Judith Hermann
Alice
Erzählung/en
FISCHER E-Books
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. 1998 erschien ihr erstes Buch »Sommerhaus, später«, dem eine außerordentliche Resonanz zuteil wurde und für das sie mit dem Literaturförderpreis der Stadt Bremen, dem Hugo-Ball-Förderpreis und dem Kleist-Preis ausgezeichnet wurde. 2003 erschien der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das deutsche Kino verfilmt. Für ihr neues Buch »Alice« erhielt Judith Hermann den Friedrich-Hölderlin-Preis 2009. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Peter Parker
© S.FischerVerlag GmbH,
Frankfurt am Main 2009
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400631-4
Aber Micha starb nicht. Nicht in der Nacht vom Montag zum Dienstag, auch nicht in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch, möglicherweise würde er am Mittwoch abend sterben oder in der Nacht zum Donnerstag. Alice glaubte, gehört zu haben, die meisten Leute stürben nachts. Die Ärzte sagten nichts mehr, sie hoben die Schultern und zeigten ihre leeren, desinfizierten Hände vor. Nichts zu machen. Es tut uns leid.
Also mußten sich Alice und Maja mit Majas Kind eine neue Unterkunft suchen. Eine neue Ferienwohnung, weil Micha nicht sterben konnte, die jetzige Ferienwohnung war zu klein. Sie brauchten doch zwei Zimmer, mindestens, eines für Maja und das Kind und das zweite für Alice, und auch ein Wohnzimmer mit Fernseher für die Abende, eine halbwegs ausgestattete Küche für die Bedürfnisse des Kindes, ein Bad mit Badewanne. Garten? Ein Fenster mit Aussicht, ein Blick auf etwas Schönes.
Micha, im Krankenhaus, trug ein Krankenhausnachthemd, mit blauen Rauten bedruckt. Er war bis auf die Knochen abgemagert, ein Skelett, nur seine Hände waren so wie immer, zudem weich und warm. Auf seinem Nachttisch stand nichts mehr außer einer Flasche Mineralwasser und einer Schnabeltasse. Er hatte jetzt aber auch mit dem Trinken aufgehört.
Alice packte ihre Reisetasche. Ein Nachthemd, drei T-Shirts, drei Pullover, eine Hose, Unterwäsche, ein Buch. Sie setzte sich auf das Korbsofa zwischen die Kissen und rollte dem Kind auf der gekachelten Tischplatte einen grünen Plastikball zu, in dem ein Glöckchen klingelte. Das Kind konnte schon am niedrigen Wohnzimmertisch stehen, stolz, hielt sich mit beiden Händen an der Tischplatte fest. Es reagierte nicht auf den Ball, sagte aber mehrmals hintereinander und in entschlossenem Ton das Wort Hase. Deutlich zu verstehen. Maja telefonierte mit dem Vermieter einer Ferienwohnung am anderen Ende der Stadt. Billiger. Drei Zimmer. Mit Garten. Waschmaschine auch, ja, selbstverständlich. Nicht weiter weg vom Krankenhaus als dieses eine Zimmer jetzt: künstliche Forsythien in der Vase auf der Einbauschrankwand, über dem Fernseher ein gerahmtes Foto, auf dem die Sonne unterging in einem leeren See. Das Klappbett, auf dem Alice geschlafen hatte, vor der Schrankwand, ein Doppelbett in der Ecke, das Korbsofa ans Fenster gerückt. Die Gardinen waren beiseite gezogen, der Blick ging auf den Parkplatz eines Supermarkts hinaus, einparkende, ausparkende Autos, Leute, die randvolle Einkaufswagen schoben. Im Katholischen Krankenhaus, sagte Maja in den Hörer des Telefons hinein, mein Mann liegt im Katholischen Krankenhaus, sie saß auf der Bettkante, den Kopf in die Hand gestützt, das Gesicht abgewandt. Alice beobachtete ihren Rücken. Das Kind entschied sich jetzt doch für den Plastikball, hob ihn hoch und schüttelte ihn heftig, horchte mit ausdrucksvollem Gesicht auf das Glöckchen.
Wir ziehen um, sagte Alice zu dem Kind. Wir ziehen woandershin. Da wird es ganz schön sein, wirst du sehen. Es gibt eine Badewanne. Einen Garten, wir können jeden Morgen rausgehen. Bäume. Wiese. Vielleicht Hasen, mal sehen, vielleicht fangen wir einen.
Das Kind erwiderte nichts. Es sah Alice an, ein langer Blick voll rätselhafter Bedeutung. An seinem kleinen Kinn zitterte ein klarer Tropfen Spucke. Es war Michas Kind, und es sah seinem Vater sehr ähnlich.
Es hatte sich so ergeben, daß Micha in Zweibrücken im Sterben lag. Zwei Brücken, für Alice klang das poetisch, war aber ein schiefes Bild, weil es für den Sterbenden, wenn überhaupt, doch nur eine Brücke gab. Für wen war die zweite? Zweibrücken hatte sich so ergeben, am Ende einer Odyssee von einem Krankenhaus in ein anderes war es schließlich und zufällig ein katholisches Krankenhaus in einer Stadt fern von zu Hause, in dem Micha im Sterben lag. Er hätte sich darüber lustig machen können, wenn er die Kraft dazu gehabt hätte. Hatte er aber nicht mehr. Er hatte Krebs und bekam Morphium, war schon fast weg, es war nicht einmal sicher, ob das Geräusch, das er von sich gab, wenn Alice an seinem Bett saß und seine Hand in ihre legte, Schmerz oder Zustimmung ausdrücken sollte. Die Ärzte, die sich seit einer Woche zurückgezogen hatten, der Höflichkeit halber noch am Rand der Kulisse agierten, ab und an kam einer und tat so, als würde Fieber gemessen oder der Puls, die Ärzte kündigten sein Sterben schon seit Tagen an, aber er starb eben nicht. Atmete ein und aus. Ein und aus. Ein und aus. Das war alles.
Maja wickelte das Kind auf dem Doppelbett. Das Kind war wunderschön, und seine Haut war weich und weiß, auf dem Rücken hatte es ein herzförmiges Muttermal, eine Auszeichnung. Alice saß auf dem Korbsofa und sah zu, wie Maja das Kind wickelte, beide Füßchen mit der linken Hand umfaßte, das Kind sachte an den Füßchen hochhob.
Wir nehmen ein Taxi, sagte Maja. Bestellst du das bitte. In zehn Minuten.
Gut, sagte Alice.
Sie redeten nicht viel miteinander. Manchmal mehr, manchmal weniger, eher weniger, es war nicht unangenehm so. Gestern abend hatten sie beide schweigend nebeneinandergesessen und zugesehen, wie das Kind Pizza aß. Längere Zeit. Alice stand auf und wusch das letzte Geschirr ab, zwei Kaffeebecher, zwei Teller, ein Schälchen, aus dem das Kind am Mittag weißen Joghurt und Bananenscheiben gegessen hatte. Packst du auch bitte die Sachen aus dem Kühlschrank ein, sagte Maja. Sie ermahnte das Kind, liegenzubleiben, halt still, nur noch einen kleinen Moment.
Im Kühlschrank waren Eier, Fisch, Tomaten und ein Stück Butter. Es gab noch Fencheltee, Kartoffeln, Äpfel und Birnen. Drei Flaschen Bier und eine Flasche Wein. Im Topf auf dem Herd abgekochte Nuckel und das Trinkfläschchen. Alice faltete zwei leuchtendgelbe Tüten auseinander, war unangemessen ratlos, sie hätte gerne alles richtig gemacht.
Dann stand der Vermieter an der Tür. Er hatte unhörbar angeklopft, wollte nur mal sehen, ob alles in Ordnung war. Alice zählte ihm das Geld in die ausgestreckte Hand und sah keinen Grund, zu lügen. Nein, wir reisen nicht ab, wir ziehen um, es ist doch zu eng hier. Aber sonst ist alles in Ordnung, vielen Dank. Nein, es dauert noch. Ist noch nicht vorbei. Die Ärzte sagen, er habe viel Kraft. Der Vermieter lächelte, ein schiefes, hilfloses Lächeln, es sah ganz ungeschickt aus, aber was sollte er sonst tun.
Wo gehen Sie denn hin?
An den Stadtrand, rief Maja vom Bett aus. An den Rand der Stadt, da soll es auch einen Garten geben, das ist dann besser fürs Kind. Aber danke für alles. Vielen Dank trotzdem.
Maja war mit dem Kind seit zehn Tagen in Zweibrücken. Sie war mit dem Flugzeug gekommen, das Kind war zum ersten Mal geflogen und hatte beim Start und bei der Landung nicht geweint. Sie hatte die Ferienwohnung von Berlin aus gebucht, dem Vermieter mitgeteilt, daß sie nicht in Zweibrücken sei, um Ferien zu machen. Machte überhaupt irgend jemand Ferien in Zweibrücken? Der Vermieter hatte darauf keine Antwort gewußt. Vierzig Euro die Nacht für das Zimmer, die Forsythien und ein Bad mit Dusche. Als das Kind am vierten Tag schon auf der Straße, die zum Krankenhaus führte, zu weinen begonnen hatte und nicht mehr zu trösten gewesen war, hatte Maja Alice angerufen.
Kannst du kommen, Micha stirbt. Du willst ihn sicher noch mal sehen. Ich brauche jemanden, der aufs Kind aufpaßt, es will nicht mehr mit ins Krankenhaus.
Meinst du denn, Micha will mich sehen, hätte Alice gern gefragt. Meinst du nicht, daß das zu viel sein könnte. Aber wie sollte Maja wissen, ob Micha Alice sehen wollte.
Sie hatte gesagt, was ist denn mit dem Kind?
Maja hatte einen Moment nachgedacht und dann gesagt, das Kind reagiert auf Micha nicht mehr wie auf einen Menschen. Ich kann’s nicht mehr mit in sein Zimmer nehmen. Aber ich will bei ihm sein. Verstehst du das?
Alice war einen Tag später losgefahren. Sie kannte Maja kaum. Sie kannte Micha. Sicher wollte sie ihn noch einmal sehen, was war das für eine Frage, es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie gemeint, sie könnte gar nicht leben, wenn sie Michas Gesicht nicht mehr sehen würde. Sie hatte ihm das oft gesagt. Er hatte jedesmal freundlich darüber gelacht. Aber sie hatte auch gedacht, er würde sterben, während der Zug, in dem sie saß, durch eine öde und häßliche Landschaft fuhr, sie hatte sich für so wichtig gehalten, daß sie angenommen hatte, Micha würde sterben, weil sie kam und bevor sie bei ihm war.
Sie war trotzdem losgefahren. Micha war nicht gestorben. Nicht während sie im Zug saß, die Zeitung las, einschlief, wieder aufwachte, Kaffee trank, einen sauren Apfel aß, aus dem Fenster sah, weinte, auf die Toilette ging, zweimal den Platz wechselte. Alles als ein Zeichen empfand und falsch deutete. Nicht, als sie in der Stadt ankam, Maja und das Kind sie vom Bahnhof abholten, sie sich umarmten und Maja sagte, weinen können wir später. Micha starb nicht in der ersten Nacht, in der Alice auf das Kind aufpaßte, während Maja ins Krankenhaus ging, und auch nicht in der zweiten, und vor der dritten Nacht hatten sie beschlossen, umzuziehen.
Sie standen auf der Straße und warteten auf das Taxi. Der Kinderwagen war zusammengeklappt. Neben Alices Reisetasche und Majas Koffer die Tüten mit dem Essen aus dem Kühlschrank. Habseligkeiten. Alle Worte bekamen plötzlich eine zweite Bedeutung. Der Gehsteig war schmal, auf der Fahrbahn rauschten die Autos vorüber, zogen Fontänen von Regenwasser hinter sich her. Niemand zu Fuß unterwegs. Das Taxi kam nicht. Maja hatte das Kind auf dem Arm und schuckelte es eine Weile, dann reichte sie es Alice. Alice nahm das Kind, fürchtete seinen Widerstand, aber das Kind wehrte sich nicht gegen Alice, es sah nur so ernst aus. Sie nahm es auf den Arm, ein wenig auf die Hüfte gestützt, wie man ein Kind eben hielt, die Nähe seines Gesichtchens, eingerahmt von einer flauschigen rosa Pudelmütze, machte sie verlegen. Das Kind roch nach Baby, nach Milch und Karottenbrei, seine blauen Augen waren riesig und blank. Alice hielt diesem Blick nicht stand, sie sah weg, die Straße hinauf und hinunter. Was für eine Gegend. Die Straße ging über die Autobahn, dann durch einen Park, in dem zerzauste Enten auf einem brackigen Teich schwammen, dann weiter in die ausgestorbene Innenstadt bis zum Krankenhaus, zwanzig Minuten zu Fuß mit dem Kinderwagen und dem Kind, das Laufen lernen, immerzu laufen wollte, aber nicht geradeaus, sondern hierhin und dorthin. Es lernte laufen. Trotz alledem, und gerade deshalb. Maja war diesen Weg eine Woche lang gegangen. Hin. Und zurück. Das Kind hatte den Enten matschige Kekse zugeworfen. Die Enten hatten kaum reagiert. Es war kalt, Mitte Oktober, nicht golden. Das Kind auf Alices Arm wandte den Kopf und sah, was Alice sah. Regen und graue Häuser. Nichts, was man sich hätte zeigen können.
Vielleicht sollte ich das Taxi noch mal anrufen, sagte Alice, und Maja reagierte nicht, was wohl heißen sollte, daß es unnötig war, noch mal anzurufen. Sie sprach, fand Alice, oft, indem sie eben nichts sagte, sie drückte sich deutlich durch Schweigen aus. Unter anderen Umständen hätte Alice vielleicht gegen dieses Schweigen protestiert. Aber Maja war Michas Frau. Sie hatten ein gemeinsames Kind, und wenn Micha gestorben war, würde sie seine Witwe sein. Die Geschichte zwischen Micha und Alice war zu lange her, um irgendein Recht behaupten zu können. Eine Anekdote, aber, dachte Alice, wenn diese Anekdote nicht gewesen wäre, dann wäre ich jetzt nicht in Zweibrücken. Und aber daß ich hier bin, ändert nichts daran, daß Micha stirbt.
Am Straßenrand hielt das Taxi. Der Fahrer verzog das Gesicht, er hatte keine Lust auszusteigen, sich die Füße naß zu machen, den ganzen Krempel hinten reinzuräumen, den Kinderwagen, den Koffer, die Tasche, die Tüten mit Essen. Er stieg aus. Maja nahm Alice das Kind wieder ab und lächelte den Taxifahrer an. Alice stieg vorne ein. Der Taxifahrer schraubte hinten nervös an einem Kindersitz herum. Maja hielt das Kind lächelnd auf dem Schoß. Dann fuhren sie. Schöne Scheibenwischer, Musik aus dem Radio, Regional-Sender, unwichtiges Plappern, ein Gong, dann Schlager. Aus dem Fenster sehen. Die Straße runter, über die Autobahn hinweg, die Schilder, Richtungsangaben, kommenden Abfahrten waren deutlich lesbar, ein Sog in die Ferne, die Möglichkeit, aus Zweibrücken wieder zu verschwinden. Laß uns verschwinden, laß uns abhauen, den Fisch machen, die Biege und die Sonne putzen, eine Sprache, die hier plötzlich nicht mehr gelten sollte. Sie fuhren am Park vorbei, das Krankenhaus wischte vorüber, seine sieben Stockwerke, zwanzig Fenster in jedem, das dritte von links im sechsten Stock war das Fenster des Zimmers, in dem Micha in seinem Bett lag und einatmete, ausatmete, einatmete. Seine Zimmertür stand immer offen, und sein Atmen war so laut, daß man ihn schon hören konnte, wenn man aus dem Fahrstuhl stieg.
Du wirst dich erschrecken, wenn du ihn siehst, hatte Maja gesagt, als Alice das erste Mal ins Krankenhaus gegangen war. So war es gewesen.
Alice sah nicht zu dem Fenster hoch. Sie fuhren bergauf, raus aus der Innenstadt, nur ein kleines Stück, dann durch den Wald, dann in eine Siedlung rein. Der Taxifahrer hustete gräßlich. Nummer zwölf, sagte Maja von der Rückbank aus. Alice bezahlte, ließ sich keine Quittung geben. Der Fahrer räumte die Sachen aus dem Kofferraum und nuschelte dabei vor sich hin. Dann fuhr er weg. Alice, Maja und das Kind standen auf der Straße und sahen zum Haus hin, ein weißer, flacher Neubau mit einem Wintergarten, in dem sich riesige Azaleen an die beschlagene Scheibe preßten. Vor dem Buntglasfenster der Eingangstür hing eine rustikale Hexe auf einem Strohbesen, schaukelte und raschelte im Wind. Alice glaubte zu wissen, wie sich die Türklingel anhörte. Die Luft war frisch. Sie konnten plötzlich den Regen riechen, die nasse Erde, das feuchte Laub.
Alice war am Vormittag im Krankenhaus gewesen. Nach dem Frühstück. Es gibt Menschen, hatte einer der Ärzte gesagt, die können besser alleine sterben, lassen Sie ihn ein wenig alleine, machen Sie sich keine Sorgen. Micha war alleine gewesen, von ein Uhr in der Nacht bis zehn Uhr am Morgen, neun Stunden, in denen er geatmet hatte, nicht gestorben war.
Alice hatte an diesem Vormittag an Michas Bett gesessen, bis zwölf. Erst an der einen, dann an der anderen Seite des Bettes. Das Zimmer war zweckmäßig, Schrankwand, Waschbecken, Tür zur Toilette, die freie Fläche lackiertes Linoleum, wo das zweite Bett gestanden, in dem der zweite Patient gelegen hatte. Die Schwestern hatten ihn, vor Tagen schon und ohne Angabe von Gründen, woandershin geschoben. Irgendwo anders hin.
Rechts vom Bett saß Alice mit dem Rücken zum Fenster, das auf die Stadt und eine ferne Hügelkette hinausging. Links vom Bett saß sie neben dem Infusionsgerät für das Morphium, aber sie konnte sich an die Schrankwand lehnen und aus dem Fenster hinaus auf die Hügelkette sehen, wenn sie es dann doch nicht mehr ertrug, Micha anzusehen. Sein Gesicht zu sehen. Micha schlief mit offenen Augen. Die ganze Zeit. Er hatte sich dem Licht zugewandt, dem grauen und doch hellen Tag, wie eine Pflanze, seinen Körper, seinen Kopf, seine Arme und Hände dem Fenster zugewandt. Es sah trotz der offenen Augen so aus, als ob er schliefe, aber vielleicht war das auch ganz etwas anderes, dieser Zustand, morphiumbetäubt, geflutet von Bildern oder eben von gar nichts mehr. Er hatte oft und tief geseufzt. Alice hatte manchmal seine Hand genommen, die Hand war so warm, vollständig vertraut. Die Zimmertür war angelehnt, das Quietschen der Schuhe der Krankenschwestern tröstlich, das Klingeln des Telefons in der Schwesternstation, das Rumpeln des Fahrstuhls, Flüstern und Gelächter, andauernde Geschäftigkeit, der Essenswagen rollte am Zimmer vorbei, manchmal kam eine der Nonnen rein. Eine alte zerknitterte Nonne kam oft rein, Alice dachte, die Nonne käme eher ihretwegen als wegen Micha.
Alles in Ordnung?
Ja, soweit.
Die Nonne war am Fußende des Bettes stehen geblieben und hatte sich an der Metallstrebe festgehalten, Micha angesehen mit schief gelegtem Kopf. Interessiert. Sein Mund offen und das Zahnfleisch schwarz, die Augen blicklos zum Fenster gerollt. Die Nonne hatte Alice angesehen und gefragt, was er denn für einer gewesen sei.
Wie meinen Sie das, hatte Alice gefragt und sich aufgerichtet, sie war auf ihrem Stuhl und an die Schrankwand gelehnt ganz in sich zusammengesunken.
Meinen Sie, was er von Beruf gewesen ist?
Die Nonne hatte beiläufig die Hände gehoben und wieder sinken lassen, das hatte dem Bett einen Ruck versetzt. Sie hatte gesagt, na womit hat er sein Leben verbracht? Was hat er geschafft?
Sie hatten beide Micha angeschaut, und Alice hatte gedacht, daß diese Nonne niemals mehr sehen würde, wie Micha gewesen war, wie er ausgesehen, gesprochen, geflucht und gelächelt hatte, wie er durchs Leben gegangen war. Sie sah nur den Sterbenden. Entging ihr etwas?
Sie hatte zögernd gesagt, also ich würde sagen, er war ein Zauberer. Ein Zauberkünstler, verstehen Sie, was ich meine, er konnte alle diese Tricks. Kaninchen aus dem Zylinder. Jonglieren. Gedanken lesen. Aber er hat sich immer in die Karten sehen lassen. Er wollte seine Karten immer zeigen. Ich kann es nicht erklären.
Aber die Nonne hatte gesagt, so etwas habe sie sich gedacht, ihr Tonfall neutral, es konnte zustimmend gemeint sein oder verächtlich, schwer zu deuten. Sie hatte gesagt, na, es dauert nicht mehr lange. Dann war sie aus dem Zimmer gegangen. Wenn sie so spitz werden im Gesicht, dann dauert es nicht mehr lange.
Die Tür des weißen, flachen Hauses ging von allein auf, sie mußten nicht läuten, wahrscheinlich hatten hier alle alles gesehen, hatten alle in dieser stillen, friedlichen Straße hinter den Vorhängen ihrer Terrassentüren in den schattigen Ecken ihrer Wohnzimmer gestanden und das Taxi halten, sie aussteigen sehen. Eine Blonde, eine Dunkle und ein kleines Kind mit einem rosa Mützchen auf dem Kopf. Und alle drei mit Augenringen. Koffer, Tüten und ein Kinderwagen. Die Tür ging von allein auf, die Vermieter traten vors Haus, herzlich willkommen, sie streckten die Arme aus. Eine dicke Frau und ein dicker Mann, ältere Leute, im Alter von Majas Eltern, Alices Eltern. Alice war älter als Maja, und Micha war auch nicht mehr der Jüngste. Alice hatte gedacht, er würde sie überleben. Er würde alle überleben. Micha würde immer da sein, das hatte sie gedacht. Warum sie das gedacht hatte, hätte sie nicht sagen können, vielleicht war das ein Ausdruck für ihre Liebe gewesen, etwas Zeitloses. Vor dem Haus stehend, die Tüten in der einen und die Reisetasche in der anderen Hand und Maja neben sich mit dem Kind auf dem Arm und all diese kleinen Sachen am Bildrand, Schmuckkugeln in Blumenbeeten, schon umgegrabene Erde, grüner Rasen, eine Kröte aus weißem Ton, spürte Alice ein Zittern in den Knien, das ihr außer Kontrolle zu geraten drohte und dann wieder wegging. Die Frau hatte einen großen Busen, eine lila getönte Brille, sie war unbegreiflich herzlich, irgendwie nicht normal. Der Mann blieb immer ein Stück hinter ihr, seine Hände waren rauh und abgeschürft und sein Händedruck fest, die Trainingshose ziemlich dreckig, auf dem breiten kahlen Schädel heftige Narben an beiden Seiten, als hätte sein Kopf mal in einer Zwinge gesteckt. Es sah eigenartig aus, aber ohnehin war alles eigenartig, mußte hingenommen werden, wie es kam, und Alice trug ihre Tasche in den Garten hinein, während das Kind auf Majas Arm immerzu Hase sagte. Hase. Hase. Wie zur Beruhigung aller.
Die Ferienwohnung lag im Keller. Die Frau erklärte das, es war ihre eigene Wohnung gewesen, selbst ausgebaut, Heimarbeit. Der Mann schwieg und lächelte dazu. Oben hätte die Tochter gewohnt mit den Enkelkindern und unten eben sie selber, dann sei die Tochter mit den Enkelkindern ausgezogen, weggegangen in eine andere Stadt, jetzt würden sie beide wieder oben wohnen und die Kellerwohnung vermieten, es sei ja schade darum. Die Frau erklärte wortreich, wie um sich zu entschuldigen, sie sprach einen harten Dialekt, und es war nur die Hälfte zu verstehen, aber letztlich war es auch völlig egal, wer wann und weshalb in dieser Wohnung gewohnt hatte. Alice lief Maja hinterher, die der Frau folgte, die gleich das Kind an sich genommen, ihm das rosa Mützchen vom Kopf gezogen hatte, es auf dem Arm trug, als wäre es jetzt ihres. Sie stiegen alle zusammen die Treppe runter. Die Frau mit dem ernsten, wieder verstummten Kind voran, dann Maja, dann Alice, dann der Mann, der Koffer, Taschen und Tüten an sich genommen hatte, sehr hilfsbereit. Er war dicht hinter Alice, atmete schwer.