Sterben im Sommer

Zsuzsa Bánk

Sterben im Sommer

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Zsuzsa Bánk

Zsuzsa Bánk, geboren 1965 und gelernte Buchhändlerin, lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Frankfurt am Main. Gleich ihr erster Roman »Der Schwimmer« war ein großer Erfolg und wurde mit fünf Literaturpreisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen ihre Romane »Die hellen Tage« und »Schlafen werden wir später«.

 

Zsuzsa Bánks Vater László, geboren 1933 in Hidasnémeti, Ungarn, starb im September 2018.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Seinen letzten Sommer verbringt der Vater am Balaton, in Ungarn, der alten Heimat. Noch einmal sitzt er in seinem Paradiesgarten unter der Akazie, noch einmal steigt er zum Schwimmen in den See. Aber die Rückreise erfolgt im Rettungshubschrauber und Krankenwagen, das Ziel eine Klinik in Frankfurt am Main, wo nichts mehr gegen den Krebs unternommen werden kann. Es sind die heißesten Tage des Sommers, und die Tochter setzt sich ans Krankenbett.

Mit Dankbarkeit erinnert sie sich an die gemeinsamen Jahre, mit Verzweiflung denkt sie an das Kommende. Sie registriert, was verloren geht und was gerettet werden kann, was zu tun und was zu schaffen ist. Wie verändert sich jetzt das Gefüge der Familie, und wie verändert sie sich selbst? Was geschieht mit uns im Jahr des Abschieds und was im Jahr danach?

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung: plainpicture/BY

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491251-6

 

 

In diesem Dorf sitzen wir dann einen Tag später, vor dem Haus meiner Tante und Cousine, im Garten, mit Blick auf die nahen Weinhänge, umgeben von Oleander und Kirschbäumen, die ihre Früchte schon abgeworfen haben, in einem Paradiesgarten, in dem die Erinnerung an diesen Winter 1973 unvergänglich bleibt. Meine Cousine erzählt, dass sie damals glaubte, jetzt sei das Ende der Welt gekommen, das vége a világnak. Sie hatte die Gardinen am Fenster beiseite geschoben, dicke Schneeflocken fielen, ihren Vater sah sie in Hut und Mantel mit finsterer Miene durchs Schneetreiben gehen, langsamer als sonst, zögernd wegen der Nachricht, die er für sie hatte, und sie wusste, das Weltende war da, jetzt ist es gekommen, Großvater ist gestorben und hat unser Weltende eingeläutet.

 

 

Ich bin aufgebrochen, um meinen kranken Vater in seinen Ungarnsommer zu fahren. Ihn im Dorf abzusetzen, vielleicht an den Balaton mitzunehmen. Ihn noch einmal diesen Walnussbaumsommer spüren zu lassen, einmal noch im Café am Kisfaludy-Strand ein gekühltes Soproni für ihn zu bestellen und mit ihm aufs weite Blau zu schauen. Aber seit wir angekommen sind, geht es ihm schlechter, jede Nacht bangen wir. Ein Fieber hat ihn überfallen, es will nicht

 

Wir warten in Eisenstadt bis zum Abend, aber es wird kein Bett frei, er soll in eine andere Klinik nach Niederösterreich, die Ambulanz wird ihn bringen. Zum Abschied sage ich, in ein paar Tagen hole ich dich ab, wir sitzen am Balaton und bestellen zwei Soproni, ich spiele Zuversicht, lege Normalität in meine Stimme und lasse die Angst nicht zu, ich lasse nicht zu, dass sie meine Wörter anfasst, sie bindet, eintrübt und lähmt, seit einiger Zeit habe ich Übung darin, die Dinge herunterzuspielen, ihre Grausamkeiten wegzuschieben und zu übergehen, ihnen die Spitze zu nehmen. Doch das Fieber hält uns in Atem, an allen folgenden Tagen wird es gegen Mittag verschwinden, aber am Abend zurückkehren und steigen, immerzu warte ich auf einen Anruf, auf die Klinik, die Ärztin, die Krankenschwester, auf meine Cousine im Paradiesgarten, meine Mutter in ihrem Sommerhaus zwei Straßen weiter, meinen Bruder in Berlin, sie alle gehören zum Reigen aus Furcht und Anspannung, zu unserem Netzwerk der Sorge. Während meine Kinder in den Balaton springen und sich beim Wasserpolo austoben, den Ball mit ihren Fäusten in den Himmel jagen, stehe ich am Ufer und nehme die Anrufe entgegen, bei jedem Klingeln saust Angst in meine Kehle, in diesem gleißenden Sommer mit all seinen verlässlichen Vergnügungen und Schmeicheleien habe ich angefangen, mit dem Schlimmsten zu rechnen.

 

 

Neu ist es nicht, auch nicht überraschend, Krankheit und Tod gehörten in Ungarn immer dazu, seit ich denken kann, seit wir die Sommer hier verbracht haben, waren sie hier zu Hause. Nur dass wir jetzt die Hauptfiguren sind, nicht die

 

Immer haben mich meine Eltern so selbstverständlich, mühelos auf ihre leichte Art umgeben – dass es in den vergangenen Jahren jeden Tag hätte vorbei sein können, habe ich nie zu ernst genommen, aber doch geahnt und mit ein paar abseits liegenden, versteckten Nervenenden erspürt. Deshalb bin ich im Jahr zuvor nach Ungarn gereist, um sie in ihrem Sommerhaus zu besuchen, deshalb ist mein Bruder im Jahr zuvor nach Ungarn gereist, um sie in ihrem Sommerhaus zu besuchen, mit unserem Vater an den Balaton zu fahren und weit hinauszuschwimmen. Für so eine jó úszás, wie man an den Ufern sagt, so ein gutes Schwimmen, ein gutes Stück Schwimmen, ein ordentliches Stück Wasser,

 

Als ich an einem dieser Nachmittage in Balatonfüred weit hinausgeschwommen und dann aus dem Wasser gestiegen bin, hat mich jemand am Ufer, an den Treppenstufen, die in den See führen, angesprochen und anerkennend gesagt: Na, das war aber eine jó úszás! Ich habe gelacht und erwidert, ja, unbedingt, das war es, eine jó úszás! Es meint das Gefühl, es spricht das Große, Freie und Schwerelose darin an, die Stunden der Leichtigkeit im sonnenwarmen Wasser, es meint das ausgiebige Im-Wasser-Sein, das nicht enden will, für das es keine Zeit gibt. Das hatte unser Vater uns

 

Spielt er jetzt ein verrücktes Spiel mit uns? Hat er sich vorgenommen, uns hier festzuhalten? Ein Netz aufgespannt, in dem wir uns immer wieder verfangen? Jagt er mich kreuz und quer durch dieses Land, das früher einmal seine Heimat war? Vor kurzem haben wir über sein Sterben gesprochen, er will in Ungarn begraben sein, aber wir wollen ihn in unserer Nähe wissen. Also steckt er vielleicht deshalb fest in der Mitte, auf halbem Weg, zwischen unseren beiden Welten, als habe er sich das so ausgedacht, als könne er das so beeinflussen. Er traut mir nicht, was sein Grab betrifft, meine Cousine hat er deshalb beschworen, ihr aufgetragen, dafür zu kämpfen – was im Ungarischen stärker klingt als im Deutschen, das ungarische harcolni klingt nicht nur nach kämpfen, sondern nach einer blutvergießenden Schlacht, die einem alles nehmen kann. In ihrem Paradiesgarten sage ich zu ihr, lass uns nicht kämpfen, bitte, nicht deshalb, auch ich brauche einen Ort, an dem ich meinen Vater besuchen kann, wenn er nicht mehr lebt.

 

Nach der Operation in Mistelbach liegt er unter Schläuchen und Hightech-Apparaten, ich stehe am Krankenbett und halte seine bebenden Hände, spreche zu ihm, auch wenn ich nicht weiß, ob er mich hören kann, überhaupt merkt, dass wir hier sind. Ich schaue zum Holzkreuz an der

 

Auch in den Winter 1973, als meine Mutter sich auf die Reise zum Begräbnis ihres Vaters machte. Keiner im Dorf wusste davon, keiner wusste, dass sich der eiserne Vorhang rechtzeitig für sie öffnen und sie durchschlüpfen lassen würde. Es gab kein Telefon, also auch keine Ankündigung. Sie fuhr ins Dunkle, wartete ungeduldig an eisigen Bahnsteigen, starrte auf die langsam vorrückenden Zeiger der Bahnhofsuhren. In Wien nahm sie den Zug nach Györ, in Györ den nächsten Zug, der sie in die Nähe ihres Dorfes brachte. Spät abends kam sie an. Alle Wege waren zugefroren, wie unter dickem Glas verschwunden. Den Schnee hatte man zu hohen Wänden beiseite geschoben. Kein Bus fuhr. Das nächste Haus war das ihres Bruders, sie wollte die Nacht dort verbringen, auf den Morgen warten. Aber das Tor war zugesperrt, niemand hörte ihr Klopfen. Die Kälte setzte ihr zu, der Koffer zog an ihrem Arm, sie ging

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Im Winter ist das Haus ohne Menschen, still und leer atmet es, schläft seinen Winterschlaf unter den Stimmen und Geräuschen, die es in seine Wände aufgenommen, unter seinem Putz gespeichert hat. Nur im Sommer sind meine Cousine und Tante hier, im Sommer öffnen sie die Fenster, stoßen die Läden auf, lassen die Gardinen flattern, nehmen die Wäsche aus dem Schrank und beziehen die Betten, füllen den Kühlschrank, stellen Stühle unter die Akazie, Gläser für Wasser und Wein auf den Tisch. Nur im Sommer beleben sie ihr altes Haus, nur im Sommer lässt meine Cousine mit ihrer dementen Mutter Budapest hinter sich, damit wir uns im Dorf treffen, damit sie den Sommer mit meinen Eltern verbringen können, zu denen auch ich für wenige Tage stoße. Cousine und Tante leben seit Jahren in Budapest, das Dorf hatte meine Cousine als junge Frau verlassen, seinen Umkreis durchbrochen, das war ihr erster Schritt als Erwachsene. Sie hatte die Straßen und Wege abgemessen und gesehen, sie sind zu eng, zu klein. Für mich ist das Haus ein Kabinett der Erinnerung, mein eigenes Heimatmuseum, meine Ungarnsommer-Gedenkstätte. Es hält eine Zeit für mich fest, an ihm lese ich auch mein Leben ab, seine Schlängelpfade durchs Gestern, eine Art Fotoalbum im Mauerwerk, aus Stein und Putz, aus Holz und Glas, aus Schichten und Rissen, Farben und Furchen.

 

In der ehemaligen Sommerküche steht noch die blassgrüne Kredenz meiner Großeltern, mit Stühlen, Tisch und Tagesbett im gleichen Ton. Hinter dem Glas das Porzellan, von dem ich als Kind gegessen habe, die Tasse mit dem

 

Nach der Flucht 1956 gab es keine Post, ein ganzes Jahr keinen Brief, keine Karte. Meine Mutter hat es mir an einem dieser Abende auf unserem Spaziergang zum Paradiesgartenhaus erzählt. Ein Jahr lang wurden die Briefe von ihr geschrieben, zugeklebt, frankiert, abgeschickt und auf ungarischer Seite dann abgefangen. Nie erreichten sie das Dorf, die Straße, den Briefkasten am Tor, das Haus, den Küchentisch. Umgekehrt konnte kein Brief aus Ungarn nach Deutschland gelangen. 1957 war das Jahr ohne Zeichen. Ohne Satz, ohne Wort. Das Jahr des Schweigens, das Jahr der Stille. Später dann der erste Brief der Schwester, in dem sie schrieb, die Mutter habe sich damals nicht beruhigen lassen, niemand habe sie beruhigen können. Bis zu dieser

 

Meine Cousine und ich schauen zum Weinberg, fahren mit unseren Blicken den Garten ab, die Vielfalt aus Grün, seine Nuancen aus Hell und Dunkel in den Grashalmen, Blättern und Büschen, im Moos und Farn. Wäre das nicht ein Ort für dich?, frage ich meine Cousine und lasse es so leicht, so unverbindlich klingen, wie ich nur kann, als würde es zufällig in diesem Augenblick meine Gedanken streifen. Denn eigentlich frage ich ja, kannst du das Haus nicht behalten?

 

Meine Cousine zögert, sie wird wissen, wie viel es mir bedeutet, wie viel es für mich ist, also gibt sie mir ihr mildestes Nein, als hätte sie Angst, mir dieses Nein anzutun, mir zuzumuten, jetzt und hier ein Nein zu hören. Sie braucht die Stadt, sagt sie, zum Nein gibt sie mir eine Handvoll Sätze, ihr Nein schmückt sie aus, für mich als Erklärung, für sie zur Rechtfertigung, aber wir wissen beide schon, diese Sommer liegen hinter uns, wir verlieren sie, gerade sind wir dabei, sie zu verlieren, dieser Sommer ist der letzte seiner Art. Sie braucht das Theater, sagt sie, die Konzerte, Menschen, Cafés und Restaurants, den Puls, das Treiben der Großstadt, ihren Trubel, ihre Lust an Schwung und Bewegung. Sie kann nicht ins Dorf zurück, unter Dorfleuten leben, unter Dorfleuten mit Dorfgedankenradius. Sie wird das Haus aufgeben, fährt sie nach einer Pause fort. Ihre demente Mutter erkennt es nicht, für sie hat es keine Bedeutung mehr. In

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