«Man lernt sich irgendwo ganz flüchtig kennen
Und gibt sich irgendwann ein Rendezvous.
Ein Irgendwas, – ’s ist nicht genau zu nennen
Verführt dazu, sich gar nicht mehr zu trennen.
Beim zweiten Himbeereis sagt man sich ‹du›.
(…)
Man trifft sich im Gewühl der Großstadtstraßen.
Zu Hause geht es nicht. Man wohnt möbliert.
Durch das Gewirr von Lärm und Autorasen.
Vorbei am Klatsch der Tanten und der Basen
Geht man zu zweien still und unberührt.»
Mascha Kaléko: Großstadtliebe, 1933
Mittwoch, 24. Mai 1922
Das Licht in dem Saal mit den hohen Fenstern und den gekachelten Wänden war grell, es stach Gerda in die Augen, und sie kniff sie zusammen, so fest sie konnte. Über ihr strahlte eine Lampe, weiß wie ein unerbittlicher Stern, dessen Licht niemals erlosch, und hinterließ lilafarbene Streifen auf ihrer Iris. Gerdas Leib schmerzte, und sie umfasste ihren Bauch mit den Händen. Sie warf sich hin und her und versuchte zu sehen, was vor sich ging. Doch sie war allein im Raum, der Arzt und die Hebamme waren hinausgegangen.
Gerda hatte noch die dunkle Stimme des Doktors in den Ohren. «Alles wird gut, Frau Manteuffel», hatte er gesagt, «wir bereiten Sie für den Kaiserschnitt vor, und dann haben wir mir nichts, dir nichts Ihr Kind auf der Welt.»
Doch nichts war gut, das wusste sie. Zwischen ihren Beinen war es seltsam warm und klebrig gewesen, als sie vor einer Stunde erwacht war, in ihrem Bett im Pavillon der Hausschwangeren. So viel Blut hatte sie verloren, dass sie furchtbar erschrocken war, und sie hatte sofort gewusst, dass auch diese Schwangerschaft böse enden würde. Wie schon so oft. Sie konnte die Kinder, mit denen sie im Laufe der letzten Jahre schwanger gewesen war, nicht mehr zählen, doch eins wusste sie – keines von ihnen hatte gelebt.
In den vergangenen Wochen hatte Gerda endlich Hoffnung geschöpft, denn so lange hatte bisher keine Schwangerschaft Bestand gehabt, und sie hatte gefühlt, wie sich das Kind unter ihren Händen bewegte. Doch dann hatte sie in der letzten Nacht diesen schrecklichen Traum gehabt, von einem Messer, das man ihr in die Eingeweide stieß und das ihr Kind tötete, und als sie erwachte, hatte sie erkannt, dass der Albtraum Wirklichkeit wurde. Dass auch dieses Kind sterben würde, ehe sie die Chance bekam, ihm eine Mutter zu sein.
Dabei hatte der Fremde versprochen, dass es diesmal nicht passieren würde. Vor einem halben Jahr hatte er bei ihnen in der engen Kochstube in der Kufsteinstraße angeklopft. Was genau Gerda an dem Mann misstrauisch gemacht hatte, als er da so steif auf ihrem Kanapee saß, konnte sie nicht mehr sagen. Aber es war etwas an ihm, das sie frösteln ließ. Und doch betrachtete sie ihn genau, prägte sich jedes Detail ein. Die Farbe seines Haars, die Furchen um seine Mundwinkel, den Faltenwurf des dicken Mantels, den er nicht abgelegt hatte. So, als sei er sehr beschäftigt und nur auf einer Stippvisite, jederzeit auf dem Sprung, wieder zu gehen. Das meiste von dem, was er sagte, verstand Gerda nicht, doch Fred hatte gesagt, dass sie ihm vertrauen müssten. Doch auch in seinen Augen hatte die Angst gestanden, ein Spiegelbild dessen, was sie selbst empfand. Nur, was blieb ihnen übrig? Der Mann hatte ihnen sogar Geld versprochen und, was noch wichtiger war, einen Platz in seinem Krankenhaus. Die Behandlung wäre umsonst, sagte er, bevor sie fragen konnte. Und so war sie ihm aus der Vorstadt nach Mitte gefolgt, hatte sich in der Frauenklinik einquartieren lassen, weit fort von zu Hause. Die Stadt machte ihr hier Angst, das nächtliche Platschen des Flusses an die Kaimauern vor dem Fenster ihres Zimmers, die gewaltigen Gebäude aus Stein, die hinter dem Klinikgelände aufragten. Gerda fühlte sich wie eine der gefangenen Prinzessinnen in den Märchen, die die Portiersfrau früher den Kindern in der Straße erzählt hatte. Eingesperrt in einen Turm, ausgeliefert und allein. Da konnte Fred noch so oft beteuern, dass man ihr hier nur helfen wolle. Jedes Wochenende kam er aus der neuen Wohnung in Tempelhof nach Mitte, um sie zu besuchen und ihre Hand zu halten. Und das, obwohl er sich für sein entstelltes Gesicht in der Öffentlichkeit schämte. Doch es half ihr nicht. In einem Krankenhaus lauerte der Tod, das wusste Gerda, seit ihre jüngeren Schwestern vor Jahren in einem Spital an Diphtherie gestorben waren. Und nun holte er ihr Kind.
Sie fühlte, wie ihr die Tränen aus den Augen liefen und in den dichten Haaren über dem Ohr versickerten. Sie wurde schwächer, und obwohl sie es nicht sehen konnte, wusste sie, dass sie in einer Blutlache liegen musste.
Da, endlich, hörte sie Stimmen. Die weiße Uniform einer Pflegerin tauchte in ihrem Gesichtsfeld auf. Gerda kannte die Frau nicht, die Schichten hier wechselten häufig. Und heute hatte man sie erstmals auf einer fahrbaren Liege durch einen Verbindungsgang mit Glasdach in diesen Operationssaal hinübergerollt.
Auf einmal füllte sich der große Raum. Gerda hörte das Schlurfen vieler Füße auf dem Linoleum, das halblaute Gemurmel. Sie blickte in junge Gesichter, die sie aus einigem Abstand anstarrten. Es mussten die Assistenzärzte und Klinikpraktikanten sein, die zum Zuschauen kamen. Gerda hatte erfahren, dass die Klinik an die Universität angeschlossen war und dass die Studenten hier etwas lernen sollten. Zumal wenn eine Frau, die im achten Monat schwanger war, an ihrem eigenen Kind verblutete.
Laut stöhnte sie auf.
«Ganz ruhig», sagte das runde Gesicht mit dem Häubchen und beugte sich über sie. Gerda fand, dass die Frau mit ihr sprach, als sei sie eine kalbende Kuh, die beruhigt werden sollte. Trotzdem war sie dankbar, nicht mehr allein zu sein.
«Es tut so weh», weinte sie.
Die Pflegerin nickte wissend und zog eine Spritze auf.
«Gleich ist es vorbei», sagte sie, «gleich hört es auf.»
Die gewaltige Nadel, die sich ihrem Arm näherte, ängstigte Gerda fast mehr als die Schmerzen selbst, doch sie hatte keine Wahl.
Mit geübten Handgriffen schob die Pflegerin die Nadel in ihre weiche Haut und drückte die durchsichtige Substanz, die sich in der gläsernen Spritze befand, in Gerdas Arm.
Wo floss die Medizin hin?, wunderte sich Gerda. Was würde sie in ihrem Körper bewirken? Wie sah es unter der Haut überhaupt aus? Sie wusste es nicht, in den wenigen Jahren, in denen sie als Kind die Volksschule besucht hatte, hatte die Lehrerin nichts darüber gesagt.
Dann konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, es war, als sei ihr Kopf plötzlich mit Watte gefüllt. Schon verschwamm der grelle Kreis über ihr, rückte in eine merkwürdige Ferne. Aber die Schmerzen verebbten, und die Dankbarkeit, die Gerda darüber empfand, war groß. Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, im Meer zu schwimmen. Dabei hatte sie das Meer noch nie gesehen, hatte Berlin überhaupt noch nie verlassen. Das Wasser war dunkelgrau, wie geschmolzenes Eisen umschloss es ihre Glieder, und der Sog, der unter der Oberfläche wirkte, zog sie rasch mit sich. Gerda starrte in die Wolkendecke, die dunkel und schwer über ihr hing. Dann drehte sie den Kopf zur Seite und sah am Horizont, dort, wo das Wasser auf den Himmel traf, einen hellen, flirrenden Schimmer, wie flüssiges Gold, das zwischen beiden Elementen hervorzubrechen versuchte. Gerda trieb darauf zu, das Licht kam näher und näher, und mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sie sich von den schnellenden Wassern weiterziehen und sehnte sich nach dem Augenblick, da sie die goldene Masse erreichen und für immer darin aufgehen würde.
Montag, 14. Juli 1924
Huldas Herz klopfte plötzlich schneller, als sie über die Ebertsbrücke lief und vor sich die Backsteinmauern der Klinik auftauchen sah. Verwundert blieb sie stehen und zwang sich, tief durchzuatmen. War das wirklich sie, Hulda Gold, die erfahrene Hebamme vom Winterfeldtplatz, die angesichts der ehrwürdigen Steine ihres zukünftigen Arbeitsplatzes aus dem Häuschen geriet? Besser, sie riss sich zusammen und wischte sich die Nervosität aus dem Gesicht, ehe die Krankenschwestern schon am ersten Tag über das neue Huhn im Hebammenzimmer kicherten und spotteten.
Hulda stellte die schwere Ledertasche einen Moment auf dem Trottoir ab und straffte die Schultern. Sie blickte hinauf in den Himmel, der sich hellblau wie die Ballrobe einer Dame über die Häuser spannte, mit winzigen weißen Wölkchen, als hätte jemand die Samen einer Butterblume auf den schwingenden Rock gepustet. Die Morgensonne stand im Osten und malte glitzernde Kreise auf das Wasser der Spree, die Luft war noch frisch und klar, eine Seltenheit im staubigen Berlin.
Weiter hinten, in der Artilleriestraße, erhob sich auf der rechten Seite das wuchtige Haupttelegraphenamt, ein Koloss, in dem die Fernsprecher-Arterien der Stadt zusammenliefen wie in einem steinernen Herz.
Prüfend strich sich Hulda eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn. Sie vermisste ihre rote Kappe, die ihre Frisur im Zaum hielt, aber bei diesen warmen Temperaturen ertrug sie es darunter nicht. Dann wischte sie sich die feuchten Handflächen am Faltenrock ab und griff entschlossen zum abgetragenen Henkel ihrer Hebammentasche. Man erwartete sie. Und sie würde eine gute Figur abgeben, das wusste sie trotz ihres nervösen Anflugs. Es war ihre Spezialität, die Menschen schnell von ihrer Kompetenz zu überzeugen, ohne dass sie viel sagte. Sie musste sich nur ein wenig an den Gedanken gewöhnen, künftig in einer der bedeutendsten Frauenkliniken des Landes zu arbeiten, anstatt wie früher in ihrer kleinen Schöneberger Welt schalten und walten zu können, wie sie wollte.
Aber das war eigentlich auch nur die halbe Wahrheit, dachte sie, als sie mit gewohnt flinken Schritten den Fluss überquerte und am anderen Ufer die Artilleriestraße entlanglief. Eine freie Hebamme war vor allem frei von Sicherheit, von einem verlässlichen Auskommen, und sie würde später, im Alter, ohne Rente auf sich gestellt sein. Hulda hatte sich trotz der angeblichen Unabhängigkeit ihres Berufs bei jeder Kleinigkeit vom Bezirksarzt gängeln lassen müssen, hatte stets gezittert, dass ihr der übellaunige Doktor Schneider jederzeit einen Fehler nachweisen konnte und ihr daraufhin die Lizenz entzogen würde. Es gab außerdem bei weitem nicht genug Schwangere zu betreuen, seitdem immer mehr Aufgaben der Hebammen von den Mütterberatungsstellen und den Geburtenstationen der Kliniken übernommen wurden. Hulda verdiente pro Geburt, nicht pro Arbeitsstunde, und während Letztere sie oft um den Nachtschlaf brachten, reichten Erstere kaum, um ihr ein monatliches Auskommen zu garantieren. Dieses Missverhältnis war nicht länger zu übersehen gewesen.
Nein, dachte Hulda und suchte mit den Augen den Eingang zur Klinik, es war Zeit, ihre Situation zu verbessern. Die Inflation galt offiziell als beendet, doch Hulda und viele der kleinen Leute in Berlin waren alles andere als sicher vor dem wirtschaftlichen Ruin. Sie musste finanziell ab jetzt besser für sich sorgen. Auch wenn sie eine gewisse Wehmut nicht leugnen konnte.
Hulda fand den Eingang und schellte. Beinahe sofort öffnete ihr eine junge, blasse Frau in Pflegerinnenuniform, als hätte sie hinter der schweren Tür gelauert.
«Sie wünschen?»
«Ich möchte zur leitenden Hebamme, bitte. Irene Klopfer? Ich bin die Neue.»
«Einen Moment.»
Ohne ein Lächeln drehte sich die Pflegerin von ihr weg und lief den Gang hinunter. Hulda wagte sich ins Foyer und fühlte sich wie ein Regenschirm, den jemand in einem Schirmständer vergessen hatte. Sie trat von einem Bein auf das andere und betrachtete die dunklen Granito-Fliesen, die den langen Korridorboden bedeckten, als sie eine Pförtnerloge bemerkte. Ein kauzig aussehender älterer Herr saß hinter der Glasscheibe und schien ein Nickerchen zu halten. Doch während Hulda sein Gesicht betrachtete, schlug er unverhofft die Augen auf und grinste verschämt, als hätte sie ihn ertappt.
«Ein Schläfchen in Ehren …», knurrte er und kratzte sich unter der ledernen Mütze. Dann rappelte er sich auf, rieb sich die grauen Bartstoppeln, die ihn wie einen Seemann wirken ließen, und winkte Hulda heran.
«Ihr Name, Frollein?»
«Hulda Gold.»
In seinen Augen blitzte es, als hätte er das ohnehin längst gewusst. «Ich bin Pförtner Scholz. Herzlich willkommen in der Anstalt, Frollein Gold», sagte er, und in jedem seiner Worte klang ein verstecktes Lachen.
Irgendetwas an ihm erinnerte Hulda plötzlich an ihren Freund Bert, den Zeitungsverkäufer vom Winterfeldtplatz, obwohl der sich gegen einen solchen Vergleich sicherlich empört verwahrt hätte. Trug Bert doch täglich die ausgesuchte Garderobe eines Gentlemans, während dieser alte Pförtner es mit der Körperpflege nicht allzu genau zu nehmen schien. Doch es hatte nichts zu tun mit einer äußerlichen Ähnlichkeit, sondern eher mit dem Ausdruck in seinen Augen, mit dem er Hulda jetzt musterte. So, als wäre sie etwas Kostbares, jemand, den er für voll nahm. Diesen Blick bekam eine junge ledige Frau in Berlin nicht oft von Männern, wie Hulda aus leidvoller Erfahrung wusste.
«Frollein Klopfer wirdse gleich abholen», sagte er und schob ihr ein Papier und einen Stift hin. «Sie können sich schon mal anmelden. Hat hier allet seine Ordnung, verstehen Sie?»
Hulda überflog das Formular, trug ihre Wohnanschrift bei Frau Wunderlich ein und ihren Namen nebst Geburtsdatum. Dann gab sie alles an den Pförtner zurück.
Nachdem er die wenigen Angaben aus zusammengekniffenen Augen betrachtet hatte, breitete sich ein Schmunzeln über sein Seemannsgesicht.
«Donnerwetter», sagte er, «an Ihnen ist wohl ’n Herr Doktor verlorengegangen, bei so ’ner Klaue wie der da.» Er deutete auf die Buchstaben, die kreuz und quer über das Blatt zu springen schienen. «Die Ärzte schreiben ja alle so grottenschlecht.»
Hulda hob die Schultern. «Schönschrift war noch nie meine Stärke», erklärte sie. Dann sah sie ihn herausfordernd an. «Aber wieso nicht eine Frau Doktor?», fragte sie und bemerkte selbst den kindischen Trotz, der sich in ihre Stimme geschlichen hatte.
«Die jibt’s hier nicht», war die Antwort. «Das schöne Jeschlecht stellt in unserer Klinik lediglich die Hebammen und die Schwestern.»
«Keine einzige Ärztin?» Hulda wunderte sich, denn sie wusste, dass inzwischen sehr wohl auch Frauen an der medizinischen Fakultät studierten. Und etwas an der Art, wie der Pförtner das lediglich betont hatte, ging ihr gegen den Strich.
«Nich bei uns», brummte Herr Scholz.
Hulda vermochte nicht zu erkennen, ob er diesen Umstand billigte oder nicht.
Bevor sie etwas erwidern konnte, näherten sich rasche Schritte. Neben der blassen Pflegerin ging eine matronenhafte Frau in mittleren Jahren, die Schürze schimmerte beinahe schmerzhaft weiß. Mit einer militärischen Geste schoss ihre Hand vor, und Hulda verbiss sich einen Schmerzenslaut, als die Frau ihre Finger drückte.
«Fräulein Gold», sagte sie, «mein Name ist Irene Klopfer. Folgen Sie mir bitte.»
Damit drehte sie sich auf dem Absatz um, und Hulda schwamm in ihrem Kielwasser über den dunkelgrauen Steinboden. Die Pflegerin und der Pförtner blieben wortlos zurück, offenbar machte die Präsenz dieser Frau auch sie stumm.
Ohne Hulda anzusehen und immer eine Nasenlänge voraus, als wäre jede Sekunde kostbar, sprach Fräulein Klopfer weiter: «Willkommen in unserer Klinik», sagte sie. «Sie werden sich schnell eingewöhnen. Ihrem Lebenslauf habe ich entnommen, dass Sie an der Frauenklinik in Neukölln gelernt haben, ein hervorragendes Institut. Und genug Erfahrung haben Sie seitdem ja wohl auch sammeln können?»
Hulda nickte, doch da Fräulein Klopfer vorausgeeilt war und sich nicht nach ihr umdrehte, fügte sie laut hinzu: «Jawohl.»
«Aus Schöneberg kommen Sie also.» Irene Klopfer öffnete schwungvoll eine Tür, die vom Gang zu einem weitläufigen Pavillon führte. «Kein einfaches Pflaster, denke ich. Na ja, was unsere jungen Praktikanten hier in der Poliklinik zu sehen kriegen, dürfte in etwa Ihren Erfahrungen entsprechen.»
«Ja?», fragte Hulda und ließ ihren Blick schweifen.
Sie befanden sich in einem großen Raum mit hellem Holzfußboden, offenbar ein Aufenthaltszimmer. Zwei Tische gab es hier, mit schönen, akkurat angeordneten Holzstühlen. An der Stirnseite stand ein einfaches Sofa mit einer Leselampe.
«Poliklinik, sagten Sie?» Hulda drehte sich zu Irene Klopfer um, die zum Fenster getreten war und einen der langen, halbtransparenten Stores zurechtzupfte. Dann knipste die ältere Hebamme mit den Fingernägeln ein welkes Blatt von einer kleinen Grünpflanze und steckte es sich in die Tasche ihrer leuchtenden Schürze.
«Ja, wenn es bei einer Geburt Komplikationen im Bezirk gibt, ruft man hier an, und zwei unserer Hauspraktikanten wetzen los und entbinden die Frauen ambulant. Was die armen Jungs da bisweilen für Löcher sehen! Ich sage Ihnen, das ist eine Schule fürs Leben: Huren, Syphilitikerinnen, Kinder, die auf nackten Bodenbrettern geboren werden, ohne fließendes Wasser, ohne Zukunft. Das ganze Programm.» Die leitende Hebamme sah sie unvermittelt an. «Aber ist eben nicht jeder auf Wolken gebettet, richtig?»
Hulda wusste nicht, ob sie Irene Klopfer sympathisch finden sollte oder nicht. Die Frau ließ sich nicht leicht in die Karten gucken, schien ihr, sie zeigte mit keiner Regung, ob sie Mitleid oder Verachtung für die Frauen empfand, von denen sie sprach.
«Jedenfalls werden Sie damit wenig zu tun haben, Fräulein Gold», fuhr sie fort. «Ihr Wirkungsbereich wird hier sein, in diesen Mauern.» Sie klatschte in die Hände, als wollte sie sich selbst und Hulda zur Eile antreiben. «Ich zeige Ihnen jetzt die Station, die Zimmer für die Hausschwangeren, also die Frauen, die wir über Wochen betreuen, sowie den großen und den kleinen Kreißsaal. Anschließend gehen wir zurück ins Hauptgebäude, und ich gebe Ihnen einen Schlüssel für Ihren Spind im Hebammenzimmer.»
Sie betrachtete Hulda mit kritischem Gesichtsausdruck.
«Was Ihre Arbeitskleidung angeht», sagte sie dann, «so muss ich darauf bestehen, dass Sie die Schürzen und Hauben aus dem Uniformbestand der Klinik tragen. Es ist wichtig für die Patientinnen, zu sehen, dass hier alles aus einem Guss ist und nicht jeder herumläuft, wie es ihm beliebt.»
«Selbstverständlich», sagte Hulda, die gar nichts anderes erwartet hatte. Dennoch fühlte sie sich, als hätte man sie gemaßregelt. Als habe sie, ohne es zu wollen, eine innere Rebellion gezeigt, die Irene Klopfer mit scharfem Auge sogleich erspäht und gerügt hatte. Hulda meinte sogar, eine Spur Misstrauen in den Augen der anderen Frau zu erkennen, und sie fragte sich, ob sie vielleicht unwissentlich einen spöttischen Zug im Gesicht hatte. Ihre Wirtin, Frau Wunderlich, sagte ihr dauernd, sie solle nicht immer so streng gucken, das verschrecke die Menschen. Dabei dachte Frau Wunderlich wohl vor allem an die Männer.
Hulda setzte schnell ein Lächeln auf. Denn sie wollte nichts weniger, als am ersten Tag mit der leitenden Hebamme aneinanderzugeraten.
«Am Anfang werden Sie mich nur begleiten», sagte Fräulein Klopfer und ging wieder strammen Schrittes voran. «Ich bitte Sie, mir einfach zu folgen, zu beobachten, zu lernen, aber nicht einzugreifen. Sobald Sie eingearbeitet sind, werden wir in Schichten tätig sein, im Wechsel mit einer dritten Haushebamme. Es ist immer nur eine von uns im Dienst, dazu kommen die Hebammenschülerinnen, die aber natürlich keine große Hilfe sind.» Ihr Mund verzog sich, und diesmal las Hulda eindeutig eine abschätzige Meinung gegenüber den jungen Schützlingen heraus, die sie selbst als Schülerin nur zu oft erfahren hatte.
Rasch folgte Hulda der Älteren durch die Flure des Pavillons, lugte durch halb offen stehende Zimmertüren und grüßte mit stummem Nicken die schwangeren Frauen, die auf ihren Betten lagen, lasen oder halblaut miteinander schwatzten. Die Einrichtung der Räume war pragmatisch, aber hell und freundlich, fand Hulda. Keine Spur mehr von den düsteren Hallen älterer Klinikbauten mit ihren endlosen Reihen metallener Bettgestelle. Hier waren höchstens sechs Frauen auf einem Zimmer, es gab auch Zweibettzimmer für die Vermögenderen, die es sich leisten konnten, für ein wenig Privatsphäre zu bezahlen.
Langsam bekam Hulda eine ungefähre Vorstellung vom Aufbau der Klinik, sie erkannte, dass das Gelände aus einer symmetrischen Anordnung mehrerer Pavillons bestand, die man untereinander durch überdachte Gänge verbunden hatte. Durch die großen Fenster sah sie gepflegte Grünflächen, Blumenrabatten und Bänke zum Ausruhen für Spaziergänger.
Als hätte Irene Klopfer ihre Gedanken gelesen, erklärte die ältere Hebamme: «Vorne im Hauptgebäude ist die Gynäkologie untergebracht, dort behandeln die Ärzte Frauenleiden wie Karzinome und Geschlechtskrankheiten. Außerdem befindet sich dort der große Hörsaal für die Medizinstudenten. Die hinteren Pavillons beherbergen die Geburtshilfe, und hier werden Sie hauptsächlich zu tun haben.»
Mit diesen Worten stieß sie eine weitere große Tür auf, und Hulda konnte nicht anders, als überrascht Luft zu holen. Der Raum war beeindruckend in seiner Größe und Helligkeit, die Dielen waren aus Pinienholz, und die tiefen Fenster gingen zur Spree hinaus. Hulda sah den Fluss draußen in der Vormittagssonne glitzern. Im Saal verteilt standen mehrere breite Liegen, voneinander getrennt durch Vorhänge, die man bei Bedarf zuziehen konnte. An der Wand befanden sich mehrere Wärmebettchen und kleine, fahrbare Tische aus Stahl, auf denen blitzblank geputztes Besteck lag, ähnlich wie in einem Operationssaal. In hohen Vitrinenschränken wurden hinter Glas Zangen und andere Hilfsmittel aufbewahrt, jederzeit griffbereit für die Mediziner.
«Unser Kreißsaal», sagte Irene Klopfer und deutete in einer Rundumbewegung durch den Raum, als führte sie Hulda in ein Heiligtum. «Auf dem modernsten Stand, wie Sie vielleicht sehen.»
«Allerdings», sagte Hulda und trat an eines der Fenster. «Hier macht die Arbeit sicherlich Freude. Mehr als in diesen Löchern, von denen Sie zuvor sprachen.»
Verflixt, dachte sie sofort, warum nur konnte sie ihre Zunge nicht im Zaum halten!
Doch die leitende Hebamme ließ sich nichts anmerken.
«Heute ist es ruhig», sagte sie nur, «wir hatten noch keine Geburt. Durchschnittlich entbinden die Ärzte bei uns zwei bis drei Frauen am Tag, manchmal mehr.»
Hulda stutzte. «Die Ärzte entbinden die Frauen, sagten Sie?»
«Ja, natürlich.» Irene Klopfer sah sie ungerührt an, doch Hulda hätte schwören können, in ihrem Blick etwas Lauerndes zu sehen, eine gespannte Aufmerksamkeit, wie die Neue wohl auf diese Ankündigung reagieren würde.
«Sie werden hier keine Geburten durchführen, Fräulein Gold, das merken Sie sich mal gleich. Unsereins ist für die Voruntersuchung zuständig, die Begleitung der Frauen, ihre Vorbereitung auf die Geburt – Sie wissen schon, Rasur, Einlauf, Umkleiden.»
«Das ist alles?», entfuhr es Hulda. Sie war ehrlich überrascht. Zwar hatte sie erwartet, dass sich die Tätigkeiten einer festangestellten diensthabenden Hebamme in einem Krankenhaus von denen einer freien Geburtshelferin unterscheiden würden – doch gar keine Geburten?
«Alles?», fragte Irene Klopfer zurück und zog die Augenbrauen hoch.
Hulda hielt ihrem Blick stand, bis die andere Frau die Augen abwandte.
«Wir sind eine Universitätsklinik, Fräulein Gold», sagte sie und strich im Vorbeigehen eine der gelben Wolldecken glatt, die über den gestärkten Laken der Entbindungsbetten lagen. «Hier arbeiten hochgeachtete Ärzte, bei jeder Geburt sehen mindestens zehn Personen zu, Assistenten, Studenten, Hebammenschülerinnen. Für Sentimentalitäten ist hier kein Platz. Nur falls Sie von innigen Momenten und glorreichen Heldentaten im Kreißsaal geträumt haben sollten, von der Verschwesterung mit den Gebärenden.»
Hulda fing sich innerhalb einer Sekunde. «Ich bin keine Träumerin, Fräulein Klopfer», sagte sie schnell. «Das werde ich Ihnen hoffentlich bald beweisen können.» Sie räusperte sich. «Und ich werde mit Freude alles tun, was nötig ist, und viel lernen.»
«Fürs Lernen sind Sie hier am richtigen Ort.» Irene Klopfer wirkte besänftigt. «Sie werden einen reichen Schatz an Wissen ansammeln. Unser geschätzter Direktor –»
«Oho, wird hier von mir gesprochen?»
Die freundliche Stimme kam von der Tür her, und Hulda und die ältere Hebamme fuhren herum. Im Rahmen stand ein Mann in steifem schwarzem Anzug, mit gepflegtem Oberlippenbart und nach hinten gekämmten silbernen Haaren. Er war nicht groß, aber in seiner Erscheinung sehr präsent. Er trat zu ihnen.
«Herr Direktor Bumm!» Irene Klopfer wirkte auf einmal atemlos. «Ich zeige gerade der neuen Hebamme die Räumlichkeiten.»
«Schön, dass Sie hier sind», sagte der Mann und ergriff Huldas Hand, doch nicht schmerzhaft wie vorhin Fräulein Klopfer, sondern mit warmem, festem Druck. «Wir sind froh, dass wir Sie für die Stelle gewinnen konnten. Fräulein Deitmer ging vor einigen Wochen in den Ruhestand, und seitdem klafft eine gewaltige Lücke.»
Mit einem Blick auf den gequälten Gesichtsausdruck der älteren Hebamme fügte er hinzu: «Obwohl Fräulein Klopfer und Fräulein Saatwinkel die Ordnung natürlich ganz vorbildlich hochgehalten haben.»
«Danke schön, Herr Direktor», sagte Fräulein Klopfer und errötete kaum merklich. «Dennoch ist es gut, wieder Verstärkung zu bekommen.»
Jetzt erst bemerkte Hulda, dass die Frau tiefe Schatten unter den Augen trug, ein Anzeichen von Müdigkeit, das sie selbst nur allzu gut kannte. Offenbar hatte Irene Klopfer mehr Nachtschichten hinter sich, als sie es in ihrem Alter einfach so wegstecken konnte. Kein Wunder, wenn die Arbeit für drei plötzlich auf den Schultern von zwei Personen lag.
«Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen», sagte der Direktor und nickte Hulda noch einmal zu. «Wenn Sie eine Frage haben, wenden Sie sich vertrauensvoll an unsere leitende Hebamme hier. Aber auch meine Tür steht Ihnen offen, ich lebe in den Räumen im vorderen Turm.» Er deutete mit dem Kopf in die Richtung, wo sich, wie Hulda vermutete, die Artilleriestraße befinden musste. «Und wir werden uns auch hin und wieder bei Geburten begegnen.»
«Ich freue mich sehr darauf», sagte Hulda und meinte es ehrlich. «Ich bewundere Ihre Arbeit sehr. Ihr Buch über Geburtshilfe liegt seit meiner Lehrzeit auf meinem Nachttisch, anstelle der Bibel, und ich habe viel daraus gelernt.»
«Von der Bibel habe ich nie viel gehalten.» Direktor Bumm machte eine wegwerfende Handbewegung. «Die Natur ist es, die mich fasziniert.» Ein träumerischer Ausdruck trat in seine Augen. «Die Skizzen in dem Buch stammen übrigens alle von mir», fuhr er fort, und Hulda wunderte sich, dass es aus seinem Mund nicht prahlerisch klang, sondern nur wie eine sachliche Feststellung. Sie kannte die Zeichnungen, deren Plastizität ihresgleichen suchte. «Ich wollte als junger Mann eigentlich Maler werden, wissen Sie. Mit den anatomischen Zeichnungen konnte ich meine beiden Leidenschaften – die Kunst und die Medizin – verbinden, ein großes Glück!»
Er lächelte unter dem Schnauzer, doch dann verzerrte sich sein Gesicht plötzlich schmerzvoll, und er griff sich an eine Stelle unter dem Rippenbogen.
«Ist Ihnen nicht gut?», fragte Irene Klopfer. Sie trat zu ihm und fasste ihn am Ellenbogen. Doch schon hatte er sich gefangen, und der Ausdruck von Schmerz verschwand aus seinem Gesicht.
«Es ist nichts weiter, nur eine kleine Magenverstimmung», sagte er und schüttelte ihre Hand ab. «Meine Damen, es ist Zeit für die Visite. Wenn Sie mich entschuldigen?»
Freundlich hob er die Hand zum Gruß und ging aus dem Kreißsaal.
«Die Klinik verdankt diesem Mann sehr viel», sagte Irene Klopfer und bedachte Hulda mit gestrengem Blick, als wollte sie ihr zu verstehen geben, dass von Direktor Bumm nicht anders als mit Hochachtung gesprochen werden dürfte. «Wir hoffen, dass er uns noch lange erhalten bleibt. Seine operativen Techniken sind bahnbrechend, und er sorgt dafür, dass es in dem Getriebe der II. Frauen-Universitätsklinik niemals quietscht.» In ihren Augen lag ein Schimmer – der sogleich erlosch, als sie Huldas Blick bemerkte. «Natürlich ist er verheiratet und hat vier reizende Kinder», beeilte sie sich hinzuzufügen.
Hulda beugte sich über eines der Wärmebettchen, als interessierte sie sich ganz besonders für deren Mechanismus. Eine Frau mochte noch so matronenhaft und streng aussehen, noch so fest eingeschnürt in gestärkte Baumwolle sein – vor den Stolperfallen des Herzens war keine von ihnen gefeit, dachte sie, und auf einmal fiel ihr Karl ein, und ein wehmütiges Ziehen ging durch ihre Brust.
Ihr Verhältnis zu dem gutaussehenden Kriminalkommissar kam ihr manchmal vor wie ein Tanz auf Wackelpeter. Seit jenem denkwürdigen Sommer vor zwei Jahren konnten sie nicht voneinander lassen, doch zusammengefunden hatten sie auch noch immer nicht richtig. Sie eierten herum, umkreisten einander misstrauisch, waren mal schrecklich verliebt und wagten dann doch beide nicht den Sprung in die vermeintliche Sicherheit einer festen Verbindung, womöglich sogar einer Ehe. Hulda spürte, dass in Karls Wesen ein Abgrund schlummerte, der seiner ungewissen Herkunft und seiner einsamen Kindheit als Waisenjunge geschuldet war. Und so sehr sie auch daran glauben wollte, dass ihre Liebe ihn heilen konnte, so wenig überzeugt war sie von derartigen magischen Fähigkeiten. Das mochte vielleicht im Kintopp funktionieren, wohin sie und Karl des Öfteren zusammen vor der Wirklichkeit entflohen. Dort sanken sich die Liebenden auf der zitternden Leinwand in die Arme und hauchten Ich bin dein. Die lautlosen Worte konnten mit noch so verschnörkelter Schrift am oberen Bildrand eingeblendet werden, sie waren Hulda fremd. Sie gehörte immer noch am ehesten sich selbst, und bis auf wenige schwache Momente konnte sie diesen Umstand einfach nicht übersehen. Nicht einmal Karl zuliebe.
«Jetzt träumen Sie ja doch», hörte sie plötzlich die Stimme von Irene Klopfer und fuhr zusammen. Schnell nahm Hulda die Hände von dem weichen Stoff der winzigen Matratze in dem Bettchen, den sie selbstvergessen immer wieder glatt gestrichen hatte.
«Entschuldigung», murmelte sie und biss sich auf die Lippen. «Was sagten Sie gerade?»
«Ich wollte wissen, ob Sie unsere beiden Oberärzte kennen? Wenn nicht, sollten Sie sich die Namen rasch einprägen, besonders den von Doktor Breitenstein.»
«So?»
«Ja, der Herr Doktor hat es nämlich nicht gern, wenn man ihn übersieht, er reagiert dann gern ein wenig … ungehalten.» Über das Gesicht der Hebamme huschte ein Zucken, das Hulda nicht deuten konnte. «Aber hören Sie nicht auf das Gerede über ihn», fuhr sie fort, während sie Hulda aus dem Kreißsaal schob und energisch die Tür hinter sich schloss. «Er ist ein guter Arzt, trotz allem.»
Hulda hätte gern gefragt, was die ältere Hebamme damit meinte, doch sie hörte an ihrer Stimme, dass hier nichts weiter zu holen sein würde. Fräulein Klopfer eilte bereits den Korridor entlang, zurück in Richtung Haupthaus, wo, wie sie Hulda zuvor erklärt hatte, das Hebammenzimmer lag.
«Und der andere Oberarzt?», fragte Hulda und versuchte, mit der leitenden Hebamme Schritt zu halten. «Wie lautet sein Name?»
Jetzt schien ein freundlicher Hauch über Fräulein Klopfers rundes Gesicht zu wehen. «Doktor Redlich», erwiderte sie. «Ein guter Mann. Und ein sehr einfühlsamer Mediziner, die Patientinnen mögen ihn alle. Ihm wäre der Ruf als Professor wirklich zu gönnen.»
«An die Universität?»
«Ja, beide Oberärzte bewerben sich um eine Professur, und ich muss sagen, dass ich Redlich die Daumen drücke und nicht diesem aufbrausenden Breitenstein.»
Die letzten Worte hatte sie, zu Hulda gebeugt, geflüstert, obwohl kein Mensch außer ihnen beiden im Gang zu sehen war. Beinahe verschwörerisch war jetzt ihr Blick, und auf einmal war Hulda die Kollegin doch sympathisch. Offenbar lenkte Irene Klopfer ihre ganze Kraft in die Arbeit in der Klinik, und all ihre Gedanken galten vornehmlich den Kollegen und den Patienten hier. Diese Hingabe imponierte Hulda. Sie würden schon miteinander zurechtkommen.
Nun betraten sie das Hebammenzimmer, ein schmuckloser Raum mit gelben Gardinen, ein paar unbequem aussehenden Stühlen und einigen Spinden aus Blech, zu denen Hulda von Fräulein Klopfer sogleich einen Schlüssel überreicht bekam mit den Worten: «Aber nicht verbummeln, sonst ersetzen Sie mir das Schloss!»
In der Mitte des Raums stand ein wuchtiger Tisch aus dunklem Holz, an dem sicher die Schreibarbeiten erledigt wurden. Hulda konnte sich gut vorstellen, wie ihre ältere Kollegin dahinter thronte.
Mit dem Ausdruck einer Verschwörerin zeigte Fräulein Klopfer Hulda schließlich noch den geheimen Keksvorrat in einer Dose ganz hinten in einer Schublade im Schreibtisch. Hulda musste sich zusammenreißen, um nicht auszuplaudern, dass sie ein schreckliches Naschmaul war, und sie nahm sich vor, die Dose stets heimlich wieder aufzufüllen, wenn sie während einer Nachtschicht nicht an sich halten konnte. Dass dies der Fall sein würde, das wusste sie bereits jetzt, sie kannte sich gut genug.
Sie öffnete die Spindtür und sog den trockenen, staubigen Geruch ein. Währenddessen nahm Fräulein Klopfer aus dem Schrank daneben eine zusammengefaltete Hebammenuniform und reichte sie ihr wortlos. Schicksalsergeben legte Hulda sie auf einen Stuhl und begann, ihr Sommerkleid über der Brust aufzuknöpfen.
In diesem Moment flog die Tür auf, und ein junger Mann im weißen Kittel stürmte herein. Bei Huldas entblättertem Anblick erstarrte er kurz und wandte sich dann rasch zur Seite.
«Verzeihung», japste er, ohne sie anzusehen.
Hulda musste sich ein Lachen verbeißen. Sie hielt sich den Ausschnitt ihres Unterhemds mit beiden Händen zu und sagte: «Kein Grund zur Panik, Sie dürfen gerne gucken.»
«Ich muss doch sehr bitten!», sagte Fräulein Klopfer empört, doch Hulda ignorierte sie und besah sich den Eindringling genauer.
Warme braune Augen richteten sich nun auf sie, und ein fröhliches, beinahe flegelhaftes Lächeln breitete sich auf dem sommersprossigen Gesicht des Mannes aus. Er nickte ihr zu, als wollte er noch einmal um Entschuldigung bitten, dann richtete er sich an Fräulein Klopfer, die die Szene mit vor der Brust verschränkten Armen verfolgt hatte.
«Fräulein, an der Pforte ist eine junge Frau, die mit den Nerven völlig runter ist. Achter Monat, würde ich sagen. Sie will aber nicht mit mir reden, sondern nur mit einer Frau.»
«Soso», brummte die Hebamme. «Ansprüche stellen diese abgehalfterten Dinger jetzt auch noch. Na, dann will ich mal sehen, ob ich der Dame genehm bin.» Zu Hulda gewandt sagte sie: «Und Sie kommen nach, sobald Sie sich umgezogen haben.» Es gab keine Anzeichen in ihrer Stimme, dass Widerspruch angezeigt oder auch nur möglich wäre.
«Ihr Wunsch ist mir Befehl», sagte Hulda und unterdrückte ein Glucksen.
Fräulein Klopfer starrte sie erneut voller Empörung an. Dann rauschte sie aus dem Raum.
«Die Störung tut mir wirklich leid», sagte der junge Arzt zu Hulda, sobald sie allein waren. «Die anderen Hebammen ziehen sich, soweit ich weiß, normalerweise nicht hier um. Sie erscheinen bereits in Uniform in der Klinik.» Er senkte die Stimme. «Ich möchte wetten, sie schlafen auch darin, jedenfalls Fräulein Klopfer und Fräulein Deitmer, die jetzt im Ruhestand ist. Ja, wahrscheinlich tragen sie sogar nie etwas anderes, sonst müssten sie beim Umziehen ja nackt sein, und das ist nicht vorstellbar.» In gespielter Verzweiflung schlug er die Hände über den Kopf.
Das Funkeln in seinen Augen gefiel Hulda gegen ihren Willen. Sie ließ ihren Kragen los, denn auf einmal schien es ihr nicht allzu gewagt, dass ein Kollege den Ansatz ihres Unterhemds erspähen könnte. Stattdessen streckte sie ihm die Hand hin.
«Ich bin Hulda Gold, die neue Hebamme.»
«Und ich heiße Johann Wenckow», stellte er sich vor. «Sie sind also der Ersatz für Fräulein Deitmer.» Er betrachtete sie, wie Hulda meinte, durchaus anerkennend. «Na, das nenne ich eine Verbesserung!»
«Das können Sie wohl kaum auf den ersten Blick beurteilen», sagte Hulda und grinste.
«Nun, Sie haben mir genug … Einblick gegeben, dass ich das auf einer, wie ich zugeben muss, oberflächlichen Ebene sehr wohl beurteilen kann», erwiderte er mit hochgezogenen Brauen. Doch bevor sie anfangen konnte, sich über seine Frechheit zu ärgern, wurde er ernst. «Wir können fachkundige Verstärkung wirklich brauchen», sagte er, «obwohl mich als Assistenzarzt natürlich niemand fragt. Aber in den vergangenen Wochen ging es etwas hektisch zu. Also: Willkommen bei uns, Fräulein Gold.» Er lächelte. «Sie sind doch ein Fräulein? Hoffe ich?»
Hulda antwortete nicht, sondern lachte nur. «Schluss mit dem Süßholz!», sagte sie. «Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Ich muss diesen Panzer anlegen.» Sie deutete auf das Häuflein gestärkter Baumwolle auf dem Stuhl.
Er hob winkend die Hand. «Natürlich, den Drachen lässt man besser nicht warten. Auf bald … Hulda.» Dann eilte er aus dem Hebammenzimmer, und die Tür schlug zu.
Hulda hörte, wie er draußen auf dem Gang vor sich hin pfiff, und lauschte, bis sich die kleine fröhliche Melodie verlor. Dann erst knöpfte sie ihr Kleid gänzlich auf, ließ es zu Boden fallen und griff nach der steifen Uniform. Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen.