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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-95515-7

© Auszüge aus »Das Buch von Ascalon« mit freundlicher Genehmigung von Bastei Lübbe, Köln

© 2011 by Michael Peinkofer und Bastei Lübbe

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2012

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Umschlagabbildung: Alan Lathwell

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Vorwort

Das ultimative Abenteuer

»Wie sind Sie Autor geworden?«

»Woher nehmen Sie Ihre Inspiration?«

»Was muss man beachten, wenn man einen Verlag sucht?«

»Welche Tipps können Sie mir geben?«

Oft erreichen mich Zuschriften, in denen Fragen wie diese gestellt werden, und es vergeht kaum eine Lesung, in der ich nicht nach solchen Dingen gefragt werde. Das freut mich wirklich sehr, denn es zeigt, wie viel Inspiration vom phantastischen Genre ausgeht. Mehr noch als andere Leser scheinen Phantastik-Fans vor eigenen Ideen und Neugier regelrecht zu sprühen, und immer mehr von ihnen genügt es nicht, immer die Bücher anderer zu lesen – sie wollen selbst schreiben.

Für Autoren wie mich ist das eine schmeichelhafte Angelegenheit, denn letztlich bedeutet es ja nichts anderes, als dass wir andere Menschen durch unsere Arbeit dazu bewegen, selbst kreativ zu werden – und dieser Funke, diese Inspiration, die am Anfang eines jeden Romans steht, ist für mich immer wieder faszinierend. Wie kann es geschehen, dass etwas, das am Anfang nur ein Bild gewesen ist, allenfalls eine ungefähre Vorstellung, später zu etwas wird, das nicht nur eine zusammenhängende Geschichte abbildet, sondern auch zur Identifikation einlädt, zum Mitfiebern, zu einer Reise in Welten, die nie ein Mensch zuvor … ihr wisst schon.

Dieser Prozess, in dem aus einer zunächst noch vagen Idee ein konkretes Kunstwerk wird – wobei ich den Begriff »Kunst« hier nicht wertend meine, sondern nach seiner ursprünglichen Bedeutung einfach als etwas, das vorher noch nicht da war und künstlich geschaffen wurde – ist wirklich ziemlich magisch, sodass dieses Buch seinen Titel zu Recht trägt. Es geht nämlich um nicht mehr und nicht weniger als darum, selbst zum Zauberer zu werden, der kraft seiner Begabung und der ihm innewohnenden Freude am Erzählen aus anfangs noch weitgehend zusammenhanglosen Einfällen eine geschlossene Geschichte erschafft, ein Abenteuer, das von fernen Zeiten und exotischen Welten handelt und – im Idealfall – von Hunderten oder gar Tausenden Menschen gelesen wird.

Über diesen Vorgang zu sprechen, macht immer Freude, aber natürlich kann der Zeitrahmen einer Lesung niemals ausreichen, um genau zu erklären, wie man zum Schreiben kommt, wie man eine Geschichte schmiedet und glaubwürdige Charaktere formt. Oder welche Dinge Nachwuchsautoren beachten sollten, wenn sie sich auf die Suche nach einem Verlag oder Agenten begeben. Denn davon gibt es eine ganze Menge, und nicht alle von ihnen arbeiten seriös und zuverlässig, wie noch zu zeigen sein wird. Und so ist im Lauf der Zeit die Idee zu diesem Buch entstanden.

Natürlich kann kein Autorenhandbuch – auch dieses nicht – eine Garantie dafür liefern, dass man bei Befolgung aller Vorschläge einen Verlag findet und einen Bestseller landet. Aber es kann helfen, in die richtige Richtung zu gehen und häufige Fehler von vornherein zu vermeiden. Und natürlich kann ich auch keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben, sondern nur von meinen Erfahrungen auf dem weiten Feld des Schreibens berichten, das ich nun seit fast zwanzig Jahren beackere.

Bei Licht betrachtet, ähnelt die Rolle des Autors jener des Fantasy-Helden, so wie der kreative Prozess mit all seinen Herausforderungen, seinen Widrigkeiten und Triumphen, auf manche Art der klassischen Queste gleicht, in der ein einsamer Held aus seinem gewohnten Umfeld gerissen wird und sich auf die Suche nach einem magischen Gegenstand begibt, den er nach langer Reise zu ­finden hofft. Beide, Autor und Fantasy-Held, begeben sich auf neues, ungewohntes Terrain; beide lassen sich auf ein Abenteuer ein, dessen Ende noch gar nicht absehbar ist; beide rüsten sich mit (mehr oder weniger) magischen Waffen, um den Herausforderungen des Weges zu begegnen; beide treffen unterwegs Verbündete, deren Eigenschaften sie sich zunutze machen können, aber auch auf Gegner, die ihre Pläne zu vereiteln suchen; und beide haben deutlich ein Ziel vor Augen, das sie erreichen wollen, auch wenn es bisweilen unendlich weit entfernt scheint.

In diesem Sinne lade ich euch, liebe Leserinnen und Leser, liebe Kollegen in spe (und erlaubt mir, dass ich euch als solche duze) ein, mir auf eine Reise zu folgen, die der eines meiner Romanhelden ähnelt (Granock heißt er, vielleicht kennt ihn der eine oder die andere) und die doch ganz eure eigene ist. Natürlich weiß ich nicht, was ihr daraus machen werdet, aber das wusste der Zauberer Farawyn auch nicht, als er seinen Schüler in die Geheimnisse der Magie einweihte. Welche Entscheidungen ihr trefft, ist ganz und gar euch überlassen. Es ist ein wenig wie in den Mitmach-Büchern, in denen der Leser selbst entscheiden darf, wie die Reise des Helden weitergeht. Das Schreiben ist nun das ultimative Mitmach-Abenteuer, die größte Pen and Paper-Queste aller Zeiten, denn niemand legt irgendwelche Vorgaben fest – niemand außer dir selbst. Und so unterschiedlich die Entscheidungen sind, die du triffst, so sehr unterscheiden sich auch deine Geschichten.

Ähnlich wie für die Helden der Fantasy geht es auch für Autoren letztlich stets darum, sich selbst zu erforschen, die eigene Vergangenheit, und aus ihr die Kraft und Inspiration zu beziehen, Neues zu formen.

In diesem Sinne können wir die Taue lösen, ablegen und uns auf die Reise begeben – seid ihr dabei?

Prolog

Granock verharrte in seiner Bewegung.

Es war, als hätte der Rachen eines Untiers den Stollen und alles, was sich darin befand, verschlungen. Schlagartig war es finster geworden, schwärzer als selbst in den dunkelsten Gassen Andarils. Und Granock wusste aus unheilvoller Erfahrung, wie finster es in mondlosen Nächten in Andarils Gassen werden konnte.

Die Hand des Zauberers schloss sich um den flasfyn in seiner Hand, und er versuchte, dem Elfenkristall am oberen Ende des Stabes ein wenig Licht zu entlocken.

Vergeblich.

Die Schwärze, in die der Stollen plötzlich gefallen war, war so abgrundtief und endlos, dass sie selbst die Dunkelheit verschluckt zu haben schien. Und sie war von solcher Bosheit und zerstörerischer Macht durchdrungen, dass sie jeden Zauber, jede Art von lichter Magie unterband. Was auch immer Granock am Ende dieses Stollens vorfand, er würde ihm so gegenübertreten müssen, wie er war.

Allein.

Unbewaffnet.

Seiner Fähigkeiten beraubt.

Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, tastete sich der Zauberer vorsichtig weiter, einen Fuß vor den anderen setzend wie ein Traumwandler – gleichwohl wie einer, der einen grässlichen Albdruck durchlebte.

Die Schreie seiner beiden Gefährten, die ihn den schmalen Bergpfad herauf und bis zum Eingang des Stollens geführt hatten, klangen ihm noch im Ohr. Es war schnell gegangen, so schnell, dass er nichts dagegen hatte unternehmen können. Selbst seine Fähigkeit, den Fortgang der Zeit für einige Augenblicke aufzuhalten, hatte versagt angesichts der ungeheuren Gewandtheit, mit der die Kreatur zugeschlagen hatte. Woher sie gekommen war, wusste Granock noch immer nicht zu sagen. Ein grauer Schemen, mörderische Fänge, der übel erregende Geruch des Todes – das war alles, was er wahrgenommen hatte. Dazu jenes grässliche Geschrei, das er nicht mehr vergessen konnte und das ihn selbst in der absoluten Stille, die in der Finsternis herrschte, noch verfolgte.

Seine linke Hand, die er tastend ausgestreckt hatte, stieß plötzlich auf ein Hindernis. Es war kalt und von rauer Beschaffenheit, Felsgestein, das jedoch behauen worden war. Granocks Verdacht, es nicht mit einer natürlichen Höhle, sondern einem alten, vor langer Zeit verlassenen Mine zu tun zu haben, erhärtete sich. Es gehörte zur Natur der Zwerge, ihre Bergwerksstollen durch die Felsen und Klüfte des Scharfgebirges zu treiben, stets auf der Suche nach wertvollen Metallen und funkelndem Gestein. Und es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie zu tief gegraben hatten …

Granock schloss die Augen, versuchte sich ein Bild von dem zu machen, was seine Hand in der Finsternis befühlte.

Leere Augenhöhlen … grässliche Hauer in den Winkeln eines weit aufgerissenen Mauls. Eine steinerne Fratze, fraglos in den Stein gemeißelt, um unvorsichtige Besucher vor dem Betreten dieses Stollens zu warnen.

Ein verwegenes Grinsen huschte über Granocks Gesicht.

Die Warnung kam zu spät.

Vorsichtig schlich er weiter, als er mit dem Fuß gegen ein Hindernis stieß. Ein kaltes, trockenes Klappern erklang und zerriss die Stille im Stollen. Granock stieß eine halblaute Verwünschung aus. Er kannte jenes Geräusch nur zu gut – es war das Klappern von Knochen, die den Stollenboden übersäten.

Offenbar war er nicht der Einzige, der die Warnung der Zwerge in den Wind geschlagen hatte …

Es war derselbe Moment, in dem er das Knurren hörte.

Die Kreatur war hier.

Ganz nah …

Stop.

Die Luft im Zimmer ist stickig geworden, ich muss das Fenster öffnen. Wieder zurück in unsere Welt kommen. Und dann eine Tasse Tee, während ich darüber nachdenke, wie der Kampf zwischen Granock und dem – ja, wem eigentlich? – weitergehen soll.

Worauf wird der aus Shakara verbannte Zauberer in jenem alten Zwergenstollen stoßen? Was treibt er überhaupt dort? Wer waren die Gefährten, von denen die Rede war und die am Eingang des Stollens offenbar ein ziemlich unangenehmes Ende ereilt hat?

Fragen über Fragen, die an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden können. Jedenfalls nicht von mir. Denn in diesem Buch, diesem Handbuch für kreative Zauberer, geht es nicht in erster Linie um die Weisen von Shakara, auch wenn sie immer wieder auftauchen und sich freundlicherweise (und ohne Honorar) bereit erklärten, als Anschauungsobjekte zur Verfügung zu stehen, sondern um euch; um all jene, die die schöpferische Ader in sich spüren. Die noch davon träumen oder es bereits ganz fest vorhaben, selbst zum Stift bzw. zur Tastatur zu greifen, ihre eigene Fantasy-Story zu ersinnen und so zum Zauberer zu werden, zum Magier der Worte in einem Reich der Phantasie.

Seid ihr bereit, euch der Herausforderung zu stellen?

Ein wenig warnen möchte ich schon. Es erfordert Mut, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt eine gute Portion Begabung, aus einem einzelnen Gedanken eine komplexe Welt und aus einer einfachen Idee einen ganzen Roman zu formen – genau jene Eigenschaften also, die auch die Protagonisten der Geschichten auszeichnen, die wir alle so gerne lesen.

Ihr seid noch an Bord? Dann folgen wir ihnen also auf ihren abenteuerlichen Spuren.

Erstes Buch

EIN HELD WIRD GEBOREN

1

Brei mit Holzgehalt

In diesem Buch soll es nicht darum gehen, warum ich den armen Granock in diese prekäre, ja beinahe aussichtslose Situation geschickt habe (und nicht nur in diese, er verübelt mir das immer noch) – sondern wie du die Geschichte weiterspinnen würdest: Was lauert dort in der Dunkelheit? Wird es unserem Helden gelingen, die Kreatur zu besiegen? Und wenn ja, auf welche Weise? Und was erwartet ihn am Ende des Stollens? Welches Geheimnis hütet der Berg? Gilt es einen Schatz zu entdecken, verborgenes Wissen oder etwas ganz anderes?

In den Antworten auf diese Fragen verbirgt sich nicht nur der Fortgang dieser einen Geschichte, sondern, im übertragenen Sinn, das Gesetz eines ganzen Genres. Denn genau um diese Dinge geht es in der Fantasy: Um mystische Kreaturen, um das Entschlüsseln alter Rätsel, das Erkunden unbekannten Terrains und den Kampf gegen dunkle Mächte – mit anderen Worten genau jene Themen, die die Menschheit seit Anbeginn ihrer Geschichte beschäftigt und gefesselt haben.

Wie alt aber ist das Genre der Fantasy? Wo kommt es eigentlich her, doch nicht aus Hollywood? Oder gar aus Neuseeland? Und wieso ist es wichtig, dies als angehender Autor zu wissen? Die Antwort ist dieselbe, die wohl auch Farawyn seinem unentwegt Fragen stellenden Schüler Granock gegeben hätte: Weil es hilft, seine Wurzeln zu kennen.

Fantasy-Helden wissen oftmals nicht, wer sie in Wahrheit sind oder woher sie kommen, was nicht selten die Ursache dafür ist, dass sie Hals über Kopf in ein Abenteuer verwickelt werden und in tödliche Gefahr geraten – etwa wie die Elfin Alannah in DIE RÜCKKEHR DER ORKS, deren Gedächtnis durch einen Zauber gelöscht wurde und die erst ganz allmählich hinter das Geheimnis ihrer Herkunft kommt. Als Autoren sind wir glücklicherweise durchaus in der Lage, zumindest unsere literarischen Wurzeln nachzuvollziehen und uns zu vergegenwärtigen, wo unsere kreativen wie inhaltlichen Ursprünge liegen – umso leichter ist es dann, dem Vorausgegangenen Neues hinzuzufügen.

Die Wurzeln der modernen Fantasy liegen, das wird niemanden überraschen, in den Mythen der Vergangenheit. Nicht nur, was das Figurenpersonal betrifft – Elfen, Zwerge, Drachen und sogar Orks begegnen uns in zahlreichen keltischen und nordischen Mythen, welche hauptsächlich als Vorbilder dienen, zumindest solange wir uns im Genre der High Fantasy bewegen; auch die oft vorzufindende Suche des Helden nach einem magischen oder zumindest mächtigen Gegenstand, die Queste, steht im Mittelpunkt vieler bekannter Mythen – denken wir nur an die Gralssuche des Parzival oder die vielen Helden des klassisch griechischen Sagenkreises, die sich auf die Reise begeben, wie etwa Jason, der zusammen mit den Argonauten das Goldene Vlies im Lande Kolchis an sich bringen will, oder Herakles, der sich übermenschlichen Prüfungen stellen muss, um seine Zugehörigkeit zum Olymp unter Beweis zu stellen.

Überall begegnen sie uns, die Helden klassischen Zuschnitts, die aus ihrem herkömmlichen Umfeld treten (oder auch nicht selten getreten werden) und sich einer neuen, größeren Aufgabe stellen müssen, an deren Ende nicht nur die Erfüllung ihrer Mission und der Triumph über den Gegner, sondern auch die eigene Erneuerung steht. Das klingt jetzt etwas überhöht, aber was ich meine, ist: der Held ist nach seinem Abenteuer nicht mehr der gleiche wie zuvor.

Der amerikanische Mythenforscher Joseph Campbell hat diese legendäre »Reise des Helden« zum Gegenstand seiner Forschungen erhoben und anhand struktureller wie inhaltlicher Vergleiche zahlreiche Übereinstimmungen in den Mythen dieser Welt gefunden. Seine Schriften haben nicht nur George Lucas maßgeblich beeinflusst, als dieser in den frühen 70er-Jahren über dem Drehbuch zu einem unbedeutenden kleinen Film brütete, der später den Namen STAR WARS erhalten sollte, sondern sind, nicht zuletzt dank der Arbeit Christopher Voglers, der Campbells Forschungen auf die Praxis des Dreh­buchschreibens bezogen und damit ein Standardwerk geschaffen hat, bis heute gängige Arbeitsgrundlage vieler Autoren. Letztendlich waren es aber die Mythen der Menschheit, die diese Regeln klassischen Erzählens hervorgebracht und über Jahrtausende hinweg geformt haben.

Wenn diese Geschichten jedoch offenbar überall auf der Welt, unabhängig von unserem politischen, kulturellen oder religiösen Hintergrund, als ansprechend empfunden werden, muss dies bedeuten, dass es eine Art ­kollektive Lust aufs Abenteuer gibt, ein gemeinsames Schicksal, an das wir Menschen gebunden sind und das dafür sorgt, dass wir gar nicht anders können, als uns mit jenen zu identifizieren, die den schützenden heimischen Hort verlassen und sich auf die Suche nach dem Feuer, dem Fortschritt zu begeben. Genau diese Mythen sind es, aus denen sich die Fantasy als der moderne Nachfolger jener alten Geschichten, jener Sagen und Märchen nährt, und das ist auch der Grund dafür, warum sie stärker als jedes andere Genre auf diese Archetypen des Erzählens Bezug nimmt.

Wer Fantasy schreibt, begibt sich also an diese Quelle der Inspiration, zum Urgrund all dessen, weswegen Menschen jemals Geschichten erzählt haben. Denn obwohl es oftmals um Magie und übernatürliche Dinge gehen mag, obschon die Abenteuer unserer Helden in fernen Ländern, zauberischen Welten oder in grauer Vorzeit spielen, und obwohl diese Welten von Kreaturen bevölkert sind, die es in der wirklichen Welt nicht gibt, geht es letzten Endes stets um tief greifende menschliche Erfahrungen – um Liebe und Hass, Sünde und Sühne, Tod und Erneuerung. DER HERR DER RINGE ist nicht deshalb ein Meisterwerk, weil er in einer fernen, dem Hier und Jetzt entrückten Welt angesiedelt ist, sondern weil es ihm gelingt, Mittelerde zu einem Ort zeitloser Relevanz zu machen, an dem Dinge geschehen, die für uns alle nachvollziehbar sind. Und HARRY POTTER war nicht deshalb ein solcher Erfolg, weil die Handlung so umwerfend neu gewesen wäre, sondern weil es J.K. Rowling gelang, die grundlegenden Erfahrungen des Erwachsenwerdens mit einer Portion Magie zu versehen und das Ganze auch noch spannend zu erzählen.

Insofern ist auch der Vorwurf des Eskapismus, der der Fantasy vonseiten »seriöser« Kritiker oftmals gemacht wird – also der Wirklichkeitsflucht in fiktive Welten –, nicht so einfach zu halten. Indem sie das Phantastische dazu nutzt, ihre Protagonisten auf eine Reise mensch­licher Grunderfahrungen zu schicken, handelt die Fantasy allen Unkenrufen zum Trotz von sehr realen Dingen. Ähnlich wie im verwandten Genre der Science Fiction, wo ein erdachtes Szenario genutzt wird, um bestehende technische, wissenschaftliche oder gesellschaftliche Verhältnisse weiterzudenken und dadurch nicht selten als Irrweg zu entlarven, nutzt die Fantasy das Phantastische, um die menschlichen Eigenschaften ihrer Helden nur um­so deutlicher und unverfälschter herauszustellen. Ein Held, der gegen einen Feuer speienden Drachen antritt, führt den alten Überlebenskampf der Menschheit gegen die zerstörerischen Kräfte der Natur; und wenn Luke Skywalker am Ende von DAS IMPERIUM SCHLÄGT ZURÜCK Darth Vader zum Lichtschwert-Duell gegenübertritt, stellt er sich damit letztlich seinen ureigensten Ängsten.

Darüber hinaus bietet gerade das phantastische Element natürlich auch die Möglichkeit, aktuelle Zeitgeschehnisse auf geschickte Weise zu kommentieren – schon der griechische Dichter Aesop hat das getan, indem er in seinen Fabeln Tiere sprechen ließ und auf diese Weise die Mächtigen kritisierte. Während eines Aufenthalts in den Niederlanden, wo ich die holländische Ausgabe von DIE ZAUBERER vorstellte, wurde ich beispielsweise wiederholt gefragt, ob der doch recht bürokratisch und schwerfällig agierende Rat der Zauberer von Shakara eine Anspielung auf die Europäische Union und das Europäische Parla­ment seien; ich musste dies zwar verneinen, da ich mir tatsächlich mehr das glücklose Parlament der Wei­marer Republik zum Vorbild genommen hatte, jedoch wird deutlich, dass die Fantasy durchaus das Potenzial zur zeitgeschichtlichen Anspielung und sogar zum kri­tischen Kommentar hat. Auch unter diesem Aspekt birgt sie so mehr innere Wahrheit als so manches andere als »realistisch« gerühmte Genre.

Dies wussten – natürlich – auch die Schriftsteller der Romantik mit ihrer Schwäche für alles Mittelalterliche und Mystische. Mehr und mehr bezogen sie das Phantastische in ihre Erzählungen ein und leisteten damit einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der modernen Fantasy. Auch der große J.R.R. Tolkien, der DER HERR DER RINGE schrieb und damit zumindest das Genre der High Fantasy begründet hat, war letztlich auf der Suche nach einer Art mythischem Realismus, wie David Day in seinem Buch TOLKIENS WELT einleuchtend analysiert: Tolkien, der bekanntlich Professor für angelsächsische Literatur in Oxford gewesen ist, ging es darum, eine Art »Urmythos« zu schaffen, also eine Sage, die aus vorgeschichtlicher Zeit stammen und aus der sich alle anderen Mythen des keltischen bzw. nordischen Kulturkreises entwickelt haben könnten. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat er viele der verwendeten Motive und Namen (übrigens auch die Orks, die als orcneas in der BEOWULF-Sage auftauchen) aus alten Sagen übernommen und sie in einen neuen inhaltlichen Zusammenhang gebracht. Und nicht von ungefähr war er enttäuscht darüber, dass manche Leser Mittelerde in einer anderen Dimension oder gar auf einem anderen Planeten verorteten, ist Tolkiens Welt doch eine deutliche geografische Metapher auf die europäische Kulturgeschichte.

Tolkien konnte natürlich nicht ahnen, dass sein litera­risches Werk am Anfang einer im wahrsten Wortsinn sagenhaften Erfolgsgeschichte stehen und nachfolgende (Autoren-)Generationen nicht weniger inspirieren sollte als das Nibelungenlied oder die Artussage. Aber genau das ist geschehen – und wer in Sachen Fantasy tätig ist und behauptet, von Tolkiens Werk in keiner Weise beeinflusst zu sein, der ist wohl nicht ganz aufrichtig. Denn ganz gleich, ob man DER HERR DER RINGE liebt oder hasst, ob man es schon beim ersten Mal geschafft hat, sich durch die gewissen Längen des ersten Bandes zu wühlen oder ob man (wie ich) dafür drei Anläufe gebraucht hat; ob man wie mein geschätzter Autorenkollege Helmut Pesch fließend Elbisch spricht oder lediglich die Filme von Peter Jackson im Kino gesehen hat – wer Mittelerde einmal besucht hat, den lässt der Reiz dieser fiktiven und dennoch so wirklich anmutenden Welt so bald nicht wieder los.

Zahllose Autoren der 70er- und 80er-Jahre wurden maßgeblich davon inspiriert, die wiederum die heutigen Schriftsteller beeinflusst haben. In besonderem Maße gilt dies natürlich für die größtenteils aus unseren Breiten stammende (inoffizielle) Reihe der »Völker«-Romane, die einst mit Markus Heitz’ DIE ZWERGE begann und zu der ich mit der ZAUBERER-Trilogie und den ORKS ebenfalls ein paar illustre Gestalten beisteuern durfte.

Doch obwohl es sich hier einmal mehr um das klassische Figurenpersonal der High Fantasy handelt, hat jeder Autor seine eigene Perspektive auf die Charaktere ent­wickelt und ein eigenständiges Universum vorgelegt, was letztlich auch die Wandlungsfähigkeit und Flexibilität des Genres zeigt. Auf einer Lesung von DIE ZAUBERER musste ich mir von einem Zuhörer, der persönlich weniger mit Fantasy anfangen konnte und seiner Tochter zuliebe gekommen war, den Vorwurf gefallen lassen, in der Fantasy ginge es doch stets um dieselben Dinge und Themen. Ich fragte ihn daraufhin, welches Genre er denn bevorzuge, und er sagte mir, dass er am liebsten Krimis lese – worauf ich fragte, ob es nicht dort so sei, dass jemand ins Jenseits befördert würde und ein mehr oder minder gewitzter Kriminaler dann herauszufinden versuche, wer der Mörder gewesen sei.

Klar ist: Jedes Genre hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten und Regeln, nach denen gespielt wird. Rainer Delfs, der langjährige Cheflektor der Abteilung Spannungsromane bei Bastei Lübbe, pflegte stets zu sagen, dass Menschen, die ein Fußballspiel besuchen, zweiundzwanzig Spieler und einen Ball sehen wollen. Nicht mehr und nicht weniger. Was lernen wir daraus? Man muss das Rad nicht stets neu erfinden, um einen wirklich guten und spannenden Fantasy-Roman zu schreiben – die Kunst liegt darin, die bekannten Zutaten auf eigene Weise und mit neuen Elementen zu verknüpfen und dadurch bislang unbekannte Welten entstehen zu lassen, die den Leser in ihren Bann ziehen.

Gerade die Tatsache, dass die Fantasy sich nicht an realhistorische Ereignisse zu halten braucht und ihren eigenen Kosmos erschaffen kann, öffnet sie für alle möglichen Einflüsse, ob sie nun aus verwandten Genres wie Science Fiction, Horror oder Mystery kommen oder aus ganz anderen. Den Kombinationsmöglichkeiten sind kaum Grenzen gesetzt, gerade die auf den ersten Blick abwegigsten Mischungen erfreuen sich besonderer Beliebtheit. Wer hätte z.B. geglaubt, dass eine Mischung aus eher konventioneller Fantasy und Internatsabenteuer à la Enid ­Blyton zur erfolgreichsten Romanserie aller Zeiten avancieren könnte? Oder wer hätte vor TWILIGHT etwas auf einen Mix aus Teenager-Romanze und Vampir-Horror gegeben?

Die Idee, verschiedene Einflüsse zu mischen, ist freilich nicht neu. Schon in den frühen Tagen der Fantasy, als Pioniere wie E.R. Burroughs das Genre aus der Taufe hoben, versetzten sie ihre Geschichten mit Elementen nicht nur von Wildwest- und Abenteuergeschichten, sondern auch des im späten 19.Jahrhundert so beliebten Reiseromans – etwa, wenn eine Dschungelexpedition im dunkelsten Afrika auf Tarzan den Affenmenschen stößt oder es den Bürgerkriegsveteranen John Carter auf den fernen Mars verschlägt, wo er auf sechsbeinigen Tieren reiten und gegen weiße Affen kämpfen muss.

Gedruckt wurden diese Geschichten seinerzeit auf billigstem Papier, das aus einer breiigen Masse mit hohem Holzgehalt gewonnen wurde. Diese Masse nannte man in den USA »Pulp«, und sie war es auch, die dieser Art von Literatur ihren Namen gab. Die Pulps – in unseren Breiten gerne auch kaum charmanter Schund- oder Groschenheft genannt – erfreuten sich in den ersten vier Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts, vor allem aber in den Jahren der Weltwirtschaftskrise größter Beliebtheit. Obwohl die thematische Bandbreite weitgefächert war und es neben Crime- und Wildwestgeschichten auch Detektivstorys, Piraten- und Dschungelabenteuer, Spionagegeschichten, Sporterzählungen und noch vieles andere gab, war es vor allem das phantastische Genre, das durch die Pulp-Magazine zu Ruhm gelangte und ihnen entsprechend viel zu verdanken hat.

Obwohl viele Pulphelden von einst längst vergessen sind, bevölkern einige von ihnen bis heute die Medienlandschaft, an vorderster Stelle natürlich Robert E. Howards CONAN, der zum Urgestein einer weiteren Spielart des Genres wurde, nämlich der Heroic Fantasy. Darin kämpfen sich schwertschwingende Barbaren durch archaische Welten und bekommen es mit wüsten Monstren, bösen Zauberern und betörend schönen Frauen zu tun, die ihnen reihenweise zu Füßen liegen – nach der politischen Korrektheit solcher Geschichten fragen wir an dieser Stelle nicht. Die enorme Popularität seines Helden, der erst unlängst wieder zu Leinwandehren gelangte, diesmal sogar in 3-D, hat Robert E. Howard nicht mehr miterlebt – die wirklich große Zeit seines Barbaren begann erst, als der New Yorker Verlag Lancer die Geschichten in den 60er-Jahren in Buchform auflegte und ein damals noch weitgehend unbekannter Künstler namens Frank Frazetta die Titelbilder beisteuerte. Bis heute ist der Stil, den Frazettas Cover prägten, für viele Fans untrennbar mit CONAN und der heroischen Fantasy verbunden, und man übertreibt sicher nicht, wenn man Lancer das Verdienst zukommen lässt, den modernen Fantasy-Roman aus der Taufe gehoben zu haben. Die Bilder des im Jahr 2010 verstorbenen Frazetta zeigten genau das, wovon Howards Romane handelten – kraftstrotzende Helden, schöne Frauen und miese Monster –, und sie entführten den Leser auch visuell in eine Welt, die so nie existiert hat und dennoch auf einmal greifbar schien. Fortan war die Gestaltung des Covers nicht mehr nur Nebensache, sondern wichtiger Bestandteil eines jeden Fantasy-Romans.

Weitere Pioniere, die dem Genre in seiner Anfangszeit zur Blüte verhalfen, sind Eric R. Eddison, dessen 1922 erschienenes Werk DER WURM OUROBOROS sogar dem großen Meister Tolkien als Vorbild gedient haben soll; Fritz Leiber mit dem Geschichtenkreis FAFHRD UND DER GRAUE MAUSLING, der die beiden ersten Antihelden des Genres präsentierte (Balbok und Rammar verneigen sich), und natürlich C.S. Lewis, der langjährige Weggefährte Tolkiens, dessen CHRONIKEN VON NARNIA ebenfalls erfolgreich verfilmt wurden und werden.

Die Herkunft der Fantasy aus den Niederungen der Unterhaltungsliteratur dürfte allerdings der Grund dafür sein, dass ihr lange Zeit jene Anerkennung verweigert wurde, die ihr aufgrund ihres kulturgeschichtlichen Ursprungs eigentlich zukommt. Offiziell respektiert wurde das Genre erst mit Tolkien, wobei sich die Zeitgenossen zunächst schwer damit taten, DER HERR DER RINGE einzuordnen. War Tolkiens DER HOBBIT noch an ein jüngeres Publikum gerichtet gewesen und konnte deshalb problemlos der Jugendliteratur zugeschlagen werden, war die Trilogie um den Ringkrieg in Komplexität und Erzählstil eindeutig an ein erwachsenes Publikum gerichtet. Die 68er waren die Ersten, die das Buch mehrheitlich für sich entdeckten, vielleicht, weil sie sich wie Tolkiens Hobbits im Kampf gegen eine bedrohliche Großmacht wähnten und sich mit den beherzten Bewohnern des Auenlandes solidarisch erklärten. DER HERR DER RINGE avancierte zum Kultroman – dass er in englischsprachigen Ländern ein ganzes Genre begründet hatte, wurde hierzulande nur sehr eingeschränkt wahrgenommen. Zwar publizierten deutsche Verlage wie Heyne oder Pabel ab den frühen 70er-Jahren Fantasy in Deutschland, jedoch dauerte es noch eine ganze Weile, bis das Genre endgültig eine eigene Szene bekommen und sich aus seinem Nischendasein lösen sollte.

Der Fantasy-Boom der frühen 80er-Jahre, der übrigens auch damals schon durch eine Reihe von Kinofilmen angeheizt wurde, darunter KAMPF DER TITANEN, EXCALIBUR und DER DRACHENTÖTER, vor allem aber durch Dino de Laurentiis’ CONAN DER BARBAR, sorgte immerhin dafür, dass die damals führenden Taschenbuchverlage Heyne, Goldmann und Bastei eigene Fantasy-Labels einführten, die über einen langen Zeitraum bestehen blieben – bis zur Fantasy-Begeisterung heutiger Tage war es aber freilich noch ein weiter Weg. Vor allem als deutscher Autor hatte man es schwer, da das Genre fast ausschließlich durch anglo-amerikanische Autoren geprägt war. Dies änderte sich erst spät. Mit dazu beigetragen hat, neben dem eingangs erwähnten Fantasy-Boom der Jahrtausendwende, meiner Ansicht nach auch die deutsche Wiedervereinigung, die den potenziellen Leserkreis um knapp 20 Millionen Menschen erweiterte, deren popkulturelles Verständnis längst nicht in so erheblichem Maße durch englische bzw. amerikanische Vorbilder geprägt war wie im Westen Deutschlands. Innerhalb eines Jahrzehnts erwuchs dem deutschsprachigen Kulturraum auf diese Weise ein Selbstbewusstsein, wie es noch in den 80ern kaum denkbar gewesen war und das nach eigener popkultureller Identität, nach eigenen Inhalten, eigener Musik und eigenen Filmen verlangte – und auch nach eigenen Büchern, wofür man als deutschsprachiger Autor nur dankbar sein kann.

Noch als ich Mitte der 90er-Jahre mit dem Science ­Fiction- und Fantasy-Lektorat (die SF hatte damals noch einen ungleich größeren Stellenwert als heute) eines großen deutschen Verlags telefonierte, riet man mir einfühlsam, ich solle mein Ansinnen lieber vergessen, da in Deutschland nur ein einziger Autor mit dem Schreiben von Fantasy Geld verdienen könne. Gemeint war natürlich Wolfgang Hohlbein, der es schon in den 80er-Jahren geschafft hatte, sich allen Widerständen zum Trotz eine Stammleserschaft zu erobern. Von seiner Ausnahme abgesehen, wurde deutschsprachigen Autoren nur selten die Chance eingeräumt, in Sachen Phantastik tätig zu werden, geschweige denn von dieser Arbeit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Rund fünfzehn Jahre nach diesem Telefonat stellt sich die Sache glücklicherweise anders dar. Ein neues Publikum verlangt nach neuen Stoffen, und eine neue Generation deutschsprachiger Autoren hat gezeigt, dass »einheimische« Fantasy sehr wohl erfolgreich sein kann. Man ist sogar fleißig dabei, diese ins europäische Ausland zu exportieren, wo man auf »Fantasy made in Germany« aufmerksam geworden ist und Autoren wie Bernhard Hennen oder Christoph Hardebusch gerne ins Programm nimmt. Auch mir wurde mit DIE ZAUBERER und den ORKS die Ehre zuteil, in fremde Sprachen übersetzt zu werden, und es macht immer wieder Spaß, in Italien, den Niederlanden oder Tschechien zu weilen und dort die eigenen Bücher mit wundersamen Titeln und in andere Sprachen übersetzt zu entdecken. Herausragenden Kollegen wie Kai Meyer oder Markus Heitz ist es darüber ­hinaus sogar gelungen, ihre Werke nach England bzw. den USA zu verkaufen, was angesichts des enormen Pools an englischsprachigen Werken, der den dortigen Verlagen zur Verfügung steht und nicht erst kostenaufwendig übersetzt zu werden braucht, als ganz besonderer Erfolg für die deutschsprachige Fantasy zu werten ist.