Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2018
Copyright der Deutschen Erstausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Die englische Originalausgabe erschien 2018 bei Penguin Life/Random House unter dem Titel «Shinrin-Yoku: The Art and Science of Forest Bathing»
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63401-7 (1. Auflage 2018)
ISBN E-Book 978-3-644-40500-4
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Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40500-4
Für meine Tochter Lulu Li, meine Frau Zhiyu Wang und meine Eltern Yuxing Li und Jinhua Yuan
Wir alle wissen, wie gut es uns tut, in der Natur zu sein. Wir wissen es seit Jahrtausenden. Die Geräusche des Waldes, der Geruch der Bäume, das Spiel des Sonnenlichts zwischen den Blättern, die frische, saubere Luft – all dies sorgt dafür, dass wir uns im Wald wohlfühlen. Stress und Sorgen fallen von uns ab, wir entspannen uns und können klarer denken. Der Aufenthalt in der Natur hebt unsere Stimmung, gibt uns unsere Energie und Vitalität zurück, erfrischt und verjüngt uns.
Das alles spüren wir im tiefsten Inneren. Es ist wie eine Intuition oder ein Instinkt, ein Gefühl, das manchmal schwer zu beschreiben ist. Im Japanischen haben wir einen Begriff für jene Gefühle, die sich Worten eigentlich entziehen: yūgen. Yūgen verleiht uns ein umfassendes Gespür für die Schönheit und das große Geheimnis des Universums. Es bezieht sich auf diese unsere Welt und deutet gleichzeitig auf etwas hin, was tiefer geht. Der Dramatiker Zeami Motokiyo beschreibt es als «die zarten Schatten von Bambus auf Bambus», das Gefühl, das einen überkommt, wenn man «hinter einem blumenbedeckten Hügel die Sonne untergehen sieht» oder «durch einen riesigen Wald spaziert, ohne an die Rückkehr zu denken».
So fühle ich mich, wenn ich in der Natur bin. Ich denke dann zurück an meine Kindheit in einem kleinen Dorf. Ich erinnere mich an die grünen Pappelwälder im Frühling und Sommer und an die gelben Blätter im Herbst. Mit meinen Freunden spielte ich Versteck zwischen den Bäumen, dabei begegneten wir Kaninchen und Füchsen, chinesischen Streifenhamstern und Eichhörnchen. Der Aprikosenhain blühte den ganzen April über rosa. Den Geschmack der Aprikosen, die wir im Herbst ernteten, habe ich immer noch auf der Zunge.
Doch worin besteht dieses Gefühl, das so schwer in Worte zu fassen ist? Was liegt dahinter? Wie kommt es, dass die Natur diese Empfindungen in uns auslöst? Ich bin Wissenschaftler, kein Dichter. Seit vielen Jahren erforsche ich, was diesem Gefühl zugrunde liegt. Ich will wissen, warum wir uns in der Natur so viel besser fühlen. Was für eine geheime Kraft besitzen die Bäume? Warum können sie uns gesünder und glücklicher machen? Warum fühlen wir uns weniger gestresst und haben mehr Energie, wenn wir auch nur durch einen Wald laufen? Manche Leute studieren den Wald. Andere studieren Medizin. Ich erforsche Waldmedizin, um herauszufinden, auf welche Weise Aufenthalte im Wald zu unserem Wohlbefinden beitragen.
Wann sind Sie zum letzten Mal durch einen Wald gestreift, der so schön war, dass Sie fasziniert angehalten haben, um zu staunen? Wann haben Sie zuletzt bemerkt, wie sich im Frühling die Knospen öffnen, oder im Winter den Raureif auf einem Blatt genauer betrachtet? Ich frage mich stattdessen, wie viele Stunden lang Sie heute bereits auf einen Bildschirm geblickt, wie oft Ihr Mobiltelefon überprüft haben. In einem geheizten oder mit Klimaanlage ausgerüsteten Büro merken Sie vielleicht nicht einmal, wie das Wetter sich verändert. Möglicherweise haben Sie den Wechsel der Jahreszeiten verpasst. Ist Ihnen aufgefallen, dass draußen Frühling ist? Oder dass der Herbst Einzug gehalten hat?
Ich lebe mittlerweile nicht mehr auf dem Land, sondern in Tokio, einer der größten Städte der Welt, in der auf engem Raum sehr viele Menschen leben. Von einem kleinen Fischereihafen in der alten Provinz Musashi hat sich Tokio zur am dichtesten besiedelten Stadt der Welt entwickelt. Dreizehneinhalb Millionen Menschen wohnen hier, das sind rund 11 Prozent der Gesamtbevölkerung Japans. Und wir leben zusammengepfercht auf 2191 Quadratkilometern oder 0,06 Prozent des Gesamtgebiets von Japan. Mit anderen Worten, in Tokio wohnen 6158 Menschen auf einem Quadratkilometer. Zum Vergleich: In London sind es 1510 Einwohner pro Quadratkilometer, in Paris 2844 und in New York 1800.
Aber ich habe Glück. Unweit von meinem Arbeitsplatz liegt ein Park mit einem berühmten Schrein und sehr vielen Bäumen. Von meinem Bürofenster aus blicke ich über eine schöne Landschaft, und fast jeden Mittag besuche ich den Schrein.
Der Nezu-Schrein in Tokio zählt zu den ältesten Schreinen Japans
Es gibt riesige Ginkgobäume, Kirschbäume und einen 300 Jahre alten Azaleengarten mit Tausenden von Sorten – einige mit ganz kleinen Blüten wie der Fuji-tsutsuji, andere mit Blüten so groß wie Wagenräder, wie die Hanaguruma. Sie blühen im April und Mai rot, pink und weiß. Die darauf folgende Kirschbaumblüte liebe ich sehr, und wenn der Sommer fortschreitet, betrachte ich mit Wonne die vielen verschiedenen Grüntöne. Im Herbst färben sich die Blätter des Ginkgo leuchtend gelb. Als ich heute Mittag spazieren ging, wehte ein angenehmer, beruhigender Wind, und ich merkte, dass der Ginkgo bereits seine herrliche Herbstfärbung annimmt. An den Wochenenden besuche ich die Grünanlagen von Tokio und verbringe dort viele Stunden. Und jeden Montagnachmittag nehme ich meine Studenten mit zu einem Spaziergang.
Eigentlich ist es mehr als bloß ein Spaziergang. Vielmehr praktizieren wir das, was in Japan Waldbaden – Shinrin Yoku – genannt wird. Shinrin bedeutet auf Japanisch «Wald», und yoku heißt «Bad». Shinrin Yoku heißt also, ein Bad im Wald zu nehmen, den Wald mit allen Sinnen wahrzunehmen. Es ist kein Sport, kein Wandern oder Joggen. Man hält sich einfach nur in der Natur auf und tritt mit allen fünf Sinnen mit ihr in Kontakt. In geschlossenen Räumen neigen wir dazu, lediglich zwei unserer Sinne zu benutzen, nämlich die Augen und die Ohren. Draußen hingegen können wir die Blüten riechen, die frische Luft schmecken, die Laubfärbung bemerken, die Vögel singen hören und den Wind auf unserer Haut spüren. Und wenn wir unsere Sinne öffnen, beginnen wir uns mit der Natur zu verbinden.
Die Blätter des Ginkgobaums färben sich im Herbst in einem charakteristischen Gelbton
Biophilia nennt man die These, dass Menschen ein angeborenes Bedürfnis haben, mit der Natur in Verbindung zu treten. Dieses Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie «Liebe zum Leben und der lebendigen Welt». Bekannt wurde es 1984 durch den amerikanischen Biologen E.O. Wilson. Seiner Meinung nach verspüren wir Menschen, da wir uns in stetigem Kontakt mit der Umgebung entwickelt haben, das biologische Bedürfnis, uns mit ihr zu verbinden. Wir lieben die Natur, weil wir gelernt haben, Dinge zu lieben, die uns beim Überleben helfen. In der Natur fühlen wir uns wohl, weil wir den größten Teil unserer Zeit auf der Erde in ihr verbracht haben. Wir sind genetisch darauf programmiert, die Natur zu lieben. Sie ist in unseren Genen verankert.
Diese Verbindung ist essenziell für unsere Gesundheit. Der Kontakt zur Natur beeinflusst unser Wohlbefinden genauso positiv wie regelmäßige Bewegung und gesunde Ernährung. «Unsere Existenz hängt von dieser Neigung ab, unser Geist entfaltet sich aus ihr, Hoffnungen entsteigen ihrem Strom», schrieb Wilson. Wir sind darauf programmiert, uns mit der Welt der Natur zu verbinden – und profitieren davon, es zu tun, während unsere Gesundheit leidet, wenn wir ihr entfremdet sind.
Shinrin Yoku ist wie eine Brücke. Indem es unsere Sinne öffnet, überbrückt es die Kluft zwischen uns und der Natur.
Wir sind ein Teil der natürlichen Welt. Unsere Rhythmen sind die Rhythmen der Natur. Wenn wir langsam durch den Wald gehen und dabei sehen, hören, riechen, schmecken und berühren, dann bringen wir unsere Rhythmen in Einklang mit der Natur. Shinrin Yoku ist wie eine Brücke. Es öffnet unsere Sinne und überbrückt dadurch die Kluft zwischen uns und der Welt der Natur. Und wenn wir in Harmonie mit der Natur sind, beginnt unser Heilungsprozess. Unser Nervensystem kann sich neu einstellen, Körper und Geist können sich wieder dem annähern, wie sie sein sollten. Wenn wir in Einklang mit der Natur sind, fühlen wir uns erfrischt und erholt. Vielleicht kommen wir nicht sehr weit auf unserem Waldspaziergang, aber indem uns Shinrin Yoku mit der Natur verbindet, führt es uns zurück zu unserem wahren Selbst.
Es ist kein Wunder, dass Shinrin Yoku in Japan entstanden ist. Wir Japaner sind eine Waldzivilisation. Unsere Kultur, Philosophie und Religion sind aus den Wäldern geschnitzt, die das Land bedecken – ganz zu schweigen von all den Alltagsgegenständen, von Häusern und Schreinen bis hin zu Gehstöcken und Löffeln.
Zwei Drittel des Landes sind von Wald bedeckt. Zwar zählt Japan zu den am dichtesten besiedelten Ländern der Welt, aber auch zu den grünsten, mit einer großen Vielfalt an Bäumen. Wenn man über Japan fliegt, sieht man überraschend viel Grün: über 4800 Kilometer Wald, vom subarktischen Hokkaido im Norden bis zum subtropischen Okinawa im Süden. Mittendrin erstrecken sich die Japanischen Alpen, ein bewaldeter Gebirgszug, auch bekannt als «das Dach der Insel». Manchmal wird Japan der grüne Archipel genannt. Die einzigen Länder mit ähnlich großen Waldbeständen sind Finnland und Schweden, und diese sind wesentlich weniger dicht besiedelt.
Der vielleicht berühmteste Baum Japans ist die sugi, die Japanische Zeder, die vergleichbar ist mit den Rotholzbäumen und Mammutbäumen in Kalifornien. Diese Bäume können über tausend Jahre alt werden und eine Höhe von bis zu fünfzig Metern erreichen, bei einem Stammumfang von bis zu zehn Metern. Sie wachsen sehr gerade, und der Name sugi kommt, so wird angenommen, von dem Wort mallugu-ki, was «absolut gerader Baum» bedeutet.
Zu den ältesten Bäumen der Welt zählt die Jomon-Sugi auf Yakushima, einer kleinen Insel vor der Südküste von Kyushu, wo einige der am besten erhaltenen gemäßigten Regenwälder Japans gedeihen. Man geht davon aus, dass die Jomon-Sugi zwischen zwei- und fünftausend Jahre alt ist. Einige Experten halten sogar ein Alter von siebentausend Jahren für möglich.
Die Jomon-Sugi steht auf der Insel Yakushima
Die beiden offiziellen Religionen Japans – Shintoismus und Buddhismus – sehen im Wald eine Sphäre des Göttlichen. Für Zen-Buddhisten ist die Heilige Schrift in die Landschaft eingeschrieben. Die Welt der Natur selbst ist das Buch Gottes. Auch im Shintoismus existieren die Gottheiten nicht separat von der Natur, sondern sie leben in ihr – in den Bäumen und den Felsen, im Wind, im Fluss und im Wasserfall. Diese Gottheiten heißen kami. Es gibt Millionen und Abermillionen von kami, und sie können überall in der Natur sein. All die Orte, an denen Götter leben, können zu Verehrungsstätten werden. Es ist daher in Japan nicht ungewöhnlich, im Wald auf betende Menschen zu stoßen.
Für Zen-Buddhisten ist die Heilige Schrift in die Landschaft geschrieben. Die Welt der Natur selbst ist das Buch Gottes.
In den Nihonshoki, der zweitältesten überlieferten Chronik Japans, wird an einer Stelle erzählt, warum es im Land so viele Bäume gibt. Eines Tages zupfte der Sturmgott Susanoo-no-Mikoto ein Haar aus seinem Bart und verwandelte es in eine Japanische Zeder. Dann zupfte er sich ein Brusthaar aus und verwandelte es in eine Zypresse. Als Nächstes nahm er ein Haar von seinem Hintern und machte es zur Schwarzkiefer, und schließlich verwandelte er ein Haar aus seiner Augenbraue in einen Lorbeerbaum. Dann wies er seine Kinder Itakeru-no-Mikito, Ohyatsu-hime und Tsumatsu-hime an, die Bäume überall im Land zu verbreiten. Auf diese Weise wurde Japan so grün.
Viele japanische Volkserzählungen drehen sich um kodama, eine Art Naturgeister, die in Bäumen leben, ein wenig wie die griechischen Dryaden.
Viele japanische Volkserzählungen handeln von den kodama, eine Art Naturgeister, die in Bäumen leben, ein wenig wie die griechischen Dryaden. Manche Menschen glaubten, dass die kodama sich von Baum zu Baum durch den Wald fortbewegten. Andere nahmen an, sie würden einen bestimmten Baum bewohnen. Das Wissen über Bäume, in denen kodama leben, wird von Generation zu Generation weitergegeben, und diese Bäume werden geschützt. Fällt man einen Baum, in dem ein kodama lebt, ist man verflucht. Die bekanntesten kodama sind heute die kleinen weißen Wesen mit den großen Köpfen, runden schwarzen Augen und Mündern aus dem Zeichentrickfilm Prinzessin Mononoke (1997), der einen langen und abenteuerlichen Kampf zwischen Mensch und Natur zum Thema hat. Als der Wald im Sterben liegt, fallen die kodama von den Bäumen und lösen sich auf. Doch als sich am Ende der Wald wieder erholt, erscheint kopfschüttelnd ein einziger kodama aus dem Unterholz.
Die japanische Kultur zieht keine Trennlinie zwischen der Natur und den Menschen. Die Natur gehört zu uns. Und die Notwendigkeit, beides miteinander zu verbinden, wird in jedem Aspekt des Lebens deutlich, von der Anlage von Gärten, die die natürliche Landschaft integrieren, bis hin zur Gestaltung von Häusern, bei denen Innen und Außen mit Hilfe lichtdurchlässiger Papierwände ineinander übergehen. In traditionellen japanischen Häusern kann man die Tür schließen, ohne den Gesang der Vögel oder das Säuseln des Windes auszusperren.
Shizen – das heißt «Natur» oder «Natürlichkeit» – ist eines der sieben Prinzipien der Zen-Ästhetik. Hinter shizen steht der Gedanke, dass wir alle mit der Natur verbunden sind, seelisch, geistig und körperlich; und dass uns etwas umso besser gefällt, je enger es mit der Natur verknüpft ist, sei es ein Löffel, ein Möbelstück oder die Art, wie ein Haus eingerichtet ist. Die Muster auf den Kimonos entstammen häufig der Natur, sodass man sich in Päonien oder Blauregen, in Kirschblüten oder Chrysanthemen, ja sogar in ganze Landschaften mit Flüssen, Bäumen und Bergen hüllen kann.
Die japanische Kunst des Blumenarrangements heißt Ikebana, auch als Kadō oder «der Weg der Blumen» bekannt. Es zählt zu den drei klassischen japanischen Künsten der Verfeinerung, zusammen mit Kōdō (dem Weg des Duftes) und Sadō (dem Weg des Tees). Ikebana bedeutet mehr, als bloß Blumen in eine Vase zu stecken. Es ist eine disziplinierte Kunstform, die Natur und Mensch zusammenführt und das Innen mit dem Außen verbindet. Auch der spirituelle Aspekt ist dabei sehr wichtig. Als meditative Praxis verschafft Ikebana uns Raum und Stille, um das Vergehen der Jahreszeiten zu beobachten und diejenigen Dinge in der Natur mit Wertschätzung wahrzunehmen, die uns im geschäftigen Alltag oft entgehen. Um möglichst naturnah zu wirken, sollen Ikebana-Arrangements nicht nur Blumen, sondern auch Zweige und Äste enthalten. Niedrige, weite Vasen, in denen die Wasseroberfläche sichtbar ist, schaffen den Eindruck einer Pflanze, die in ihrer natürlichen Umgebung wächst. Das Platzieren auch nur einer einzigen Pflanze sollte die Rhythmen der Natur und ihre ständigen Veränderungen berücksichtigen.
Viele japanische Traditionen und Feste haben ihre Wurzeln in der Natur. Im Frühling feiern wir mit hanami, dem «Blütenbetrachten», die kurze Zeit der Kirschblüte und halten Feste unter den blühenden Bäumen ab. Einige dieser Kirschbäume kennen wir inzwischen so gut, als wären sie Menschen. Nehmen wir zum Beispiel die berühmte, auf mehrere hundert Jahre geschätzte Hängekirsche auf dem Grundstück des Kannon-Tempels Tanoue an der Straße zum Okukiso-See. Oder den Suge no Jyuo-doha, ein Kirschbaum, der seine ausladenden Äste über die Dorfstraße und den Tempel breitet. Der Suge-no-Jyuo-doha-Baum blüht als erster und präsentiert dem Himmel seine eindrucksvollen rosa-pinkfarbenen Blüten.
Im Herbst kommen wir bei dem Fest tsukimi, Mondschau, zusammen, um dem Herbstmond unsere Ehre zu erweisen. Dieses Ritual soll in der japanischen Oberschicht entstanden sein. Am fünfzehnten Tag des achten Monats nach dem traditionellen japanischen Sonnenkalender, wenn der Mond am hellsten und schönsten leuchtet, wurden unter dem Vollmond Gedichte rezitiert, und man unternahm Bootsfahrten, um seinen Widerschein auf der Wasseroberfläche zu bewundern. Schlösser wurden errichtet, deren Türme eigens für die Betrachtung des Mondes konstruiert sind. Es ist Tradition, sich an tsukimi mit Freunden und Verwandten an einem Ort zu verabreden, wo der Mond klar zu sehen ist, und den Platz mit Herbstblumen und Pampasgras, das zu dieser Jahreszeit besonders hoch ist, zu schmücken.
Niemals sind wir so weit davon entfernt gewesen, mit der Natur zu verschmelzen, nie haben wir uns als derart getrennt von der Natur erlebt wie heute. 78 Prozent der Japaner leben inzwischen in Städten, die meisten davon in Tokio, Osaka und Nagoya. Japan gehört zu den dichtesten bevölkerten Ländern der Welt und ist inzwischen bekannt für seinen hektischen Alltag. Auf den Bürgersteigen drängen sich Fußgänger und Radfahrer, und überall gibt es Regeln und Rituale, die uns helfen sollen, einander aus dem Weg zu gehen.
Elf Millionen Passagiere benutzen täglich die U-Bahn in Tokio, die vom ersten Morgenlicht bis zum späten Vormittag und dann wieder nachmittags und abends bis zum Anschlag vollgestopft ist, wenn die Pendler unterwegs sind. Wir nennen das tsukin jigoku oder Pendler-Hölle. Weiß behandschuhte oshiya oder «Drücker» schieben die Passagiere in Waggons, die für halb so viele Leute vorgesehen sind. Die Pendler sind inzwischen geschickt darin geworden, die sogenannte Tokio-Pirouette zu drehen, dabei zwängen sie sich flink in einen Wagen und finden einen Platz, wo sie stehen können, ohne mit irgendjemandem Augenkontakt zu haben. Der durchschnittliche Pendler verbringt dreieinhalb Jahre seines Lebens in der U-Bahn, wo es nicht einmal genug Raum zum Lesen gibt.