid», sagte er. «Plazentaretention. Ich dachte mir, wir erledigen das lieber hier, als Sie in den OP zu bringen. Nach einer Zangengeburt hätten Sie das sicher nicht auch noch gewollt. Obwohl es so bestimmt auch nicht besonders angenehm war.»
Sie dachte wieder an Joseph, daran, wie die Bergschafe lammten und die Raben mit der Plazenta im Schnabel und in den Klauen davonflogen. Das hier hatte sie sich anders vorgestellt. Sie hatte nicht gedacht, dass es bei einer Geburt so gewaltsam und brutal zugehen würde. Als sie den Kopf drehte, sah sie Ronald, er hielt noch immer ihre Hand.
«Es tut mir leid, dass ich dich beschimpft habe», sagte Anna.
Sie sah, dass er geweint hatte. «Ich hatte solche Angst», sagte er. «Ich dachte, du stirbst.»
«Anna Clouston hat letzte Nacht entbunden», verkündete Mima. «Anscheinend eine schwierige Geburt. Zwanzig Stunden lag sie in den Wehen. Sie behalten sie noch ein paar Tage zur Beobachtung da. Es ist ein Junge, der nächste Mann, der die Cassandra übernehmen kann.» Sie warf Hattie einen verschwörerischen Blick zu. Es schien Mima zu belustigen, dass Anna eine schwere Geburt gehabt hatte. Mima hatte eine Vorliebe für Chaos, Unordnung, das Unglück anderer Leute. Das verschaffte ihr Stoff zum Tratschen und hielt sie am Leben. Wenigstens sagte sie selbst das, wenn sie schnatternd in ihrer Küche saß und Hattie bei einem Tee oder Whisky auf den neuesten Stand über das Inselleben brachte.
Hattie wusste nicht recht, was sie zu Anna Cloustons Kind sagen sollte – sie hatte noch nie etwas an Babys gefunden und konnte nichts mit ihnen anfangen. Ein Baby machte alles nur noch komplizierter. Die beiden Frauen standen in Setter, auf dem Feld hinter dem Haus. Die Frühlingssonne schien in den provisorischen Windschutz aus blauem Plastik, über die Schubkarren und die mit Kunststoffband abgesteckten Gräben. Hattie betrachtete das alles, als sähe sie es zum ersten Mal, und ihr fiel auf, wie sehr sie diesen Teil der kleinen Farm verschandelt hatten. Bevor ihr Team von der Universität eingetroffen war, hatte Mima über die abschüssige, tiefgelegene Wiese zum See hinuntergeblickt. Jetzt versperrte ihr der Aushubhügel die Sicht, und das Gelände war schon zu Saisonbeginn so schlammig wie ein Bauplatz. Die Schubkarren hatten tiefe Furchen im Gras hinterlassen.
Hattie ließ den Blick zum Horizont schweifen. Von allen Ausgrabungsstätten, an denen sie bisher gearbeitet hatte, war diese am stärksten der Witterung ausgesetzt. Shetland bestand aus nichts als Himmel und Wind. Es gab hier keine Bäume, die Schutz boten.
Ich liebe diesen Ort, dachte sie plötzlich. Ich liebe ihn mehr als jeden anderen auf der Welt. Ich will den Rest meines Lebens hier verbringen.
Mima hatte gerade Handtücher aufgehängt, trotz ihres Alters war sie erstaunlich beweglich. Dabei war sie so klein, dass sie sich recken musste, um an die Wäscheleine heranzureichen. Sie erinnerte Hattie an ein Kind, das beim Spielen auf Zehenspitzen stolziert. Jetzt war der Wäschekorb leer. «Kommen Sie doch mit rein zum Frühstück», schlug Mima vor. «Wenn Sie nicht ein bisschen zulegen, kann der Wind Sie ja wegwehen.»
«Das sagt die Richtige», erwiderte Hattie, während sie Mima über die Wiese zum Haus folgte. Mima kam ihr so zart und zerbrechlich vor, als könnte der nächste Sturm sie tatsächlich mitreißen und aufs Meer hinaustragen. Bestimmt würde sie auch dann noch weiterreden und lachen, wenn der Wind sie herumwirbelte wie einen Drachenschwanz, so lange, bis sie verschwunden war.
In der Küche stand eine Schale blühender Hyazinthen auf der Fensterbank, ihr Geruch erfüllte den Raum. Sie waren blassblau mit weißer Maserung.
«Die sind hübsch.» Hattie verscheuchte die Katze vom Stuhl, um sich zu setzen. «So frühlingshaft.»
«Ich kann ihnen eigentlich nichts abgewinnen.» Mima nahm eine Pfanne vom Regal. «Es sind hässliche Blumen, und sie stinken. Evelyn hat sie mir mitgebracht und erwartet, dass ich mich darüber freue. Aber ich werde sie bald eingehen lassen. Bei mir hat noch keine Zimmerpflanze überlebt.»
Evelyn war Mimas Schwiegertochter und Gegenstand vieler Klagen.
Geschirr und Besteck waren bei Mima grundsätzlich ein wenig schmutzig, aber Hattie, der bei solchen Dingen normalerweise schnell der Appetit verging, aß trotzdem immer alles, was Mima ihr vorsetzte. Heute gab es Rührei. «Die Hühner legen wieder gut», sagte Mima. «Sie müssen nachher ein paar Eier mit zum Bod nehmen.» Obwohl die Schalen dreckverkrustet waren und Strohhalme daran klebten, schlug Mima die Eier so, wie sie waren, in eine Schüssel und verquirlte sie mit einer Gabel. Klares Eiweiß und tiefgelber Dotter spritzten auf die Wachstuchtischdecke. Mit derselben Gabel stach Mima einen Klumpen Butter von einem in Folie verpackten Klotz ab und gab ihn in die Pfanne auf dem Ofenherd. Als die Butter brutzelte, goss sie das Ei hinein. Dann warf sie ein paar Brotscheiben direkt auf die Herdplatte, woraufhin es verbrannt roch.
«Wo ist eigentlich Sophie heute Morgen?», erkundigte sich Mima, während sie sich beide über ihr Essen hermachten. Sie hatte den Mund voll, und ihr Gebiss saß nicht richtig, sodass Hattie nicht gleich verstand, was sie gesagt hatte.
Sophie war Hatties Assistentin. Normalerweise kümmerte sich Hattie selbst um die Planung und die Vorbereitungen. Schließlich war es ihr Projekt, ihre Doktorarbeit. Sie war ganz besessen von dem Drang, alles richtig zu machen. Aber heute Morgen hatte sie es nicht erwarten können, so schnell wie möglich zur Ausgrabungsstätte zu kommen, und Sophie den Papierkram überlassen. Manchmal tat es auch ganz gut, Sophie für eine Weile los zu sein, und Hattie war froh, einmal unter vier Augen mit Mima zu plaudern.
Mima mochte Sophie. In der vorigen Saison hatte man die Mädchen zu einem Tanz im Gemeindesaal eingeladen, und Sophie war der strahlende Mittelpunkt des Festes. Die Männer hatten Schlange gestanden, um sie zu schottischer Tanzmusik herumzuwirbeln. Sie hatte mit allen geflirtet, verheiratet oder nicht. Hattie hatte das Ganze missbilligend und mit Unbehagen beobachtet, aber auch ein wenig eifersüchtig. Mima war zu ihr getreten und hatte ihr, um die laute Musik zu übertönen, ins Ohr geschrien: «Das Mädchen erinnert mich an mich selbst in ihrem Alter. Mir sind die Männer auch nachgelaufen. Es ist nur Spaß, nichts von Bedeutung. Ihnen könnte es auch nicht schaden, sich mal ein bisschen zu amüsieren.»
Wie ich Whalsay den Winter über vermisst habe!, dachte Hattie. Wie ich Mima vermisst habe!
«Sophie arbeitet für eine Weile im Bod», beantwortete sie Mimas Frage. «Papierkram, Sie wissen schon. Sie kommt bald wieder her.»
«Und?», fragte Mima und spähte mit ihren Vogelaugen über den Rand der Tasse. «Haben Sie sich einen Mann geangelt, während Sie weg waren? Einen gutaussehenden Akademiker vielleicht? Jemanden, der Sie in den langen Winternächten unter der Decke gewärmt hat?»
«Hören Sie auf zu sticheln, Mima.» Hattie schnitt sich eine Ecke von dem Toast ab, ließ sie jedoch auf dem Teller liegen. Sie hatte keinen Appetit mehr.
«Vielleicht sollten Sie sich einen Mann von der Insel suchen. Sandy ist noch zu haben. Sie könnten es schlimmer treffen. Wenigstens steckt mehr Leben in ihm als in seiner Mutter.»
«Evelyn ist schon in Ordnung», verteidigte Hattie sie. «Sie war sehr nett zu uns. Nicht alle auf der Insel haben die Ausgrabung unterstützt, aber sie hat uns immer den Rücken gestärkt.»
Doch Mima wollte das Thema «Hatties Liebesleben» keineswegs schon fallenlassen. «Passen Sie bloß auf, Mädchen, dass Sie den Richtigen erwischen. Nicht einen, der Sie verletzt. Davon kann ich ein Lied singen. Mein Jerry war nicht der Heilige, für den ihn alle gehalten haben. Und man kann auch sehr gut ohne Mann leben. Ich komme seit fast sechzig Jahren ohne einen aus.»
Ihr Augenzwinkern ließ Hattie vermuten, dass Mima in den letzten sechzig Jahren vielleicht keinen Ehemann, in ihrem Leben aber doch genügend Männer gehabt hatte. Sie fragte sich, ob die alte Frau ihr sonst noch etwas zu verstehen geben wollte.
Gleich nachdem das Geschirr abgewaschen war, ging Hattie zur Grabungsstelle zurück. Mima blieb im Haus. Es war Donnerstag, der Tag, an dem sie ihren Verehrer Cedric empfing. Den ganzen Winter über hatten die Gedanken an diesen Ort Hattie begleitet und gewärmt. Sie war von der Archäologie genauso besessen wie von der Insel und ihren Bewohnern, und beides war in ihrem Kopf zu einem Ganzen verschmolzen: Whalsay war ihre Arbeit, ihr Leben. Zum ersten Mal seit Jahren verspürte sie ein Kribbeln im Bauch. Dabei gibt es gar keinen Anlass, so aufgeregt zu sein. Was ist nur los mit mir? Sie ertappte sich bei einem Grinsen. Ich muss mich in Acht nehmen. Die Leute werden denken, ich bin verrückt, und mich wieder wegsperren. Doch bei diesem Gedanken wurde ihr Grinsen nur noch breiter.
Als Sophie eintraf, trug Hattie ihr auf, eine Übungsgrube vorzubereiten. «Wenn Evelyn als Freiwillige mithelfen will, sollten wir ihr beibringen, wie das geht. Wir sollten uns eine Stelle abseits der Hauptgrabung suchen.»
«Verdammt, Hat! Muss sie wirklich bei der Grabung dabei sein? Ich meine, sie ist ja ganz nett, aber sie ist eine solche Langweilerin.» Sophie war groß und sportlich, mit langem, goldblondem Haar. Sie hatte den Winter über auf einer Sennhütte in den Alpen gearbeitet, wo sie einer Freundin half, die Winterurlauber zu versorgen, und ihre sonnengebräunte Haut strahlte. Sophie war unkompliziert und entspannt und nahm die Dinge sehr gelassen. Im Vergleich zu ihr kam sich Hattie wie eine neurotische Matrone vor.
«Du weißt doch», erwiderte Hattie, «eine Bedingung für unsere Arbeit in Shetland ist, dass wir die Gemeinde mit einbeziehen.» Himmel, dachte sie, jetzt klinge ich wie eine alternde Lehrerin. So wichtigtuerisch!
Statt zu antworten, machte sich Sophie schulterzuckend wieder an die Arbeit.
Später verkündete Hattie, sie werde nach Utra fahren, um mit Evelyn über die Vorbereitungen für die Ausgrabung zu sprechen. Doch das war nur ein Vorwand. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihre Lieblingsorte in Lindby aufzusuchen. Die Sonne schien noch immer, und sie wollte das schöne Wetter nutzen. Als sie am Haus vorbeiging, fuhr Cedric gerade in seinem Auto davon. Mima winkte ihm vom Küchenfenster aus nach. Als sie Hattie sah, kam sie an die offene Tür.
«Wollen Sie nicht reinkommen, auf eine Tasse Tee?»
Hattie argwöhnte jedoch, dass Mima ihr nur noch mehr entlocken und ihr weitere Ratschläge erteilen wollte. «Nein», lehnte sie ab, «ich habe jetzt keine Zeit. Aber Sophie könnte mal eine Pause machen, vielleicht fragen Sie ja sie.»
Damit ging sie den Feldweg entlang, die Sonne im Gesicht, und fühlte sich wie ein Kind, das die Schule schwänzt.
Die erste Nacht seines Lebens verbrachte Annas Baby auf der Intensivstation. Die Hebammen sagten, es bestünde kein Grund zur Sorge. Es ginge ihm gut, ein prächtiger kleiner Junge. Er bräuchte nur etwas Hilfe beim Atmen, weshalb sie ihn noch eine Weile dabehalten wollten. Außerdem sei Anna erschöpft und benötigte Ruhe. Am Morgen würden sie ihr den Kleinen bringen und ihr helfen, ihn zu füttern. Die beiden würden sicher in ein paar Tagen zu Hause sein.
Sie fiel in einen unruhigen Dämmerschlaf. Der Arzt hatte ihr weitere Schmerzmittel gegeben, und sie träumte sehr lebhaft. Einmal, als sie plötzlich hochfuhr, fragte sie sich, ob man sich so wohl fühlte, wenn man auf Drogen war. An der Uni war sie nie in dieser Richtung in Versuchung geraten. Es war ihr schon immer wichtig, die Kontrolle zu behalten.
Sie war sich Ronalds Anwesenheit bewusst. Mehrmals hörte sie ihn in sein Handy sprechen. Anna nahm an, dass er mit seinen Eltern telefonierte. Sie wollte ihm sagen, dass er im Krankenhaus kein Mobiltelefon benutzen dürfe, aber dann überkam sie wieder diese Lethargie, und sie brachte die Worte nicht richtig heraus.
Anna hatte ein Einzelzimmer mit Blick über die grauen Häuser hinweg aufs Meer. Als es hell wurde und sie aufwachte, fühlte sie sich wieder mehr wie sie selbst, ein bisschen angeschlagen, aber klar im Kopf. Ronald saß auf einem Stuhl in der Ecke und schlief tief und fest, mit zurückgesacktem Kopf, laut schnarchend. Eine Hebamme kam herein.
«Wie geht es meinem Baby?» In diesem Moment konnte Anna kaum glauben, dass es überhaupt ein Baby gab und dass sie sich die Geburt nicht nur eingebildet hatte. Sie empfand den vorigen Abend als geradezu unwirklich.
«Ich bringe ihn gleich. Es geht ihm gut, er atmet jetzt selbständig und normal.»
Ronald regte sich auf seinem Stuhl und wurde ebenfalls wach. Er sah aus wie sein Vater, mit den Bartstoppeln am Kinn, die Augen noch etwas glasig vom Schlaf.
Das Baby war in eine Plastikbox gebettet, die Anna an ein Aquarium erinnerte. Es lag auf dem Rücken. Seine Haut war leicht gelblich verfärbt, aber Anna hatte in ihren Büchern gelesen, dass das normal war. Der von dunklem Flaum bedeckte Kopf war etwas spitz.
«Machen Sie sich darum keine Sorgen», sagte die Hebamme, die erriet, was Anna dachte. «Das liegt an der Zangengeburt. Es gibt sich in ein paar Tagen.» Sie nahm das Baby hoch, wickelte es in eine Decke und reichte es Anna. Die blickte auf ein winziges, perfekt geformtes Ohr hinunter.
«Wollen wir mal versuchen, ihn anzulegen?»
Ronald war inzwischen ganz wach geworden. Er setzte sich zu Anna auf die Bettkante, gegenüber der Hebamme. Er streckte den Finger aus und sah zu, wie das Baby danach griff.
Die Hebamme zeigte Anna, wie sie das Baby am besten stillte. «Legen Sie sich ein Kissen auf den Schoß, so, dann halten Sie mit einer Hand seinen Kopf und führen ihn an Ihre Brustwarze, so.» Anna, die eigentlich sehr praktisch veranlagt war, fühlte sich ungeschickt und unbeholfen. Aber dann schnappte das Baby zu und begann zu saugen, und sie spürte den Sog bis hinunter in ihren Bauch.
«Na also», sagte die Hebamme. «Sie sind ja ein Naturtalent. Wenn alles so gut läuft, gibt es keinen Grund, weshalb Sie nicht morgen wieder zu Hause sein sollten.»
Nachdem die Frau gegangen war, blieben sie noch eine Weile auf dem Bett sitzen und betrachteten das Baby. Als es plötzlich in Schlaf fiel, nahm Ronald es behutsam hoch und legte es wieder in das Kunststoffbettchen. Dann entwarfen sie die Annonce, die sie in der Shetland Times aufgeben wollten:
Ronald und Anna Clouston haben am 20. März einen Sohn bekommen, James Andrew. Das erste Enkelkind von Andrew und Jacobina Clouston aus Lindby, Whalsay, und James und Catherine Brown aus Hereford, England.
Der Zeitpunkt von James’ Geburt war genau geplant, wie alles in Annas Leben geplant war. Sie hielt den Frühling für die ideale Jahreszeit, um ein Baby zur Welt zu bringen, und Whalsay für einen geeigneten Ort, um ein Kind aufzuziehen. Der Vorgang war schmerzhafter und unappetitlicher gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte, aber jetzt war das geschafft, und einem reibungslosen Familienleben stand nichts mehr im Wege.
Ronald konnte den Blick nicht von seinem Sohn losreißen. Sie hätte sich denken können, dass er ein ganz verliebter Vater sein würde.
«Warum gehst du nicht nach Hause?», schlug sie vor. «Um zu duschen und dich umzuziehen. Außerdem brennen sicher alle darauf, die Neuigkeit zu erfahren.»
«Ja, das könnte ich machen.» Sie merkte, wie unbehaglich ihm hier im Krankenhaus zumute war. «Soll ich denn heute Abend wiederkommen und dir Gesellschaft leisten?»
«Nein», erwiderte sie. «Es ist so eine lange Fahrt, und dann die Zeit auf der Fähre … Nur morgen früh musst du als Allererstes wieder herkommen, um uns nach Hause zu holen.» Etwas Zeit allein mit ihrem Sohn würde ihr sicher guttun. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie Ronald um die ganze Insel fahren und die Nachricht von der Geburt seines Sohnes verkünden würde. Er würde all seine Verwandten besuchen, immer wieder die Geschichte erzählen müssen, wie ihre Fruchtblase geplatzt war, als sie gerade im Supermarkt waren, wie schwer die Geburt gewesen und wie das Kind schreiend in die Welt herausgezogen worden war.
Hattie hätte gut darauf verzichten können, Evelyn den ganzen Tag hier in Setter zu haben. Sie waren erst seit einer Woche wieder in Whalsay, und sie hatte anderes im Kopf. Den ganzen Tag über rumorten in ihrem Hinterkopf Bedenken, in die sich immer wieder Glücksmomente mischten. Außerdem wollte sie mit der Grabung vorankommen. Mit ihrer Grabung, die seit dem Herbst unter der Abdeckung auf sie wartete. Jetzt, wo die Tage länger und das Wetter besser wurden, war sie nach Shetland zurückgekehrt, um das Projekt abzuschließen. Es drängte sie, wieder in der Hauptgrube zu arbeiten, zu sieben und zu datieren, ihre minutiösen Aufzeichnungen zu vervollständigen. Sie wollte ihre These belegen und sich dabei in der Vergangenheit verlieren. Wenn sie beweisen konnte, dass Setter der Standort eines mittelalterlichen Kaufmannshauses gewesen war, wäre das eine wichtige Forschungserkenntnis für ihre Doktorarbeit. Und, noch entscheidender: Die Entdeckung von Artefakten, durch die sich das Gebäude datieren und sein Status nachweisen ließ, würde ihr die Grundlage liefern, um Mittel für weitere Grabungen beantragen zu können. Dann hätte sie einen Vorwand, auf Shetland zu bleiben. Die Vorstellung, dazu gezwungen zu sein, die Inseln wieder zu verlassen, war ihr unerträglich. Sie glaubte, nie wieder in einer Stadt leben zu können.
Aber Evelyn war eine einheimische Freiwillige und musste ausgebildet werden. Hattie lag jedoch daran, sie am Rand des Geschehens zu halten. Sie wusste, dass sie nicht gut mit Freiwilligen umgehen konnte. Sie war ungeduldig und mutete ihnen zu viel zu. Unmöglich konnten sie die Sprache verstehen, die sie ihnen gegenüber benutzte. Der heutige Tag versprach nicht leicht zu werden.
Wieder hatte beim Aufwachen die Sonne geschienen, aber inzwischen war vom Meer her Dunst heraufgezogen, der das Licht dämpfte. Mimas Haus war nicht mehr als ein Schatten in der Ferne, und alles erschien weicher und organischer. Es war, als seien die Vermessungsstangen aus dem Boden gewachsen wie Weiden und der Aushubhügel eine natürliche Bodenerhebung.
Am Vortag hatte Sophie etwas abseits von der eigentlichen Grabungsstätte eine Übungsgrube abgesteckt und die Grasnarbe ausgestochen. Sie hatte Wurzeln und ein Stück ungewöhnlich sandiger, trockener Erde freigelegt und das Gebiet mit einer Harke geebnet, sodass die Übungsgrabung beginnen konnte. Der abgetragene Mutterboden war auf dem bereits vorhandenen Aushubhügel abgeladen worden. Alles war bereit, als Evelyn wie vereinbart um zehn Uhr erschien, in einer Cordhose und einem dicken alten Pullover. Sie wirkte wie eine übereifrige Schülerin, die es jedem recht machen will und ihrer Lehrerin förmlich an den Lippen hängt. Hattie erläuterte ihr das Vorgehen.
«Sollen wir dann mal anfangen?» Hattie wusste, wie viel Enthusiasmus Evelyn mitbrachte, aber die Frau könnte die Angelegenheit wirklich ernster nehmen, sich zum Beispiel Notizen machen. Hattie hatte ihr ziemlich genau erklärt, wie man eine Grabung dokumentierte, war sich jedoch nicht sicher, ob Evelyn alles aufgenommen hatte. «Wollen Sie es mal mit der Kelle versuchen, Evelyn? An einem Grabungsort wie diesem würden wir nicht alles durchsieben, vielleicht aber durchspülen, und zu jedem Fundstück muss die genaue Lage dokumentiert werden. Sie verstehen, wie wichtig das ist?»
«Ja, ja.»
«Und wir arbeiten uns vom Bekannten zum Unbekannten vor, gehen beim Abglätten also immer rückwärts vor. Schließlich wollen wir nicht auf Dinge treten, die wir bereits freigelegt haben.»
Evelyn schaute zu ihr hoch. «Ich arbeite vielleicht nicht an einer Doktorarbeit», sagte sie, «aber ganz blöd bin ich auch nicht. Ich habe außerdem zugehört.» Obwohl sie das leise und freundlich sagte, spürte Hattie, wie sie errötete. Ich kann nicht gut mit anderen Menschen umgehen, dachte sie. Nur mit Gegenständen und Theorien. Ich verstehe, wie die Vergangenheit funktioniert, aber nicht, wie man mit den Leuten in der Gegenwart auskommt.
Die ältere Frau ging in die Hocke und begann in einer Ecke behutsam mit der Kelle die oberste Erdschicht abzukratzen und sie in einen Eimer am Rand der Grube zu füllen.
Sie runzelte die Stirn wie ein Kind, das sich auf seine Hausaufgaben konzentriert. Während der nächsten halben Stunde hatte sie jedes Mal, wenn Hattie einen Blick zu ihr hinüberwarf, diesen Gesichtsausdruck. Hattie wollte gerade nachsehen, wie Evelyn vorangekommen war, als die ältere Frau nach ihr rief.
«Was ist das hier?»
Hattie richtete sich auf und ging zu ihr. Ein fester Gegenstand war zwischen der helleren, sandigen Erde und den Muschelsplittern zum Vorschein gekommen. Wider Willen war Hattie aufgeregt. Vielleicht handelte es sich um eine Tonscherbe. Importierte Töpferwaren würden dem Haus den Status verleihen, auf den sie hoffte. Sie hatten die Übungsgrube eigens abseits der ausgegrabenen Siedlung angelegt, damit die Laien nicht auf irgendwelche sensiblen Funde stießen. Aber vielleicht waren sie zufällig auf eine Abfallgrube gestoßen, vielleicht sogar auf einen Anbau des Hauses selbst. Hattie ging neben Evelyn in die Hocke, stieß die ältere Frau fast beiseite und wischte die Erde von dem freigelegten Gegenstand. Es handelte sich nicht um Keramik, auch wenn er die bräunlich rote Farbe von Ton aufwies. Knochen, erkannte sie. Zu Beginn ihres Studiums hatte sie angenommen, alte Knochen müssten weiß oder beige oder grau sein, und die kräftige Färbung hatte sie überrascht. Sie glaubte ein großes rundes Stück Knochen zu erkennen, auch wenn erst ein Bruchteil davon freigelegt war. Sie versuchte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Anfänger waren immer ganz begeistert von ihren ersten Funden. Auf Shetland fanden sich regelmäßig Bruchstücke von Knochen, meist Schafsknochen; nur einmal waren sie auf das Skelett eines Pferdes gestoßen, das fast vollständig erhalten geblieben war.
Sie begann Evelyn das zu erklären, ihr zu sagen, was die tierischen Überreste ihr über die Siedlung verraten konnten.
«Wir können ein Objekt nicht einfach ausgraben», erläuterte sie. «Wir müssen es im Zusammenhang erhalten, mit der Kelle weiterarbeiten, Schicht um Schicht. Das wird eine gute Übung sein. Ich überlasse es Ihnen und komme später wieder.» Sie dachte daran, wie unbehaglich sie selbst sich fühlen würde, wenn ihr jemand beim Graben über die Schulter schaute. Außerdem hatte sie genügend anderes zu tun.
Später gingen sie zu einer Pause ins Haus. Mima machte ihnen Brote und kam dann mit nach draußen, um sich anzusehen, was da vor sich ging. Als Evelyn sich in der Übungsgrube wieder an die Arbeit machte, stellte sich die alte Frau daneben und schaute ihr zu. Mima trug eine schwarze Hose aus knitterfreiem Stoff und Gummistiefel, die ihr um die Knie schlackerten. Um die Schultern hatte sie sich eine abgetragene graue Fleecejacke gehängt. Hattie fand, sie sähe aus wie eine Nebelkrähe, wie sie da stand und ihre Schwiegertochter bei der Arbeit beobachtete. Eine Nebelkrähe, die auf Nahrungsbröckchen lauerte.
«Na, Evelyn, weißt du eigentlich, wie du aussiehst?», rief Mima. «Auf allen vieren wie ein Tier! Bei diesem Licht könnte man dich für eins von Josephs Schweinen halten, das da in der Erde wühlt. Pass bloß auf, sonst schneidet er dir noch die Kehle durch und macht Schinken aus dir.» Sie lachte so laut, dass sie husten musste und nach Luft schnappte.
Evelyn erwiderte nichts. Sie richtete sich nur auf die Knie auf und funkelte Mima an. In diesem Moment tat sie Hattie richtig leid. Sie hatte nicht gewusst, dass Mima so gemein sein konnte. Hattie sprang zu Evelyn in den Graben. Der Knochen ragte inzwischen größtenteils aus der Erde. Hattie zog ihre eigene Kelle aus der Tasche ihrer Jeans. Hochkonzentriert trug sie noch mehr Erde ab, dann nahm sie einen Pinsel. Die Form des Knochens war jetzt deutlicher zu erkennen: eine anmutige Rundung, eine wohlgeformte Höhlung.
«Pars orbitalis», sagte sie. Vor Schreck und Aufregung vergaß sie ihren Vorsatz, nicht mit Fachbegriffen um sich zu werfen, sondern sich so auszudrücken, dass Evelyn sie verstehen konnte.
Evelyn sah sie an.
«Der Augenhöhlenteil des Stirnbeins», erklärte Hattie. «Das hier gehört zu einem menschlichen Schädel.»
«O nein!», stieß Mima hervor. Hattie blickte zu ihr auf und sah, dass sie kalkweiß geworden war. «Das kann nicht stimmen. Nein, nein, das kann nicht sein.»
Sie machte kehrt und lief hastig zurück ins Haus.
Sandy Wilson überquerte das Feld mit zögernden Schritten. Vor ein paar Wochen war der Schädel gefunden worden, und es war eine dieser dichten schwarzen Nächte, die im Frühling so oft vorkamen. Nicht kalt, aber über der Insel hing eine tiefe Wolkendecke, aus der es unablässig nieselte und die den Mond und die Sterne verdeckte, sie verschluckte sogar das Licht aus den Fenstern der Häuser hinter ihm. Er hatte keine Taschenlampe, aber die brauchte er auch nicht. Er war hier aufgewachsen. Auf einer Insel, die gut elf Kilometer lang und knapp fünf Kilometer breit war, kannte man mit zehn Jahren jeden einzelnen Quadratzentimeter. Diese innere Landkarte trug man bei sich, selbst wenn man fortging. Sandy lebte jetzt in der Stadt, in Lerwick, aber man hätte ihn irgendwo auf Whalsay mit verbundenen Augen absetzen können – nach ein paar Minuten wüsste er, wo er sich befand, einfach an der Art, wie sich der Boden unter seinen Füßen hob und senkte.
Er wusste, dass er zu viel getrunken hatte, beglückwünschte sich jedoch selbst dazu, dass er das Pier House Hotel noch rechtzeitig verlassen hatte. Seine Mutter war sicher aufgeblieben, um auf ihn zu warten. Noch ein paar Drinks, dann wäre er völlig besoffen gewesen. Und dann hätte er die alte Leier über Selbstbeherrschung zu hören bekommen und über Michael, seinen Bruder, der das Saufen aufgegeben hatte. Sandy überlegte, ob er auf dem Weg vielleicht bei seiner Großmutter vorbeischauen sollte, sie würde ihm eine Tasse starken schwarzen Kaffee machen, sodass er nüchtern zu Hause ankommen würde. Sie hatte ihn Anfang der Woche angerufen und ihn gebeten, doch mal in Setter vorbeizukommen, wenn er wieder auf Whalsay wäre. Mima störte sich nie daran, wenn er ein bisschen Schlagseite hatte. Sie selbst hatte ihm eines Morgens sein erstes Gläschen eingeschenkt, bevor er sich auf den Weg zur Schule machte. Es war ein frostiger Tag, und sie hatte gemeint, der Whisky wäre gut gegen die Kälte. Er hatte geprustet und sich verschluckt, als ob es die schlimmste Medizin wäre, aber seither hatte er Geschmack daran gefunden. Mima war wohl schon mit dem Geschmack daran auf die Welt gekommen, auch wenn man ihr die Wirkung nie anmerkte. Er hatte sie noch nie betrunken gesehen.
Das Feld fiel sanft zu dem Fahrweg ab, der zu Mimas kleinem Bauernhof führte. Plötzlich hörte er einen Schuss. Der Lärm schreckte ihn kurz auf, aber er machte sich weiter keine Gedanken. Sicher war Ronald mit seiner großen Taschenlampe auf Kaninchenjagd. Er hatte davon gesprochen, als Sandy sich das Baby angesehen hatte, und es war eine gute Nacht dafür. Im blendenden Licht der Lampe blieben die Kaninchen reglos wie Statuen sitzen, als warteten sie nur darauf, abgeschossen zu werden. Es war illegal, aber auf den Inseln herrschte eine solche Kaninchenplage, dass sich niemand darum scherte. Ronald war Sandys Cousin. Gewissermaßen. Sandy fing an, über den genauen Verwandtschaftsgrad nachzudenken, aber sein Familienstammbaum war kompliziert, und er war betrunken, also verlor er den Überblick und gab es auf. Auf dem restlichen Weg nach Setter war immer mal wieder das Geräusch einer Schrotflinte zu hören.
Die Straße machte eine Biegung, und wie erwartet sah Sandy noch Licht in Mimas Küchenfenster. Ihr Haus lag in den Hang gebettet, sodass man es erst entdeckte, wenn man schon fast da war. Vielen Inselbewohnern war es ganz recht, dass es so vor Blicken verborgen war, denn es war ein ziemlich schäbiger Hof, der Garten von Unkraut überwuchert, die Fensterrahmen unlackiert und halb verrottet. Evelyn, Sandys Mutter, schämte sich entsetzlich für den Zustand von Mimas Hof und lag seinem Vater deswegen regelmäßig in den Ohren. «Kannst du nicht mal hingehen und das Haus für sie in Schuss bringen?» Aber Mima wollte davon nichts hören. «Das wird mich noch überleben», sagte sie gleichmütig. «Mir gefällt es so, wie es ist. Mit dir auf dem Hof, das wäre mir zu viel Getue.» Und da Joseph mehr auf seine Mutter als auf seine Frau hörte, behielt Mima ihre Ruhe.
Setter war der geschützteste Hof auf der Insel. Der Archäologe, der letztes Jahr von einer Universität im Süden hergekommen war, sagte, auf diesem Land hätten schon seit Jahrtausenden Menschen gesiedelt. Er hatte gefragt, ob sie vielleicht auf einem Feld nahe beim Haus ein paar Gruben ausheben dürften. Ein Projekt für eine Doktorandin, hatte er erklärt. Eine seiner Studentinnen glaubte, dass es auf diesem Gelände eine Kaufmannssiedlung gegeben habe. Sie würden anschließend genau den Zustand wiederherstellen, in dem sie das Gelände vorgefunden hatten. Sandy nahm an, dass Mima es ihnen so oder so erlaubt hätte. Der Professor gefiel ihr. «Er ist ein gutaussehender Mann», hatte sie Sandy erzählt, mit funkelnden Augen. Da hatte er geahnt, wie sie als junges Mädchen gewesen sein musste. Draufgängerisch. Keck. Kein Wunder, dass die anderen Frauen auf der Insel sie mit Argwohn betrachteten.
Von dem Feld neben der Straße drang ein Geräusch herüber. Diesmal kein Schuss, sondern ein paar gedämpfte Laute, eine Art Reißen, dann Fußgetrappel. Sandy drehte sich um und sah die Silhouette einer Kuh nur wenige Schritte entfernt. Mima war der einzige Mensch auf der ganzen Insel, der noch von Hand molk. Die anderen hatten schon vor Jahrzehnten damit aufgehört, weil es zu viel Mühe machte und die Hygienevorschriften es einem untersagten, die Milch zu verkaufen. Aber es gab Leute, die die Rohmilch nach wie vor lieber mochten und Mimas Dach reparierten oder ihr eine Flasche Whisky zusteckten, wenn sie im Tausch dafür jeden Morgen einen Krug der gelben Flüssigkeit bekamen. Sandy war sich nicht sicher, ob sie auch so scharf darauf gewesen wären, wenn sie Mima mal beim Melken gesehen hätten. Als er sie das letzte Mal dabei beobachtet hatte, hatte sie sich die Nase mit demselben schmuddeligen Geschirrtuch geputzt, mit dem sie anschließend das Euter abwischte. Soweit er wusste, war davon aber auch noch niemand krank geworden. Er selbst war mit dem Zeug großgeworden, und es hatte ihm nicht geschadet. Sogar seine pingelige Mutter schöpfte den Rahm aus der Kanne und goss ihn sich als besondere Leckerei auf ihren Porridge.
Er schob die Küchentür auf und rechnete damit, Mima in ihrem Sessel am Ofenherd anzutreffen, die Katze auf dem Schoß, ein leeres Glas neben sich, während im Fernseher irgendein brutaler Film lief. Früh schlafen zu gehen war nie ihre Sache gewesen, sie schien überhaupt kaum Schlaf zu brauchen, und sie hegte eine Vorliebe für Gewaltszenen. Sie war die Einzige in seiner Familie, der seine Berufswahl gefallen hatte. «So was», hatte sie gesagt, «ein Polizist!» Der verträumte Ausdruck in ihren Augen verriet ihm, dass sie ohne jeden Zweifel an New York, an Schießereien und rasante Verfolgungsjagden dachte. Sie war nie weiter gekommen als zu einer Beerdigung nach Aberdeen, ihre einzige Fahrt in Richtung Süden. Ihre Bilder von der Welt stammten aus dem Fernsehen. Die Polizeiarbeit auf Shetland hatte damit nicht sehr viel zu tun, aber sie hörte sich trotzdem gern seine Geschichten an, und er übertrieb dann ein kleines bisschen, weil es sie so glücklich machte.
Der Fernseher lief auf voller Lautstärke. Mima wurde allmählich taub, auch wenn sie es nicht zugab. Aber die Katze lag allein im Sessel. Das große schwarze Tier war zu jedem außer seiner Besitzerin bösartig, eine Hexenkatze, hatte seine Mutter mal gesagt. Sandy drehte den Ton herunter, öffnete die Tür zu den übrigen Räumen und rief laut nach seiner Großmutter. «Mima! Ich bin’s!» Er wusste, dass sie nicht schlief. Niemals hätte sie das Licht und den Fernseher angelassen, außerdem teilte die Katze nicht nur den Sessel, sondern auch das Bett mit ihr. Mimas Mann war auf See verunglückt, als sie noch jung war. Gerüchteweise hieß es, sie hätte es als junge Witwe ganz schön bunt getrieben, aber seit er sie kannte, lebte sie allein.
Keine Antwort. Er fühlte sich plötzlich sehr viel weniger betrunken und ging weiter ins Haus hinein. Vom Flur gingen drei Türen zu den dahinterliegenden Zimmern ab. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor Mimas Schlafzimmer betreten zu haben. Sie war nie krank gewesen. Der quadratische Raum wurde fast ganz von einem wuchtigen Kleiderschrank aus dunklem Holz ausgefüllt und von einem Bett, das so hoch war, dass er sich fragte, wie Mima ohne einen Schemel überhaupt hineinkam. Auf dem Boden lag das gleiche dicke braune Linoleum wie in der Küche, darauf ein Schaffell als Bettvorleger, ehemals weiß, jetzt grau und ziemlich verfilzt. Die Vorhänge, ausgeblichen und schäbig, cremefarben mit einem Muster aus kleinen Rosen, waren nicht zugezogen. Auf dem Fensterbrett stand ein Foto von Mimas Mann. Er hatte einen dichten roten Bart, sehr blaue Augen, trug Ölzeug und Stiefel und erinnerte Sandy an seinen Vater. Das Bett war gemacht und mit einem Quilt aus gehäkelten Rechtecken bedeckt. Von Mima keine Spur.
Das Badezimmer war nachträglich an der Rückseite des Hauses angebaut worden, allerdings befand es sich dort schon, seit Sandy denken konnte. Badewanne und Spülbecken waren in einem unsäglichen Blau, aber auch hier bestand der Boden aus braunem Linoleum, teilweise von einem leuchtend blauen Hochflorteppich bedeckt. Es roch feucht und nach nassen Handtüchern. Eine riesige Spinne krabbelte um den Abfluss herum. Abgesehen davon war der Raum leer.
Sandy bemühte sich, rational zu denken. Aus seinen eigenen Ermittlungen wusste er, dass die Angehörigen immer unnötig in Panik gerieten, wenn jemand vermisst wurde. Er hatte sich oft über die ängstlichen Eltern oder Partner lustig gemacht, sobald er das Telefon aufgelegt hatte. Aber jetzt traf ihn schlagartig und unerwartet die Ungewissheit. Mima ging nie so spät aus dem Haus, nicht in letzter Zeit, außer wenn es ein Familientreffen bei seinen Eltern gab oder ein großes Inselereignis wie eine Hochzeit, und dann hätte jemand sie im Auto mitgenommen, und er wüsste davon. Sie hatte keine richtigen Freunde. Die meisten Leute auf Whalsay fürchteten sich etwas vor ihr. Er merkte, wie seine Gedankengänge entgleisten, und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Was würde Jimmy Perez in dieser Situation tun?
Mima sperrte abends immer ihre Hühner in den Stall. Vielleicht war sie hinausgegangen, gestolpert und gestürzt. Die Archäologen hatten auf einem Gelände nicht weit vom Haus ihre Gruben ausgehoben. Sie war nicht mehr die Jüngste, und möglicherweise merkte sie den Alkohol inzwischen doch. Auf dem abschüssigen Weg konnte sie leicht den Halt verloren haben.
Sandy ging zurück in die Küche und nahm eine Taschenlampe aus der Schublade unter dem Tisch. Sie lag dort seit der Zeit, als jedes Haus seinen eigenen Generator hatte, der nur für ein paar Stunden am Abend lief. Draußen spürte er die Kälte, den Dunst und den Nieselregen, schneidend nach der Ofenwärme im Haus. Es musste jetzt fast Mitternacht sein. Seine Mutter würde sich inzwischen fragen, wo er steckte. Er ging um das Haus herum zum Stall. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, reichte ihm das Licht, das aus dem Haus drang, zur Orientierung. Noch brauchte er die Taschenlampe nicht. Er hatte das Licht im Badezimmer angelassen, und das Fenster ging nach hinten hinaus. Die Hühner waren bereits eingesperrt. Er überprüfte den Riegel am hölzernen Hühnerstall und hörte, wie sie sich drinnen regten.
Am Morgen war das Wetter schön gewesen, und Mima hatte Wäsche gemacht. Die Wäscheleine war vom Haus in Richtung der Grabungsstätte gespannt. An der Nylonschnur hingen noch Handtücher und ein Laken. Sie baumelten leblos und schwer, wie die Segel eines Bootes bei Flaute. Die anderen Frauen auf der Insel nahmen die Wäsche ab, sobald das Wetter trüber wurde, aber Mima sparte sich die Mühe wahrscheinlich, wenn sie gerade beim Tee saß oder ein Buch las. Es war diese Unbekümmertheit, die manche ihrer Nachbarn so ärgerte. Was fiel ihr ein, sich nicht darum zu scheren, was die Leute von ihr dachten? Wie konnte sie nur einen so schlampigen Haushalt führen?
Sandy ging an der Wäsche vorbei zu der Stelle, wo die Studentinnen gearbeitet hatten. Ein paar Stangen, zwischen denen Schnur gespannt war, um die Grabungsfläche zu markieren oder zu vermessen. Ein Windschutz aus blauer Plastikplane über einem Metallgestänge. Ein Haufen ausgestochener Grasnarbe, ordentlich aufgeschichtet, ein weiterer mit Erdaushub. Zwei Gruben im rechten Winkel zueinander. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein, aber bis auf ein paar Wasserpfützen waren sie leer. Ihm ging durch den Kopf, dass das Ganze aussah wie ein Tatort in einem der Filme, die seine Großmutter so gerne sah.
«Mima!», rief er. Seine Stimme klang sehr dünn und hoch. Sie war ihm selbst fremd.
Er beschloss, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen, schaltete die Taschenlampe aus und machte sich auf den Weg zurück zum Haus. Von dort konnte er in Utra anrufen. Sicher wusste seine Mutter, wo Mima war; ihr entging nichts, was auf Whalsay geschah. Dann sah er, dass ein Mantel von der Wäscheleine gefallen war und zusammengeknittert im Gras lag. Er erkannte einen der Regenmäntel der Studentinnen und nahm an, Mima hätte ihnen angeboten, ihre verschlammten Sachen zu waschen. Erst wollte Sandy ihn liegen lassen – musste er nicht ohnehin erneut in die Waschmaschine? Aber dann bückte er sich doch danach, um ihn ins Haus zu bringen.
Da lag nicht nur ein Mantel. Da lag seine Großmutter, die in der gelben Jacke sehr klein aussah. Sie war kaum größer als eine Puppe, mit Armen und Beinen wie Stöckchen. Sandy berührte ihr Gesicht, das kalt und glatt wie Wachs war, tastete nach dem Puls. Er wusste, er sollte den Arzt rufen, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. Der Schock lähmte ihn, und er brauchte Zeit für die Erkenntnis, dass Mima tot war. Er blickte auf ihr Gesicht hinunter, das sich kreideweiß vom schlammigen Boden abhob. Das ist nicht Mima, dachte er. Das kann nicht sein. Es ist irgendein schrecklicher Irrtum. Aber natürlich war es seine Großmutter; er sah das schlechtsitzende Gebiss und das zerzauste weiße Haar, und ihm wurde übel. Mit einem Schlag war er ganz und gar nüchtern. Doch er traute seinem Urteil nicht. Er war Sandy Wilson, der immer alles falsch machte. Vielleicht hatte er nicht richtig nach dem Puls getastet, und in Wirklichkeit atmete sie, lebte.
Er hob sie auf die Arme, um sie ins Haus zu tragen, denn er brachte es nicht über sich, sie hier draußen in der Kälte zu lassen. Erst als er mit ihr in die Küche trat, sah er die Wunde an ihrem Bauch und das Blut.
Inspector Jimmy Perez traf mit der allerersten Fähre auf Whalsay ein. Er wartete schon auf dem Pier drüben in Laxo, der Anlegestelle im Westen des shetländischen Festlandes, als das Boot aus Symbister kam. Außer ihm stand dort niemand; so früh am Morgen verlief der Verkehr hauptsächlich in umgekehrter Richtung. Bewohner der kleineren Inseln fuhren zur Arbeit in die Stadt, und halb schlafende Teenager, die zu alt für die Whalsay Junior High waren, waren auf dem Weg zum Bus nach Lerwick. Perez beobachtete, wie sich die Fähre näherte, wartete, bis das halbe Dutzend Autos von Bord war und die Herde Schüler der Anderson High im Bus saß, der schon bereitstand und den Motor anließ. Billy Watt steuerte heute die Fähre. Die Besatzung bestand ausschließlich aus Männern von Whalsay, wie auf allen Fähren, die zwischen den beiden Inseln verkehrten. Billy winkte Perez ein, beobachtete, wie er langsam vorwärtsfuhr, bis seine Stoßstange nur noch eine Handbreit von der eisernen Rampe entfernt war, dann nickte er ihm freundlich zu. Whalsay galt als die Insel der Freundlichkeit und war dafür bekannt, dass die Leute sogar den vorbeifahrenden Autos auf der Straße zuwinkten. Als Billy zum Kassieren an Perez’ Wagen trat, fragte er nicht, was den Detective hierherführte. Das war auch nicht nötig, denn inzwischen hatte sich die Nachricht von Mima Wilsons Unfall auf Whalsay herumgesprochen.
Perez hatte mit Billy die letzte Klasse der Highschool besucht, er erinnerte sich an einen blassen, stillen Jungen, der in Französisch immer Klassenbester war. Der Inspector fragte sich, ob er seine Sprachbegabung jetzt bei den Inselbesuchern aus Übersee anwandte. Nicht dass Whalsay wirklich ein Ziel für Touristen gewesen wäre. Es gab keine Unterkünfte für sie, bis auf den Campingplatz für Studenten und Rucksacktouristen und ein einziges Hotel. Symbister war ein Arbeitshafen, und sieben der acht Boote für Hochseefischerei in Shetland liefen dort ein. Aus diesem Grund brauchten die Leute auf Whalsay keinen Tee auszuschenken und keine handgestrickten Handschuhe zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie pflegten Gastfreundschaft und Strickerei aus Tradition weiter, aber Geld verdienten sie damit nicht.
Sandys Anruf hatte Perez geweckt. Seine erste Reaktion war Angst gewesen, eine Angst, die rein gar nichts mit seiner Arbeit als Detective zu tun hatte. Seine Freundin Fran war über Ostern für ein paar Wochen in den Süden gefahren und hatte ihre Tochter Cassie mitgenommen. «Meine Familie hat Cassie seit Monaten nicht gesehen», hatte Fran gesagt. «Und ich will mal wieder all meine Freunde treffen. Wenn man hier lebt, verliert man so leicht den Kontakt.» Perez wusste, dass es albern war, aber in seinen Augen bedeutete London Gefahr. Während Fran also davon träumte, abends mit Freunden ins Theater zu gehen, während die vernarrten Großeltern das Babysitting der letzten Monate nachholen konnten, hatte er an Schießereien, Messerstechereien, Terrorismus gedacht.
Die Anspannung war offenbar selbst im Schlaf nicht von ihm abgefallen, denn das Geräusch des Telefons löste sofort Panik in ihm aus. Er hatte sich im Bett aufgesetzt und hastig nach dem Hörer gegriffen; sein Herz raste, und er war hellwach. «Ja?»
Und dann war Sandy Wilson am anderen Ende, niemand sonst bekam es fertig, so Unzusammenhängendes in den Hörer zu nuscheln, es ging um seine Familie, einen Unfall mit einer Schusswaffe und darum, dass seine Großmutter tot war. Perez hörte nur halbherzig zu, während ihn eine solche Erleichterung durchströmte, dass er sich bei einem Grinsen ertappte. Nicht weil eine alte Frau tot war, sondern weil Fran und Cassie nichts Furchtbares zugestoßen war. Er blickte auf die Uhr auf dem Nachttisch und stellte fest, dass es kurz vor drei war.
«Woher weißt du, dass es ein Unfall war?», unterbrach er Sandy schließlich.
«Mein Cousin Ronald war auf Kaninchenjagd, und die Sicht war ziemlich schlecht, da kann man sich ja ausrechnen, wie es dazu kam. Was sollte sonst passiert sein?» Eine Pause. «Ronald trinkt auch ganz gern mal ein Glas.»
«Und was sagt Ronald?»
«Er kann sich nicht vorstellen, wie es passiert sein soll. Er ist ein guter Schütze und habe nicht auf Mimas Grundstück geschossen.»
«Hatte er getrunken?»
«Er sagt, nein. Jedenfalls nicht viel.»
«Und was sagst du?»
«Ich kann mir nicht vorstellen, was sonst geschehen sein könnte.»
Auf der Fähre stieg Perez aus seinem Auto und ging nach oben in das geschlossene Deck. Er kaufte sich am Automaten einen Kaffee, setzte sich und sah durch die schmierige Scheiben zu, wie Whalsay aus dem Dämmer und dem Dunst auftauchte. Alles war in trübem Grün und Grau. Keine Farben, keine scharfen Konturen. Shetlandwetter, dachte Perez. Beim Näherkommen konnte er die Umrisse der Häuser auf den Hügeln ausmachen. Große, stattliche Häuser. Er war mit den Legenden über den Reichtum der Bevölkerung von Whalsay aufgewachsen, war sich aber nie sicher, wie viel davon stimmte: Auf den Shetland-Inseln gab es so viele Geschichten über vergrabene Schätze und von Trollen gehortetes Gold. Es hieß, dass sich einmal ein Schiffskapitän um die fälligen Steuern sorgte und sich gezwungen sah, Geld aus dem Kapital der Schiffereigesellschaft zu nehmen. Am Weihnachtsmorgen wurde seine Mannschaft auf dem Kai zusammengerufen, und jeder fand einen brandneuen Range Rover mit seinem Namen darauf vor. Perez konnte sich zwar nicht entsinnen, jemals einen der Männer auf Whalsay in einem Range Rover gesehen zu haben, und im Übrigen wurden die Boote genossenschaftlich betrieben, aber es war trotzdem eine gute Geschichte.
Sandy erwartete ihn am Kai, in seinem eigenen Wagen. Noch bevor die Fähre angelegt hatte, sah Perez ihn aussteigen. Die Hände in den Taschen, die Kapuze zum Schutz gegen die Feuchtigkeit übergezogen, stand er dort, bis Perez an Land gefahren war. Dann setzte sich Sandy in Bewegung und stieg zu ihm ins Auto auf den Beifahrersitz. Perez sah ihm an, dass er nicht geschlafen hatte.
«Das mit deiner Großmutter tut mir leid.»
Für einen Moment zeigte Sandy keine Reaktion, dann lächelte er bitter. «So hätte sie wohl gehen wollen», sagte er. «Sie hatte immer einen Hang zur Dramatik. Sie hätte nicht in irgendeinem Altenheim sanft entschlafen wollen.» Er schwieg kurz.«Und sie würde nicht wollen, dass Ronald ihretwegen Schwierigkeiten bekommt.»
«Leider», entgegnete Perez, «liegt diese Entscheidung nicht bei ihr.»
«Ich wusste nicht, was ich tun sollte.» Sandy wusste selten, was zu tun war, aber normalerweise gab er es nicht zu. «Ich meine, hätte ich ihn verhaften sollen? Er hat doch bestimmt irgendein Verbrechen begangen, nicht wahr? Selbst wenn es ein Unfall war. Unverantwortlicher Schusswaffengebrauch.»
Und meine auch nichtDas liegt bei der Staatsanwältin.