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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2019

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ISBN Printausgabe 978-3-499-22591-8 (6. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-00138-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00138-1

Anmerkungen

Nachwort

Klaus Mann: Tagebücher 1936–1937. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Laemmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek 1995, S. 69–70.

Unveröffentlichter Brief von Klaus Mann an Katia Mann, 2. Februar 1937. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Klaus Mann: Tagebücher 1936–1937, a.a. O., S. 104–105.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949. Hg. von Martin Gregor-Dellin. Reinbek 1991, S. 279–282.

Klaus Mann: Tagebücher 1936–1937, a.a. O., S. 99.

Unveröffentlichter Brief von Klaus Mann an Johannes R. Becher, 30. April 1937. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Klaus Mann: Tagebücher 1936–1937, a.a. O., S. 114.

Klaus Mann: Tagebücher 1938–1939. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Lämmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek 1995, S. 23.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, a.a. O., S. 355.

Klaus Mann: Tagebücher 1938–1939, a.a. O., S. 55.

Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a.M. 1980, S. 262.

Klaus Mann: Tagebücher 1938–1939, a.a. O., S. 81.

Ebd., S. 87.

Ebd. Tatsächlich war die Arbeit noch nicht abgeschlossen: Die Korrektur der Druckfahnen beschäftigte den Autor auch noch im März; am 3. April 1939 mußte er gar noch «einen Abschnitt im ‹Epilog› ganz neu schreiben wegen veränderter Läufte und Stimmungen» (ebd., S. 96).

Ebd., S. 108.

Unveröffentlichter Brief von Lion Feuchtwanger an Klaus Mann, 3. Juli 1939. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, a.a. O., S. 385–386.

Klaus Mann: Tagebücher 1938–1939, a.a. O., S. 33.

Wiederabdruck in: Klaus Mann: Das Wunder von Madrid. Aufsätze, Reden, Kritiken 1936–1938. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek 1993, S. 237–246. Bereits im Herbst 1933 verfaßte er eine scharfe Polemik gegen Benn; vgl. Klaus Mann: Zahnärzte und Künstler. Aufsätze, Reden, Kritiken 1933–1936. Hg. von Uwe Naumann und Michael Töteberg. Reinbek 1993, S. 40–43.

Klaus Mann: Tagebücher 1934–1935. Hg. von Joachim Heimannsberg, Peter Lämmle und Wilfried F. Schoeller. Reinbek 1995, S. 26.

Nachwort

Klaus Mann: Zahnärzte und Künstler, a.a. O., S. 364.

Klaus Mann: Tagebücher 1938–1939, a.a. O., S. 87.

Ebd., S. 102.

Ebd., S. 117.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, a.a. O., S. 392.

Unveröffentlichter Brief von Klaus Mann an Katia Mann, August 1939. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, a.a. O., S. 391.

A.M. F[rey]: Klaus Mann: «Der Vulkan». In: Maß und Wert, 3 (1940), Heft 3, S. 408.

Balder Olden: Der Vulkan: In: Die Neue Weltbühne, 35 (1939), Heft 32, S. 1013–1014.

Unveröffentlichter Brief von Klaus Mann an Katia Mann, 22. Juli 1939. Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939, a.a. O., S. 432.

Ebd., S. 435.

Ebd., S. 436.

Thomas Mann/Heinrich Mann: Briefwechsel 1900–1949. Hg. von Hans Wysling. Frankfurt a.M. 1984, S. 275.

Thomas Mann: Tagebücher 1937–1939, a.a. O., S. 438.

Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, a.a. O., S. 388–391.

Ebd., S. 393.

Vgl. die Korrespondenz Erika Manns mit dem Verlag, speziell ihr Schreiben an den Cheflektor Rudolf Hirsch, 19. Februar 1955. Offenbar gab es große Widerstände gegen die Publikation im Verlag, weshalb Erika Mann Textänderungen vorschlug. «De facto hatte ich gewisse Kürzungen, wie Änderungen mit Klaus schon besprochen, und er selbst hatte sie vornehmen wollen. Es ging da hauptsächlich um zwei ‹Gebiete›: 1.) schien uns beiden der Komplex Martin-Kikjou überbetont. Man sollte, meinten wir beide damals, hier soweit kürzen, dass diesen Figuren und ihren Problemen nicht mehr Raum zugebilligt würde, als ihnen – proportionell – zukommt. 2.) aber, ward das Buch zu einem Zeitpunkt geschrieben, da man auf Grund des ‹front populaire› (und des spanischen Krieges) ein wenig ‹röter› sehen durfte als heute. Und während Fälschungen mir ferne liegen, meine ich doch (wie auch Klaus damals meinte), man könnte und sollte ein paar Dinge weglassen, die heute gar zu ‹anachronistisch› anmuten» (an Rudolf Hirsch, 3. März 1955). Sie fürchtete trotzdem, daß «der Bersau» (gemeint war Gottfried Bermann Fischer) ihr noch weitere Konzessionen abnötigen könnte (anWolf Rodig, 6. März 1955). Den Versuch, den Martin-Kikjou-Komplex zu verknappen, gab sie als undurchführbar auf (an Rudolf Hirsch, 9. August 1955). Der Neuausgabe wurde Thomas Manns Brief als Vorwort vorangestellt, wobei Erika Mann auch in diesen Text eingriff. Sie nahm Umstellungen und Streichungen vor, kleine Textmanipulationen «ganz in der Art, in der mein Vater selbst dies getan hätte, ehe er einen schnellgeschriebenen Privatbrief in Druck gab» (an Rudolf Hirsch, 5. September 1955). Die zitierten Briefe, unveröffentlicht, befinden sich in der Handschriftensammlung der Monacensia, Stadtbibliothek München.

W.E. Süskind: Das Leben im Exil. In: Süddeutsche Zeitung, 22/23.5.1968. Zur Vorgeschichte vgl. Klaus Mann: Briefe und Antworten 1922–1949, a.a.O., S. 120.

Nachwort

Wilfried Berghahn: Vom Rande des Abgrunds. In: Wort und Wahrheit, Oktober 1956, S. 787.

«Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt.»

Friedrich Nietzsche, Vorrede zu «Menschliches Allzumenschliches»

Ein junger Mensch saß in einem Berliner Pensionszimmer und schrieb einen Brief.

 

Berlin, den 20. April 1933

Lieber Karl!

Ich hoffe, Du bist gut in Paris angekommen und fühlst Dich wohl. Ich bin einmal zehn Tage lang dort gewesen – weißt Du, damals mit den drei Jungens aus unserer Klasse; Du durftest damals nicht mitkommen, weil Deine Eltern sagten, Paris ist ein zu gefährliches Pflaster für einen jungen Menschen. Das Allerschönste, woran ich mich in Paris erinnern kann, ist der Blick von der Place de la Concorde die Champs-Élysées hinauf, bis zum Arc de Triomphe. Das ist wirklich großartig. Ich bin doch etwas neidisch, daß Du das nun jeden Tag genießen kannst. Ob Du sehr viel Schwierigkeiten mit der Sprache hast? Und ob Du es jetzt bereust, daß Du immer so sündhaft faul gewesen bist, gerade in der französischen Stunde? – Aber ich stelle mir vor, in Paris lernt man ja die Sprache fast von selbst.

Lieber Karl: Ich denke sehr oft an Dich – fast immer, wenn ich gerade mal nichts anderes zu tun habe –: wie es Dir gehen mag, und ob Du Deinen Entschluß nicht bereust. Denn es ist doch ein großer, schwerer Entschluß – sich von der Heimat zu trennen.

Ich habe mir das alles während der letzten Wochen hin und her überlegt, und ich bin zu der ganz festen inneren Entscheidung gekommen: Du hast einen Fehler gemacht.

Mißverstehe mich nicht, Karl: es ist ein anständiger Fehler, den Du gemacht hast. Aber doch ein Fehler.

Ich weiß nicht, ob es noch irgend einen Sinn hat, Dir zuzureden: Komme zurück! Ich fürchte, es hat keinen Sinn mehr. Als ich Dir, vor drei Wochen, am Bahnhof Zoo Aufwiedersehen gesagt habe, fühlte und wußte ich, daß wir uns sehr lange nicht wiedersehen werden.

Du würdest Dir natürlich wie ein Schuft vorkommen, wenn Du eine solche Erklärung abgeben müßtest. Aber vielleicht wäre es in diesem Augenblick das Klügste und das Anständigste, was Du machen kannst. Denn jetzt brauchen wir hier Burschen wie Dich. Hier können sie jetzt nützlich sein, und nur hier.

Was gibt es denn im Ausland für Dich zu tun? Bei den Franzosen auf uns Deutsche schimpfen? Aber Karl! Ich kenne Dich doch! Das bringst Du ja gar nicht fertig. Du weißt viel zu genau, wie sehr die Franzosen mit-schuldig, oder sogar hauptsächlich schuldig sind an dieser radikal-nationalistischen Entwicklung in Deutschland, die wir immer so bedauert haben. Nicht nur der Vertrag von Versailles ist schuld – obwohl der die schlimmste und eigentliche Ursache für alle Verwirrungen in Europa bleibt –; sondern die ganze Art, wie die Franzosen uns während all dieser Jahre gedemütigt haben. Wir hatten wirklich keine nationale Ehre mehr.

Die Frage ist, ob wir jetzt wieder eine bekommen werden. Ich weiß wohl, daß Du es nicht glaubst – und Dir ist nicht unbekannt, daß auch ich schwere Zweifel habe. Ich war nie ein Nazi – Dir muß ich das nicht erst lang und breit versichern –, und ich werde nie einer werden. Ich trete nicht in die Partei ein, habe nur keine Angst – ich denke gar nicht daran. Ich mache hübsch brav meine Examina zu Ende, und dann tue ich was Vernünftiges.

Ich bin kein Nazi, und ich gebe auch zu, daß hier viel Häßliches geschehen ist, während der letzten Monate – alle besseren Menschen sind sich darüber einig, und wir alle glauben, daß dies am Anfang einer großen Umwälzung vielleicht unvermeidlich war, aber bald ganz anders werden muß. Keinesfalls hat es Sinn zu leugnen, daß eine große Umwälzung im Gange ist; daß ein nationales Erwachen sich in Deutschland vollzieht. Überall ist echte Begeisterung zu spüren. Aus der könnte allmählich etwas Schönes,

Du findest sicher, ich bin zu optimistisch. Vielleicht bin ich es. Vielleicht kommt alles ganz anders, nicht so gut. Aber sogar wenn schwere Jahre für Deutschland kommen, will ich hier bleiben. Wenn der Führer seine begeisterten, idealistischen Anhänger enttäuschen sollte – vor allem: wenn er die Jugend enttäuscht –, dann wird in Deutschland eine Opposition entstehen, und dann ist eben von dieser Opposition alles zu hoffen … Ich würde, wenn es sein muß, bei den Oppositionellen sein, wie ich heute bei den Loyalen bin. Das kommt mir tapferer und vernünftiger vor, als ins Ausland zu gehen. Verzeih das harte Wort, Karl: aber es hat doch etwas von Fahnenflucht.

Mein Vater, mit dem ich gestern lang über diese Dinge sprach, gibt mir recht. Du kennst ja den alten Herrn – er ist der preußische Offizier, wie er im Bilderbuch steht. Zu diesem «böhmischen Gefreiten» – so soll Hindenburg den Hitler genannt haben – hat er im Grunde nicht viel Vertrauen. Aber er sagt: Man muß es zugeben – es weht ein neuer Geist in Deutschland. Niemand weiß noch, was draus werden soll; aber es könnte etwas Großes draus werden. Die jungen Menschen haben plötzlich ganz andere, neue, strahlende Gesichter – findet mein alter Herr. «Du mußt hier bleiben, Junge!» sagte er. – Du weißt ja, ich überschätze seine Intelligenz keineswegs; aber es hat mir doch Eindruck gemacht. – Ich erzähle Dir das alles, damit Du siehst: ich habe es reiflich erwogen.

Diesen Brief gebe ich dem Kurt B. mit, der morgen auch nach Paris fährt. Man kann sich schon nicht mehr trauen, einen solchen Brief mit der Post zu schicken … Der Kurt B. sagt, hier wird es bald nicht mehr auszuhalten sein, und nächstens werden auch noch die Grenzen gesperrt, da ist es schon besser, man macht sich rechtzeitig auf und davon. Aber der Kurt ist ja Jude, da beurteilt er die Dinge natürlich von einem etwas anderen Standpunkt als wir; von seinem Standpunkt aus, finde ich, hat er recht.

Vielleicht hast auch Du recht, Karl. Ich will nicht mit Dir streiten, und ich will Dir keine Vorwürfe machen. Ich will Dir nur erklären, wie ich denke und fühle.

Ich denke und fühle: Unser Platz ist hier. Hier müssen wir uns

Ich bin gegen die Emigration.

Viele, die heute rausgehen, werden es bald bereuen. Sie werden ein bitteres Leben haben und außerdem auch noch schlechtes Gewissen. Wie die Zigeuner werden sie von einem Land ins andere ziehen; man wird sie nirgends behalten wollen; sie werden entwurzelt sein, sie werden den Boden unter den Füßen verlieren, viele werden elend zu Grunde gehen. Ich sehe das alles kommen. – Ich hoffe von Herzen, daß es Dir gelingen wird, Dir draußen eine neue Existenz aufzubauen. Es wird schon gehen, Du bist ja ein tüchtiger Mensch. Mich würde es schrecklich freuen, wenn ich nächstens erfahre, daß Du eine gute Stellung gefunden hast, in Paris oder sonst irgendwo. Noch froher würde es mich allerdings machen, wenn Du mir morgen telegraphierst: Ich habe meinen Fehler eingesehen. Ich komme zurück.

Aber das passiert wohl nicht. Du bist ja so verdammt eigensinnig, altes Haus!

Alles Gute!

 

Dein Kamerad

Dieter

 

… Dieter war ziemlich erschöpft, nachdem er dies alles geschrieben hatte. Einen so langen Brief – schien ihm – hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht abgefaßt. Er lehnte sich in den Sessel zurück.

Er war ein hübscher, hoch aufgeschossener Junge, mit blondem Haar, einem langen Schädel, blanker Stirn, blauen Augen und einem weichen, kindlichen Mund. Es gab in seinem Gesicht keine Falten.

Draußen zog ein Trupp von S.A.-Leuten vorbei. Sie sangen. Dieter trat ans Fenster, um ihnen zuzuhören. Das Lied gefiel ihm nicht. Auch ihre Stimmen klangen nicht angenehm. Er machte das Fenster zu.

1933/1934

Auf keiner Stätte zu ruhen,

Es schwinden, es fallen

Die leidenden Menschen

Blindlings von einer

Stunde zur andern,

Wie Wasser von Klippe

Zu Klippe geworfen,

Jahrlang ins Ungewisse hinab.

Friedrich Hölderlin, «Hyperions Schicksalslied»

Das kleine Restaurant, Ecke Boulevard St.-Germain/rue des Saints Pères, war um halb neun Uhr schon beinahe ganz leer. Die Stunde des Diners dauert in Paris von halb sieben bis acht Uhr; später sitzen nur noch Wahnsinnige oder Ausländer bei Tisch. Die beiden letzten Gäste, ein amerikanisches Ehepaar, waren eben dabei, ihren Kaffee zu trinken; da machte die Kellnerin ein erschrockenes Gesicht: es kamen noch vier Leute von der Straße – zwei junge Männer, ein Fräulein und eine ältere Frau.

Einer der jungen Männer – er war auffallend bleich und mager; über seinem Gesicht, das wie aus Wachs gebildet schien, stand das schwarze harte Haar aufrecht, wie in ständigem Entsetzen gesträubt – erkundigte sich, ob man noch etwas zu essen bekommen könne. Die Kellnerin war schon im Begriff zu verneinen, als die Patronne, von der Theke her, ihre Stimme vernehmen ließ: aber gewiß doch, es seien noch zwei Portionen Poulées da, außerdem ein «Schnitzel Viennois», und für eine der Damen könnte man ein Omelett machen. Die Vier schienen es zufrieden; während sie sich um einen Tisch in der Ecke niederließen, erklärte der junge Mann, der vorhin mit der Kellnerin verhandelt hatte: «Ich habe neue Berliner Zeitungen besorgt!» Dabei legte er den Stoß von Papieren vor sich hin. Das junge Mädchen schnitt eine Grimasse und sagte: «Pfui!»

Sie redeten deutsch – was das Ehepaar am Nebentisch aufhorchen ließ. Nun war es die Amerikanerin, die eine angewiderte Grimasse schnitt. Gleichzeitig zuckte sie die Achseln und sagte etwas zu ihrem Gatten, was sich wohl in einem kränkenden Sinn auf die Deutschen im Allgemeinen und die Vier am Nebentisch im Besonderen bezog. Der Gatte schien ihr in allen Punkten recht zu geben; er nickte empört und rief dann schallend: «L’addition, Mademoiselle!»

Die Deutschen inzwischen hatten ihre Zeitungen vor sich ausgebreitet. Das Mädchen sagte, mit einer schön sonoren, etwas

Die amerikanische Dame sagte, ziemlich laut: «Disgusting!» und stand auf. Die vier Deutschen, in den Anblick des Bildes versenkt, überhörten den Ausruf; sie sahen auch nicht, was für ein furchtbar drohendes Gesicht die Amerikanerin hatte, als sie nun, vom Gemahl gefolgt, das Lokal durchquerte, um die Ausgangstür zu erreichen. «Er bekommt einen Bauch!» stellte animiert der zweite junge Mann fest, und meinte den «Führer».

Als die Amerikanerin an dem Tisch vorbeikam, wo deutsch gesprochen und das Hitler-Bild betrachtet wurde, blieb sie eine Sekunde lang stehen, und sagte sehr deutlich: «En bas les boches!» Ihr französischer Akzent war leidlich; jedenfalls viel besser als der des Gatten, der noch breit hinzufügte: «En bas les Nazis!» Dabei hatte er sich der Türe genähert. Die Dame aber wandte sich noch einmal um, und nun spuckte sie aus. Auf eine Entfernung von mindestens zwei Metern spuckte sie recht kräftig und geschickt – man hätte es der respektabeln, keineswegs jungen Person kaum zugetraut –, so daß eine nette, saftige Portion Speichel direkt neben den Schuhen des hageren jungen Mannes auf den Fußboden klatschte. Dann fiel die Türe hinter der Amerikanerin zu.

Die Kellnerin und die Patronne des Lokals hatten den Vorgang wortlos beobachtet; die Kellnerin mit einem kaum sichtbaren, hämischen Grinsen, die Chefin mit einem Achselzucken, als wollte

Die Vier am Tisch waren so erschrocken und derart fassungslos erstaunt, daß mehrere Sekunden lang keiner von ihnen ein Wort hervorbrachte. Die beiden jungen Männer und das Mädchen waren sehr blaß geworden, während das Gesicht der Alten leuchtend rot-braun blieb. Sie war es, die das Schweigen brach, indem sie schallend zu lachen begann. «Das ist wunderbar!» brachte sie unter großem Gelächter hervor, wobei sie mehrfach dröhnend auf die Tischplatte schlug. «Ausgerechnet uns muß das passieren! Das ist köstlich! Nein, sowas!» Die beiden Jungen versuchten mitzulachen; aber das Resultat ihrer Bemühung war kümmerlich, nur die bittere Andeutung eines Lächelns kam zustande. Das Mädchen schaute vor sich hin auf den Teller und sagte leise: «Ich finde es gar nicht komisch.» – Warum nicht komisch? Wieso nicht? – wollte die Alte wissen. Aber nun gestand der zweite junge Mann – der blond und stattlich war, mit einem hellen, großflächigen, hübschen, etwas weichen und müden Gesicht –: «Ich kann mich eigentlich auch nicht besonders darüber amüsieren. Mein Gott, bin ich erschrocken!» Dabei führte er die Hand ans Herz und blickte aus großen, entsetzten Augen, kokett um Mitleid werbend, von einem zum anderen. Der hagere Schwarze betrachtete grüblerisch den Speichelpatzen, der noch neben seinen Füßen auf dem Boden lag. «Vor zwei Wochen», sagte er leise, «vor genau zwei Wochen hat in Berlin, auf dem Kurfürstendamm, ein S.A.-Mann mich angespuckt. Auch aus ziemlicher Entfernung. Er traf noch etwas besser als diese Lady: sein Speichel klebte an meinen Schuhen …» In eine kleine Stille hinein, die diesem Bericht folgte, sagte die Grauhaarige: «Armer David …» Die Kellnerin stellte, mit einem demonstrativen Mangel an Höflichkeit, die zwei Portionen Poulées, das Schnitzel Viennois und ein Omelett auf den Tisch.

«Man hätte die Leute ja aufklären können», sagte der blonde junge Mann mit dem schönen, weichen Gesicht – er hatte eine schleppend melodiöse Art zu sprechen; seine Worte kamen zögernd und einschmeichelnd daher. «Man hätte ihnen auseinandersetzen können, daß wir zwar vielleicht ‹des sales boches›, aber sicher nicht ‹des sales nazis› sind. Nur scheint mir ungewiß, ob die

Das Mädchen mit der schönen, grollenden Stimme schob die Zeitungen fort, die immer noch aufgeschlagen zwischen den Weingläsern und den Tellern lagen. «Sowas muß man sich gefallen lassen! – Ich war gleich dagegen, daß man sich mit dem Schmutzzeug» – sie gab den Papieren noch einen wütenden Stoß – «in ein öffentliches Lokal setzt. Es ist eben einfach zu kompromittierend!» Sie sah reizvoll aus in ihrer Empörung. Aus ihren Augen, die eine merkwürdig dunkelgrüne, ins Schwarze spielende Färbung hatten, schlugen schöne Flammen des Zornes. Der blonde junge Mann – er hieß Martin Korella – legte ihr den Arm um die Schulter und bat mit der schleppenden Schmeichelstimme: «Ärgere dich nicht, Marion! Wir sind ja eigentlich gar nicht gemeint gewesen. Im Grunde war es doch ein recht erfreulicher kleiner Zwischenfall: er beweist, wie unbeliebt die Nazis draußen sind. In Amerika scheint ja eine nette Stimmung gegen sie zu herrschen. – Die freundlichen Herrschaften sind doch Amerikaner gewesen?» fragte er. Das Mädchen Marion indessen wollte sich nicht beruhigen lassen. «Es ist grauenvoll!» klagte sie. «Wie schrecklich schnell ist es diesem Hitler gelungen, die Deutschen in der Welt wieder derart verhaßt zu machen, daß man es riskiert, angespuckt zu werden, wenn man sich als Deutscher zu erkennen gibt!»

Martin, dessen Arm immer noch um Marions Schulter lag, sagte nachdenklich: «Die Frage ist nur, ob diese Welt-Empörung lange anhalten wird. Die Menschen vergessen so schnell, und es kommen andere Sensationen. In fünf Jahren würden wir uns vielleicht freuen, wenn die Leute noch beim Anblick von Berliner Zeitungen in Wut geraten …»

Die Grauhaarige schlug vor: «Jetzt wollen wir aber zunächst mal was essen, Kinder! Das gute Zeug wird ja kalt. Mein Schnitzel sieht wundervoll aus!» Sie sagte «mein Schnitzel», obwohl doch noch gar nicht die Rede davon gewesen war, wie die Gerichte verteilt werden sollten. – «Mutter Schwalbe hat immer recht», konstatierte Martin Korella, und beschenkte die resolute Alte mit

«Ich lasse mir den Appetit nicht verderben!» erklärte Mutter Schwalbe, schon mit ihrem Schnitzel beschäftigt. Und David, dem man das nicht sehr verlockend aussehende harte kleine Omelett überlassen hatte, bemerkte schüchtern: «Ich finde es hübsch hier … Dieses kleine Lokal gefällt mir. Und daß wir vier hier so beieinandersitzen … Ich habe es mir in Berlin oft gewünscht», gestand er, und über sein wächsern zartes Gesicht zog eine flüchtige, helle Röte. «Manche Wünsche gehen unter recht merkwürdigen Umständen in Erfüllung – ganz anders, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte …» Seine rehbraunen, kurzsichtigen Augen wanderten zwischen Marion, Martin und der Mutter Schwalbe hin und her, ehe sie sich, bescheiden und ängstlich, senkten.

Man schrieb den fünfzehnten April 1933. Die vier Deutschen – Marion von Kammer, Frau Schwalbe, Martin Korella und David Deutsch – waren alle erst im Lauf der letzten zwei Wochen in Paris eingetroffen; zuletzt die Schwalbe, für die es nicht ganz einfach gewesen war, ihren Berliner Betrieb aufzulösen. Ihr hatte ein kleines Etablissement, halb Restaurant und halb Kneipe, gehört, in dem sie als Köchin, Empfangschef und Mädchen-für-Alles tätig war. Das Lokal «Zur Schwalbe» war nicht weit von der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, in einer Nebenstraße des Kurfürstendamms gelegen, und hatte sich einer starken Beliebtheit in gewissen Zirkeln der Berliner Jugend erfreut. Leute mit keinem anderen Kapital als ihrem Ehrgeiz und ihrer radikalen Gesinnung, Studenten, angehende Literaten, Maler, Schauspieler hatten sich wie in einem Klub bei «Mutter Schwalbe» zusammengefunden, um dort über Marxismus, atonale Musik und Psychoanalyse zu diskutieren und auf Kredit Frankfurter Würstchen mit Kartoffelsalat zu

Er war einer der treuesten Gäste der Schwalbe gewesen, während Marion und Martin, sozial entschieden höher gestellt als das eigentliche Schwalben-Publikum, sich nur zuweilen hatten sehen lassen – immer ein wenig wie große Herren, die es manchmal belustigt, in ein inferiores Milieu hinabzusteigen. Die «Patronne» hatte, trotzdem, eine entschiedene Sympathie für die beiden; ja, sie mochte sie im Grunde lieber als den armen David, von dem sie, nicht ohne eine gewisse Verächtlichkeit, zu sagen pflegte: «Ach, der ist ja so entsetzlich gescheit! Der weiß ja alles!»

Marion und Martin waren Jugendfreunde. Marion stammte aus einer sehr guten, Martin aus einer mittelfeinen Familie, übrigens waren sowohl die alten Korellas als auch Marions Mutter, Frau von Kammer, ziemlich verarmt. (Herr von Kammer war vor

Viele von Marions Freunden gehörten zu den links gerichteten Schriftstellern oder Politikern, die bei den Nazis am verhaßtesten waren und eingesperrt wurden oder fliehen mußten, als, nach der Reichstagsbrand-Katastrophe, das terroristische Regime begann. Was Marion betraf, so war für sie die Emigration eine Selbstverständlichkeit. Es hätte der Überlegung gar nicht bedurft, daß nun in Deutschland ihre Freiheit, vielleicht sogar ihr Leben gefährdet waren: der Ekel, der Haß, der Abscheu trieben sie fort. «Leider sehe ich ja zu auffallend aus, und zu viele Leute kennen meine ulkige Visage, als daß ich mich unter die Illegalen hätte mischen können», bedauerte sie. «Übrigens hätte ich in Berlin beim Anblick einer S.S.-Standarte – oder wie sie die Banden nennen – auf offener Straße einfach vor Wut gebrüllt. Das wäre mir ja dann wohl kaum sehr gut bekommen.»

Martin Korella war auch einmal Schauspieler gewesen; hatte aber mit maßvollem Bedauern feststellen müssen, daß sein darstellerisches Talent nicht hinreichend war. Er entschied sich für die literarische Laufbahn. Jetzt war er fünfundzwanzig Jahre alt, und hatte noch nichts veröffentlicht, außer ein paar Gedichten und kurzen Stücken lyrischer oder essayistischer Prosa, in Zeitschriften und Anthologien. Diesen Arbeiten aber eignete eine solche Schönheit der Form, eine so innig-seltsame Dichtigkeit und Lauterkeit des Gefühls, daß sie ihrem jungen Autor fast so etwas wie Ruhm einbrachten – einen Ruhm freilich, der nur von ein paar hundert Menschen getragen und gewußt wurde. Es gab Leser in Berlin oder in Heidelberg, in München, Wien oder sogar in Paris, die sich in der Überzeugung einig waren, daß Martin Korella ein begnadeter Dichter sei. Martin war hochmütig genug, um ordinären Ehrgeiz gründlich zu verachten. Übrigens war er auch träge. Er schlief bis zum Mittag und verbrachte dann Stunden auf ziellosen Spaziergängen durch die Stadt. Er las wenig, und immer wieder nur die gleichen Autoren. Es gab Wochen, Monate, während

Als Marion ihm mitgeteilt hatte, daß sie Deutschland verlassen werde, war seine Antwort gewesen: «Natürlich komme ich mit.» Sie war erstaunt, übrigens froh im Grunde, über die nachlässige Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Entschluß äußerte – wenn vielleicht auch nicht erst im Augenblick faßte. Sie hielt es für ihre Pflicht, ihn zu erinnern: «Eigentlich sollte nur weggehen, wer muß. Ein paar anständige Leute müssen auch hier bleiben. Du hast dich politisch nie exponiert. Glaube nur nicht, daß wir es draußen so besonders einfach haben werden.» Woraufhin er nur die Achseln zuckte. «Wenn die Deutschen verrückt werden – ich habe keine Lust, da mitzumachen. Warum sollte ich abwarten, bis es zum Schlußeffekt dieser ganzen makabren Veranstaltung kommt? Bis die berühmte ‹Apokalypse› endlich da ist, auf die alle braven Spießer sich so herzlich zu freuen scheinen? … Übrigens wird diese ‹Apokalypse› in der Realität genau so mittelmäßig und langweilig ausfallen, wie alles, was man uns bisher geboten hat … Das Ganze ist eine Farce; leider keine harmlose. Aus einem Menschen mit so einer Fresse macht man keinen Halbgott.» Er deutete auf das Hitlerbild in einer Zeitung. «Das ist abgeschmackt. Es kann nicht gut enden.» – Das war jetzt ungefähr drei Wochen her.

David Deutsch gehörte zu den Bewunderern Martins. Übrigens war es in Berlin zwischen den Beiden über eine flüchtige Bekanntschaft, die Mutter Schwalbe vermittelt hatte, nicht hinausgekommen. Der junge Philosoph und Soziologe, die Stille kleiner Universitätsstädte gewohnt, fühlte sich unsicher, gehemmt, oft sehr unglücklich im Berliner Betrieb. Es gab dort nur wenig Menschen, die ihn kannten und seine intellektuellen Gaben zu schätzen wußten. Seine Doktorarbeit hatte in Fachkreisen ein gewisses Aufsehen gemacht; aber die Berliner Literaten wußten weder von ihr,

Bei der zweiten Flasche Rotwein wurde die Stimmung der vier am Tisch lebhafter, beinahe munter. Die Schwalbe entwickelte ihren Plan, in der Montparnasse-Gegend ein kleines Restaurant aufzumachen –: «ganz nach dem Muster meiner Berliner Kaschemme. Dort sollt ihr anständig zu essen kriegen – nicht so ein kümmerliches ‹Schnitzèle Viennois›, wie man mir gerade eines vorgesetzt hat. Ich habe schon einen bestimmten Platz im Auge», berichtete sie, und ihre blauen Kapitänsaugen leuchteten. «Aber ich sags noch nicht, welchen. Ich bin abergläubisch. Ehe der Mietsvertrag unterzeichnet ist, erfährt kein Mensch, wo die Schwalbe sich diesmal niederläßt!» Sie redete geheimnistuerisch und verheißungsvoll, wie zu Kindern, denen man die Herzen mit Sehnsuchts-Neugier nach den Wonnen eines Weihnachtsabend füllen will. In der Tat erreichte sie durchaus den gewünschten Effekt: die drei jungen Menschen wurden animiert und wollten mehr wissen. Wann Mutter Schwalbe ihren Laden zu eröffnen gedenke? Ob es auch Musik geben solle, und vielleicht gar etwas Platz, um nach dem Essen zu tanzen? – «Und eine Bar!» rief Marion, plötzlich guter Laune. «Ich finde, eine Bar solltest du einrichten. Wir wollen es doch schließlich auch etwas pariserisch haben!» Sie sah vergnügungssüchtig aus und hatte schöne, wilde Gebärden. Ihre großen, jünglingshaft harten und sehnigen Hände formten etwas in der Luft, was die Konturen einer Flasche bedeuten konnte. Dabei stieß sie ein gefülltes Weinglas um. Marion hatte die Eigenheit, immer irgend etwas umzuwerfen und kleine Katastrophen

Sie beschlossen, den Kaffee in Montparnasse zu nehmen. Dort würde man bestimmt Bekannte treffen. «Ich glaube, die gute Ilse Proskauer ist heute aus Berlin angekommen», sagte die Schwalbe. «Sie wird uns etwas Neues erzählen können.»Marion sagte: «Vorher muß ich noch bei den ‹Deux Magots› vorbeischauen. Marcel hat versprochen, dort auf uns zu warten.»

Sie gingen zu viert nebeneinander, Arm in Arm, das kleine Stück des Boulevard St.-Germain hinunter, das die Ecke der rue des Saints Pères vom Platz St-Germain-des-Près trennt. Der Abend war milde, im glasig durchsichtigen Himmel gab es noch ein wenig Licht. Aus dem Halbdunkel, in dem die Töne eines verblichenen Rosa sich mit den unendlich vielen Nuancen des Grau vermischten, traten die Umrisse der alten, schmalen, vornehmen Häuser zart und deutlich hervor. «Wie schön Paris ist!» sagte Martin, andächtig leise. «Man hätte sich viel früher dazu entschließen sollen, hier zu leben … Es ist, wie wenn man einen Menschen, zu dem man ganz paßt und mit dem man vielleicht sehr glücklich hätte sein können, etwas zu spät, unter melancholischen Umständen kennen lernt …»

Sie standen zu dritt an der Ecke des Boulevards und des Platzes. Marion war ins Café gegangen, um Marcel zu holen. Vor einem Zeitungskiosk, der englische, amerikanische, italienische, deutsche, holländische, spanische und dänische Blätter anbot, drängten sich Menschen: Pariser Studenten, den bunten Wollschal apachenhaft um den Hals geschlungen, auf dem Kopf die kleine runde Baskenmütze; junge Engländer und Amerikaner, barhäuptig, die Zigarette im Mund, die Hände in den Taschen der weiten Flanellhosen vergraben; bunt hergerichtete Frauen, einige schon im Frühlingskostüm, andere noch im Pelz.

David Deutsch sagte: «Ich habe wirklich ein wenig Herzklopfen, weil ich Marcel Poiret kennen lernen soll.» Daraufhin Martin,

Marcel Poiret pflegte seit mehreren Jahren einen Teil des Winters in Berlin zu verbringen. Einer seiner Romane war in deutscher Übersetzung erschienen und hatte ein gewisses Aufsehen gemacht. Boshafte Kritiker, die dem jungen Poiret übelwollten, behaupteten, daß man ihn ‹auf der anderen Seite des Rheins› irrtümlich für einen französischen Dichter halte, während man in Paris sehr wohl wisse, daß er nur einer von jenen zahllosen jungen Herren sei, die à tout prix auffallen wollen, sei es durch die grelle Farbe ihrer Hemden und Socken, sei es durch den anstößigen Exhibitionismus ihrer literarischen Beichten.

Poiret gehörte zu einer Gruppe von jungen französischen Künstlern – sie setzte sich nicht nur aus Autoren, sondern auch aus Malern und Komponisten zusammen –, die auf eine höchst gewagte und etwas verwirrende Art in ihrem Stil und in ihrer Gesinnung

In dieser Gruppe, die mit dem ganzen Rest des literarischen Frankreich in Fehde lag – in einer Fehde übrigens, die sich oft in nächtlichen Raufereien, im Beschmieren von Hauswänden oder in Skandalszenen bei Theaterpremièren manifestierte –, zu dieser zugleich verzweifelten und munteren, stolz abseitigen und lärmend vordringlichen Gruppe bekannte sich Marcel Poiret. Er hatte seine literarische Laufbahn in einer Atmosphäre begonnen, die grundverschieden von derjenigen war – oder doch zu sein schien –, die jetzt ihn und ein Dutzend von Kameraden wie zu einem verschwörerischen Zirkel verband. Die erbitterte Opposition gegen das reaktionär-bigotte Milieu einer französischen Bourgeoisfamilie, aus der er stammte, hatte sich zunächst nur als bissig-melancholische Aufsässigkeit und als eine etwas puerile Neigung zu

Der Haß gegen seine Mutter, die für ihn die Bourgeoisie und besonders die französische Bourgeoisie repräsentierte, bestimmte seine Entwicklung. Er perhorreszierte das Christentum, weil Madame Poiret zur Messe ging. Er trieb sich mit Amerikanern, Chinesen und vorzugsweise mit Deutschen in den Nachtlokalen von Montmartre und Montparnasse herum, weil Madame Poiret alle Ausländer für Barbaren hielt, von den Deutschen niemals anders als «les sales boches» sprach, und der Ansicht war, daß die Nachtlokale eine infame Erfindung des Teufels, des deutschen Kaisers und der Bolschewisten seien, um die französische Nation zu korrumpieren. Er ging niemals vor vier Uhr morgens schlafen und betrank sich jede Nacht mit Whisky und Gin, weil seine Mutter sich um neun Uhr in ihr Zimmer zurückzog, um halb zehn Uhr das Licht löschte, und die Namen der starken angelsächsischen Alkoholika nur mit ekelverzerrtem Gesicht, übrigens höchst fehlerhaft, aussprechen konnte. Aus tiefer Aversion gegen das ein wenig altmodisch-tadellose Französisch, in dem Madame Poiret sich ausdrückte, hätte der Sohn am liebsten nur noch englisch, deutsch oder russisch geredet. Zu seinem Leidwesen war er total unbegabt für fremde Sprachen. Er tat sein Bestes, die Mutter und ihre