Michael Tsokos
Sind Tote immer leichenblass?
Die größten Irrtümer über die Rechtsmedizin
Knaur e-books
Michael Tsokos, 1967 geboren, ist Professor für Rechtsmedizin und international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Forensik. Seit 2007 leitet er das Institut für Rechtsmedizin der Charité. Seine Bücher über spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin sind allesamt Bestseller.
© 2016 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2016 Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Christoph Kellner, Berlin
Illustrationen im Innenteil: Christoph Kellner, Berlin
ISBN 978-3-426-43875-6
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Vor mehr als 20 Jahren, als ich mich entschloss, Rechtsmediziner zu werden, führte mein Fachgebiet in der öffentlichen Wahrnehmung noch ein absolutes Nischendasein. Aber auch für die meisten Ärzte war die Rechtsmedizin zu dieser Zeit noch ein weißer Fleck auf der Landkarte der medizinischen Disziplinen. Mit Ausnahme von Wiederholungen der von 1976 bis 1983 produzierten Fernsehserie Quincy, bei der erstmals ein Rechtsmediziner Hauptfigur in einem Krimi war, gab es Mitte der 1990er Jahre noch keine Filme, in denen forensische Untersuchungsmethoden im Mittelpunkt standen. Auch in der Kriminalliteratur oder im Sachbuch hatten Forensiker noch nicht Einzug gehalten und Einblicke in ihre Arbeit gegeben. Für die Rechtsmedizin interessierte sich damals eigentlich noch niemand. Die wenigen Leute, die sich damals Gedanken darüber machten, was sich wohl in rechtsmedizinischen Instituten abspielen könnte, gingen davon aus, dass dort in gekachelten und grell erleuchteten Sektionssälen den ganzen Tag tote Menschen aufgeschnitten werden. Abgesehen von dieser Vorstellung Einzelner war die Öffentlichkeit bis dahin ja auch völlig im Dunkeln gelassen worden, was hinter den verschlossenen Sektionssaal- und Labortüren eines rechtsmedizinischen Instituts vor sich gehen könnte. Das sollte sich aber schon ein paar Jahre später schlagartig ändern. Plötzlich wimmelte es von Rechtsmedizinern in Krimis und Fernsehfilmen; allerdings wurden dabei auch all die Bilder produziert, die sich offenbar hartnäckig im Bewusstsein der Menschen verankert hatten.
Zwei Dinge waren aber schon Mitte der 1990er Jahre für jeden meiner Kommilitonen oder auch die Ärzte, mit denen ich über meinen damals noch sehr ausgefallenen Berufswunsch sprach, nur zu sicher: Die Rechtsmedizin ist ein Schmuddeljob, und außerdem sind Rechtsmediziner hinsichtlich ihres Einkommens gegenüber allen anderen Medizinern benachteiligt – sie sind gewissermaßen ganz am Ende der ärztlichen Nahrungskette angesiedelt. Und eigentlich kann man auch gleich Gerichtsmediziner sagen, denn Gerichtsmediziner und Rechtsmediziner sind ja schließlich dasselbe. Und als Pathologen kann man sie auch bezeichnen, denn sie machen alle das Gleiche. Leider alles falsch. Hier geht es schon los mit den Irrtümern über die Rechtsmedizin.
Wir Rechtsmediziner beschränken uns nicht nur auf die Untersuchung Toter mittels äußerer Leichenschau und Obduktion. Im Gegenteil, die Untersuchung lebender Personen – beispielsweise Opfer von Straftaten, aber auch Tatverdächtige – hat einen festen Stellenwert und ist nahezu tägliche Praxis. Aber dazu später mehr. Und was das Pekuniäre anbelangt: Ein in der Rechtsmedizin tätiger Assistenz- und Oberarzt erhält aufgrund bundesweit ähnlicher tarifvertraglicher Regelungen im Gesundheitswesen ungefähr das gleiche Grundgehalt wie seine in der Klinik tätigen Kollegen.
Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2016. Nach meinem Medizinstudium an der Universität Kiel konnte ich meinen Berufswunsch verwirklichen und bin seit 1996 als Rechtsmediziner tätig. Die Zeiten haben sich seitdem erheblich geändert – auch was die öffentliche Wahrnehmung der Rechtsmedizin anbelangt und das »Wissen« über unser Tätigkeitsfeld. Das Schmuddelimage unserer Profession wurde abgelegt, und heutzutage meint jeder eigentlich nur zu genau zu wissen, was wir machen. Ganz wesentlich dazu beigetragen hat mein fiktiver Kollege, der kauzige und verschrobene Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne, verkörpert von Jan Josef Liefers. Als Münsteraner Rechtsmediziner in der sonntäglichen Serie Tatort ist er den Fernsehzuschauern seit 2002 ein Begriff. Boerne erzielt regelmäßig Einschaltquoten im zweistelligen Millionenbereich und ist aus dem Tatort nicht mehr wegzudenken. Aber auch die Serien Medical Detectives, Autopsie, CSI: Den Tätern auf der Spur, Bones – Die Knochenjägerin, Crossing Jordan, Der letzte Zeuge sowie Criminal Minds und viele andere haben seit Ende der 1990er Jahre ihren Teil dazu beigetragen, die bis dahin verschlossenen Sektionssaal- und Labortüren weit aufzustoßen und so Licht in das Dunkel der Arbeit der Forensiker zu bringen. Das Ausmaß, mit dem deutsche Fernsehzuschauer mit solchen Serien regelrecht bombardiert werden, ist beachtlich. In nur einer Kalenderwoche im Jahr 2016 zählte ich mehr als dreißig verschiedene Rechtsmedizin-Serien und Forensik-TV-Formate im Fernsehprogramm – die Wiederholungen nicht mitgezählt!
Ein Ende dieses Booms ist derzeit weder in der Kriminalliteratur und in Kino- und Fernsehfilmen noch in Wissenschaftsmagazinen absehbar. Unweigerlich haben sich bei so viel Präsenz der Rechtsmedizin in den Medien auch einige populäre Irrtümer bzw. Fehlannahmen über den Ablauf des Arbeitsalltags in der Rechtsmedizin verselbständigt. Immer wieder wird im Fernsehen das Bild des neben der Leiche Brötchen kauenden Rechtsmediziners bemüht, der zudem ewig schlecht gelaunt ist und mit seinen Mitmenschen nicht klarkommt. Ebenso sieht man in Filmen immer wieder ganze Familien durch den Obduktionssaal pilgern, um ihren verstorbenen Angehörigen zu identifizieren.
Da sich in den letzten 15 Jahren offenbar zahlreiche Klischees und verzerrte Darstellungen von uns Rechtsmedizinern und unserer Arbeit in der Öffentlichkeit verfestigt haben, scheint es mir nun an der Zeit, diese Bilder etwas geradezurücken und mit den größten Irrtümern über die Rechtsmedizin aufzuräumen.
Dieses Buch soll Sie, liebe Leserinnen und Leser, keinesfalls desillusionieren oder Ihnen den Spaß an der fiktionalen Darstellung unserer Arbeit nehmen. Mir ist klar, dass solche teils verqueren Szenen der Phantasie eines (Drehbuch-)Autors entspringen, dass solche Typisierungen die Dramaturgie des jeweiligen Falles stützen – und natürlich weiß ich auch, dass eine gute Story nur so funktionieren und den Zuschauer bzw. den Leser in Atem halten kann. Lassen Sie sich also nicht den Spaß an all diesen Serien, Filmen und Büchern nehmen. Das, was Sie hier lesen, holt Sie allenfalls ein kleines Stück in die Realität der Rechtsmedizin zurück und soll, wie die Fiktion auch, vor allem eines bewirken – Sie bestens unterhalten.
Michael Tsokos
Rechtsmediziner sind alles, nur keine richtigen Ärzte
Wann immer das Gespräch darauf kommt, was ich beruflich mache, wird mir auch heute noch manchmal die Frage gestellt, ob ich sowohl Medizin als auch Jura studiert hätte. Viele Menschen meinen offenbar, dass Rechtsmediziner im Prinzip so etwas wie Juristen seien oder zumindest den Rechtswissenschaften wesentlich näherstünden als der Medizin, was vielleicht auch ein bisschen an der Reihenfolge von »Recht« und »Medizin« im Wort »Rechtsmedizin« liegen mag.
Auch wenn in Deutschland der Facharzttitel für Rechtsmedizin neben anderen Anforderungen zwingend ein Medizinstudium erfordert, nicht aber das Studium der Rechtswissenschaften, ist diese Frage durchaus berechtigt. Zum einen gibt es Kollegen von mir, die durch ihren akademischen Titel »Prof. Dr. med. Dr. jur.« als doppelt promovierte Hochschullehrer hervorstechen, allerdings lassen die sich in Deutschland zur Zeit an einer Hand abzählen. Andererseits ist in angloamerikanischen Ländern der bei rechtsförmlichen Verfahren hinzugezogene Coroner, der bei unerwarteten, dubiosen oder gewaltsamen Todesfällen die Todesursache feststellt, nicht selten von Hause aus Jurist und fast nie Arzt. All dies zeigt, dass die eingangs erwähnte Frage durchaus ihre Berechtigung hat; trotzdem bedarf es in Deutschland für den Beruf des Rechtsmediziners keiner wie auch immer gearteten juristischen Vorbildung.
Völlig abwegig ist demgegenüber die Annahme, die Rechtsmedizin sei eine Art Ausbildungsberuf, den man – wie eine Schlosser- oder Maurerlehre – drei Jahre lang erlernt und dann, wie eine Gesellenprüfung, mit einer Prüfung zum Rechtsmediziner abschließt. Diese falsche Annahme geistert zumindest in einigen Berufsforen im Internet herum; dort tauschen sich zuweilen Halbinformierte, Unwissende und völlig Ahnungslose aus, bedienen bestimmte Klischees über die Rechtsmedizin und geben sich gegenseitig »Tipps«, wie man Rechtsmediziner wird.
Die Vorstellungen vom Beruf des Rechtsmediziners und das allgemeine Bild von uns in der Öffentlichkeit werden sehr von amerikanischen Fernsehserien bestimmt – und damit natürlich auch verzerrt. Die Protagonisten, oder besser »Helden«, in Serien wie CSI: Den Tätern auf der Spur, CSI: Miami oder Criminal Minds sind keine Rechtsmediziner. Bei ihren Pendants im wirklichen Leben handelt es sich in der Regel um hochrangige Kriminalermittler beziehungsweise Polizeioffiziere oder Bundesagenten mit einer naturwissenschaftlichen Ausbildung. Sie werden in diesen populären Serien häufig als Mordermittler und Kriminaltechniker mit dem entsprechenden naturwissenschaftlichen Know-how dargestellt. Diese Art der Kriminalermittlung hat mit der Realität nicht nur in Deutschland, sondern auch in allen anderen europäischen Ländern kaum etwas zu tun.
Um es klarzustellen: Wir Rechtsmediziner sind Naturwissenschaftler. Der »klassische« Rechtsmediziner, der im Sektionssaal, am Tatort und vor Gericht als Sachverständiger tätig ist, hat ein mindestens sechsjähriges Medizinstudium erfolgreich mit dem dritten Staatsexamen abgeschlossen. Danach darf man die Approbation als Arzt beim zuständigen Landesprüfungsamt beantragen. Wenn man dann für sich die Rechtsmedizin als Fachdisziplin gewählt hat – als den Job, zu dem man sich berufen fühlt –, kommt eine noch größere Hürde als der erfolgreiche Abschluss des Medizinstudiums auf den Berufsanfänger zu, nämlich eine Stelle als Weiterbildungsassistent in der Rechtsmedizin zu ergattern. Hat auch das geklappt, ist man zwar als Rechtsmediziner tätig, darf aber während der nächsten Jahre nur eingeschränkt eigenverantwortlich arbeiten. Alles, was der Weiterbildungsassistent in der Rechtsmedizin untersucht beziehungsweise begutachtet und was dann in schriftlicher Form als Gutachten vom Institut für Rechtsmedizin herausgegeben wird, muss von einem Facharzt für Rechtsmedizin (in der Regel einer der Oberärzte des Instituts) geprüft, für korrekt befunden und gegengezeichnet werden.