Alan Watts

Über den Geist hinaus

Die östliche Weisheit der Befreiung

Aus dem amerikanischen Englisch
von Horst Kappen

Knaur e-books

 

 

Inhaltsübersicht

Über Alan Watts

Alan Watts (1915-1973) war ein weltberühmter Religionsphilosoph und Autor von über 25 Büchern. Der anglikanische Theologe war fünf Jahre Priester in der Episkopalkirche in den USA, bis eine außereheliche Affäre seine Ehe wie seine Priesterkarriere beendete. Daraufhin widmete er sich mit wachsender Intensität den östlichen Weisheitstraditionen, vor allem dem Zen und dem Daoismus. Er ist eine der markanten Persönlichkeiten, die die östlichen Weisheitslehren in den 60er und 70er Jahren in der westlichen Welt bekannt gemacht haben.

Impressum

© 2017 Alan Watts

Vorwort © 2017 Mark Watts

This Translation is published by exclusive license from Sounds True, Inc. with Agence Schweiger

© 2020 O. W. Barth Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Isabella Materne nach einer Idee von Jennifer Miles

Coverabbildung: Shutterstock / kzww, Swill Klitch

ISBN 978-3-426-45735-1

Fußnoten

Alan Watts verwendet den Ausdruck »Great Siberian Itch« gern als ironische Metapher (Anm. d. Übers.).

Im Original self-consciousness (Befangenheit). Hier im doppelten Wortsinn gebraucht (Anm. d. Übers.).

Independence Day (Unabhängigkeitstag), Nationalfeiertag der USA (Anm. d. Übers.).

Diese Etymologie ist umstritten (Anm. d. Übers.).

Im englischen Original lowdown, was so viel heißt wie »Schmutz« oder »die ganze Wahrheit« (Anm. d. Übers.).

Ziran, ein Hauptbegriff im Daoismus (Anm. d. Übers.).

Fachbegriffe aus der Weberei: Kette und Schuss bilden zusammen ein Fadensystem, bei dem in die vorgespannten Kettfäden die Schussfäden rechtwinklig eingewoben werden (Anm. d. Übers.).

Im Original als Beispiel das Homonym »bark« mit den Bedeutungen »Borke« und »Gebell«: »If I say, ›This tree has no bark‹, that’s one thing, and if I say, ›This dog has no bark‹, that’s another thing entirely.« (Anm. d. Übers.)

Alan Watts bezieht sich hier auf die etymologische Verwandtschaft der englischen Wörter holy (heilig) und whole (ganz), die zusammen mit dem deutschen heil und heilig auf dieselbe gemeingermanische Wurzel zurückgehen (Anm. d. Übers.).

Im Original als Ausdruck des »Pennsylvania Dutch« (Pennsylvania-Deutsch) bezeichnet, ein Dialekt, der in den USA zum Teil heute noch von Nachfahren deutscher Einwanderer des achtzehnten Jahrhunderts gesprochen wird (Anm. d. Übers.).

Im Original verknüpft Alan Watts den Begriff tathata mit dem englischen that in einem Wortspiel: »Seeing through that, we experience what the Buddhists call suchness or tathata, based on the word that. That, that, that. That’s what’s going on.« (Anm. d. Übers.)

Gemeint ist der »Wärmetod« des Weltalls gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik (Anm. d. Übers.).

Prediger 9,10; nach dem Text der Elberfelder Bibel (Anm. d. Übers.).

Zhaozhou Congshen, japanisch Joshu Jushin (778–897), chinesischer Zen-Meister (Anm. d. Übers.).

Baizhang Huaihai, japanisch Hyakujo Ekai (720–814), ein chinesischer Zen-Meister zur Zeit der Tang-Dynastie (Anm. d. Übers.).

Ch’ing-yüan Hsing-ssu, japanisch Seigen Gyoshi (660–740), chinesischer Zen-Meister (Anm. d. Übers.).

Der offizielle Katechismus für Kinder in den Vereinigten Staaten, dessen erste Standardausgabe 1885 erschien (Anm. d. Übers.).

Refrain aus dem Song »When I went to the bar« aus der komischen Oper Iolanthe von Sullivan/Gilbert (Anm. d. Übers.).

Haiku von Ryokan (1758–1831), ein Zen-Mönch, der aufgrund seiner Dichtung und Kalligrafie Berühmtheit erlangte (Anm. d. Übers.).

Wörtlich »Dabeisitzender«; ein buddhistischer Laienanhänger, der gelobt, die Fünf Silas (vgl. Kap. 15) einzuhalten, ohne jedoch das weltliche Leben aufzugeben (Anm. d. Übers.).

Ein Mönch fragte Joshu: »Hat ein Hund Buddha-Natur?« Joshu antwortete: »Mu [Nichts].« (Anm. d. Übers.)

Im Original ein Wortspiel aus material (materiell, real, wesentlich) und (to) matter (Materie, von Bedeutung sein): »The real self isn’t material — it doesn’t matter.« (Anm. d. Übers.)

Sengcan, japanisch Sosan, gest. 606, der dritte Patriarch des Chan in China (Anm. d. Übers.).

Im Original immaterial; vgl. Anmerkung 22 (Anm. d. Übers.).

Diese Etymologie ist umstritten (Anm. d. Übers.).

Im Original self-consciousness; vgl. Anm. 2 (Anm. d. Übers.).

Die Verwendung des Begriffs bei Freud geht auf eine Anregung von Romain Rolland zurück (Anm. d. Übers.).

Dahui Zonggao, japanisch Daie Soko (1089–1163), chinesischer Meister des Chan (Anm. d. Übers.).

Die Vier Edlen Wahrheiten werden meist gleichbedeutend mit Dukkha, Samudaya, Nirodha und Marga (Magga) benannt: die Natur des Leidens (Dukkha), die Ursache des Leidens (Samudaya), das Beenden des Leidens (Nirodha) und der Pfad, der zur Beendigung des Leidens führt (Marga) (Anm. d. Übers.).

Auf Drishti geht Alan Watts im Folgenden nicht gesondert ein (Anm. d. Übers.).

Üblicherweise heißen die drei Gruppen etwa gleichbedeutend Prajna, Sila und Samadhi: Weisheit, Sittlichkeit und Versenkung (Anm. d. Übers.).

Upasaka, vgl. Anm. 20 (Anm. d. Übers.).

Zhuangzi, um 365–290 v. Chr., chinesischer Philosoph und Dichter (Anm. d. Übers.).

Percy Bysshe Shelley: Adonais – An Elegy on the Death of John Keats (Anm. d. Übers.).

Der japanische Yugen-Begriff stammt ursprünglich aus dem Chinesischen (Anm. d. Übers.).

Aus dem Zenrin-kushu, der »Spruchsammlung des Zen-Hains« (Anm. d. Übers.).

Ruinenstadt im heutigen Bundesstaat Bihar mit einer einst berühmten buddhistischen Universität, gegründet im fünften Jahrhundert, Ende des zwölften Jahrhunderts zerstört (Anm. d. Übers.).

Aus dem Zenrin-kushu, der »Spruchsammlung des Zen-Hains« (Anm. d. Übers.).

Im Original sensory deprivation. Versuche zur »sensorischen Deprivation« mithilfe von schalldichten »Floating«- oder »Samadhi«-Tanks wurden in den Fünfzigerjahren zuerst von John C. Lilly durchgeführt (Anm. d. Übers.).

Alan Watts bezieht sich hier auf den englischen Ausdruck »sightseeing«: »You don’t see sights. Sightseeing is a ridiculous word.« (Anm. d. Übers.)

Aus der Predigt »Qui audit me, non confundetur«, in: Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate. München 1995 (Anm. d. Übers.).

Upasaka, vgl. Anm. 20 (Anm. d. Übers.).

Deutsch: Zen-Buddhismus – Tradition und lebendige Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1961 (Anm. d. Übers.).

Dank

Mein Dank gilt Robert Lee, der es verstand, aus diesen Vorträgen ein großartiges Buch zu gestalten, sowie Tami Simon und dem gesamten Team von Sounds True, das die Vortragsreihe zuvor unter dem Namen Out of Your Mind als Hörbuch produziert und veröffentlicht hat, woraus über die Jahre etwas wahrhaft Spektakuläres entstanden ist.

Vorwort von Mark Watts

In den Fünfzigerjahren erreichte mein Vater mit seinen Radiovorträgen bei dem Sender KPFA in Berkeley eine große Zuhörerschaft. Diesen Vorträgen folgten bald darauf Bestseller wie Zen-Buddhismus – Tradition und lebendige Gegenwart oder sein bahnbrechendes Buch Psychotherapie und östliche Befreiungswege. Beim aufgeschlossenen kalifornischen Publikum der San Francisco Bay Area kamen seine Gedankengänge gut an, mit denen er die Weisheitslehren Asiens durch die moderne Optik westlicher Psychologie und der aufkeimenden wissenschaftlichen Entdeckungen des postatomaren Zeitalters betrachtete. In seinen Vorträgen plädierte er häufig dafür, den Buddhismus als eine Form von Psychotherapie aufzufassen, der keinen Vergleich mit den Religionen des Westens zulasse. Aus seiner Sicht waren ökologisches Bewusstsein und mystisches Erleben vielmehr Ausdrucksformen derselben Art von erwachter Erfahrung. Anfang der Sechzigerjahre hatten seine Vorträge und wegweisenden Bücher Eingang in die akademischen Zirkel gefunden, und während der folgenden zwölf Jahre bereiste er das ganze Land, sei es um vor einem großen Publikum öffentliche Vorträge zu halten oder in kleinen Gruppen Seminare zu leiten. Viele dieser Veranstaltungen wurden auf Tonband festgehalten.

Nachdem ich Dutzende von Seminaren, die mein Vater in den späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahren aufgezeichnet hatte, durchgegangen war, wählte ich vor knapp zehn Jahren sechs dieser historischen Aufnahmen aus, die sich besonders harmonisch zusammenfügten, um sie unter dem Titel Out of Your Mind zu versammeln. Dabei handelte es sich durchweg um außergewöhnliches Tonmaterial: »The Nature of Consciousness«, »Web of Life«, »Inevitable Ecstasy«, »The World as Just So«, »The World as Self« und »The World as Emptiness« (»Das Wesen des Bewusstseins«, »Das Gewebe des Lebens«, »Unumgängliche Ekstase«, »Die Welt als Sosein«, »Die Welt als das Selbst« und »Die Welt als Leerheit«).

Sofort nach seinem Erscheinen war Out of Your Mind ein Erfolg, und im Laufe der Jahre wurde die Vortragsreihe zu einem der meistgehörten Alan-Watts-Tondokumente überhaupt, das auf der ganzen Welt sein Publikum fand.

Zu Beginn standen allumfassende Themen wie die Grundfragen gemeinsamer Wahrnehmung, vergleichende Kosmologie und der Platz des Menschen in der Natur. In diesen Vorträgen führte mein Vater in überzeugender Weise aus, dass das in der westlichen Welt vorherrschende Denken zum größten Teil auf überholten wissenschaftlichen Erkenntnissen und den kulturellen Konstrukten des neunzehnten Jahrhunderts beruht. Stets bereit, den Status quo in Zweifel zu ziehen, hinterfragte er Annahmen, die vielen als selbstverständlich galten, indem er aufzeigte, wie sehr in der »alltäglichen Realität« der westlichen Welt der Kontakt zum aktuellen Stand des Wissens verloren gegangen war.

In seinem wachsenden Werk bot er aber auch Lösungen, psychologische wie kosmologische, und indem er sich zunehmend auf das buddhistische Weltbild bezog, das er in seinen Seminaren behandelte, entwickelte er eine neue und bestechende Perspektive – von einem Universum, mit dem wir als erwünschte Akteure untrennbar verbunden und in dem wir zugleich Ausdrucksformen des »Gesamtwerks« sind. In diesem Weltbild vollkommener Wechselseitigkeit finden wir nicht nur unseren Platz in der Natur und durch die Natur, sondern ebenso die Mittel, um diesen Wandel in unserer Auffassung vom Leben auch anderen nahezubringen.

Auch wenn ich mir der Kraft, die in diesen Vorträgen liegt, bewusst bin, war ich doch nicht darauf gefasst, welche Wirkung sie zu entfalten begannen, nachdem sie einmal ihren Weg in die Welt gefunden hatten. Nicht nur bei vielen Stammhörern der Sounds-True-Audiotitel erfreuten sie sich großer Beliebtheit, sondern sie zogen auch ein neues, jüngeres Publikum an, und einige Jahre nach ihrem Erscheinen tauchten regelmäßig Zitate und Videos in den Mediennetzwerken auf. Kreativposts in Form von Videoclips wurden millionenfach aufgerufen (zwanzig Millionen Klicks beim letzten Stand), und es ist bei Weitem der lohnendste Aspekt der Fortführung der Arbeit meines Vaters, wenn ich sehe, wie diese Ideen das Leben so vieler Menschen bereichern, dabei neue Gestalt annehmen und sich stetig weiterentwickeln.

Teil 1
Das Wesen des Bewusstseins

1
Kosmologische Weltmodelle

Ich möchte zunächst einige der grundlegenden Vorstellungen betrachten, auf denen das landläufige Denken im Westen beruht – unser prinzipielles Verständnis davon, was es mit dem Leben auf sich hat. Es sind Vorstellungen, die historisch bedingt sind, und ihr Einfluss reicht sehr viel weiter, als vielen Menschen bewusst ist. Ich spreche also von unseren Grundüberzeugungen in Bezug auf die Welt – Überzeugungen, die fester Bestandteil der logischen und sprachlichen Strukturen sind, deren wir uns bedienen.

Im Hinblick auf diese Vorstellungen verwende ich das Wort Mythos. Nicht etwa um ihnen Unwahrheit zu bescheinigen, sondern weil dieses Wort an etwas sehr Machtvolles gemahnt. Ein Mythos in diesem Sinne ist ein Weltbild, mit dessen Hilfe wir uns die Welt verständlich machen, und gegenwärtig stehen wir unter dem Einfluss von zwei äußerst machtvollen Weltbildern, die dem heutigen Stand der Wissenschaft jedoch vollständig unangemessen sind. Eine unserer größten Herausforderungen besteht heute deshalb darin, diese Mythen durch ein angemessenes, zufriedenstellendes und vernünftiges Weltbild zu ersetzen, das mit unserer tatsächlichen Erfahrung von der Welt im Einklang ist.

Bei den zwei Weltbildern, von denen wir uns seit mehr als zweitausend Jahren haben leiten lassen, handelt es sich im Prinzip um Modelle des Universums: das keramische Modell und das vollautomatische Modell. Betrachten wir uns zunächst das erste dieser beiden, das keramische Modell.

Das keramische Modell entstammt dem ersten Buch Mose, der Genesis, aus dem sowohl Judentum als auch Christentum und Islam ihr grundlegendes Weltbild beziehen. Das Weltbild nun, das uns die Genesis vermittelt, besagt, dass die Welt ein vom Schöpfer hergestelltes Artefakt ist – so wie ein Töpfer aus Lehm Töpfe formt oder ein Zimmermann aus Holz Tische und Stühle fertigt. Dabei ist nicht zu vergessen, dass Jesus, der Sohn Gottes, ebenfalls der Sohn eines Handwerkers ist. Daher ist das Bild, das wir von Gott haben, das eines Töpfers, Zimmermanns, Handwerksmeisters oder Architekten, der das Universum nach seinem Plan erschaffen hat.

Wesentlich an diesem ersten Modell des Universums ist die Vorstellung, dass die Welt aus Stoff besteht – aus einem Urstoff oder einer Ursubstanz. Und so wie der Töpfer zu Lehm greift und ihm seinen Willen aufzwingt, so greift der Schöpfer zu diesem elementaren Stoff, um aus ihm das Universum zu fertigen und zu formen, was immer ihm beliebt. So erschafft Gott in der Genesis Adam aus Staub – er modelliert eine Tonfigur und haucht ihr Leben ein. Der Lehm erhält eine Form. An und für sich ist der Lehm form- und geistlos, und es bedarf einer äußeren Intelligenz – einer äußeren Energie –, um ihn zum Leben zu erwecken und ihm Verstand zu verleihen.

So sind wir die Erben eines Selbstverständnisses, mit dem wir uns als Artefakte begreifen, als etwas, das gemacht worden ist. Bei uns fragen die Kinder ihre Eltern: »Wie bin ich gemacht worden?« oder »Wer hat mich gemacht?«. Aber so würde ein chinesisches oder indisches (insbesondere ein hinduistisches) Kind nicht fragen. In China würde ein Kind seine Mutter vielleicht fragen: »Wie bin ich geworden?« Aber werden und machen sind zwei völlig verschiedene Vorgänge. Wenn wir etwas machen, dann fügen wir es zusammen – wir ordnen seine Bestandteile an und arbeiten dabei von außen nach innen. Das ist wie gesagt die Art und Weise, wie ein Töpfer mit Lehm arbeitet oder ein Bildhauer mit Stein. Wenn man dagegen etwas werden oder wachsen sieht, läuft der Vorgang in entgegengesetzter Richtung ab – das heißt von innen nach außen. Wachstum bedeutet, dass etwas aufkeimt, sich entwickelt, aufblüht, ein Vorgang, der zugleich gänzlich auf sich selbst beruht. Die ursprüngliche, einfache Form einer lebenden Zelle im Mutterleib differenziert sich zunehmend selbst.

So sieht der Werdeprozess im Gegensatz zum Herstellungsprozess aus, und es ist zu beachten, dass es in diesem Modell einen grundlegenden Unterschied zwischen Hersteller und Hergestelltem gibt, zwischen dem Schöpfer und seiner Kreatur.

Woher stammt diese Vorstellung? Im Wesentlichen entstand das keramische Modell des Universums in Kulturen mit monarchischen Regierungsformen. In ihrer Vorstellung war der Erschaffer des Universums zugleich auch dessen König – »König der Könige, Herrscher der Herrscher, der alleinige Regent der Fürsten …«, wie es im Gebetbuch der anglikanischen Kirche heißt. Menschen, die ihren Platz im Universum auf diese Weise begreifen, stehen zur grundlegenden Wirklichkeit etwa im selben Verhältnis wie Untertanen zu einem König und befinden sich folglich in einer sehr demütigen Position gegenüber dem, was immer das Ganze in Gang hält. Daher finde ich es seltsam, dass die Bürger einer Demokratie wie hier in den Vereinigten Staaten noch immer an einer solchen monarchischen Theorie des Universums festhalten.

Die Vorstellung, dass wir uns vor dem Herrscher des Universums voller Demut und Ehrfurcht zu verbeugen und niederzuwerfen haben, ist also ein Relikt der alten Kulturen des Nahen Ostens. Warum ist das so? Prinzipiell hat niemand mehr Angst als ein Tyrann. Darum sitzt er erhöht mit dem Rücken zur Wand, während man sich ihm von unten mit gesenktem Blick zu nähern hat. So kann man nicht seine Waffen gegen ihn erheben. Wer dem Herrscher entgegentritt, tut dies also nicht auf gleicher Augenhöhe, um ihn nicht attackieren zu können. Und dazu könnte es sehr wohl kommen, denn er bestimmt über dein Leben, und wer über dein Leben bestimmt, ist der größte Schurke von allen. Der Herrscher ist mit anderen Worten derjenige, dem erlaubt ist, Verbrechen an dir zu begehen: Kriminelle sind dagegen bloß die Leute, die wir ins Gefängnis sperren.

Was bedeutet das für die Anlage eines Kirchenraums? Auch wenn es davon einige Abweichungen gab, hat die katholische Kirche über den größten Zeitraum ihres Bestehens den Altar mit dem Rücken zur Wand an der Ostflanke platziert. Der Altar ist der Thron und der Priester der Vorsteher, der Hofwesir, der dem Thron huldigt, dem er sich gegenübersieht, so wie all die anderen Gläubigen, die vor ihm niederknien. Eine große katholische Kirche heißt Basilika, griechisch basiliké stoá, was so viel heißt wie »königliche Halle«. Eine Basilika ist also das Haus des Königs, und das Zeremoniell der katholischen Kirche stammt ursprünglich aus Byzanz. Eine protestantische Kirche sieht ein wenig anders aus – sie ähnelt mehr einem Gerichtsgebäude –, aber ihre Anlage offenbart den Glauben an dasselbe Modell des Universums. Die evangelischen Pfarrer tragen einen schwarzen Talar, wie auch die Richter an einem Gerichtshof ihn tragen, und alle zusammen sitzen in einer Art Loge – mit Kanzel und Bänken, was ebenfalls an die Sitzordnung von Richtern und Geschworenen erinnert.

Was diese Formen des Christentums gemein haben, ist eine autokratische Auffassung vom Wesen des Universums, und in der Kirchenarchitektur spiegelt sich diese Auffassung wider. Die katholische Variante baut alles um den König, während sich in der protestantischen Kirche alles um den Richter gruppiert. Wie begrenzt diese Weltbilder sind, wird aber deutlich, wenn man versucht, sie auf das Universum selbst anzuwenden – auf das Wesen des Lebens.

Werfen wir zunächst einen Blick auf den angeblichen Gegensatz von Materie und Geist – eine Vorstellung, die wesentlich zum keramischen Modell gehört. Was ist Materie? Das ist eine Frage, die Physiker einmal zu ergründen versuchten, da es ihnen darum ging, die grundlegende Substanz der Welt zu verstehen. Aber diese Frage – »Was ist Materie?« – ist eine Frage, die zu stellen sie vor langer Zeit aufgehört haben. Als sie das Wesen der Materie erforschten, wurde den Physikern klar, dass sie sie nur in ihrem Verhalten beschreiben können – in Bezug auf Form und Ablaufmuster. Indem man immer kleinere Partikel ausfindig macht – Atome, Elektronen, Protonen und alle möglichen weiteren Nuklearteilchen –, gelangt man niemals zu einem grundlegenden Stoff, weshalb sich nur beschreiben lässt, wie er sich dem Anschein nach verhält.

Die Sache ist die: Wir benutzen das Wort Stoff, weil die Welt für uns so aussieht, wenn unsere Augen aus dem Fokus sind. Wir stellen uns Stoff als eine Art undifferenzierte Masse vor, aber das liegt nur an unserem verschwommenen Blick. Sehen wir genauer hin, erkennen wir Formen und Muster, und Muster sind das Einzige, worüber sich wirklich sprechen lässt. Das Bild der Welt, wie es sich uns heute aufgrund der komplexesten Theorien der Physik darstellt, ist nicht eines des geformten Stoffs oder aus Lehm geformter Töpferware, sondern eine Welt von Mustern – aus sich selbst heraus bewegte, sich selbst gestaltende, tanzende Muster. Aber in unserem kollektiven Bewusstsein ist dieses neue Weltbild noch nicht angekommen.

Und das bringt uns zum zweiten Weltbild, das heute in Kraft ist – dem vollautomatischen Modell. Als sich das westliche Denken weiterentwickelte, geriet das keramische Modell in Bedrängnis. Über den größten Zeitraum ihres Bestehens war die westliche Wissenschaft vom Judentum, Christentum und Islam in der Annahme beeinflusst, dass bestimmte Naturgesetze existieren und dass diese Gesetze am Anbeginn vom Schöpfer, dem Erschaffer des Universums festgelegt worden waren. Deshalb neigen wir zu der Ansicht, dass alle natürlichen Phänomene bestimmten Gesetzen und einem Plan gehorchen, so wie eine gefügige Maschine – etwa eine pünktliche Eisen- oder Straßenbahn. Im achtzehnten Jahrhundert begannen westliche Intellektuelle dann, diese Vorstellung in Zweifel zu ziehen, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob so etwas wie ein Urheber – ein universaler Architekt – wirklich existiert. Ihre Überlegung war, dass es so etwas wie Naturgesetze geben könnte, die nicht unbedingt einen Gesetzgeber erfordern.

Die Hypothese von einem Gott trug wenig dazu bei, Voraussagen zu machen, worin aber gerade die Aufgabe der Wissenschaft besteht – zu fragen: Was wird geschehen? Indem wir untersuchen, wie sich die Dinge in der Vergangenheit verhalten haben, und dieses Verhalten sorgfältig beschreiben, können wir Voraussagen darüber machen, was in Zukunft geschehen wird – um nichts anderes geht es in der Wissenschaft. Und wie sich herausstellt, braucht man, um zutreffende Voraussagen zu machen, keinen Gott als Hypothese, da sie in keiner Hinsicht einen Unterschied ausmacht. Also ließ man die Gotteshypothese fallen und behielt die Gesetzeshypothese, weil sich allein aufgrund regelmäßiger Abläufe im Universum Voraussagen machen lassen. Man entledigte sich also des Gesetzgebers und behielt das Gesetz.

Und so sind wir zum gegenwärtigen Konzept vom Universum als einer Maschine gekommen, als etwas, das gemäß mechanischen Prinzipien wie ein Uhrwerk funktioniert. Das Weltbild Newtons beruht auf den Prinzipien des Billardspiels – Atome sind wie Billardkugeln, die in vorhersehbarer Weise voneinander abprallen. Daher wird auch das Verhalten jedes Menschen als ein komplexes Zusammenspiel von Billardkugeln betrachtet, die von allem anderen herumgestoßen werden. Das ist das vollautomatische Modell des Universums, die Vorstellung von der Wirklichkeit als einer blinden Energie. Zu beobachten ist das im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, etwa bei Ernst Haeckel und Thomas Henry Huxley, die das Weltgeschehen als etwas beschrieben, das auf nichts anderem als einem geistlosen Spiel der Kräfte beruht, oder auch in der Philosophie Freuds, der unseren grundlegenden psychologischen Antrieb in der Libido ausfindig machte – in blinder Begierde.

Dieser Weltanschauung zufolge sind wir also alle Zufallsprodukte. Mit all unseren Wertvorstellungen, Sprachen, Kulturen und unserer Liebesfähigkeit sind wir das Resultat überschüssiger blinder Energie und puren Zufalls. Das ist ungefähr so, als würden eintausend Affen eine Million Jahre lang auf eintausend Schreibmaschinen herumhauen und dabei schließlich aus Versehen die Encyclopedia Britannica verfassen, um daraufhin sogleich wieder Unsinn zu Papier zu bringen. Schließen wir uns aber dieser Auffassung an und sind gerne Mensch und am Leben, dann läuft es darauf hinaus, dass wir auf Schritt und Tritt die Natur bekämpfen müssen, weil die Natur uns wieder in Unsinn verwandelt, sobald wir sie lassen. Daher zwingen wir der Welt unseren Willen auf, als wäre sie etwas uns völlig Wesensfremdes – etwas, das nur im Außen existiert. Aus diesem Grund haben wir eine Kultur, die auf der Vorstellung beruht, dass zwischen Mensch und Natur Krieg herrscht.

Darüber hinaus definieren wir in den Vereinigten Staaten Männlichkeit über Aggression. Ich glaube, das muss daran liegen, dass wir Angst haben. Wir ziehen diese Show ab und markieren den starken Mann, aber das ist doch gänzlich überflüssig. Wenn man hat, was man braucht, kann man sich das Theater sparen und muss ganz gewiss nicht die Natur in die Knie zwingen. Wozu diese Feindseligkeit gegenüber der Natur?

Du bist nichts von der Natur Getrenntes. Du bist ein Aspekt oder ein Symptom der Natur. Als Mensch wächst du aus der Physis dieses Universums auf genau dieselbe Weise heraus, wie ein Apfel an einem Apfelbaum wächst. Ein Baum, der Äpfel trägt, ist ein Apfelbaum, und ebenso ist ein Universum, das Menschen hervorbringt, ein Universum von Menschen. Die Existenz des Menschen ist symptomatisch für die Art von Universum, in der wir leben, aber unter dem Einfluss unserer beiden großen Mythen – des keramischen und des vollautomatischen Modells vom Universum – haben wir das Gefühl entwickelt, nicht von dieser Welt zu sein. Üblicherweise sagen wir »Ich bin zur Welt gekommen«, aber das ist nicht wahr – wir sind aus der Welt gekommen.

Die meisten Menschen haben das Gefühl, ein Etwas zu sein, das innerhalb eines Hautsacks existiert. Wir erleben uns als ein Bewusstsein, das auf dieses Etwas hinblickt. Und dann schauen wir uns andere an, die uns ähnlich sind, und betrachten sie als Mitmenschen, solange sie die gleiche Hautfarbe, Religion oder was auch immer haben. Wenn wir dann beschließen, eine bestimmte Menschengruppe auszurotten, definieren wir sie stets als Nichtmenschen – als nicht wirklich menschlich. Wir bezeichnen sie als Affen oder Monster oder Automaten, jedenfalls nicht als Menschen. Jede Art von Feindseligkeit, die wir gegen andere oder die Außenwelt richten, stammt aus diesem Aberglauben, einer völlig unbegründeten Theorie, dass wir etwas sind, das nur innerhalb unserer eigenen Haut existiert.

Ich möchte eine andere Betrachtungsweise vorschlagen. Beginnen wir mit dem Big Bang, dem Urknall, der Theorie, dass es vor Milliarden von Jahren eine Explosion gegeben hat, mit der alle diese Galaxien und Sterne in den Raum geschleudert wurden. Nehmen wir thesenhalber einmal an, dass es sich so abgespielt hat. Das ist etwa so, als würde jemand eine Flasche mit Tinte nehmen und gegen die Wand knallen – die Tinte spritzt vom »Big Splash« im Zentrum aus in alle Richtungen, und an den Rändern hat man all diese feinen Tröpfchen, die komplizierte Muster bilden. Genauso gab es einen Big Bang zu Beginn aller Dinge, die sich von dort aus im Weltall ausgebreitet haben, und du und ich sitzen hier nun zusammen als komplexe Wesen Mensch an den Ausläufern dieser anfänglichen Explosion.

Wenn du glaubst, du seist etwas, das innerhalb deiner eigenen Haut existiert, dann wirst du dich als einen winzigen, komplexen Tintenklecks unter anderen Tintenklecksen am Rande des Weltalls definieren. Vielleicht warst du vor Jahrmilliarden Teil dieses Big Bang, aber jetzt bist du es nicht mehr – du bist etwas davon Getrenntes. Das liegt aber nur daran, dass du dich selbst davon abgeschnitten hast; alles hängt davon ab, wie du dich selbst definierst. Und hier ist mein Gegenvorschlag: Wenn es zu Anbeginn der Zeit einen Urknall gegeben hat, dann bist du nicht etwas, das am Ende des Prozesses als Ergebnis dieser Explosion herausgekommen ist. Du bist dieser Prozess.

Du bist der Big Bang. Du bist die ursprüngliche Kraft des Universums, die sich als das, was immer dich im Moment ausmacht, manifestiert. Du definierst dich als Herr oder Frau Soundso, aber in Wahrheit bist du die Urenergie des Universums, das noch immer im Werden ist. Du hast einfach nur gelernt, dich selbst als etwas davon Getrenntes zu definieren.

Dabei handelt es sich um eine der Grundannahmen, die aus den Mythen folgen, an die zu glauben man uns beigebracht hat. Wir glauben tatsächlich, dass voneinander getrennte Dinge und Ereignisse existieren. Ich stellte einmal einer Gruppe von Jugendlichen die Frage, wie sie »Ding« definieren würden. Zuerst meinten sie: »Ein Ding ist ein Gegenstand«, aber das ist nur ein Synonym – bloß ein anderes Wort für »Ding«. Aber dann sagte ein intelligentes Mädchen aus der Gruppe: »Ein Ding ist ein Nomen«, und damit hatte es recht. Aber ein Nomen ist kein Teil der Natur – es ist ein Teil der Sprache. Nomen existieren nicht in der physikalischen Welt, ebenso wenig wie getrennte Dinge.

Nichts in der Natur ist mit dem Lineal gezogen. Wolken, Berge, Bäume, Menschen – an alldem ist nichts Geradliniges. Aber wenn sich erst einmal der Mensch einschaltet, errichtet er geradlinige Gebäude und versucht, die ganze Welt zu begradigen. Und hier sitzen wir nun in Räumen mit lauter geraden Linien und sind selbst so ungeradlinig, wie man nur sein kann.

Wenn du etwas unter Kontrolle bringen willst, das sich deinem Zugriff entzieht, ist das ein ziemlich schwieriges Unterfangen. Ein Fisch ist äußerst glitschig, er gleitet dir direkt wieder aus der Hand; wie bekommst du ihn also zu fassen? Du nimmst ein Netz. Ganz ebenso verwenden wir Netze, um die uns entgleitende Welt in den Griff zu bekommen. Wenn du es mit etwas zu tun hast, das sich dir entzieht, dann wirfst du also irgendeine Art von Netz darüber. Das ist unsere Grundlage für die Vermessung der Welt: Netze mit so vielen kreuz und quer verlaufenden Maschen, dass die Position, an der sich das Ungreifbare im Netz verfängt, uns etwas darüber verrät. Und so zerlegen wir das Nichtgreifbare in Stücke. Dieser Teil des Nichtgreifbaren ist ein Ding, dieser andere Teil ein Ereignis, und wir sprechen über diese Teile oder Stücke, als wären sie von sich aus etwas Getrenntes. Aber das Ungreifbare in der Natur ist nichts »Vorgestücktes«. Das ist nur die Art und Weise, wie wir Muster und Abläufe messen und steuern. Wenn du ein Huhn essen willst, musst du es zerteilen, um einen Bissen nehmen zu können – es besteht nicht aus mundgerechten Stücken. Ebenso wenig ist die Welt an sich schon verdinglicht, besteht sie an sich schon aus separaten Ereignissen.

Du und ich sind so sehr ein Kontinuum im physikalischen Universum, wie die Welle ein Kontinuum im Ozean ist. Der Ozean bringt Wellen hervor, das Universum Menschen. Aber wir sind wie hypnotisiert – buchstäblich hypnotisiert – in unserem Gefühl, dass wir als getrennte Wesenheiten innerhalb unserer eigenen Haut existieren. Wir identifizieren uns nicht mit dem ursprünglichen Big Bang – sondern glauben, nur etwas an seinem äußersten Ende zu sein. Darum haben wir alle eine Heidenangst: weil unsere Welle verschwinden wird und wir sterben werden und das einfach schrecklich sein wird. Wie ein mir bekannter Priester gerne sagt: »Wir sind nichts. Aber irgendetwas geschieht zwischen der Entbindungsstation und dem Krematorium.« Und das ist die Mythologie, nach der wir funktionieren, und der Grund dafür, warum wir uns alle unglücklich und elend fühlen.

Einige mögen für sich in Anspruch nehmen, Christen zu sein. Vielleicht gehen sie auch in die Kirche, sagen, dass sie an den Himmel und ein Leben nach dem Tod glauben, aber das tun sie nicht. Sie denken bloß, dass sie dieses oder jenes glauben müssten. Sie denken nur, dass sie an die Lehren Christi glauben sollten; woran sie aber wirklich glauben, ist das vollautomatische Modell. Und die meisten von uns glauben daran – dass wir so etwas wie ein kosmisches Zufallsprodukt sind, ein separates Ereignis zwischen der Entbindungsstation und dem Krematorium. Am Ende gehen uns die Lichter aus, und das war’s.

Warum sollte jemand auf diese Weise denken? Es gibt keinen Grund dazu – es ist noch nicht einmal wissenschaftlich gedacht. Es ist lediglich ein Mythos, eine Geschichte, die von Leuten erfunden wurde, denen daran liegt, sich auf eine bestimmte Weise zu fühlen oder ein bestimmtes Spiel zu spielen. Das Gottesspiel wurde irgendwann lästig. Begonnen haben wir mit der Vorstellung von Gott als einem Töpfer oder Architekten oder Schöpfer des Universums, und das war gut so. Es gab uns das Gefühl, dass es mit dem Leben etwas auf sich hat, dass es Sinn hat, dass es einen Gott gibt, der sich etwas aus uns macht. Wir hatten das Gefühl, etwas Wertvolles in den Augen des himmlischen Vaters zu sein. Nach einer Weile wurde es aber unangenehm, als uns klar wurde, dass Gott alles sehen kann, was wir tun und was in uns vorgeht, bis hinein in unsere intimsten Gedanken und Gefühle. Um dieses unangenehme Gefühl loszuwerden, wurden wir Atheisten und fingen an, uns einfach schrecklich zu fühlen. Denn als wir Gott loswurden, sind wir uns selbst losgeworden. Wir sind zu bloßen Maschinen geworden.

Wie Camus in Der Mythos des Sisyphos sagt: »Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord.« Und wenn du an das vollautomatische Modell glaubst – dass du eine Art separates Bewusstsein bist, das für sich selbst im blinden Mechanismus des Weltalls existiert –, dann ist es durchaus sinnvoll, die Frage nach dem Selbstmord zu stellen. Also warum oder warum nicht sollte man sich umbringen – das ist eine gute Frage. Wozu weitermachen? Man sollte nur weitermachen, wenn sich der Spieleinsatz lohnt. Das Universum besteht seit unvorstellbar langer Zeit, daher muss eine befriedigende Theorie des Universums eine sein, auf die sich setzen lässt. Das ist einfach eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Wer sich weiterhin am Spiel beteiligen will, der braucht eine optimale Spieltheorie, sonst kann man sich auch gleich umbringen, weil das Spiel keinen Sinn hat.

Die Leute, die sich das vollautomatische Modell ausgedacht haben, spielten damit eine abweichende Form des Spiels, eine eigentümliche Variante. Sie sagten: »Ihr alle, die ihr an die Religion glaubt, seid Schwächlinge und Fantasten. Ihr wollt euren Big Daddy da oben im Himmel, damit er euch in schweren Zeiten tröstet, denn das Leben ist hart und mühselig. Aber der einzige Weg, um es im Leben zu etwas zu bringen, ist, Biss zu haben und sich ein dickes Fell zuzulegen. Ihr müsst stark sein und den Tatsachen ins Auge blicken. Das Leben ist ein einziger Misthaufen, und ihr müsst der Welt euren Willen aufzwingen und sie dazu bringen, zu tun, was ihr wollt.« Und diese Theorie kam natürlich gelegen zu einer Zeit, als die Europäer überall auf der Welt die Eingeborenen kolonialisierten. So konnten sie ihr Vorgehen rechtfertigen und sich damit noch schmeicheln.

Selbst heute noch erwartet man von einem intelligenten Akademiker, dass er an das vollautomatische Modell glaubt. Keine andere Theorie der Welt gilt als seriös. Wer sich intellektuell behaupten will, muss Biss beweisen.

Im Grunde genommen gibt es zwei Arten von Philosophie: diejenige mit Biss und die schwammige. Leute mit Biss sind präzise und logisch – sie mögen alles gerne klar und gegliedert. Schwammige Leute dagegen haben alles gerne vage. In der Physik sind die Leute mit Biss diejenigen, die glauben, dass Materie letztlich aus Teilchen besteht, während die schwammigen Leute an Wellen glauben. In der Philosophie sind die Leute mit Biss logische Positivisten und die schwammigen Leute Idealisten. Und immer liegen sie miteinander im Streit. Aber keines der Lager könnte seine Position ohne das andere vertreten, denn wie sollte man wissen, dass man für die bissige Variante plädiert, wenn es nicht auch jemanden gäbe, der sich für die schwammige einsetzt? Ohne Schwammigkeit kein Biss. Aber das Leben ist keines von beiden – es ist schwammige Bissigkeit und bissige Schwammigkeit.

Ich bin Philosoph. Wenn du nicht mit mir streitest, weiß ich nicht, was ich denken soll. Wenn wir also miteinander streiten, muss ich »Danke« sagen, denn nur weil du die Güte hast, eine andere Ansicht zu vertreten, verstehe ich, was ich denke und meine. Daher kann ich dich nicht abschütteln.

Aber diese ganze Vorstellung, das Universum sei nichts anderes als eine geistlose Kraft, die sich vor unseren Augen austobt und es nicht einmal genießt, ist eine unglaublich abwertende Theorie der Welt. Und die Leute, die sich dieses Spiel ausgedacht haben – das Spiel der Herabsetzung der Welt –, meinten, ihr dadurch überlegen zu sein. Aber das klappt so nicht. Wenn du dich dieser Theorie der Welt anschließt, wirst du in ihr zum Fremden, erlebst du die Welt als eine Maschinerie, eine Falle, und fängst an, feindselige Gefühle gegen sie zu entwickeln. So als ob es sich um ein kaltes Gebilde aus elektronischen und neurologischen Mechanismen handelte, in das du irgendwie hineingeraten bist. Und dann bist du armer Hund in diesem zerfallenden Körper gefangen – bekommst Krebs, die Große Sibirische Krätze[1], und es ist alles einfach nur schrecklich. Und diese Maschinenärzte versuchen, dir da herauszuhelfen, aber natürlich müssen auch sie am Ende scheitern – dein Verfall ist einfach nicht aufzuhalten, und das ist wirklich bitter, ein großes Übel. Wenn du also glaubst, dass die Dinge so liegen, wie es dieses Szenario beschreibt, dann kannst du genauso gut auf der Stelle Selbstmord begehen.

Aber vielleicht glaubst du ja, dass auf den Selbstmörder irgendwo die ewige Verdammnis lauert. Oder du denkst an deine Kinder, die keinen Versorger mehr haben, wenn du dich umbringst. Also beschließt du weiterzumachen. Du bewegst dich weiter in demselben geistigen Fahrwasser und bringst deinen Kindern bei, es dir gleichzutun. Und die machen auch so weiter und versorgen ihre Kinder, ohne Freude am Leben zu haben, und auch sie haben Angst, Selbstmord zu begehen, und ihren Kindern ergeht es später ebenso.

Ich will hier also sagen, dass das vollautomatische Modell – unsere grundlegende und kollektive Auffassung vom Wesen der Welt, unter deren Einfluss die meisten Menschen stehen – einfach ein Mythos ist. Diese Vorstellung ist genauso verkehrt wie die von Gottvater, der mit einem weißen Bart auf seinem Thron im Himmel sitzt. Bei beiden handelt es sich um Mythen. Beide tragen sehr wenig dazu bei, den wahren Sachverhalt wiederzugeben.