Das Buch
Biron Farrill ist gerade dabei, seine Studien auf der Erde abzuschließen, als ihn die Nachricht ereilt, dass sein Vater, der Gutsherr von Widemos, von den Tyranni getötet wurde. Der Khan der Tyranni unterdrückt die Planeten in seinem kleinen Sternenreich durch Intrigen und Attentate. Auch Farrills Leben ist jetzt in Gefahr. Zusammen mit seinem Freund Sander Jonti gelingt ihm die Flucht von der Erde. Jonti ist fest entschlossen, die Tyranni zu stürzen, und Farrill soll ihm dabei helfen. Vieles spricht dafür, dass es eine geheime Untergrundorganisation gibt, die sich gegen die Tyranni auflehnen will. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach den Rebellen, die sie mitten ins Herz des Tyranni-Imperiums führt …
Sterne wie Staub spielt lange vor Ein Sandkorn am Himmel, wurde allerdings ein Jahr später geschrieben. Trantor ist gerade erst besiedelt worden, von dem gigantischen Imperium, von dem die Foundation-Trilogie und seine Nachfolgeromane erzählen, kann hier noch nicht die Rede sein. Sterne wie Staub ist ein weiteres Puzzlestück in Asimovs Foundation-Zyklus, dem wohl bekanntesten Science-Fiction-Werk des 20. Jahrhunderts.
»Wer immer sich an der nie endenden Diskussion über die Zukunft beteiligt, weiß, was wir Isaac Asimov zu verdanken haben.«
The New Yorker
Der Autor
Isaac Asimov zählt gemeinsam mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein zu den bedeutendsten SF-Autoren, die je gelebt haben. Er wurde 1920 in Petrowitsch, einem Vorort von Smolensk, in der Sowjetunion geboren. 1923 wanderten seine Eltern in die USA aus und ließen sich in New York nieder. Während seines Chemiestudiums an der Columbia University begann er, SF-Geschichten zu schreiben. Seine erste Story erschien im Juli 1939, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er in rascher Folge die Erzählungen und Romane, die ihn weltberühmt machten. Neben der Science Fiction schrieb Asimov auch zahlreiche populärwissenschaftliche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Er starb im April 1992.
Mehr über Isaac Asimov und seine Romane auf:
ISAAC ASIMOV
STERNE
WIE STAUB
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
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Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE STARS, LIKE DUST
Deutsche Übersetzung von Irene Holicki
Copyright © 1958 by Nightfall Inc.
Mit freundlicher Genehmigung der Erben des Autors
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung von shutterstock 134984325
Umsetzung E-Book: Schaber Datentechnik, Wels
ISBN 978-3-641-13210-1
V002
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1 Das Wispern im Schlafzimmer
Ein schwaches Wispern erfüllte das Zimmer. Ein ungewohntes Geräusch, für das menschliche Ohr kaum wahrzunehmen, aber doch unverwechselbar und unbedingt tödlich.
Es war freilich zu leise, um Biron Farrill aus seinem schweren und wenig erquickenden Schlummer zu wecken. Erst das immer wiederkehrende Brr-Brr vom Nachttisch drang in sein Bewusstsein. Vergeblich drehte er den Kopf von einer Seite zur anderen – es ließ sich nicht zum Schweigen bringen.
Endlich streckte er, ohne die Augen zu öffnen, die Hand nach dem Apparat aus und stellte mit einem Knopfdruck die Verbindung her.
»Hallo«, nuschelte er.
Sofort ergoss sich, hart und überlaut, eine Flut von Geräuschen aus dem Empfänger. Biron brachte nicht die Kraft auf, die Lautstärke zurückzudrehen.
»Könnte ich Biron Farrill sprechen?«
Biron schlug die Augen auf. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Er spürte eine unangenehme Trockenheit im Mund, ein schwacher Geruch hing im Raum.
»Am Apparat«, sagte er. »Wer spricht da?«
Die Stimme redete weiter, ohne ihn zu beachten. Immer aufgeregter, eine laute Stimme in der Nacht. »Ist dort jemand? Ich muss dringend Biron Farrill sprechen.«
Biron stützte sich auf einen Ellbogen und starrte in die Richtung, wo das Visifon stand. Dann ertastete er mit dem Finger die Bildsteuerung. Ein kleines Rechteck leuchtete auf.
»Hier bin ich«, sagte er. Sander Jontis glattes Gesicht mit den nicht ganz regelmäßigen Zügen schaute ihm entgegen. »Könnten Sie nicht morgen früh noch einmal anrufen, Jonti?«
Er wollte den Apparat schon abschalten, als Jonti rief: »Hallo. Hallo. Ist da jemand? Ist dort das Studentenwohnheim der Universität, Zimmer 526? Hallo?«
Plötzlich fiel Biron auf, dass das winzige Kontrolllämpchen für die Sendefunktion nicht aufgeleuchtet hatte. Mit einer leisen Verwünschung drückte er auf den entsprechenden Schalter. Die Lampe blieb dunkel. Jonti gab endlich auf und verschwand vom Schirm. Nur ein leeres Rechteck strahlte Biron an.
Mit einem Achselzucken schaltete er ebenfalls ab und wollte sich schon wieder in sein Kissen vergraben. Er war verärgert. Niemand hatte das Recht, ihn mitten in der Nacht anzubrüllen. Rasch warf er einen Blick auf die matten Leuchtziffern über dem Kopfende seines Betts. Drei Uhr fünfzehn. Im Heim würde es erst in knapp vier Stunden wieder lebendig werden.
Außerdem wachte er nicht gern in einem völlig dunklen Raum auf. An die Marotte der Erdenmenschen, sich in klobigen, fensterlosen Gebäuden hinter dicken Stahlbetonwänden zu verschanzen, hatte er sich nämlich auch nach vier Jahren noch nicht gewöhnen können. Die Tradition war tausend Jahre alt und stammte noch aus der Zeit, als es zwar primitive Atombomben gab, aber noch keine Kraftfelder, um sich dagegen zu schützen.
Doch das war längst Vergangenheit. Damals hatten die Atomkriege die Erde schlimm getroffen. Bis heute war sie zum größten Teil hoffnungslos radioaktiv verseucht und unbewohnbar. Man hatte hier nichts mehr zu verlieren, doch in der Architektur spiegelten sich immer noch die alten Ängste, und deshalb war Biron jetzt von pechschwarzer Finsternis umgeben.
Wieder stützte er sich auf einen Ellbogen. Irgendetwas stimmte nicht. Das unselige Wispern war ihm immer noch nicht aufgefallen, dafür aber etwas anderes, das sehr viel unauffälliger und mit Sicherheit längst nicht so bedrohlich war.
Er vermisste die leichte Brise, Kennzeichen des ständigen Luftaustauschs, die so selbstverständlich war, dass man sie kaum noch bemerkte. Auch fiel ihm das Schlucken schwer. Sobald er sich zusammengereimt hatte, was geschehen war, erschien ihm die Atmosphäre noch bedrückender. Das Belüftungssystem hatte den Betrieb eingestellt, und das wäre nun wirklich ein Grund gewesen, sich zu beklagen. Doch er konnte die Störung nicht einmal über Visifon melden.
Um ganz sicherzugehen, unternahm er noch einen Versuch. Wieder leuchtete das milchig trübe Rechteck auf und warf seinen schwachen Perlmuttschimmer über das Bett. Der Empfang war in Ordnung, aber das Gerät sendete nicht. Nun, das war nicht weiter von Bedeutung. Vor Tagesanbruch würde ohnehin niemand etwas unternehmen.
Gähnend rieb er sich mit den Handballen die Augen und tastete mit den Füßen nach seinen Pantoffeln. Also keine Frischluftzufuhr? Damit wäre auch der merkwürdige Geruch erklärt. Stirnrunzelnd zog er zwei- oder dreimal die Luft durch die Nase. Vergeblich. Der Geruch kam ihm bekannt vor, aber er vermochte ihn nicht einzuordnen.
Er ging ins Bad und drückte automatisch auf den Lichtschalter, obwohl er an sich kein Licht brauchte, um sich ein Glas Wasser zu holen. Der Schalter klickte, aber nichts geschah. Erbost schlug er noch ein paarmal darauf. Funktionierte denn nun gar nichts mehr? Er zuckte resigniert die Achseln und trank das Glas im Dunkeln leer. Das tat gut. Gähnend ging er ins Schlafzimmer zurück und probierte den Hauptschalter. Keine einzige Lampe reagierte.
Biron setzte sich auf sein Bett, stützte seine großen Hände auf die muskulösen Oberschenkel und dachte nach. Normalerweise wäre jetzt eine geharnischte Beschwerde beim Wartungspersonal fällig gewesen. Niemand erwartete in einem Studentenwohnheim den Service eines Luxushotels, aber, beim All, eine gewisse Grundversorgung konnte man doch wohl verlangen! Wobei dergleichen im Moment schon nicht mehr so wichtig war. Die Abschlussfeier stand unmittelbar bevor, und damit war sein Aufenthalt hier zu Ende. In drei Tagen würde er sich von diesem Zimmer und von der Universität Erde, ja, von der Erde selbst verabschieden.
Melden könnte er den Ausfall trotzdem, ohne weiteren Kommentar. Er brauchte nur hinauszugehen und das Telefon auf dem Flur zu benützen. Vielleicht brachte man ihm eine Lampe mit eigenem Akkumulator oder stellte sogar ein provisorisches Gebläse auf, damit er ohne Erstickungsängste schlafen konnte. Und wenn nicht, ins All mit ihnen! Zwei Nächte würde er noch überstehen.
Das Visifon spendete immerhin so viel Licht, dass er sich eine Unterhose suchen und eine Latzhose darüberziehen konnte. Das musste genügen, entschied er. Die Pantoffeln behielt er an. Zwar hätte er bei den dicken, fast schalldichten Trennwänden in diesem Betonklotz sogar in Nagelstiefeln über den Flur trampeln können, ohne jemanden aufzuwecken, doch wozu sollte er die Schuhe wechseln?
Er ging zur Tür und drückte auf die Klinke. Sie ließ sich leicht bewegen, und Biron hörte ein Klicken und glaubte, der Schließmechanismus habe angesprochen. Aber das war leider ein Irrtum. Obwohl er zog, dass sein Bizeps sich wölbte, ließ sich die Tür nicht öffnen.
Er trat zurück. Das war doch nicht möglich. Sollte es zu einem allgemeinen Stromausfall gekommen sein? Ausgeschlossen. Die Uhr ging noch, und das Visifon war immerhin empfangsbereit.
Moment! Seine Kameraden! Vielleicht hatten sie die Hand im Spiel; den Jungs war alles zuzutrauen. Dergleichen kam immer wieder einmal vor. Natürlich waren solche Streiche kindisch, aber er hatte sich selbst schon daran beteiligt. Durchaus möglich, dass sich einer von seinen Kumpels bei Tag hier hereingeschlichen hatte, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen, das wäre kein Problem gewesen. Nein, als er schlafen ging, hatten Klimaanlage und Beleuchtung noch funktioniert.
Schön, dann eben während der Nacht. Das Gebäude war alt und technisch nicht mehr auf dem neuesten Stand. Man brauchte kein Genie zu sein, um an die Klimaanlage oder die Lichtleitungen heranzukommen. Oder um das Türschloss zu blockieren. Und jetzt warteten sie sicher darauf, dass es Tag wurde. Mal sehen, was passierte, wenn der alte Biron merkte, dass er eingeschlossen war. Wahrscheinlich würden sie ihn erst gegen Mittag unter schallendem Gelächter befreien.
»Ha, ha«, stieß Biron wütend hervor. Schön, nun hatte er die Bescherung. Aber er konnte es nicht einfach dabei belassen – er musste sich irgendwie revanchieren.
Als er sich umdrehte, stieß er mit dem Fuß an einen Gegenstand, der mit metallischem Klirren quer durchs Zimmer schlitterte. Im matten Schein des Visifons sah er nur einen Schatten. Er bückte sich und tastete mit der Hand in weitem Bogen unter dem Bett herum. Als er das Ding gefunden hatte, zog er es heraus und hielt es dicht an den Schirm. (So schlau waren sie nun auch wieder nicht. Sie hätten das Visifon völlig außer Betrieb setzen sollen, anstatt nur den Stromkreis für den Sender zu unterbrechen.)
In seiner Hand lag ein Röhrchen mit einer Glasblase am oberen Ende. Die Blase hatte ein Loch. Er hielt sich den Zylinder an die Nase und roch daran. Hypnit. Damit war immerhin der rätselhafte Geruch erklärt. Natürlich, die Burschen hatten ein Betäubungsmittel verwendet, damit er nicht aufwachte, während sie sich an den elektrischen Leitungen zu schaffen machten.
Biron konnte das Manöver nun Schritt für Schritt nachvollziehen. Zuerst wurde die Tür aufgestemmt, ein Kinderspiel, aber zugleich der einzig riskante Teil des Unternehmens, denn dabei hätte er aufwachen können. Aber vielleicht hatten sie die Tür im Laufe des Tages so präpariert, dass der Riegel nicht ganz einrastete, ohne dass man es bemerkte. Er hatte es nicht ausprobiert. Wie auch immer, sobald sein Zimmer offen war, warfen sie eine Hypnitkapsel hinein, schoben die Tür wieder zu und warteten, während das Betäubungsmittel langsam austrat, sich zu der erforderlichen Konzentration von eins zu zehntausend verdichtete und ihn außer Gefecht setzte. Nun konnten sie – natürlich maskiert – gefahrlos eintreten. Beim All! Ein nasses Taschentuch schützte fünfzehn Minuten lang vor dem Hypnit, und mehr Zeit hatten sie wohl nicht gebraucht.
Damit war auch die Sache mit der Belüftung geklärt. Die Anlage musste abgeschaltet sein, sonst wäre das Hypnit zu rasch abgesaugt worden. Das war sicher die erste Maßnahme gewesen. Das Visifon hatte man lahmgelegt, damit er nicht um Hilfe rufen konnte; die blockierte Tür hinderte ihn daran, das Zimmer zu verlassen; und dass er kein Licht anmachen konnte, sollte ihn in Panik versetzen. Reizende Idee!
Biron schnaubte empört. Wenn er den Beleidigten spielte, machte er sich gesellschaftlich unmöglich. Spaß musste sein, und so weiter. Dabei hätte er im Moment am liebsten die Tür eingetreten, um diesem Spaß ein Ende zu machen. Der Gedanke ließ seine durchtrainierten Muskeln schwellen, aber mit Muskelkraft allein kam er sicher nicht weit. Die Tür war darauf ausgelegt, selbst einer atomaren Explosion standzuhalten. Verdammte Tradition!
Aber irgendeinen Ausweg musste er finden. Er durfte sich nicht einfach geschlagen geben. Zuallererst brauchte er Licht, eine richtige Lampe; das matte Geisterflimmern des Visifonschirms genügte nicht. Das war weiter kein Problem. In seinem Kleiderschrank lag eine batteriebetriebene Taschenlampe.
Als er an den Knöpfen herumfummelte, um den Schrank zu öffnen, befürchtete er schon, die Strolche hätten auch diese Tür blockiert. Doch sie glitt ohne Weiteres auf und schob sich in die Wand. Biron nickte vor sich hin. Logisch. Es gab keinen vernünftigen Grund, ihm den Zugang zum Schrank zu versperren, und allzu viel Zeit hatten sie wohl ohnehin nicht gehabt.
Er hielt die Taschenlampe schon in der Hand und wollte sich gerade abwenden, als ihn das Grauen erfasste. Das ganze Gebäude seiner Theorie stürzte mit einem Schlag in sich zusammen. Er erstarrte, sein Magen wurde zu einem harten, schmerzenden Klumpen, er hielt den Atem an und lauschte.
Zum ersten Mal, seitdem er aufgewacht war, hörte er das Wispern. Das Zimmer schien Selbstgespräche zu führen, leise in sich hineinzulachen. Biron erkannte das Geräusch sofort.
Jedermann kannte dieses Geräusch – das ›Todesröcheln‹ der Erde –, die Erfindung war tausend Jahre alt.
Genauer gesagt handelte es sich um das Ticken eines Zählrohrs, das alle geladenen Teilchen und alle harten Gammastrahlen registrierte, die ihm über den Weg liefen. Was Biron hörte, war das leise Schmatzen elektronischer Wellen, die sich zu einem halblauten Gewisper vereinten, die typischen Laute eines Strahlungsmessers, der nur eines messen konnte – den Tod!
Ganz behutsam, auf Zehenspitzen, wich Biron zurück. Aus sechs Fuß Abstand schickte er den weißen Strahl seiner Taschenlampe in jeden Winkel des Schranks. Das Messgerät stand in der hintersten Ecke, aber sein Anblick allein verriet ihm nichts.
Er besaß es seit seinem ersten Semester. Die meisten Studienanfänger von den Außenwelten schafften sich in ihrer ersten Woche auf der Erde einen Strahlungsmesser an, denn zu dieser Zeit empfanden sie die hier herrschende Radioaktivität noch als belastend und suchten sich dagegen zu schützen. Im Allgemeinen wurden die Dinger alsbald an die nächste Studentengeneration weiterverkauft, doch Biron hatte das seine behalten. Jetzt war er froh darüber.
Er wandte sich dem Schreibtisch zu, wo er seine Armbanduhr ablegte, wenn er schlafen ging. Sie lag noch da. Mit zitternder Hand hielt er sie in den Strahl der Taschenlampe. Das Uhrband bestand aus glatten, elastischen, glänzend weißen Plastikfäden. Und es war immer noch weiß. Er hielt es von sich ab, betrachtete es von verschiedenen Seiten. Es war tatsächlich weiß.
Auch dieses Armband hatte er sich in seinem ersten Semester zugelegt. Bei harter Strahlung färbte es sich blau, und Blau galt auf der Erde als Farbe des Todes. Selbst bei Tag war es jederzeit möglich, auf radioaktiv verseuchtes Gebiet zu geraten, wenn man nicht aufpasste oder sich verirrte. Die Regierung zäunte zwar so viele Stellen ein, wie sie nur konnte, und natürlich wagte sich kein Mensch in die Nähe der riesigen Todeszonen, die mehrere Meilen außerhalb der Stadt begannen. Doch das Armband bot zusätzliche Sicherheit.
Falls es sich tatsächlich einmal ins Blaue verfärben sollte, begab man sich unverzüglich ins nächste Krankenhaus und ließ sich behandeln. Das war ehernes Gesetz. Dank seiner chemischen Zusammensetzung reagierte es ebenso empfindlich auf Strahlung wie man selbst, und die Intensität des Blaus ließ sich mit speziellen, fotoelektrischen Instrumenten so exakt messen, dass die Schwere eines Falles rasch zu bestimmen war.
Ein kräftiges Königsblau bedeutete das Ende. Die Verfärbung blieb, wie sie war – und der Betroffene ebenfalls. Es gab keine Heilung, keine Chance, keine Hoffnung. Man selbst konnte nur noch – einen Tag bis eine Woche lang – auf den Tod warten, und dem Krankenhaus blieb nichts weiter zu tun, als die üblichen Vorbereitungen für eine Feuerbestattung zu treffen.
Immerhin, das Armband war noch weiß. Biron beruhigte sich ein wenig und dachte nach.
Die Strahlung war also nicht sehr stark. Gehörte vielleicht auch das noch zu dem Streich? Er verwarf den Gedanken sofort. Kein Mensch würde so etwas tun. Jedenfalls nicht auf der Erde, wo der Besitz von radioaktivem Material verboten war und als Schwerverbrechen geahndet wurde. Man nahm die Radioaktivität hier sehr ernst. Notgedrungen. Man brauchte schon ein sehr starkes Motiv, um damit herumzuspielen.
Er zwang sich, den Gedanken zu Ende zu führen, anstatt ihn sofort zu verdrängen. Ein starkes Motiv wäre etwa der Wunsch, ihn zu ermorden. Aber warum? Dazu hatte er doch keinen Anlass gegeben. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte sich bisher keinen ernst zu nehmenden Feind gemacht. Keinen jedenfalls, der Grund hätte, ihm nach dem Leben zu trachten.
Er fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschorene Haar. Die Überlegung war absurd, aber er musste sich damit auseinandersetzen. Vorsichtig ging er zum Schrank zurück. Irgendetwas sendete diese Strahlung aus; etwas, das vor vier Stunden noch nicht da gewesen war. Er entdeckte den Fremdkörper auf der Stelle.
Es war ein Kästchen von nicht mehr als fünfzehn Zentimeter Kantenlänge. Als Biron erkannte, was es war, begann seine Unterlippe leicht zu zittern. Gesehen hatte er so ein Ding noch nie, aber er hatte davon gehört. Er nahm das Messgerät an sich und ging damit ins Schlafzimmer zurück. Das Gewisper flaute ab, verstummte fast völlig und setzte wieder ein, sobald er die dünne, strahlungsdurchlässige Glimmermembran auf das Kästchen richtete. Damit war jeder Zweifel beseitigt. Es handelte sich um eine Strahlungsbombe.
Derzeit war die Strahlung noch nicht tödlich; sie stammte nur vom Zünder, der irgendwo im Innern des Kästchens eine winzige Atombombe scharfmachte. Künstliche Isotope mit kurzer Halbwertszeit heizten den Kern langsam auf und durchsetzten ihn mit den erforderlichen Teilchen. Wenn die kritische Temperatur und die kritische Teilchendichte erreicht waren, wurde die Kettenreaktion ausgelöst. Zur Explosion kam es dabei im Allgemeinen nicht, obwohl die Abwärme genügte, um das Kästchen zu einem formlosen Metallklumpen zusammenschmelzen zu lassen, doch der Strahlungsausstoß war gewaltig und konnte je nach Größe der Bombe im Umkreis von fünf Metern bis fünf Kilometern alles Leben vernichten.
Wann die kritische Masse erreicht sein würde, ließ sich nicht feststellen. Vielleicht erst in ein paar Stunden, vielleicht auch schon im nächsten Augenblick. Biron stand da wie angewurzelt, die Taschenlampe in den schweißfeuchten Händen, und wusste sich keinen Rat. Erst vor einer halben Stunde hatte ihn das Visifon aus friedlichem Schlummer geweckt. Und jetzt wusste er, dass er sterben würde.
Er wollte nicht sterben, aber er saß hoffnungslos in der Falle und konnte sich nirgendwo verstecken.
Er überlegte angestrengt. Sein Zimmer lag am Ende des Korridors und grenzte folglich nur an einer Seite und natürlich oben und unten an andere Räume. Der Raum über ihm nützte ihm nichts. Zwischen ihm und seinem Nachbarn auf diesem Stockwerk befanden sich die beiden Badezimmer. Ob er sich dort bemerkbar machen konnte, war eher zu bezweifeln.
Damit blieb noch das Apartment unter ihm.
Er hatte für den Fall, dass er Gäste bekam, zwei Klappstühle im Zimmer. Einen davon packte er nun mit beiden Händen und schmetterte ihn gegen den Boden. Er erzielte nur ein müdes Klatschen. Als er den Vorgang mit der Schmalseite wiederholte, wurde das Klopfen lauter und kräftiger.
Nach jedem Schlag wartete er ein wenig. Ob es ihm wohl gelingen würde, den Schläfer unter sich zu wecken und so weit in Rage zu bringen, dass er sich wegen der Ruhestörung beschwerte?
Plötzlich hörte er ein leises Geräusch und hielt inne, den bereits arg lädierten Stuhl hoch erhoben. Da war es wieder, fast wie ein gedämpfter Schrei. Es kam von der Tür her.
Er ließ den Stuhl fallen und schrie zurück. Dann drückte er das Ohr gegen den Spalt zwischen Tür und Wand, aber die Tür war gut eingepasst, und so hörte er auch hier nicht viel.
Immerhin verstand er seinen Namen.
Jemand rief immer wieder »Farrill! Farrill!« und dann noch etwas, vielleicht: »Sind Sie da drin?« oder: »Alles in Ordnung?«
»Brechen Sie die Tür auf!«, brüllte er dreimal, viermal, zurück. Er war jetzt in heller Aufregung, die Ungeduld trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Jeden Moment konnte die Bombe hochgehen.
Offenbar hatte man ihn gehört. Jedenfalls warnte eine dumpfe Stimme: »Achtung!« Unverständliches Gemurmel. »Blaster.« Er wusste Bescheid und zog sich hastig von der Tür zurück.
Krachende Schläge erschütterten die Luft, er konnte die Vibrationen geradezu spüren. Dann ein Splittern, und schließlich flog die Tür nach innen. Eine Flut von Licht strömte herein.
Biron stürmte mit weit ausgebreiteten Armen auf den Korridor hinaus. »Nicht eintreten!«, schrie er. »Um der Erde willen, bleiben Sie draußen. Da drin liegt eine Strahlungsbombe.«
Zwei Männer standen vor ihm. Jonti war der eine, der andere, nur notdürftig bekleidet, war Esbak, der Heimleiter. »Eine Strahlungsbombe?«, stammelte er.
»Wie groß?«, fragte Jonti. Er war selbst jetzt, mitten in der Nacht, aufs Eleganteste gekleidet. Nur der Blaster in seiner Hand störte die Wirkung ein wenig.
Biron deutete mit beiden Händen die Abmessungen an.
»Schön«, sagte Jonti ungerührt und wandte sich an den Heimleiter. »Am besten lassen Sie alle Zimmer in diesem Trakt sofort räumen. Wenn Sie irgendwo auf dem Universitätsgelände Bleiplatten auftreiben können, sollten sie hierhergebracht und auf dem Korridor aufgestellt werden. Und an Ihrer Stelle würde ich vor morgen früh niemanden in dieses Gebäude lassen.«
Dann sah er Biron an: »Der Wirkungsradius beträgt vermutlich vier bis sechs Meter. Wie kommt sie in Ihr Zimmer?«
»Keine Ahnung.« Biron wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich muss mich setzen.« Er warf einen Blick auf sein Handgelenk, dann fiel ihm ein, dass seine Armbanduhr noch im Zimmer lag. Am liebsten wäre er zurückgegangen, um sie zu holen.
Allmählich kam Leben ins Haus. Ein Student nach dem anderen wurde aus seinem Zimmer gescheucht.
»Gehen wir«, sagte Jonti. »Ich finde auch, dass Sie sich setzen sollten.«
»Was hat Sie zu meinem Zimmer geführt?«, fragte Biron. »Nicht, dass ich nicht dankbar wäre.«
»Ich hatte Sie angerufen, aber niemand hat sich gemeldet. Und ich musste Sie unbedingt sprechen.«
»Mich sprechen?« Er artikulierte überdeutlich und bemühte sich, möglichst gleichmäßig zu atmen. »Warum?«
»Um Sie zu warnen. Ihr Leben wird bedroht.«
Biron lachte hysterisch. »Das habe ich auch schon gemerkt.«
»Dies war lediglich ein erster Versuch. Man wird es nicht dabei bewenden lassen.«
»Wer ist ›man‹?«
»Nicht hier, Farrill«, wehrte Jonti ab. »Das besprechen wir besser unter vier Augen. Sie sind ein Gezeichneter, und auch ich habe mich womöglich schon zu weit vorgewagt.«
2 Das Netz über dem Weltall
Der Aufenthaltsraum für die Studenten war leer und – wie um halb fünf Uhr morgens nicht anders zu erwarten – dunkel. Dennoch zögerte Jonti einen Moment und lauschte, bevor er die Tür öffnete.
»Nein«, warnte er leise, »schalten Sie kein Licht an. Reden kann man auch im Dunkeln.«
»Ich habe heute Nacht schon mehr als genug im Dunkeln gesessen«, murrte Biron.
»Wir lassen die Tür angelehnt.«
Biron wollte nicht lange darüber streiten. Er ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und wartete, während die Tür langsam zuschwang und das helle Rechteck zu einer schmalen Linie zusammenschrumpfte. Jetzt, wo alles vorüber war, bekam er das große Zittern.
Jonti stabilisierte die Tür und deutete mit der Spitze seines Spazierstöckchens auf die Lichtbahn auf dem Fußboden.
»Behalten Sie den Streifen im Auge. Er verrät uns, wenn draußen jemand vorbeigeht, oder wenn sich die Tür bewegt.«
»Bitte«, sagte Biron. »Mir ist wahrhaftig nicht nach Verschwörerspielchen zumute. Ich will Sie auch nicht drängen, aber ich wäre Ihnen doch sehr verbunden, wenn Sie mir jetzt sagen würden, was immer Sie mir sagen wollen. Ich weiß, Sie haben mir das Leben gerettet, und morgen bin ich Ihnen auch bestimmt gebührend dankbar, aber im Moment sehne ich mich nur nach einem starken Drink und viel Ruhe.«
»Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen«, sagte Jonti. »Immerhin ist Ihnen die ewige Ruhe vorerst erspart geblieben, und nicht nur ›vorerst‹, wenn es nach mir geht. Wussten Sie eigentlich, dass ich Ihren Vater kenne?«
Die Frage kam so völlig unerwartet, dass Biron die Augenbrauen hochzog, was allerdings im Dunkeln nicht zu sehen war. »Er hat Sie mir gegenüber nie erwähnt«, sagte er.
»Das hätte mich auch überrascht. Der Name, unter dem ich hier auftrete, ist ihm nämlich nicht bekannt. Haben Sie übrigens in letzter Zeit etwas von Ihrem Vater gehört?«
»Warum fragen Sie?«
»Weil er in großer Gefahr schwebt.«
»Was?«
Jonti tastete im Dunkeln nach dem Arm des jungen Mannes und umschloss ihn mit festem Druck. »Bitte! Nicht lauter sprechen!« Erst jetzt kam Biron zu Bewusstsein, dass sie bisher nur geflüstert hatten.
Jonti fuhr fort: »Ich muss mich wohl etwas genauer ausdrücken. Man hat Ihren Vater unter Arrest gestellt. Verstehen Sie, was das bedeutet?«
»Nein, ich verstehe überhaupt nichts mehr. Wer hat ihn unter Arrest gestellt, und worauf wollen Sie hinaus? Warum belästigen Sie mich?« Biron hatte stechende Kopfschmerzen. Das Hypnit wirkte immer noch nach, und er war eben erst um Haaresbreite dem Tod entronnen. In diesem Zustand war er dem eiskalten Stutzer, der da so dicht neben ihm saß, dass jedes Flüstern wie ein Schrei klang, natürlich hoffnungslos unterlegen.
»Sie sind doch«, zischelte Jonti, »sicher nicht ganz ahnungslos, was die Aktivitäten Ihres Vaters angeht?«
»Wenn Sie meinen Vater kennen, dann wissen Sie auch, dass er der Gutsherr von Widemos ist. Darauf beschränken sich seine Aktivitäten.«
»Schön«, sagte Jonti, »Sie haben keinen Anlass, mir zu vertrauen, auch wenn ich um Ihretwillen mein Leben aufs Spiel setze. Sie könnten mir ohnehin nichts sagen, was ich nicht bereits weiß. So ist mir zum Beispiel bekannt, dass Ihr Vater an einer Verschwörung gegen die Tyranni beteiligt ist.«
»Das bestreite ich«, erklärte Biron gepresst. »Sie haben mir heute Nacht einen großen Dienst erwiesen, doch das gibt Ihnen nicht das Recht, derartige Beschuldigungen gegen meinen Vater zu erheben.«
»Sie weichen mir aus, junger Mann, und das ist töricht. Außerdem vergeuden Sie meine Zeit. Begreifen Sie denn nicht, die Situation ist zu ernst für solche Spiegelfechtereien! Ich sage Ihnen klipp und klar: Ihr Vater befindet sich in der Hand der Tyranni. Inzwischen ist er vielleicht schon tot.«
»Ich glaube Ihnen nicht.« Biron war schon halb aufgestanden.
»Ich weiß es aus zuverlässiger Quelle.«
»Beenden wir das Gespräch, Jonti. Ich bin nicht in Stimmung für finstere Intrigen, und es stört mich sehr, dass Sie versuchen …«
»Nun, was versuche ich denn?« Jontis Stimme verlor ihre vornehme Zurückhaltung. »Was bringt es mir denn ein, Sie aufzuklären? Darf ich Sie daran erinnern, dass ich nur dank meiner Informationen, die Sie so verächtlich abtun, voraussehen konnte, dass man möglicherweise einen Anschlag auf Sie plante? Warum lassen Sie nicht die Tatsachen für sich sprechen, Farrill?«
»Fangen Sie noch einmal von vorne an«, sagte Biron, »und reden Sie ganz offen. Ich werde zuhören.«
»Schön. Sie wissen vermutlich, Farrill, dass ich wie Sie aus den Nebelreichen stamme, obwohl ich mich hier als Weganer ausgebe.«
»Ich hatte es aufgrund Ihres Akzents vermutet. Aber ich hielt es nicht für wichtig.«
»Es ist aber wichtig, mein Freund. Ich kam hierher, weil ich, genau wie Ihr Vater, die Tyranni nicht mag. Unser Volk wird nun schon seit fünfzig Jahren von ihnen unterdrückt. Das ist eine lange Zeit.«
»Ich bin kein Politiker.«
Wieder klang dieser gereizte Unterton aus Jontis Stimme. »Oh, ich bin kein Spitzel, der es darauf anlegen würde, Sie in eine Falle zu locken. Ich sage die Wahrheit. Mich haben sie vor einem Jahr erwischt, so wie jetzt Ihren Vater. Aber ich konnte entkommen und floh zur Erde, weil ich glaubte, hier so lange in Sicherheit zu sein, bis ich zur Rückkehr bereit war. Mehr brauchen Sie über mich nicht zu erfahren.«
»Selbst das ist schon mehr, als ich wissen wollte.« Biron konnte sich nicht überwinden, etwas freundlicher zu sein. Jontis pedantische Art machte keinen guten Eindruck auf ihn.
»Das ist mir klar. Aber ich musste Ihnen wenigstens so viel mitteilen, damit Sie verstehen, wie es zu der Bekanntschaft mit Ihrem Vater kam. Er hat mit mir zusammengearbeitet oder vielmehr ich mit ihm, allerdings nicht in seiner offiziellen Eigenschaft als höchster Adeliger auf dem Planeten Nephelos. Und daher kennt er mich, Sie verstehen?«
Biron nickte in die Dunkelheit hinein und sagte dann: »Ja.«
»Wir brauchen darauf nicht weiter einzugehen. Ich stehe mit meinen Informationsquellen auch von hier aus in Verbindung, und daher weiß ich, dass er verhaftet wurde. Ich weiß es mit Sicherheit. Doch selbst wenn es nur ein Verdacht gewesen wäre – der Anschlag auf Sie hätte den Beweis geliefert.«
»Inwiefern?«
»Wenn die Tyranni den Vater haben, warum sollten sie den Sohn frei herumlaufen lassen?«
»Wollen Sie damit sagen, die Tyranni hätten diese Strahlungsbombe in mein Zimmer gelegt? Das ist unmöglich.«
»Und warum sollte das unmöglich sein? Versetzen Sie sich doch einmal in ihre Lage. Die Tyranni herrschen über fünfzig Welten, deren Bevölkerung ihnen zahlenmäßig um mehr als das Hundertfache überlegen ist. Mit roher Gewalt kommt man in dieser Situation nicht weit. List und Tücke sind wirkungsvoller. Sie haben sich auf Intrigen spezialisiert, auf Attentate. Sie haben das ganze Weltall mit einem riesigen, engmaschigen Netz überzogen, das sich, wie ich mir gut vorstellen kann, über fünfhundert Lichtjahre weit bis zur Erde erstreckt.«
Biron hatte die Nachwirkungen des albtraumhaften Geschehens noch nicht abgeschüttelt. Von fern drang Lärm in den Raum: Die Bleiplatten wurden aufgestellt. In seinem Zimmer wisperte wohl immer noch der Strahlungsmesser.
»Das ist nicht logisch«, sagte er. »Ich kehre diese Woche nach Nephelos zurück. Das müssten auch die Tyranni wissen. Warum also sollten sie mich hier töten? Sie brauchen sich doch nur ein wenig zu gedulden, dann laufe ich ihnen direkt in die Hände.« Er war erleichtert, den schwachen Punkt entdeckt zu haben, und nur zu gern bereit, sich von den eigenen Argumenten überzeugen zu lassen.
Jonti kam so dicht heran, dass sich Birons Schläfenhaare unter seinem wohlriechenden Atem regten. »Ihr Vater erfreut sich großer Beliebtheit. Sein Tod – wenn jemand erst in einem tyrannischen Gefängnis sitzt, ist damit zu rechnen, dass man ihn auch hinrichtet – wird selbst bei den verschüchterten Sklaven, zu denen uns die Tyranni gemacht haben, Empörung auslösen. Als neuer Gutsherr von Widemos könnten Sie die Unzufriedenen um sich scharen, und wenn man auch Sie hinrichtete, würde sich die Gefahr für die Unterdrücker verdoppeln. Märtyrer zu schaffen liegt nicht in ihrem Interesse. Sollten Sie dagegen auf einer weit entfernten Welt bei einem Unfall ums Leben kommen, so würde ihnen das gut ins Konzept passen.«
»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Biron. Es war das Einzige, was er seinem Retter noch entgegenzusetzen hatte.
Jonti erhob sich und strich sich die dünnen Handschuhe glatt. »Sie übertreiben, Farrill«, sagte er. »Sie wären sehr viel überzeugender, wenn Sie sich nicht völlig unwissend stellten. Mag sein, dass Ihr Vater Sie zu Ihrem eigenen Schutz vor der Realität abgeschirmt hat, aber dass Sie von seiner Einstellung so gänzlich unberührt geblieben sein sollen, kann ich mir nicht vorstellen. Sein Hass auf die Tyranni musste sich zwangsläufig auf Sie übertragen. Sie können gar nicht anders, als gegen sie kämpfen zu wollen.
Vielleicht hält er Sie inzwischen auch so weit für erwachsen«, fuhr Jonti fort, »dass er angefangen hat, Sie für seine Ziele einzuspannen. Ihr Aufenthalt auf der Erde wäre ihm dafür gerade recht gekommen; ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass Sie Ihre Ausbildung mit einem genau umrissenen Auftrag verbinden. Einem Auftrag, der vielleicht so wichtig ist, dass die Tyranni nicht einmal vor Mord zurückschrecken, um ihn scheitern zu lassen.«
»Wie melodramatisch.«
»Wirklich? Nun gut, wie Sie meinen. Sie wollen die Augen vor der Wahrheit verschließen, aber die Zukunft wird Sie eines Besseren belehren. Man wird Ihnen weiter nach dem Leben trachten, und irgendein Anschlag wird Erfolg haben. Sie sind ein toter Mann, Farrill.«
Biron blickte auf. »Warten Sie! Wo liegen eigentlich Ihre persönlichen Interessen in diesem Fall?«
»Ich bin Patriot. Ich möchte, dass die Reiche ihre Freiheit wiedererlangen und ihre Regierungen frei wählen können.«
»Nein. Ich spreche von Ihren persönlichen Interessen. Idealismus allein genügt mir nicht, den Idealisten nehme ich Ihnen nicht ab. Wenn ich Sie damit gekränkt habe, tut es mir leid.« Wie Hammerschläge ließ Biron die Worte niedersausen.
Jonti setzte sich wieder. »Meine Ländereien«, sagte er, »wurden beschlagnahmt. Schon bevor man mich verbannte, war es mir zuwider, von diesen Zwergen Befehle entgegennehmen zu müssen, und seither ist es mir noch wichtiger geworden, wieder die Stellung zu bekleiden, die mein Großvater innehatte, bevor die Tyranni kamen. Ist das in Ihren Augen ein handfestes Motiv für den Wunsch nach einem Umsturz? Ihr Vater hätte diese Revolution angeführt. Er kann es nicht mehr, nun sind Sie an der Reihe!«
»Ich? Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und habe von alledem keine Ahnung. Sie könnten bessere Leute finden!«
»Ganz zweifellos, aber Sie sind der einzige Sohn Ihres Vaters. Sollte er getötet werden, sind Sie der neue Gutsherr von Widemos, und als solcher wären Sie für mich selbst dann von Interesse, wenn Sie zwölf Jahre alt und ein Idiot wären. Ich brauche Sie aus dem gleichen Grund, aus dem die Tyranni Sie loswerden möchten. An ihren Motiven kommen Sie nicht vorbei, auch wenn die meinen Sie nicht zu überzeugen vermögen. Immerhin lag in Ihrem Zimmer eine Strahlungsbombe, die keinen anderen Zweck haben konnte, als Sie zu töten. Wer sonst sollte Sie töten wollen?«
Jonti wartete geduldig. Endlich hörte er ein Flüstern.
»Niemand«, antwortete Biron. »Ich wüsste niemanden, der mich töten wollte. Dann ist also wahr, was Sie über meinen Vater sagten?«
»Es ist wahr. Stellen Sie sich vor, er sei im Krieg gefallen.«
»Und Sie glauben, das macht es leichter? Wird man ihm eines Tages vielleicht sogar ein Denkmal errichten? Mit einer Inschrift in Leuchtbuchstaben, die man noch zehntausend Meilen weit draußen im All sehen kann?« Seine Stimme war heiser geworden. »Soll ich mich darüber etwa noch freuen?«
Jonti wartete, aber Biron sagte nichts mehr.
»Was haben Sie nun vor?«, fragte Jonti.
»Ich fliege nach Hause.«
»Sie haben die Situation also noch immer nicht erfasst.«
»Ich sagte, ich fliege nach Hause. Was soll ich denn Ihrer Ansicht nach tun? Wenn er noch lebt, hole ich ihn raus. Und wenn er tot ist, dann … Dann …«
»Still!«, fuhr ihm der Ältere eiskalt über den Mund. »Sie führen sich auf wie ein kleiner Junge. Sehen Sie doch endlich ein, dass Sie nicht nach Nephelos zurückkönnen. Mit wem rede ich eigentlich, mit einem Kind oder mit einem vernünftigen jungen Mann?«
»Was schlagen Sie vor?«, knurrte Biron.
»Kennen Sie den Administrator von Rhodia?«
»Den Freund der Tyranni? Natürlich kenne ich ihn. Jedenfalls weiß ich, wer er ist. Aber das weiß in den Reichen wohl jeder. Der Administrator von Rhodia ist Hinrik V.«
»Sind Sie ihm jemals persönlich begegnet?«
»Nein.«
»Das war meine Frage. Wenn Sie ihm nicht persönlich begegnet sind, kennen Sie ihn auch nicht. Er ist ein Schwachkopf, Farrill. Und das meine ich wörtlich. Aber wenn die Domäne Widemos von den Tyranni beschlagnahmt wird – und das wird geschehen, auch meinen Besitz hat man damals eingezogen –, wird man sie Hinriks Herrschaftsgebiet zuschlagen. Die Tyranni werden glauben, dass sie bei ihm in sicheren Händen ist, und deshalb müssen Sie nach Rhodia.«
»Warum?«
»Weil Hinrik zwar ein Speichellecker und eine Marionette ist, aber in diesen Grenzen dennoch einen gewissen Einfluss auf die Tyranni hat. Vielleicht kann er dafür sorgen, dass man Sie wieder in Amt und Würden einsetzt.«
»Wie käme er dazu? Ich fürchte, er würde mich eher an sie ausliefern.«
»Die Möglichkeit besteht. Aber Sie werden auf der Hut sein, und damit haben Sie die Chance, diesem Schicksal zu entgehen. Vergessen Sie nicht, Ihr Titel ist ein kostbares Gut, aber er allein reicht nicht aus. Wer den Verschwörer spielen will, der muss vor allem praktisch denken. Die Menschen werden Ihnen – aus Sentimentalität und aus Respekt vor Ihrem Namen – zunächst in Scharen zulaufen, aber um sie zu halten, brauchen Sie Geld.«
Biron überlegte. »Vor allem brauche ich Zeit, um mich zu entscheiden.«
»Und die haben Sie nicht. Für Sie war die Uhr abgelaufen, als man Ihnen diese Strahlungsbombe ins Zimmer schmuggelte. Wir müssen handeln. Ich kann Ihnen ein Einführungsschreiben an Hinrik von Rhodia geben.«
»So gut kennen Sie ihn also?«
»Ihr Misstrauen schläft wohl nie besonders fest? Ich habe einmal eine Delegation des Autarchen von Lingane an Hinriks Hof begleitet. Der Schwachkopf wird sich kaum an mich erinnern, aber er wird nicht zugeben, dass er mich vergessen hat. Mein Brief kann Ihnen die Türen öffnen, von da an müssen Sie improvisieren. Sie bekommen ihn morgen früh. Mittags startet ein Schiff nach Rhodia. Ich habe bereits ein Ticket für Sie. Ich reise ebenfalls ab, aber ich nehme eine andere Route. Hierbleiben können Sie nicht. Sie haben doch alle Prüfungen hinter sich, nicht wahr?«
»Die Überreichung des Diploms steht noch aus.«
»Ein Stück Papier. Ist Ihnen das so wichtig?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Haben Sie Geld?«
»Genügend.«
»Gut. Zu viel wäre verdächtig.« Jontis Stimme wurde scharf. »Farrill!«
Biron fuhr auf. Er war fast in Lethargie versunken. »Was ist?«
»Gehen Sie jetzt zu den anderen zurück. Erzählen Sie niemandem von Ihrer Abreise. Stellen Sie sie vor vollendete Tatsachen.«
Biron nickte mechanisch. Irgendwo tief in seinem Innern machte er sich Vorwürfe, er habe seinen Auftrag nicht erfüllt, er lasse seinen todgeweihten Vater schmählich im Stich. Verbitterung stieg in ihm auf. Warum hatte man ihn nicht eingeweiht? Warum hatte er die Gefahr nicht teilen dürfen? Warum hatte man ihn handeln lassen, ohne dass er wusste, was er tat?
Und jetzt, da er die Wahrheit kannte oder jedenfalls besser kannte, da er wusste, welch bedeutende Rolle sein Vater in dieser seltsamen Verschwörung spielte, wäre es noch sehr viel wichtiger gewesen, dieses Dokument aus den Archiven der Erde zu beschaffen. Doch dafür war keine Zeit mehr. Keine Zeit, um das Dokument zu holen. Keine Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Keine Zeit, um seinen Vater zu retten. Vielleicht auch keine Zeit mehr, um weiterzuleben.
»Ich werde Ihrem Rat folgen, Jonti«, erklärte er.
Sander Jonti blieb auf den Stufen des Wohnheims stehen und betrachtete kurz das Universitätsgelände. Sein Blick drückte nicht unbedingt Bewunderung aus.
Er ging den backsteingepflasterten Weg entlang, der in plumpen Windungen durch eine pseudorustikale Parklandschaft führte, eine Form des Campus, für die alle städtischen Universitäten seit Urzeiten eine besondere Schwäche zu haben schienen. Direkt vor ihm erstrahlte die einzige größere Straße der Stadt in hellem Licht. Dahinter, bei Tag nicht zu sehen, jetzt aber gut zu erkennen, stand der blaue Schein der radioaktiven Strahlung am Horizont, ein stummes Mahnmal an die Kriege der Vorzeit.
Jonti warf einen Blick zum Himmel. Mehr als fünfzig Jahre waren vergangen, seit die Tyranni gekommen waren und der wild wuchernden Individualität von zwei Dutzend untereinander zerstrittenen politischen Systemen in den Tiefen des Alls jenseits des Nebels ein jähes Ende bereitet hatten, indem sie diesen Welten unversehens und viel zu früh die Drosselschnur eines Zwangsfriedens um den Hals legten.
Wie mit einem einzigen, gewaltigen Donnerschlag war damals das Unheil hereingebrochen, und die Nebelreiche hatten sich bis heute nicht davon erholt. Nur hin und wieder durchlief ein Beben des Aufruhrs die eine oder andere Welt, ohne je etwas zu bewirken. Diese Erschütterungen zu koordinieren, sie zu einem einzigen, zeitlich genau kalkulierten Erdstoß zu vereinigen, war eine schwierige und langwierige Aufgabe. Nun, das Exil hier auf der Erde hatte lange genug gedauert. Höchste Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Seine Leute waren vermutlich bereits bemüht, ihn in seiner Wohnung zu erreichen.
Er beschleunigte seine Schritte.
Der Sendestrahl traf ihn, sobald er sein Zimmer betrat. Es war ein Personenstrahl, ein Verfahren, das bislang als völlig sicher galt. Die Geheimhaltung war ungebrochen. Man benötigte kein eigenes Empfangsgerät, keinen Metallkasten voller Drähte, um die schwachen Elektronenwellen und die winzigen Impulse aufzufangen, die von einer fünfhundert Lichtjahre entfernten Welt aus durch den Hyperraum trieben.
In diesem Zimmer wurde die Raumstruktur selbst polarisiert und zum Empfänger gemacht, indem man den Zufall in jeder Form herausfilterte. Diese Polarisierung war nur beim Empfangsvorgang wahrzunehmen, und in diesem speziellen Teil des Weltraums kam als einziger Empfänger sein Gehirn infrage. Nur das elektrische Feld, das von seinen individuellen Nervenzellen erzeugt wurde, sprach auf die Schwingungen des Trägerstrahls an, der die Botschaft brachte.
Die Botschaft war ebenso individuell wie seine Gehirnwellenmuster, und im ganzen Universum mit seinen Billiarden von Menschen war die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Gehirne einander ähnlich genug waren, um denselben personengebundenen Strahl aufzufangen, im wahrsten Sinne des Wortes unendlich gering.
Als der Ruf durch die endlose, unbegreifliche Leere des Hyperraums sein Gehirn erreichte, spürte Jonti ein sanftes Prickeln.
»… Achtung … Achtung … Achtung … Achtung …«
Das Senden war nicht ganz so einfach wie der Empfang. Die hoch differenzierte Trägerwelle, die bis zur Kontaktperson jenseits des Nebels reichte, musste mit technischen Mitteln erzeugt werden. Das dazu erforderliche Gerät war in einem Zierknopf enthalten, den Jonti auf der rechten Schulter trug, und wurde automatisch aktiviert, sobald er den polarisierten Bereich betrat. Danach brauchte er nur noch zielgerichtet und konzentriert zu denken.
»Hier bin ich!« Eine genauere Identifikation war nicht vonnöten.
Die monotone Wiederholung brach ab, das Rufsignal verstummte. In seinem Gehirn entstanden Worte. »Wir grüßen Sie, Sir. Widemos wurde hingerichtet. Die Öffentlichkeit ist davon natürlich noch nicht informiert.«
»Das überrascht mich nicht. Wurde sonst noch jemand mit hineingezogen?«
»Nein. Der Gutsherr hat jede Aussage verweigert. Ein tapferer Mann, auf den man sich verlassen konnte.«
»Gewiss. Tapferkeit und Zuverlässigkeit allein sind freilich nicht genug, sonst hätte man ihn nicht gefasst. Ein Quäntchen Feigheit wäre womöglich nützlicher gewesen. Wie dem auch sei, ich habe mit seinem Sohn gesprochen, dem neuen Gutsherrn. Er ist dem Tod bereits einmal mit knapper Not entronnen. Nun werden wir ihn einsetzen.«
»Darf man fragen, in welcher Form, Sir?«
»Warten Sie ab. Sie werden schon sehen. Die Folgen vermag ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzuschätzen. Morgen macht er sich auf den Weg zu Hinrik von Rhodia.«
»Hinrik! Der junge Mann geht ein ungeheures Risiko ein. Ist er sich bewusst, dass …«
»Ich habe ihn so weit wie nötig eingeweiht«, gab Jonti scharf zurück. »Volles Vertrauen können wir ihm erst schenken, wenn er sich bewährt hat. Wie die Dinge liegen, ist er nicht mehr wert als jeder andere. Er ist entbehrlich, durchaus entbehrlich. Sie brauchen mich nicht noch einmal anzurufen, ich verlasse die Erde.«
Und damit unterbrach Jonti mit einer entschiedenen Geste die Verbindung.
Dann überdachte er in aller Ruhe die Geschehnisse des vergangenen Tages und der letzten Nacht und wog sie gegeneinander ab. Allmählich erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht. Alles war bereit, die Komödie konnte beginnen.
Er hatte nichts dem Zufall überlassen.