Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2016
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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel «On the Move. A Life» bei Alfred A. Knopf, A Division of Penguin Random House LLC, New York
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Redaktion Karin Schneider
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ISBN Printausgabe 978-3-499-62893-1 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-04081-6
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In einem Notizbuch, das ich um diese Zeit führte, hielt ich die Absicht fest, fünf Romane zu schreiben (einschließlich der Rennfahrererzählung), dazu noch eine Autobiographie über meine chemische Kindheit. Die Romane habe ich nie geschrieben, aber fünfundvierzig Jahre später schrieb ich die Erinnerungen – Onkel Wolfram.
Beim Abitur im Jahr 1949 war mein Prüfer im Fach Zoologie der namhafte Zoologe J.Z. Young gewesen, der das Riesenaxon des Tintenfischs entdeckt hatte. Einige Jahre später führte die genauere Untersuchung dieses Axons zu ersten konkreten Erkenntnissen über die elektrischen und chemischen Grundlagen der Nervenleitung. Young selbst verbrachte jeden Sommer in Neapel, wo er das Verhalten und das Gehirn des Oktopus erforschte. Ich fragte mich, ob ich versuchen sollte, bei ihm zu arbeiten, wie es Stuart Sutherland tat, einer meiner Kommilitonen aus Oxford.
Das war in der Tat eindrucksvoll, obwohl ich bei dieser Gelegenheit daran denken musste, dass meine Mutter schon mit siebenundzwanzig Chefärztin geworden war.
Valentine Logue, der Neurochirurg auf der Station ein Stockwerk höher, pflegte uns junge Ärzte zu fragen, ob uns irgendetwas «Falsches» in seinem Gesicht auffalle, und erst dann bemerkten wir, dass seine Augen ungewöhnlich waren: Die eine seiner Pupillen war viel größer als die andere. Wir spekulierten endlos darüber, aber Logue klärte uns nie auf.
Kremer schrieb:
«Man bat mich, nach einem Patienten in der Kardiologie zu sehen, dessen Verhalten Rätsel aufgab. Er litt an Herzflimmern und hatte eine Embolie ausgebildet, durch die er linksseitig gelähmt war. Ich sollte ihn untersuchen, weil er nachts immer wieder aus dem Bett fiel. Die Herzspezialisten hatten keine Erklärung dafür.
Als ich ihn fragte, was in der Nacht geschehe, erzählte er ohne Umschweife, dass er immer ein totes, kaltes, behaartes Bein in seinem Bett vorfinde, wenn er nachts erwache. Er könne sich das zwar nicht erklären, wolle es aber nicht dort haben und schiebe es daher mit seinem gesunden Arm und Bein aus dem Bett – worauf natürlich auch der Rest seines Körpers zu Boden fiel.
Er war ein Paradebeispiel für den vollständigen Verlust des Bewusstseins für die gelähmte Körperhälfte. Interessanterweise konnte ich ihn jedoch nicht dazu bringen, mir zu sagen, ob sein eigenes linkes Bein noch da war, denn seine Gedanken kreisten ausschließlich um jenes unerfreuliche fremde Bein.»
Diese Passage aus Kremers Brief zitierte ich, als ich einen ähnlichen Fall beschrieb («Der Mann, der aus dem Bett fiel»), in: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek, Rowohlt, 2007, S. 87.
Eine zehntägige Landwirtschaftsausstellung. A.d.Ü.
Ein berühmtes Geisterschiff, das 1872 im Atlantik treibend gefunden wurde. A.d.Ü.
Die Schule und ihre Auswirkungen auf unser Leben habe ich ausführlich in Onkel Wolfram geschildert.
Jahre später, als ich am Bronx State Hospital arbeitete, stellte ich bei Hunderten von Schizophrenen Störungen der Grobmotorik fest und hörte sie über ähnliche seelische Zustände klagen wie Michael, weil ihnen schwere Dosen von Mitteln wie Thorazine verabreicht wurden oder einer damals neu entwickelten Wirkstoffgruppe, den sogenannten Butyrophenonen, die beispielsweise unter dem Handelsnamen Haloperidol vertrieben wurden.
Ronald D. Laing, Das geteilte Selbst, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1974
Man hatte herausgefunden, dass eine winzige Schädigung bestimmter Areale – beispielsweise durch Alkoholinjektion oder Kälte – den Patienten nicht im mindesten Schaden zufügte, sondern einen Schaltkreis unterbrechen konnte, der hyperaktiv geworden war und viele Symptome des Parkinsonismus verursachte. Diese stereotaktische Chirurgie wurde nach der Entdeckung von L-Dopa im Jahr 1967 fast vollständig eingestellt, hat aber durch Elektrodenimplantate und Tiefenhirnstimulation in anderen Bereichen des Gehirns eine Renaissance erlebt.
Libet führte am Mount Zion seine verblüffenden Experimente durch, in denen er zeigte, dass bei einer Versuchsperson, die aufgefordert wird, eine Faust zu ballen oder eine andere willkürliche Bewegung auszuführen, das Gehirn bereits eine halbe Sekunde, bevor eine bewusste Entscheidung zum Handeln getroffen wird, eine «Entscheidung» registriert. Während die Versuchspersonen das Gefühl hatten, ganz bewusst und aus freiem Willen eine Bewegung ausgeführt zu haben, hatte ihr Gehirn anscheinend schon lange vor ihnen eine Entscheidung gefällt.
Mit Interesse nahm ich zur Kenntnis, dass sich Thom, als er 1994 seine Collected Poems herausgab, dazu entschlossen hatte, dieses Gedicht aus The Sense of Movement nicht wieder abzudrucken.
«Die Allegorie vom Wolf-Boy» (Beim Tennis und beim Tee / Auf nobler Rasenfläche / gehört er nicht zu uns, / sondern treibt sein traurig-doppelt Spiel mit uns)
Die Absicht hatte ich wirklich, aber nachdem seither mehr als fünfzig Jahre vergangen sind, bin ich noch immer nicht eingebürgert. Ähnlich erging es meinem Bruder in Australien. Er traf dort 1950 ein, erhielt die australische Staatsbürgerschaft aber erst fünfzig Jahre später.
O Herr, gib mir die Kraft für diese Fahrt, / Auf dass sie gute Dollar bringt und nicht nur Spaß / Hilf mir, dass ich keinen Platten krieg’ / Keinen Motorschaden oder solches Zeugs / Hilf mir bei Waage und Behörden / Oder gib dem Motor Power, um mich zu befrei’n / Verschon mich mit den Sonntagsfahrern / Und die Frau am Steuer halt mir auch vom Leib / Und wenn ich wach werd’ in der stinkenden Kabine / Lass es sein, wo’s Speck und Eier gibt. / Mach stark den Kaffee und schwach die Frau’n / Sorg, dass hübsch die Kellnerin und keine Missgeburt / Mach den Highway besser und den Diesel billig / Und bei meiner Rückkehr, Herr, gib mir ein weiches Bett / Wenn du all das machst, o Herr, werd ich, ist das Glück mir hold, / noch lange fahren den verdammten alten Truck.
Wenn Essen in seiner Reichweite war, aß mein Vater unaufhörlich, konnte aber den ganzen Tag ohne Essen auskommen, wenn keins greifbar war. Bei mir ist es ähnlich. Da ich keine inneren Steuermechanismen habe, brauche ich äußere. Ich esse nach festgelegten Regeln und hasse jede Abweichung davon.
Eine Leistung, die umso ungewöhnlicher ist, als Helfgott die Lager Buchenwald und Theresienstadt überlebt hat.
Leider war ihre Hüfte an einer unglücklichen Stelle gebrochen, wodurch die Blutzufuhr des Hüftkopfs beeinträchtigt war. Dadurch kam es zu einer sogenannten avaskulären Nekrose und schließlich einem Knochenzusammenbruch, der ihr heftige chronische Schmerzen bereitete. Obwohl meine Mutter sie stoisch ertrug und weiterhin ihre Patienten behandelte, kurzum, ein normales Leben führte, alterte sie rascher. Als ich 1965 nach London zurückkehrte, sah sie zehn Jahre älter aus als drei Jahre zuvor.
Es war natürlich mehr als nur ein zufälliges Zusammentreffen. In einem 1963 veröffentlichten Artikel waren axonale Veränderungen bei Ratten beschrieben worden, die mit Vitamin-E-Mangel einhergehen. In einem anderen Artikel, 1964, wurden ähnliche axonale Modifikationen bei Mäusen dokumentiert, die IDPN (Iminodipropionitril) erhielten. Neue Ergebnisse müssen in anderen Labors repliziert werden, und genau das taten meine Kollegen an der UCLA.
IDPN und verwandte Verbindungen rufen exzessive Erregung und Hyperaktivität nicht nur in Säugetieren hervor, sondern auch in Fischen, Heuschrecken und sogar Protozoen.
Drachen, Doppelgänger und Dämonen, Reinbek, Rowohlt, 2013, S. 126ff.
Ich hatte gehofft, es sei möglich, einige von Jims mathematischen Werken postum zu veröffentlichen. Dabei hatte ich mir so etwas vorgestellt wie F.P. Ramseys postumes Buch Grundlagen (Ramsey war mit sechsundzwanzig Jahren gestorben). Aber Jim war im Wesentlichen ein Ad-hoc-Problemlöser gewesen: Er hatte eine Gleichung auf ein Formular oder ein logisches Diagramm auf die Rückseite eines Umschlags gekritzelt und das Papier dann zerknüllt oder verloren.
Ich hätte damals eigentlich erkennen müssen, dass die offene See nichts für mich ist und dass von den besonders hohen Wellen, den «Monsterwellen», die bei scheinbar ruhiger See wie aus heiterem Himmel kommen, eine besondere Gefahr ausgeht. Trotzdem hatte ich später noch zwei ähnliche Erlebnisse. Eines am Westhampton Beach auf Long Island; dabei erlitt ich am linken Bein einen Riss des hinteren Oberschenkelmuskels, und auch hier zog mich ein Freund – mein alter Freund Bob Wassermann – auf den sicheren Strand. Ein anderer Vorfall, den ich nur mit Glück überlebte, ereignete sich, als ich mich vor der Pazifikküste Costa Ricas idiotischerweise rückenschwimmend aufs offene Meer hinauswagte.
Heute habe ich Angst vor der Brandung und halte mich vorwiegend an Binnenseen und Flüsse mit langsamer Strömung, wenn ich schwimmen möchte, obwohl ich immer noch eine Vorliebe für das Schnorcheln und Gerätetauchen habe, das ich 1956 im ruhigen Wasser des Roten Meeres lernte.
Einige Jahre danach wurde Topanga Canyon ein Mekka für Musiker, Maler und Hippies aller Art, aber Anfang der sechziger Jahre, als ich dort lebte, war er relativ spärlich bevölkert und sehr ruhig. Häuser an unbefestigten Wegen wie das meine hatten keine unmittelbaren Nachbarn, das Wasser musste ich mir mit Tankwagen bringen lassen, die mir jeweils 5500 Liter in eine Zisterne füllten.
Korey, ein Mann von ungeheurer Weitsicht, hatte die Vision einer vereinigten Neurowissenschaft schon Jahre, bevor der Begriff überhaupt existierte. Ich bin Korey nie begegnet, weil er 1963 in tragisch jungen Jahren gestorben war, doch sein Vermächtnis lebte am Einstein College fort: die enge Zusammenarbeit aller «Neuro-Institute» (und der klinisch-neurologischen Abteilungen) – eine Zusammenarbeit, die bis heute fortbesteht.
Vielleicht hatte ich nie wirklich erwartet, ein erfolgreicher Forscher zu werden. 1960 schrieb ich in einem Brief an meine Eltern, in dem ich die Frage erörterte, ob ich mich an der UCLA der physiologischen Forschung widmen sollte: «Wahrscheinlich bin ich zu launisch, zu träge, zu ungeschickt und sogar zu unehrlich, um einen guten Forscher abzugeben. Die einzigen Dinge, die mir wirklich Freude machen, sind Sprechen … Lesen und Schreiben.»
Und ich zitierte aus einem Brief, der gerade von Jonathan Miller eingetroffen war, der in Hinblick auf sich, Eric und mich geschrieben hatte: «Mir geht es wie Wells, ich bin hingerissen von der Theorie und gelähmt von der Praxis der wissenschaftlichen Forschung. Der einzige Ort, an dem sich einer von uns geschickt oder elegant zu bewegen weiß, ist die Welt der Ideen und Wörter. Unsere Liebe zur Naturwissenschaft ist rein literarisch.»
. Man sollte meinen, dass der gelegentliche Konsum von Angel Dust die sechziger Jahre nicht überdauert hätte, aber wenn ich mir die neuesten Berichte der DEA, der amerikanischen Drogenbehörde, anschaue, stelle ich fest, dass noch 2010 mehr als 50000 junge Erwachsene und Schüler nach der Einnahme von PCP in Notaufnahmen eingeliefert wurden.
Drachen, Doppelgänger und Dämonen, S. 136.
Allerdings gab ein Lektor bei Faber einen seltsamen Kommentar ab. Er sagte: «Das Buch lässt sich zu leicht lesen. Das macht die Leute misstrauisch – verwissenschaftlichen Sie es.»
Tatsächlich schrieb ich 1992 eine Ergänzung zu dem Buch, zu der ich teilweise durch den Besuch einer Ausstellung mit Migräne-Kunst und zum Teil durch Diskussionen mit meinem Freund Ralph Siegel, einem sehr guten Mathematiker und Naturwissenschaftler, angeregt wurde. (Zwanzig Jahre danach, 2012, als ich Drachen, Doppelgänger und Dämonen schrieb, befasste ich mich mit dem Thema der Migräneaura aus einer ganz anderen Perspektive.)
1972 wandte sich unser Cousin Al Capp an Pop, weil er eine Reihe merkwürdiger Symptome hatte, mit denen seine eigenen Ärzte nichts anzufangen wussten. Mein Vater warf einen einzigen Blick auf ihn, als sie sich die Hände gaben, und sagte: «Nimmst du Apresolin?» (Ein Mittel, das damals gegen Bluthochdruck eingesetzt wurde.)
«Ja», sagte Al überrascht.
«Du hast SLE, systemischen Lupus erythematodes, der durch das Apresolin hervorgerufen wurde», erklärte mein Vater. «Glücklicherweise ist diese medikamentös hervorgerufene Form vollkommen reversibel, aber wenn du das Apresolin weiternimmst, kannst du daran sterben.»
Al war der Überzeugung, dass mein Vater ihm mit dieser blitzartigen Erkenntnis das Leben gerettet hatte.
Gelegentlich passierte das auch umgekehrt, wie Abba Eban in einem Nachruf auf meinen Vater im Jewish Chronicle schrieb:
1967, nach dem Sechstagekrieg, fuhr ich auf dem Rückweg von den Vereinten Nationen durch London, als das Taxi, in dem ich saß, an einer roten Ampel neben einem anderen Taxi hielt. Mein Fahrer rief seinem Kollegen zu: «Weißt du, wen ich hier habe? Den Neffen von Doktor Sacks!»
Ich empfand diese Auszeichnung nicht als kränkend und war ausgesprochen stolz auf Onkel Sam, der herumlief und die Geschichte mit dem ihm eigenen Überschwang erzählte.
Annie Landau, die Älteste, gab die Annehmlichkeiten Londons für das Palästina von 1899 auf. Sie kannte dort niemanden, war aber entschlossen, den anglojüdischen Mädchen in Jerusalem zu einer möglichst breit gefächerten Bildung zu verhelfen, und das zu einer Zeit, da die meisten von ihnen verarmt und analphabetisch waren und sich, da ihnen jede Schulbildung verweigert wurde, als Teenager zur Heirat oder zur Prostitution gezwungen sahen. Sie hätten keine bessere Fürsprecherin finden können als meine Tante, deren leidenschaftliches Engagement für die Bildung von Frauen jedes Hindernis kultureller oder politischer Art überwand. Ihre Partys, bei denen sie einflussreiche Juden, Araber, Christen und Vertreter der britischen Mandatsverwaltung zusammenbrachte, waren legendär. Die Schule, die sie fünfundvierzig Jahre lang leitete, war ein bleibendes Vermächtnis für die Entwicklung des modernen Jerusalems. (Die Geschichte von Annie Landau und ihrer Schule, der Evelina de Rothschild School, erzählt Laura S. Schor in ihrem Buch The Best School in Jerusalem: Annie Landau’s School for Girls, 1900–1960.)
Macdonald Critchley schreibt in seiner Biographie von William R. Gowers, dem viktorianischen Neurologen (und Hobbybotaniker): «Für ihn waren die neurologischen Patienten wie die Flora eines tropischen Urwalds.» Wie Gowers betrachte ich meine Patienten mit ungewöhnlichen Störungen gelegentlich wie verschiedene und ungewöhnliche Geschöpfe oder Lebensformen.
Etwa zu dieser Zeit hatte ich eine Diskussion mit Labe Scheinberg, meinem Chef bei Einstein. «Wie viele Patienten bekommen bei Ihnen L-Dopa?», fragte er mich.
«Drei, Sir», erwiderte ich eifrig.
«Himmel, Oliver», sagte Labe, «ich habe dreihundert Patienten auf L-Dopa.»
«Ja, aber ich erfahre hundertmal mehr über jeden Patienten als Sie», erwiderte ich, betroffen von seinem Sarkasmus.
Versuchsreihen sind erforderlich – aber man braucht auch den konkreten, den besonderen Fall, das persönliche Gegenüber. Wesen und Wirkung neurologischer Erkrankungen lassen sich nicht übermitteln, ohne dass man Zugang zum Leben einzelner Patienten findet und es beschreibt.
Im August 1969 erreichten die «Awakenings» – das Erwachen – meiner postenzephalitischen Patienten die New York Times in Gestalt eines langen, bebilderten Artikels von Israel Shenker. Er beschrieb den «Jo-Jo-Effekt», wie ich ihn nannte, der bei einigen meiner Patienten zu beobachten war – plötzliche Schwankungen der Arzneimittelwirkung –, ein Phänomen, das erst mehrere Jahre später von anderen Kollegen oder bei anderen Patienten beschrieben, aber dann als «On-Off-Effekt» bezeichnet wurde. Während L-Dopa als «Wunderdroge» galt, erklärte ich in dem Artikel, wie entscheidend es sei, die Gesamtsituation der Patienten zu berücksichtigen und nicht nur die Wirkung, die ein Medikament auf ihr Gehirn ausübt.
Und Furcht, denn als ich es las, dachte ich, wo ist noch Platz für mich in dieser Welt? Lurija hat schon alles gesehen, gesagt, geschrieben und gedacht, was ich jemals sagen oder schreiben oder denken kann. Ich war so wütend, dass ich das Buch entzweiriss (ich musste ein neues Exemplar für die Bibliothek und eins für mich kaufen).
Vielleicht war ich hier von William James beeinflusst, der von seinem eigenen Lehrer Louis Agassiz schrieb, dass dieser «manchmal einen Studenten ohne ein Buch oder eine Arbeit, die ihm hätten helfen können, in ein Zimmer voller Hummer- oder Austernschalen einschloss und ihn nicht wieder herausließ, bevor er nicht alle Wahrheiten entdeckt hatte, die diese Objekte enthielten».
Bei einem Streik im Jahr 1984 war das ganz anders, da wurde siebenundvierzig Tage lang niemand durch die Streikpostenlinie gelassen. Viele Patienten litten, und dreißig von ihnen starben an Vernachlässigung, wie ich meinem Vater schrieb, obwohl Zeitarbeiter und Verwaltungsangestellte versuchten, die Pflege zu übernehmen.
Raymond Greene von Heinemann (der Migräne wohlwollend besprochen hatte, als es Anfang 1971 erschienen war), schlug mir vor, in seinem Auftrag ein Buch über Parkinsonismus zu schreiben, das «genauso» werden sollte wie Migräne. Für mich war das eine Ermutigung, aber auch eine Entmutigung, weil ich mich nicht wiederholen wollte. Ich war der Meinung, es müsse ein Buch ganz anderer Art sein, aber ich hatte keine Ahnung, was für eine Art das sein könnte.
. Doch als ich einige Monate später nach London zurückkehrte, war Onkel Dave selbst tödlich erkrankt. Ich besuchte ihn im Krankenhaus, aber er war zu schwach, um viel zu sprechen. So wurde es traurigerweise ein Abschiedsbesuch von einem Onkel, der mir in meiner eigenen Kindheit ein so wichtiger Mentor gewesen war und von dem ich nun nicht mehr erfahren würde, wie meine Mutter in ihrer Kindheit gewesen war.
Nach dem Tod meiner Mutter und dem Abschluss von Awakenings (der Titel war noch nicht gefunden), fühlte ich einen seltsamen Drang, Ibsen-Stücke zu lesen und zu sehen; Ibsen sprach mich an, sprach meine Gemütsverfassung an. Er war die einzige Stimme, die ich ertragen konnte.
Sobald ich wieder in New York war, ging ich in jedes Ibsen-Stück, das gegeben wurde, aber ich konnte keine Inszenierung des Stückes finden, das ich am liebsten gesehen hätte: Wenn wir Toten erwachen. Mitte Januar stellte ich schließlich fest, dass es an einem kleinen Theater im Norden von Massachusetts aufgeführt wurde, und fuhr sogleich dorthin, um es mir anzusehen. Das Wetter war eklig, und die kleineren Straßen tückisch. Es war keine besonders gelungene Inszenierung, aber ich konnte mich mit Rubek, dem schuldbeladenen Künstler, identifizieren. In diesem Augenblick beschloss ich, mein eigenes Buch Awakenings zu nennen.
Er ließ seine Stereoanlage und alle seine Platten in New York zurück – eine riesige Menge von 78er-Platten und LPs – mit der Bitte, mich «um sie zu kümmern». Ich behielt sie und spielte sie viele Jahre lang ab, obwohl es immer schwieriger wurde, die Röhren im Verstärker zu ersetzen. 2000 gab ich sie dem Auden-Archiv in der New York Public Library.
G.S. Stent, «Vorzeitigkeit und Einmaligkeit wissenschaftlicher Entdeckungen», in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft, 1973, S. 148–168.
Der Mann, dessen Welt in Scherben ging: zwei neurologische Geschichten, Reinbek, Rowohlt, 1991.
Dann wechselte sein Brief die Tonart, und er berichtete von einem frappierenden Erlebnis mit Pawlow: Der alte Mann – Pawlow war damals über achtzig und sah aus wie Moses – hatte Lurijas Buch in zwei Hälften gerissen, ihm die Stücke vor die Füße geworfen und gerufen: «Und Sie bezeichnen sich als Wissenschaftler!» Diese bestürzende Episode schilderte Lurija so lebhaft und deftig, dass ihre komische und ihre schreckliche Seite gleichermaßen deutlich wurden.
2007 übernahm ich eine fünfjährige Professur für Neurologie an der Columbia University. Meine Eignung zur Arbeit im Krankenhaus wurde geprüft, und ich musste ein medizinisches Einstellungsgespräch absolvieren. Kate, meine Freundin und Assistentin, begleitete mich, und irgendwann sagte die Krankenschwester, die mich interviewte: «Ich muss Ihnen jetzt eine ziemlich private Frage stellen. Möchten Sie, dass Miss Edgar den Raum verlässt?»
«Nicht nötig», sagte ich. «Sie ist in alle meine Angelegenheiten eingeweiht.» Ich dachte, sie wolle mich über mein Sexualleben befragen, daher platzte ich, ohne ihre Frage abzuwarten, mit dem Bekenntnis heraus: «Ich habe seit fünfunddreißig Jahren keinen Sex mehr gehabt.»
«Oh, Sie Ärmster!», sagte sie. «Dagegen müssen wir unbedingt was tun!» Allgemeines Gelächter. Sie hatte mich nur nach meiner Sozialversicherungsnummer fragen wollen.
Irgendwo in Tibet, Geschichte eines Abenteuers, Wien u.a., Reicher, 1937.
Erst einige Jahre später wurden die merkwürdigen, instabilen Zustände, die ich bei meinen postenzephalitischen Patienten erlebte, auch bei «gewöhnlichen» Parkinson-Patienten nach der Einnahme von L-Dopa beobachtet. Möglicherweise haben diese Patienten, die ein stabileres Nervensystem besitzen, die betreffenden Effekte mehrere Jahre lang nicht gezeigt (während die Postenzephalitiker sie schon nach Wochen oder Monaten entwickelten).
1978 hatte Kitty beschlossen, in den Ruhestand zu gehen. Wir dachten, sie hätte das übliche Ruhestandsalter von fünfundsechzig Jahren erreicht, bis wir erfuhren, dass sie schon über neunzig war, obwohl sie so unglaublich jugendlich und lebhaft wirkte. (War sie vielleicht dank der Musik jung geblieben?) Für Kitty kam Connie Tomaino, eine dynamische junge Frau mit einem Universitätsabschluss in Musiktherapie, die ein umfassendes und intensives musiktherapeutisches Programm entwickelte, wobei sie untersuchte, welche musikalischen Ansätze sich am besten eigneten für Patienten mit Demenz, Patienten mit Amnesie und Patienten mit Aphasie. Connie und ich arbeiteten viele Jahre zusammen, und sie ist noch immer am Beth Abraham, jetzt als Direktorin des Institute for Music and Neurologic Function.
Der Tag, an dem mein Bein fortging, Reinbek, Rowohlt, 1989.
Ende der siebziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre verbrachte ich auch einige Zeit an der Alzheimer-Klinik des Einstein College und bereitete fünf lange Fallgeschichten vor, die von diesen Patienten handelten. Ich schickte das Manuskript Bob Katzman, meinem ehemaligen Chef am Einstein – er war inzwischen Leiter des neurologischen Fachbereichs an der University of California in San Diego geworden –, aber irgendwie ging es in den Wirren des Umzugs verloren – ein weiteres Buch, das, wie «Myoclonus», nie das Licht der Welt erblicken sollte.
Nicht selten treten Schwierigkeiten von ungewöhnlicher Art auf, und in diesen Situationen beweisen die Kleinen Schwestern ein hohes Maß an moralischer Souveränität und Klugheit. Eine der Bewohnerinnen, Flora D., eine Parkinson-Patientin, sprach ausgezeichnet auf L-Dopa an, machte sich aber Sorgen wegen der außerordentlich lebhaften Träume, die sie daraufhin bekam. Bei der Einnahme von L-Dopa sind erotische Träume oder Albträume keine Seltenheit, aber Flora hatte inzestuöse Träume, in denen sie mit ihrem Vater schlief. Sie reagierte darauf mit Schuldgefühlen und extremer Angst, bis sie mit einer der Nonnen darüber sprach, die daraufhin sagte: «Sie sind nicht verantwortlich für die Träume, die Sie nachts haben. Etwas anderes wäre es, wenn es Tagträume wären.» Das war eine klare moralische Unterscheidung, die sich mit einer ebenso klaren physiologischen Unterscheidung deckte.
Einige Jahre später erzählte ich unter dem Titel «Die körperlose Frau» ihre Geschichte in dem Buch Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.
Ich beschrieb ihn als Mr. Thompson in «Eine Frage der Identität» (Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte).
Anfang der neunziger Jahre machte ich Jonathan mit meiner Freundin Marsha Ivins bekannt, einer Astronautin, die an fünf Spaceshuttle-Missionen teilgenommen hat. (Wie sie mir erzählte, hat sie «Die körperlose Frau» im All gelesen.)
Wie, so fragten wir uns, würde Ian im Weltraum zurechtkommen? Am einfachsten sei es, sagte die schwerkraftkundige Marsha, einen Flug in dem Astronauten-Trainingsflugzeug zu absolvieren, das gemeinhin als Vomit Comet – Kotz-Komet – bezeichnet wird. Es steigt steil nach oben, um dann in den Sturzflug zu gehen und seine Passagiere kurzzeitig von fast 2 g auf 0 g zu bringen. Die meisten Menschen empfinden bei 0 g eine allumfassende Leichtigkeit und bei 2 g eine entsprechende Schwere, Ian aber fühlte weder das eine noch das andere.
Ich hatte vorgehabt, ihre Geschichte zu schreiben und sie in Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte aufzunehmen, aber dann dauerte es mehr als fünfundzwanzig Jahre, bis ich tatsächlich über das Charles-Bonnet-Syndrom schrieb – in Drachen, Doppelgänger und Dämonen.
In: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging, Reinbek, Rowohlt, 1992.
Den ersten Ausflug dieser Art habe ich in dem Kapitel «Die Besessenen» in Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte beschrieben, obwohl ich John P.s Identität verbarg, indem ich ihn als alte Frau porträtierte.
Gilles de la Tourettes Patientin litt allerdings nicht unter dem Tourette-Syndrom, sondern unter einer erotischen Fixierung auf ihren Arzt. Solche Fixierungen können, wie der Fall John Lennon zeigt, zum Mord führen. Tourette war infolge der Schusswunde halbseitig gelähmt und aphasisch.
Als «Der verlorene Seemann» herauskam, veranlasste er Norman Geschwind, einen der eigenwilligsten und kreativsten Neurologen Amerikas, mir einen Brief zu schreiben. Ich war sehr erfreut, von ihm zu hören, und antwortete umgehend, aber erhielt keine Antwort. Geschwind war einem Schlaganfall erlegen. Obwohl er nur achtundfünfzig Jahre alt geworden war, hinterließ er ein eindrucksvolles Vermächtnis.
Mit der Seele hören, die Geschichte der Taubheit, München, Hanser, 1988.
Jeder sprach hier Gebärdensprache. Erblich bedingte Gehörlosigkeit auf der Insel Martha’s Vineyard, Hamburg, Signum, 2005.
Ich wäre gar zu gerne in der Lage gewesen, mich mit Gehörlosen in ihrer eigenen Sprache zu verständigen, daher besuchten Kate und ich viele Monate lang Kurse für amerikanische Gebärdensprache, aber leider bin ich alles andere als eine Sprachbegabung und habe nie mehr als ein paar Wörter und Redewendungen gebärden können.
In einem Buch, das in Vorbereitung ist, beschreibe ich unsere Reisen durch Kanada, Europa und die USA sehr viel eingehender.
Das unbekannte Denken, Stuttgart, Klett-Cotta, 1990.
Wie das Kind sprechen lernt, Bern, Huber, 1987.
Diese Hirnsektionen waren gut besucht. Unter anderem kamen Kliniker, die wissen wollten, ob ihre Diagnosen richtig waren. Bei einer denkwürdigen Veranstaltung untersuchten wir die Gehirne von fünf Patienten, die, als sie noch lebten, auf multiple Sklerose diagnostiziert worden waren. Doch die Hirnsektion zeigte in allen Fällen, dass es sich um Fehldiagnosen gehandelt hatte.
In einem Brief vom September 1977 dankte Tante Lennie mir für mein Geburtstagstelegramm («[Es] erfreute mein fünfundachtzigjähriges Herz»), fuhr dann aber fort: «Wir haben mit Entsetzen vernommen, dass Professor Lurija gestorben ist. Das muss ein großer persönlicher Schlag für Dich gewesen sein. Ich weiß, wie viel Dir an seiner Freundschaft lag. Hast Du den Nachruf in der Times geschrieben?» (Ich hatte.)
Da Thom mein botanisches Interesse kannte, schickte er mir alle seine «Pflanzen»-Gedichte. Nachdem ich sein «Nasturtium» (Kresse) bekommen hatte, schrieb ich: «Ich hoffe, Du wirst noch mehr Gedichte wie dieses schreiben, Lobpreisungen tapferer Pflanzen auf unbebauten Grundstücken, in Gräben, Mauerrissen etc. – Du erinnerst Dich, dass Tolstoi die Figur des Hadschi Murat wieder einfiel, als er eine zerdrückte, aber immer noch kämpfende Distel am Wegrand sah.»
Anfang 1970, als Thom im Begriff war, nach New York zu reisen, teilte ich ihm mit, dass Auden wie immer am 21. Februar eine Geburtstagsparty geben wollte, und fragte ihn, ob er kommen würde. Er lehnte ab, und erst 1973, nach Audens Tod, äußerte er sich zu dem Thema (in einem Brief vom 2. Oktober 1973): «Wahrscheinlich war er, von Shakespeare abgesehen, der Dichter, der mich am meisten beeinflusst hat, dem ich am ehesten verdanke, dass es mir möglich erschien, selbst zu schreiben. Ich glaube nicht, dass er viel von mir hielt, jedenfalls hat man mir das berichtet, aber das ist mir heute nicht wichtiger, als wenn ich herausfände, dass Keats nichts von mir hielt.»
. Thom hat sich in seiner Autobiographie My Life up to Now ausführlich dazu geäußert: «Es ist nicht mehr in Mode, LSD anzupreisen, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass es für mich als Mensch und Dichter von größter Bedeutung war … Der Acid-Trip ist unstrukturiert, er eröffnet Dir zahllose Möglichkeiten, Du sehnst Dich nach der Unendlichkeit.»
Schlimmstenfalls ist man in Bewegung, bestenfalls in Reichweite / von nichts Absolutem, in dem man Ruhe fände, man ist immer / näher, indem man nicht stehen bleibt.
Madeline bekam den Schlaganfall schon mit fünfzig. Danach litt sie unter Aphasie, aber sie war mit so viel Witz, Haltung und Phantasie aphasisch, dass der Begriff eine neue Bedeutung bekam.
Nach der Aufführung gingen wir hinter die Bühne, wo wir Cummings trafen. Ich fragte sie, ob sie viele Menschen mit Aphasie kennengelernt habe. «Nein, nicht einen einzigen», erwiderte sie. Ich sagte nichts, aber dachte: «Das merkt man.»
Seither ist mir das auch mit anderen Werken so ergangen, die von meinem eigenen inspiriert wurden – vor allem mit Peter Brooks brillanten Theaterinszenierungen L’ Homme Qui … 1993 und The Valley of Astonishment 2014 sowie einem auf Awakenings basierenden Ballett mit der Musik von Tobias Picker.
Der Dokumentarfilm zu Awakenings wurde von allen Schauspielern, die Enzephalitiker spielten, eingehend studiert. Er war neben den vielen Kilometern Super-8-Filmen und Tonbändern, die ich 1969 und 1970 aufgenommen hatte, die wichtigste visuelle und akustische Vorlage für den Spielfilm.
Der Dokumentarfilm war außerhalb Großbritanniens nie gezeigt worden und das Erscheinen des Hollywoodfilms ein idealer Zeitpunkt, um ihn PBS anzubieten. Doch die Verantwortlichen von Columbia Pictures ließen es nicht zu. Sie befürchteten, er könne die «Authentizität» des Spielfilms beeinträchtigen; ein absurder Gedanke.
Das erinnerte mich an einen Besuch von Dustin Hoffman einige Jahre zuvor, als er sich für den Film Rain Man auf die Rolle eines Autisten vorbereitete. Wir besuchten einen meiner jungen autistischen Patienten im Bronx State am Botanischen Garten. Ich unterhielt mich mit Hoffmans Regisseur, und Hoffman folgte ein paar Schritte hinter uns. Plötzlich glaubte ich, meinen Patienten zu hören. Vollkommen verblüfft wandte ich mich um und sah, dass Hoffman, der ganz in Gedanken war, mit seiner Stimme und seinem Körper – enaktiv – dachte.
In den nächsten vierundzwanzig Jahren wurden Robin und ich gute Freunde, und ich lernte neben seinem geistreichen Witz und seinen plötzlichen, sehr spontanen Improvisationen auch die enorme Belesenheit, die ungewöhnliche Intelligenz und die Menschlichkeit schätzen, die ihn auszeichneten. Einmal hielt ich einen Vortrag in San Francisco, als ein Mann aus dem Publikum mir eine seltsame Frage stellte:
«Sind Sie Engländer oder Jude?»
«Beides», erwiderte ich.
«Sie können nicht beides sein», sagte er. «Sie müssen das eine oder das andere sein.»
Robin, der unter den Zuhörern gewesen war, kam hinterher beim Dinner noch einmal darauf zu sprechen und trat einen hinreißenden Beweis an, dass tatsächlich beides möglich ist, indem er in eine ultrabritische Stimme mit Cambridge-Akzent lauter jiddische Sprachbrocken und Aphorismen einflocht. Ich wünsche, ich hätte diese herrliche Augenblicksblüte aufgezeichnet.
Michael musste ihm erklären, dass es sich bei Little Ease um eine Zelle im Tower von London handelte, die so klein war, dass ein Mensch darin weder stehen noch liegen konnte und daher auf jederlei Bequemlichkeit verzichten musste.
Cecil Helman, der aus einer Familie von Rabbinern und Ärzten stammte, war auch ein medizinischer Anthropologe, der für seine interkulturellen Studien über Narrative, Medizin und Krankheit in Südafrika und Brasilien bekannt war. Er war zugleich ein kluger und wunderbarer Lehrer und berichtete in seinen Erinnerungen Suburban Shaman über sein Medizinstudium im Südafrika der Apartheid.
Viele Bewohner von Ealon House waren Kettenraucher (genauso wie viele «chronisch» schizophrene Patienten im Allgemeinen). Ich weiß nicht, ob sie aus Langeweile rauchten – es gab nicht viel zu tun in dem Heim – oder wegen der möglicherweise anregenden oder beruhigenden pharmakologischen Wirkung des Nikotins. Im Bronx State betreute ich einmal einen Patienten, der meistens apathisch und in sich gekehrt war, aber nach ein paar Zügen aus einer Zigarette hyperaktiv, lärmend und fast tourettisch wurde. Die Pfleger nannten ihn einen Nikotin-«Jekyll und Hyde».
Temples erstes Buch Emergence. Labeled Autistic [Lebensbericht einer Autistin, München, dtv, 1994] erschien 1986, zu einer Zeit, als das Asperger-Syndrom noch kaum erkannt wurde. Darin beschrieb sie ihre «Genesung» vom Autismus. Damals glaubte man, niemand mit Autismus könne ein produktives Leben führen. Als ich sie 1993 kennenlernte, sprach Temple nicht mehr von der «Heilung» des Autismus, sondern von den Stärken und Schwächen, die Menschen mit Autismus haben können.
Auge und Gehirn. Psychologie des Sehens, Reinbek, Rowohlt, 2001.
Viele Generationen der Gregorys hatten sich in besonderem Maße für Sehen und Optik interessiert. In seinem Buch Hereditary Genius [Genie und Vererbung, Leipzig, Kröner, 1910] verfolgte Francis Galton die geistige Bedeutung der Familie Gregory bis zu Newtons Zeitgenossen James Gregory zurück, der wichtige Verbesserungen an Newtons Spiegelteleskop vorgenommen hatte. Richards eigener Vater war der Hofastronom gewesen.
Dieses «Schnappschuss-Sehen» erörterte ich später mit Francis Crick und schrieb darüber in einem Essay für The New York Review of Books, «In the River of Consciousness», der 2004 veröffentlicht wurde.
Die Serie hieß The Mind Traveller und beschäftigte sich mit einer Reihe von Themen, für die ich mich schon lange interessierte, unter anderem das Tourette-Syndrom und Autismus. Außerdem vermittelte sie mir einige neue Erfahrungen – mit dem Williams-Beuren-Syndrom (das ich später in Der einarmige Pianist beschrieb), mit einer taubblinden Cajun-Gemeinschaft und mit einer Anzahl gehör- und sprachloser Menschen.
Alfred Russel Wallace, Der Malayische Archipel, Braunschweig, Westermann, 1869. Henry Walter Bates, Am Amazonas, Nördlingen, Greno, 1989 [Der Naturforscher am Amazonasstrom, Leipzig, Dyk’sche Buchhandlung, 1866].
Nach der Rückkehr tippte ich das Tagebuch ab und wurde kurz darauf aufgefordert, es als Buch in der Reisereihe von National Geographic zu veröffentlichen. In dem publizierten Oaxaca Journal [Die feine New Yorker Farngesellschaft. Ein Ausflug nach Mexiko, München, Frederking und Thaler, 2004, S. 90] gibt es ganze Seiten, die mit dem handschriftlichen Tagebuch identisch sind, aber ich ergänzte es auch mit Recherchen über andere Dinge, auf die ich während der Reise gestoßen war – Schokolade und Chili, Mescal und Koschenille, mesoamerikanische Kultur und Halluzinogene der Neuen Welt.
Zufall Mensch. Das Wunder des Lebens als Spiel der Natur, München, Hanser, 1989.
Bist verliebt in Palmfarn / Könntest auch werben fürs Fahrrad / König der Vielfalt / Geburtstag juchhei / Sackst ein den alten Freud, den Psychoscheich.
Mit einem Bein in der Migräne, farberblindet / Erwacht auf dem Mars und Hut-gesinnt / Oliver Sacks. / Lebst noch immer aus dem Vollen / Wenn du wegschwimmst den Delfinen.
Der Fall Wagner. Turiner Brief vom Mai 1988.
Er war fasziniert, als ich ihm die komplexen Muster zeigte, die man manchmal in einer Migräneaura sieht – Sechsecke und geometrische Muster verschiedener Formen, einschließlich fraktaler Strukturen. Er konnte einige dieser Grundmuster in einem neuronalen Netzwerk simulieren und fügte diese Arbeit 1992 als Anhang zu einer revidierten Auflage von Migräne hinzu. Ralphs mathematische und physikalische Intuition veranlasste ihn auch zu der Hypothese, dass Chaos und Selbstorganisation zentrale Aspekte natürlicher Prozesse aller Art und damit für die meisten naturwissenschaftlichen Disziplinen relevant sein könnten – von der Quantenmechanik bis zur Neurowissenschaft. Das führte 1990 zu einer weiteren Zusammenarbeit zwischen uns, zu einem Anhang für eine revidierte Auflage von Awakenings, «Chaos and Awakenings».
Ein paar Tage später erhielt ich eine Antwort von Crick. Dort bat er mich um mehr Einzelheiten über den Unterschied zwischen meinen Migränepatienten und einer bemerkenswerten Patientin, die Josef Zihl und seine Kollegen 1983 in einem Artikel beschrieben hatten. Beispielsweise konnte Zihls Patientin keine Tasse Tee eingießen. Sie sah einen bewegungslosen «Teegletscher» von der Tülle hängen. Einige meiner Migränepatienten hatten solche «Standbilder» in rascher Folge erlebt, während bei Zihls Patientin, die ihre Bewegungsblindheit durch einen Schlaganfall erworben hatte, die Standbilder offenbar viel länger dauerten, jeweils etwa mehrere Sekunden. Insbesondere wollte Crick wissen, ob aufeinanderfolgende Standbilder bei meinen Migränepatienten in den Intervallen zwischen sukzessiven Augenbewegungen oder nur zwischen solchen Intervallen auftraten. «Ich würde diese Themen sehr gerne mit Ihnen erörtern», schrieb er, «einschließlich Ihrer Bemerkungen über die Farbe als zerebro-mentales Konstrukt.»
In meiner Antwort an Crick ging ich näher auf die tiefgreifenden Unterschiede zwischen meinen Migränepatienten und Zihls bewegungsblinder Frau ein.
Das Leben selbst. Sein Ursprung, seine Natur, München, Piper, 1983.
Von Molekülen und Menschen, München, Goldmann, 1970.
Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins, Reinbek, Rowohlt, 1997.
Sigmund Freud/Karl Abraham, Briefwechsel 1907–1925, Bd. 2, Wien, Turia und Kant, 2009, S. 779.
Ein irres Unternehmen. Die Doppelhelix und das Abenteuer Molekularbiologie, München, Piper, 1990, S. 18f.
Bewusstsein. Ein neurobiologisches Rätsel, München, Elsevier/Spektrum, 2005.
Unser Gehirn – ein dynamisches System. Die Theorie des neuronalen Darwinismus und die biologischen Grundlagen der Wahrnehmung, München, Piper, 1993.
Gerry hatte eine hingerissene, aber auch verwirrte Zuhörerschaft. Als er sagte: «The mind is not a computer, the world is not a piece of tape» («Der Geist ist kein Computer, die Welt ist kein Stück Magnetband»), verstanden seine italienischen Zuhörer: «The world is not a piece of cake.» («Die Welt ist kein Stück Kuchen», oder: «… kein Kinderspiel.») Das löste leidenschaftliche Diskussionen auf den Fluren aus, in denen man darüber stritt, was der berühmte amerikanische Professor mit dieser enigmatischen Feststellung gemeint haben könnte.
Ursprünglich hatte Edelman diese Selektionstheorie auf das Immunsystem angewendet – wofür er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Mitte der siebziger Jahre begann er dann, entsprechende Konzepte auf das Nervensystem anzuwenden.
Mein Freund und Kollege Peter Jannetta – wir absolvierten zusammen die Facharztausbildung an der UCLA – entdeckte und vervollkommnete eine Technik, die das Leben von Patienten mit Trigeminusneuralgie komplett veränderte und häufig rettete. Es handelt sich dabei um einen paroxysmalen Schmerz im Auge und im Gesicht, gegen den es (vor Peters Arbeit) kein Mittel gegeben hatte, der häufig «unerträglich» war und nicht selten zum Selbstmord geführt hatte.
Für Billy
«Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, daß das Leben rückwärts verstanden werden muß. Aber darüber vergißt man den andern Satz, daß vorwärts gelebt werden muß.»
Søren Kirkegaard
Während des Krieges wurde ich als kleiner Junge in ein Internat geschickt, dort überkam mich ein Gefühl des Eingesperrtseins und der Machtlosigkeit. Ich sehnte mich nach Bewegung und Kraft, nach müheloser Bewegung und übermenschlicher Kraft. Vorübergehend genoss ich sie in Träumen vom Fliegen und, auf andere Weise, wenn ich in dem Dorf bei der Schule Reiten war. Ich liebte die Kraft und Geschmeidigkeit meines Pferdes und kann mir noch immer seine mühelose und freudige Bewegung vergegenwärtigen, die Wärme und den süßlichen Heugeruch.
Vor allem aber liebte ich Motorräder. Vor dem Krieg hatte mein Vater eins, eine Scott Flying Squirrel mit einem großen wassergekühlten Motor und einem brüllenden Auspuff. Ich wollte auch so ein mächtiges Motorrad besitzen. In meiner Phantasie verschmolzen die Bilder von Motorrädern und Flugzeugen und Pferden wie die von Bikern und Cowboys und Piloten, die ich mir bei der gefahrvollen, doch triumphierenden Beherrschung ihrer kraftstrotzenden Fortbewegungsmittel vorstellte. Meine knabenhafte Phantasie war gesättigt mit Western und Filmen über heroische Luftkämpfe, in denen Piloten ihr Leben in Hurrikans und Spitfires aufs Spiel setzen, aber von ihren dicken Fliegerjacken geschützt waren wie die Motorradfahrer von ihren Lederjacken und Helmen.
Als ich 1943 mit zehn Jahren nach London zurückkehrte, saß ich gern auf der Fensterbank in unserem Vorderzimmer, von wo aus ich die vorbeifahrenden Motorräder beobachtete und versuchte, Marke und Typ zu erkennen (nach dem Krieg war es wieder leichter, Benzin zu bekommen, da wurden sie sehr viel häufiger). Ich konnte ein Dutzend oder mehr Marken unterscheiden – AJS, Triumph, BSA, Norton, Matchless, Vincent, Velocette, Ariel und Sunbeam, dazu einige seltene ausländische Maschinen wie BMWs und Indians.
Als Halbwüchsiger ging ich mit einem gleichgesinnten Cousin regelmäßig in den Crystal Palace, um Motorradrennen anzusehen. Häufig trampte ich zum Bergsteigen nach Snowdonia oder zum Schwimmen in den Lake District, und manchmal wurde ich von einem Motorradfahrer mitgenommen. Als Sozius mitzufahren fand ich aufregend und ließ mich von dem schnittigen, schnellen Motorrad tagträumen, das ich eines Tages besitzen würde.
Mit achtzehn Jahren hatte ich mein erstes Motorrad, eine gebrauchte BSA Bantam mit einem kleinen Zweitakter und, wie sich herausstellte, kaputten Bremsen. Das Ziel ihrer Jungfernfahrt war der Regent’s Park, was sich als eine glückliche – vielleicht sogar lebensrettende – Entscheidung herausstellte, weil der Gasgriff klemmte, als ich voll aufdrehte, und die Bremsen nicht kräftig genug waren, um das Motorrad anzuhalten oder auch nur ein wenig zu verlangsamen. Der Regent’s Park ist von einer Straße umgeben, auf der ich nun, auf meinem Motorrad hockend und ohne eine Möglichkeit zum Anhalten, im Kreis herumraste. Hupend und schreiend warnte ich die Fußgänger, doch nach ein oder zwei Runden machten mir alle freiwillig Platz und riefen mir aufmunternde Bemerkungen zu, während ich immer und immer wieder an ihnen vorbeifuhr. Ich wusste, dass das Motorrad irgendwann zum Stehen kommen würde, wenn das Benzin alle war, und so kam es dann auch: Nach einigen Dutzend unfreiwilligen Umrundungen des Parks gab der Motor stotternd den Geist auf.
Meine Mutter war anfangs entschieden gegen die Anschaffung eines Motorrads gewesen. Das hatte ich erwartet, aber ich war überrascht von dem Widerstand meines Vaters, da er doch selbst Motorrad gefahren war. Sie hatten versucht, mich von dem Wunsch nach einem Motorrad abzubringen, indem sie mir ein kleines Auto kauften, einen 1934er Standard, der es noch nicht einmal auf siebzig Stundenkilometer brachte. Mit der Zeit hatte ich eine heftige Abneigung gegen das kleine Auto entwickelt, und eines Tages – einem Impuls folgend – verkaufte ich es und erstand von dem Erlös die Bantam. Jetzt musste ich meinen Eltern erklären, dass ein langsames kleines Auto oder Motorrad gefährlich sei, weil ihm die nötige Motorleistung fehle, um mich aus schwierigen Situationen zu befreien, und dass ich auf einem größeren, stärkeren Motorrad sehr viel sicherer sein würde. Widerstrebend fügten sie sich und gaben mir das Geld für eine Norton.
Auf meiner ersten Norton, einer 250er, hatte ich zwei Fast-Unfälle. Beim ersten fuhr ich zu rasch auf eine rote Ampel zu und setzte meinen Weg einfach fort, als mir klarwurde, dass es zu spät war, um zu bremsen oder zu wenden. Wie durch ein Wunder gelangte ich wohlbehalten durch zwei gegenläufige Verkehrsströme hindurch. Die Reaktion erfolgte zwei Minuten später: Ich fuhr noch einen Block weiter, stellte mein Motorrad am Straßenrand ab – und wurde ohnmächtig.
Das zweite Mal ereignete sich bei Nacht in strömendem Regen auf einer kurvenreichen Landstraße. Ein entgegenkommendes Fahrzeug blendete nicht ab, sodass ich nichts mehr sah. Ich dachte, es würde einen Frontalzusammenstoß geben, aber im letzten Augenblick stieg ich ab – ein lächerlicher Euphemismus für ein potenziell lebensrettendes, aber auch potenziell tödliches Manöver – und ließ das Motorrad in die eine Richtung fahren und mich selbst in die andere rutschen. Es verfehlte das Auto, aber erlitt einen Totalschaden. Da ich glücklicherweise Helm, Stiefel, Handschuhe und eine vollständige Ledermontur trug, war ich so gut geschützt, dass ich nicht einen Kratzer abbekam, obwohl ich etwa zwanzig Meter über die regennasse Straße schlitterte.
Meine Eltern waren entsetzt, aber auch überglücklich, dass mir nichts passiert war, und erhoben erstaunlich wenig Einwände gegen meinen Wunsch, ein anderes, noch stärkeres Motorrad zu kaufen – eine Norton Dominator mit sechshundert Kubik. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich mein Studium in Oxford abgeschlossen und war im Begriff, für die ersten sechs Monate des Jahres 1960 eine Stellung als Klinikchirurg in Birmingham anzutreten, weshalb ich ausdrücklich darauf hinwies, dass ich mit einem schnellen Motorrad auf der neu eröffneten Autobahn M1 zwischen Birmingham und London jedes Wochenende nach Hause kommen könnte. Damals gab es auf Autobahnen noch keine Geschwindigkeitsbegrenzung, sodass ich für den Weg wenig mehr als eine Stunde brauchen würde.
Ich schloss mich einem Motorradclub in Birmingham an und genoss es, Mitglied einer Gruppe zu sein und die Begeisterung der anderen zu teilen; bis dahin war ich immer ein einsamer Biker gewesen. Die ländliche Umgebung von Birmingham wirkte noch ziemlich urwüchsig, und ein besonderes Vergnügen bereitete es mir, nach Stratford-upon-Avon zu fahren und das jeweils auf dem Spielplan stehende Shakespeare-Stück anzuschauen.
Im Juni 1960 fuhr ich zum TT, dem großen Tourist-Trophy-Motorradrennen, das jährlich auf der Isle of Man abgehalten wurde. Es gelang mir, eine Armbinde des Rettungsdienstes zu organisieren, die mich ermächtigte, die Boxen aufzusuchen und einige der Rennfahrer zu sehen. Ich machte mir sorgfältige Notizen, weil ich die Absicht hatte, einen auf der Isle of Man spielenden Roman über Motorradrennfahrer zu schreiben – ich habe viel dafür recherchiert –, aber leider wurde nichts daraus.[1]
Auch auf der North Circular Road um London herum gab es in den fünfziger Jahren noch kein Tempolimit – eine Einladung für alle, die die Geschwindigkeit liebten. Außerdem gab es ein bekanntes Café, das Ace, das vor allem ein Treffpunkt für Biker mit schnellen Maschinen war. Doing the ton – 160 Stundenkilometer (100 mph) – war die Minimalbedingung für die Aufnahme in den inneren Zirkel, die «Ton-Up Boys».
Damals gab es schon eine ganze Reihe von Motorrädern, die diese Geschwindigkeit erreichten, vor allem wenn sie ein bisschen frisiert sowie von Ballast – inklusive Auspuff – befreit wurden und wenn man Super tankte. Anspruchsvoller war da schon das burn-up, ein Rennen durch Nebenstraßen, zu dem man herausgefordert wurde, kaum dass man das Café betreten hatte. Playing chicken dagegen stieß auf Ablehnung, denn auf der North Circular Road herrschte schon damals dichter Verkehr.
Zwar ließ ich mich nie auf das playing chicken doing the ton