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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-463-40426-4

ISBN E-Book 978-3-688-10056-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10056-9

Vorwort
von Daniel Koerfer

Diesen neu aufgelegten Essay von Sebastian Haffner umgibt kein Geheimnis. Kriminaltechnische Analysen zur Bestimmung der Papierqualität und damit zur Ermittlung seines Entstehungszeitpunkts sind nicht erforderlich. Dennoch bietet auch dieser Text, wie fast immer bei Haffner, Stoff für Kontroversen und Debatten – ganz besonders in einem Wahljahr. Denn im Vorfeld einer Bundestagswahl und mit Blick auf eine Wahlentscheidung wurde er geschrieben, kurz nach jenem Buch übrigens, das Haffner im Alter von mehr als siebzig Jahren über Nacht und ganz zu Recht weltberühmt gemacht hat. Nach seinen »Anmerkungen zu Hitler« verfaßt er 1980 die hier neu aufgelegten Überlegungen eines Wechselwählers, Anmerkungen auch sie, aber noch assoziativer, weniger streng komponiert, zugleich flüssig und leicht formuliert, Schriftsprache und gesprochenes Wort sind bei ihm ja oft auf magische Art eins.

Haffner nimmt uns mit auf eine Zeitreise. Wir überfliegen mit ihm die sich wandelnden Parteienlandschaften, zunächst in Deutschland, dann auch in den USA, blicken noch einmal in die Abgründe der roten und braunen Einparteiendiktaturen, sehen mit Erleichterung die von den Westmächten tatkräftig geförderte Herausbildung und rasche Stabilisierung der Mehrparteiendemokratie in Westdeutschland, vernehmen am Ende, gewissermaßen unmittelbar vor der Landung, die kaum verhüllte konkrete Empfehlung unseres »Piloten« für eine konkrete Wahl- und Personalentscheidung bei der Bundestagswahl 1980.

Natürlich ist das Buch auf diesen aktuellen Punkt hin geschrieben, einem besonderen, aktuellen Anlaß gewidmet wie sonst keines dieses Autors. Stört das? Nur wenn man aufhört, etwas zu tun, was Haffner uns beständig nahezubringen versucht: zu staunen. Formulierungen wie »Wunder«, »Rätsel«, »eines der erstaunlichsten Ereignisse der Weltgeschichte« verwendet er immer wieder ungeniert und nicht von ungefähr, will er uns doch dafür sensibilisieren, daß in der Geschichte rein gar nichts selbstverständlich ist, manches Resultat hingegen höchst verblüffend ausfällt.

Staunen wir also. Zunächst einmal darüber, wie ferngerückt das Jahr 1980 mit seinen Entscheidungen und Konstellationen zwei Jahrzehnte später ist. Oder wie nah? Ein sozialdemokratischer Kanzler regierte, deutlich populärer als seine Partei. Den gleichfalls überaus populären Außenminister stellte der kleine, nicht sonderlich renitente Koalitionspartner. Die beiden Herren hießen aber nicht Gerhard Schröder und Joschka Fischer – sondern Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. Kanzler Schmidt war außerdem nicht zugleich SPD-Vorsitzender, das war 1980 noch immer und bis 1987 Willy Brandt, der am Ende 23 Jahre dieses Amt innehaben und damit sogar August Bebel übertreffen sollte. Doch die Sorge vor Terrorismus trieb schon damals die Deutschen um, aber eben »nur« innenpolitisch. Die bleierne Zeit der RAF lag erst kurz zurück. Immerhin: daß bei staatlichen Gegenmaßnahmen gerade auf diesem Feld leicht überreagiert wird, rechtsstaatliche Prinzipien vorschnell in den Hintergrund gedrängt werden können, Haffner deutet es als Gefährdung schon an.

Außen- und weltpolitisch war’s natürlich eine fundamental andere Situation, das von Haffner gewünschte deutsche »low profile« vom Nachkriegsszenario bestimmt: Von partnerschaftlich globaler, auch militärischer Mitverantwortung im Kreis der Mittel- und Großmächte, von Einsätzen der Bundeswehr »out of area« noch keine Spur. Sowjetische Raketenrüstung, westliche Nachrüstung, NATO-Doppelbeschluß und anwachsende Friedensbewegung hatten zum letzten west-östlichen Klimasturz im Zeitalter der ausgehenden bipolaren Welt geführt – der kälteste Kalte Krieg dominierte noch einmal, besonders nachdem sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert waren. Daß die USA darauf mit Konfrontation reagierten, hält Haffner im übrigen für falsch, man kann es im letzten Kapitel nachlesen und findet zugleich ein kleines Beispiel für die Hellsicht dieses Mannes. Beide Großmächte, so argumentiert er, würden zunehmend auf einen »wiedererwachten, ebenso antiwestlichen wie antiöstlichen, militanten, islamischen Glaubensfanatismus« stoßen, und ein solcher »gemeinsamer Gegner legt eher Allianz nahe als Konflikt«. Zwei Jahrzehnte später sollte die Allianz gegen die islamischen Glaubenskrieger tatsächlich Wirklichkeit werden.

Neben Haffners Hellsicht stehen natürlich auch Fehlurteile, Fehldeutungen, das war ihm selbst wohl immer klar, immer bewußt, hat ihn nie vor Pointierungen zurückschrecken lassen. Daß er den Untergang der DDR nicht erwartet hat, gehört sicher nicht dazu – wohl aber, wie nachdrücklich er sich mit dem Status quo einrichten konnte. Die SED-Kommunisten waren ihm – es steht im Mittelteil – »die relativ mildesten«, »wirtschaftlich erfolgreichsten«, und Schauprozesse, einen Gulag habe es bei ihnen nicht gegeben.

Eine im Westen damals vielfach verbreitete, allerdings wenig zutreffende Einschätzung. Gerade in den Anfangsjahren nach 1945 waren in Konzentrationslagern wie Sachsenhausen weiter Häftlinge inhaftiert, gequält, zu Tode gebracht worden, später traten große Haftanstalten wie Bautzen I und II an ihre Stelle. Stalinistische Schauprozesse kannte auch die DDR, erinnert sei etwa an die Waldheimer Prozesse, in denen mehr als 3400 Menschen in Schnellverfahren abgeurteilt, von 32 verhängten Todesurteilen 23 vollstreckt wurden. Zudem war die DDR 1979/80 schon so gut wie pleite, im Westen, besonders beim kapitalistischen Klassenfeind Bundesrepublik, hoffnungslos überschuldet, wie ihr Planungschef Gerhard Schürer rückblickend offen eingestanden hat. Honecker, als Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender von Staatsrat und Nationalem Verteidigungsrat tatsächlich ein kleiner Diktator, tat mit seinem Politbüro einiges, um die gigantische Fehlkonstruktion des Pomp- und Pump-Sozialismus in der DDR zu tarnen. Dazu gehörte etwa die Entscheidung, im ostdeutschen »Reich«, darin Hitler ähnlich, bei ohnehin staatlich subventionierten Preisen nahezu sämtliche Preissteigerungen zu verbieten, gehörte ferner die Anweisung, zugleich die Nettolöhne ohne Tarifauseinandersetzung jährlich um vier Prozent anzuheben. Wegen der damit einhergehenden heftigen heimlichen (weil preisgestoppten) Geldentwertung sanken in Wirklichkeit die Realeinkommen kontinuierlich, wurde das ökonomische System zwangsläufig immer maroder – nur eben: Es merkte keiner. Hinzu kamen die immensen Fehlinvestitionen der Ära Honecker in die Mikroelektronik. An Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt war zu keinem Zeitpunkt zu denken, auch am Ende nicht. Aber die Welt zu blenden und zu bluffen, das gelang.

Gerade im Westen ließen sich viele täuschen. Auch Haffner gehörte dazu. Als die Einheit schließlich in einer friedlichen Revolution erreicht wurde, schwieg er die letzten zehn Jahre seines Lebens, fast schmollend, zu diesem großen Thema. Gorbatschow, der die Zeitenwende überhaupt erst ermöglichte, das sowjetische Imperium darüber aufgab oder verlor (wie man’s nimmt), war ihm – das wissen wir – eben nur ein Spieler, ein Narr, der, so hat Haffner einmal gesagt, »Politik macht als Linksintellektueller, wie man es sich in den Redaktionsstuben der ›Zeit‹ vorstellt, aber nicht wie ein Weltpolitiker«.

Daß er sich nicht mehr mit dem Thema Wiedervereinigung und ihren Folgen beschäftigen mochte, ist schade und erstaunlich zugleich – schade, weil uns dadurch kluge Kommentierungen fehlen, und erstaunlich, weil ein Thema, das Haffners ganzes Werk durchzieht – und das vorliegende macht davon keine Ausnahme – abermals angesprochen worden wäre: der Untergang der bürgerlichen Gesellschaft.

Wer wie Haffner auch in diesem Essay mit leichter Wehmut für immer das Versinken der »Welt der Buddenbrooks mit ihren Herrschaftshäusern und Dienstboten, ihrer Kleiderordnung, ihrem unverrückbaren Oben und Unten« registriert, wer für die Bundesrepublik feststellt, daß der Lebensstandard der Arbeiter sich »ungeheuer nach oben«, der Bildungsstandard beim Bürgertum dagegen »ungeheuer nach unten« verschoben habe, der beschreibt nicht nur die berühmte westdeutsche nivellierte Mittelstandsgesellschaft, der gibt auch zu der Vermutung Anlaß, eigentlich ein gutes Gespür für die prägenden Vorgänge in der DDR zu besitzen.

Nach der Vertreibung und Ermordung der Juden durch das NS-Regime folgte in der SBZ und dann weiter in der DDR ein zweiter, tiefer und brutaler sozialer Umbruch: die Ausbürgerung des Bürgertums. Doppelt »gesäubert«, zugleich doppelt »verarmt«, entstand tatsächlich eine neue, gegenüber Westdeutschland in zentralen Punkten andere Gesellschaft – noch kleinbürgerlicher, noch atheistischer, zugleich staatlichen Interventionen noch stärker verhaftet. Die Folgen dieser fundamentalen Mentalitätsunterschiede sind mit sämtlichen Transferleistungen in Mark und Euro nicht rasch auszugleichen. Und es wird auch noch dauern, bis aus Ostdeutschland wirklich zahlreich Nachwuchs heranwächst für die – jedenfalls nach Haffner – am härtesten arbeitende, einfallsreichste, mutigste und geistreichste Klasse Deutschlands – für das Management.

Haffner, dieser Sohn aus gutbürgerlichem Hause – sein Vater war in Kaiserreich und Republik ein höherer preußischer Beamter im Schuldienst gewesen –, hat seine Wurzeln nie verleugnet, ja zeitlebens in seinem ganzen Habitus, in seiner Kultiviertheit und breiten Belesenheit bis hin zur Kleidung mit Weste und Krawatte durchschimmern lassen. Zum Untergang der DDR hat er öffentlich sich nicht mehr äußern mögen. War er – über achtzig – schon zu alt, hatte schließlich doch die Lust an den abrupten Sprüngen der Geschichte und damit auch die Neugier auf das 21. Jahrhundert verloren, Mann des 20. Jahrhunderts, der er war? Vielleicht. Vielleicht hat er die Überwindung der Teilung aber auch wie mancher Emigrant als unverdientes deutsches Glück empfunden, sosehr ihm stets bewußt war – das zeigen auch Passagen in diesem Band –, in welcher Unfreiheit die Bürger der DDR jahrzehntelang gehalten wurden. Denn eigentlich konnte er sich das Ende der Pax sovietica über Osteuropa und damit über dem deutschen Gebiet östlich der Elbe nur nach einem Dritten Weltkrieg vorstellen, den zu verhindern er seit den siebziger Jahren zu mahnen nicht müde wurde. Nach seiner Zeit als aufrechter Kalter Krieger in den fünfziger Jahren ist Haffner unter dem Eindruck des Mauerbaus und der staatlichen Übergriffe während der Spiegel-Krise zu einem Anhänger der damals noch oppositionellen SPD geworden, zugleich, ähnlich wie Peter Bender, zu einem publizistischen Wegbereiter der Entspannungspolitik, hat einer Verständigung, einem Ausgleich mit dem Osten auf der Basis des Status quo früh und nachdrücklich das Wort geredet, Willy Brandt und Egon Bahr vor und nach dem Machtwechsel 1969 von Berlin aus damit so etwas wie journalistische Rückendeckung gegeben. Daß deren Politik die deutsche Frage und damit die Möglichkeit einer Wiedervereinigung tatsächlich ebenso offenhielt wie die Politik Adenauers, daß Westintegration und neue Ostpolitik sich ergänzen und untrennbar zusammengehören wie die zwei Seiten einer Medaille, vermochte er lange nicht zu erkennen – Belege finden sich auch in diesem Buch. Die deutsche Frage war wohl einfach irgendwie erledigt für ihn.

Die für Haffner wirklich prägende Erfahrung war sicher nicht die der Teilung. Sondern die Verwüstung Deutschlands durch den Zerfall der ersten deutschen Republik, durch den Aufmarsch der NSDAP, mit schwerwiegenden, ja fatalen Folgen für seine persönliche Lebensbahn und Existenz. Aus dem Juristen wird kein deutscher Richter. Aus ihm wird ein Mann, der seiner schwangeren jüdischen Freundin ins Exil nach England folgt. Er, der im Dritten Reich schon unverfängliche Artikel – über Mode – verfaßte, muß sich fortan ganz auf seine »Schreibe« verlassen. Das ist im Ausland, noch dazu in einer fremden Sprache verteufelt schwer, gelingt nur wenigen, neben Haffner etwa noch Stefan Heym. Natürlich braucht man dazu Fortüne – und Freunde. Daß George Orwell seine ersten Artikel übersetzt, später dann der Chefredakteur und Herausgeber des »Observer«, David Astor, ihn freundschaftlich fördert, sind solche Glücksfälle. Um seine in Berlin zurückgebliebenen Eltern vor negativen Folgen seiner Hitler-Deutschland gegenüber kritisch-scharfsinnigen Artikel zu schützen, wählt er jetzt ein Pseudonym: aus Raimund Pretzel wird – Bach liefert ihm dabei den Vornamen, Mozart mit seiner gleichnamigen Symphonie den Nachnamen – Sebastian Haffner.

Auch wenn er am Beginn des Zweiten Weltkriegs als »enemy alien« kurzzeitig ein britisches Internierungslager kennenlernen muß: Seine Bewunderung für die Kraft der englischen, der angloamerikanischen Demokratie sitzt tief. Will man personalisieren, kann man sagen: Hitler und Churchill sind die beiden Pole seiner politischen Welt. Nicht von ungefähr hat er allein diesen beiden weltgeschichtlichen Gestalten biographische Porträts gewidmet, die viel mehr sind als kleine Skizzen ihrer Lebenswirkung. Die englische und die amerikanische Demokratie waren es, die, um den Preis erheblicher eigener Opfer, Hitler-Deutschland am Ende besiegten. Haffner hat das unmittelbar erlebt. Es hat ihn entscheidend geprägt. Daß damit zugleich das System des Dritten im Bunde der Anti-Hitler-Koalition, das stalinistische System, stabilisiert und der Ausdehnung einer totalitären Herrschaftsform über ganz Osteuropa für Jahrzehnte der Weg bereitet wurde, trat demgegenüber zurück. Es hätte sich ja wohl auch nur durch einen neuerlichen Waffengang verhindern lassen, den nach 1945 niemand wollte, nicht einmal der rasch abgewählte Churchill.

Haffner, dieser »Deutsche mit englischem Paß« (so nannte er sich selbst), hat fortan jedenfalls sein Faible für das angloamerikanische politische System behalten. Das zeigt sich nirgends so offen, so unverhüllt wie in diesem Werk. Sein klares Votum für ein Zweiparteiensystem, seine bewundernde, wenn auch gegenüber der europäischen Parteiengeschichte, etwa der Parteienentwicklung im Frankreich der Französischen Revolution, reichlich ungerechte, weil allzu euphorische Schilderung der Entstehung von »Demokraten« und »Republikanern« in den USA hat hier ihren Ursprung. Parteien haben für ihn vor allem die Hauptaufgabe, den Präsidenten, den Premier, den Kanzler und dessen Regierungsmannschaft zu stellen, oder besser: dem – nach dem Untergang der Monarchie – neuen Souverän, dem Wähler also, ein Angebot zu machen, das dieser annehmen und »wählen« oder eben als untauglich verwerfen kann. Das amerikanische Präsidialsystem, das britische System mit seinem teilweise brutalen Mehrheitswahlrecht funktionieren so. Kleine Parteien haben dabei keine Chance – und sie stören auch in Haffners Konzept. Sicher, die Parteienvielfalt und -zersplitterung der Weimarer Zeit spielen bei ihm mit hinein. Aber eben nicht allein, und nicht in erster Linie.

Neben Haffners freundschaftlicher Fixierung auf das angloamerikanische System könnten manchen Leser bei diesem Meister der Zuspitzung auch einige Widersprüche und Ungereimtheiten irritieren. Natürlich gibt es neben konstitutionellen Monarchien noch weitere funktionierende Mehrparteiensysteme – die Schweizer Konsensdemokratie funktioniert seit über hundert Jahren so. Natürlich fehlt im Text eine klare Definition dessen, was denn nun eigentlich einen guten Regierungschef, eine gute Regierung ausmacht. Daß Haffner selbst nach elf Jahren sozialliberaler Koalition für eine Fortsetzung derselben plädiert, obwohl er den regelmäßigen Wechsel der Regierungsverantwortung nach zwei bis drei Legislaturperioden für essentiell hält – »weil unerschütterliche Daueropposition einer Partei nicht gut bekommt und hoffnungslose Daueropposition noch weniger« –, mag gleichfalls befremden, ist aber einfach zu erklären. Haffner treibt damals eine Sorge um, die einen Namen trägt: Franz Josef Strauß, Kanzlerkandidat der Union.

Diese Sorge war übrigens unberechtigt. Nicht allein, weil Strauß die Wahl 1980 verlieren wird. Nein, weil die Union mit Kohl und Strauß an der Spitze in der Ost- und Deutschlandpolitik bald auf die sozialdemokratische Linie einschwenken, die von Brandt gelegten Grundlagen akzeptieren und darauf aufbauen wird – ein ausgerechnet von Strauß vermittelter Milliardenkredit an die DDR sollte den Wandlungsprozeß öffentlich sichtbar werden lassen. Damit wurde zugleich eine neue innenpolitische Konstellation stabilisiert, die 1980 bereits in der Luft lag, von Haffner aber für schwer realisierbar (weil für die FDP tödlich) gehalten wurde: die Bildung einer Koalition von Union und Liberalen. Wie gefährdet das sozialliberale Bündnis, aber auch die Stellung Helmut Schmidts innerhalb seiner eigenen Partei bereits 1980 gewesen sind, das hat Haffner damals nicht gespürt.

Läßt man sich aber von derlei nicht irritieren und begreift den Text als Herausforderung zum kritischen Dialog mit dem Autor, wird man über die Fülle anregender Beobachtungen und Bemerkungen überrascht sein. Haffners harter, kritischer Kommentar zu den Grünen – enthält er nicht doch einen wahren Kern? Was wäre ihm zum unaufhaltsamen Aufstieg der PDS eingefallen? Vielleicht, daß das politische Langzeitgedächtnis der Deutschen schon im letzten Jahrhundert ein besonders schwach ausgeprägtes Organ gewesen ist. Gleichfalls für manchen möglicherweise verstörend das klare Bekenntnis zur Atomkraft samt der kühlen Vorhersage eines Kernkraftwerk-GAU’s – sechs Jahre vor Tschernobyl! Und was er über die Amerikanisierung unserer Wahlkämpfe, über die Nähe der beiden großen politischen Parteien sagt, ist es nicht immer noch richtig? »Beide, CDU und SPD, wollen eine möglichst produktive und ertragreiche, privat betriebene kapitalistische Marktwirtschaft, beide wollen zugleich den Abschöpfungs- und Umverteilungsstaat, den Hochsteuer- und den Sozialstaat.«

Gerade hier müssen wir uns aber heute fragen: Geht das alles noch? Denn die Beobachtung, mit der Haffner seinen Essay beginnt, stimmt zwei Jahrzehnte später leider nicht mehr. Die Bundesrepublik ist nicht länger die »solideste, gesundeste und stabilste« unter den westlichen Demokratien. Das Bild, das sich jedem wachen Wähler im Jahr 2002 bietet, ist gerade innenpolitisch wenig erfreulich: Die Staatsverschuldung, die übrigens erst unter dem sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt begann, zwei seiner Finanzminister, Alex Möller und Karl Schiller, aus Protest zum Rücktritt zwang – Adenauers Finanzminister Schäffer hatte noch Milliardenüberschüsse an Staatseinnahmen erwirtschaftet, die gesamte Bundesregierung kam allerdings 1960 auch mit lediglich rund tausend Beamten aus –, ist mittlerweile ins Astronomische angestiegen. 1500 Milliarden D-Mark betrug die Verschuldung des Bundes Ende 2001 offiziell, einige Schattenhaushalte ebensowenig eingerechnet wie die Defizite von Ländern, Städten und Kommunen. Der Euro hat diese gigantische Belastung allenfalls auf dem Papier halbiert. Der Schuldendienst verschlingt jährlich Milliarden.

Die Kosten im Gesundheitswesen klettern und klettern. Die Rentenkasse bekommt immer neue Löcher. Die Arbeitslosenzahlen rücken bedrohlich und vor allem dauerhaft an Weimarer Verhältnisse heran, machen gleichfalls immer neue, immer weitere Milliardenausgaben erforderlich. Nicht allein deshalb fließt noch immer von jedem Euro, der im Land offiziell verdient wird, fast die Hälfte in die Kassen des Staates – Schwarzarbeit lohnt sich.

Was das Wirtschaftswachstum anlangt, ist die Bundesrepublik 2002 Schlußlicht in der Europäischen Union – die gleiche Bundesrepublik, die Jahrzehnte lang als Lokomotive Europas fungierte. Aus Brüssel, selbst eine Zentrale der europäischen Krankheit mit Namen »Regulitis«, wird die Berliner Regierung gerügt, weil sie neben Frankreich am langsamsten mit der Deregulierung, mit der Abschaffung überflüssiger, ja hemmender Gesetze und Verordnungen vorankomme. Viele unserer Schul- und unserer Gerichtsgebäude verwahrlosen gleichermaßen – mit Symbolcharakter für das, was »intra muros« geschieht. Daß bei einem großen weltweiten Bildungs- und Schulvergleich Deutschland auf den hintersten Plätzen landet, kann da nicht sonderlich verblüffen.

Die Schlußfolgerungen sind eigentlich klar – und Haffner bestärkt uns ja, ähnlich wie ein anderer »Wundergreis«, ähnlich wie Adenauer, klare Alternativen zu formulieren. In unserem Fall müssen sie lauten: weniger Staat, mehr Mut zu Eigeninitiative, Eigenleistung und Wettbewerb – überall, in der Schule, im Beruf, in der Bürokratie. Bislang haben die beiden letzten von CDU und SPD