Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2016
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Lektorat Bernd Gottwald
Umschlaggestaltung ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung Jeff Stamer/Getty Images
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63166-5 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-56851-8
www.rowohlt.de
Die Seitenzahlen im Fotonachweis beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe.
ISBN 978-3-644-56851-8
Kurz nach halb drei: Kippenpause. Ich stehe im Hof neben dem Institutsgebäude des Senckenberg Forschungsinstituts in Frankfurt am Main, wo ich als Biologe arbeite. Direkt hinter dem gleichnamigen Naturmuseum, wo ich auch Führungen und Vorträge veranstalte. In der warmen Maisonne lasse ich meinen Blick gedankenverloren über den schmalen Grünstreifen gegenüber wandern, von dem aus der Wilde Wein das angrenzende Gebäude der Goethe-Universität bereits vollkommen überwachsen hat. Der Lärm der Stadt dringt nur leise hierher in den Hinterhof, irgendwo in der Nähe fiepen ein paar Meisen. Plötzlich ist die Hölle los: Laut kreischend knallt ein Knäuel Federn mitten in das wuchernde Grün vor mir, zwischen die Füße des Wilden Weins. Ich bin mit einem Schlag hellwach, aber erst so langsam erkenne ich, was genau da gerade passiert: Eine Amsel zetert und flattert um ihr Leben. Ihr dicht auf den Fersen ist ein kleiner Raubvogel, ein Sperber. Sozusagen ein Habicht in zierlich, nicht sehr viel größer als die Amsel, die er sich als Beute auserkoren und wohl zuerst im Flug gegriffen hat, dafür aber sehr hartnäckig: So oft sie seinen Fängen auch entkommt, er stürzt ihr nach und greift sie sich erneut oder versucht es wenigstens. Quer durch das Gestrüpp wirbeln die beiden hin und her, bis die Amsel es schafft, irgendwo unterzutauchen. Der Sperber wartet noch einen Moment, dann schaut er mich kurz an, als wollte er sagen: «Was guckst du?», und fliegt davon, als wäre nichts gewesen. Ich bin total perplex von dem Spektakel, das sich da innerhalb weniger Sekunden keine vier Meter vor mir abgespielt hat. Etwa einen Kilometer entfernt, im Botanischen Garten, wäre ich wohl nur halb so überrascht gewesen. Weil dieser Garten eben ein mehrere Hektar großes Stück Natur ist. Aber hier, mitten zwischen hohen Häusern und vielbefahrenen Straßen?
Frankfurt am Main, kurz nach Mitternacht im Februar. Ich sitze in einer U-Bahn der Linie U4 und bin auf dem Weg zum Südbahnhof, wo ich in einen Nachtzug nach Berlin steigen werde. Am Willy-Brandt-Platz muss ich umsteigen. Als ich gemächlich die Treppe zum richtigen Gleis hinaufsteige, muss ich mich plötzlich ducken: Trotz der späten Stunde sausen zwei Tauben im Tiefflug das Treppenhaus herab, als könnten sie das nicht auch oberhalb der Augenhöhe eines deutschen Durchschnittsbürgers tun. Am Bahnsteig Richtung Südbahnhof angekommen, wandert mein Blick langsam über die «Säulen der Eintracht», überlebensgroße Bilder von herausragenden Spielern dieser ehemals nahezu unschlagbaren Fußballmannschaft. Während ich angesichts von Bernd Hölzenbeins Hot Pants über den Wandel der Sportmode im Laufe der Jahrzehnte sinniere, bewegt sich unter seinen Füßen plötzlich etwas über die Gleise. Ich senke meinen Blick und muss nicht lange warten: Eine kleine Maus flitzt von Deckung zu Deckung, hält zusammengekauert still und flitzt wieder weiter. Kurz darauf folgt ihr eine zweite. Zumindest glaube ich, dass es nicht dieselbe war. Das Insekt, das beim Einfahren meiner U-Bahn noch schnell das Weite sucht, kann ich leider nicht genau erkennen.
Fünf Uhr früh, Leipzig Hauptbahnhof. Ich muss hier umsteigen, um nach Berlin zu kommen und nicht ungewollt in Prag aufzuwachen. Genervt von dieser Tatsache und sehr, sehr schlaftrunken schlurfe ich den Bahnsteig hinunter und traue meinen Augen kaum: Direkt vor dem Kopf des Gleises, nur durch den Prellbock von der Lokomotive meines bisherigen Beförderungsmittels getrennt, sitzt eine Waldschnepfe. Eine stinknormale Taube, ein Spatz oder eine Krähe wären ja nichts Besonderes und kaum der Rede wert, aber eine Waldschnepfe? Ein überaus scheuer und vorsichtiger Vogel, der – richtig geraten – im Wald zu wohnen pflegt und dort durch sein Flecktarngefieder optisch perfekt mit der Umgebung verschmilzt. Der deswegen den meisten Mitbürgern auch völlig unbekannt ist. Aber hier um fünf Uhr morgens vollkommen offen und weithin sichtbar mitten in der Leipziger Bahnhofshalle hockt, wo ihm das Flecktarnmuster gar nichts bringt. Was, um alles in der Welt, hat diese Schnepfe hierher verschlagen? Ich bleibe einige Meter von ihr entfernt stehen, reibe mir die Augen und kann mir immerhin schnell denken, warum sie nicht schon längst wieder in ihren Wald geflogen ist: Sie ist offensichtlich verletzt, denn Gesicht und Schnabel sind blutig. Wenn ich raten müsste, würde ich auf eine Raubtierattacke oder, hier wesentlich wahrscheinlicher, auf eine heftige Kollision mit einer Glasscheibe tippen. Weil ich die Ärmste nicht noch zusätzlich stressen möchte und sowieso keine Zeit für ernsthafte Rettungsaktionen habe, überlasse ich sie ihrem Schicksal. Das ist vielleicht schon wenig später entschieden worden: Ein offensichtlich besorgter und sicher sehr fürsorglicher Mitmensch hat die blutende Schnepfe ebenfalls entdeckt und nähert sich ihr. Sie tut, was Waldschnepfen in solchen Fällen gemeinhin tun: auffliegen und flüchten. Allerdings sehr unbeholfen und wackelig. Zwei Bahnsteige weiter kollidiert sie hörbar mit einer Glasscheibe und purzelt in den darunter befindlichen Treppenabgang. Ich steige in meinen Zug.
Berlin Hauptbahnhof, kurz vor acht: Nicht besonders ausgeruht schleppe ich mich aus dem Zug und mit zwei flugs erstandenen Croissants rein in die DB Lounge, um dort eine größere Menge kostenlosen Kaffee abzustauben. Die viele Bahnfahrerei muss sich ja auch mal lohnen. Bevor ich mich über das Gebäck hermache, gehe ich mit der ersten Tasse des schwarzen Goldes vor die Tür, um mit einer geballten Ladung meiner Lieblings-Alkaloide Koffein und Nikotin dem Zustand geistiger Wachheit ein wenig näher zu kommen. Die winterliche Kälte hilft dabei, während die Farben des sich ankündigenden Sonnenaufgangs meine Stimmung schlagartig verbessern. Über mir krächzen Krähen vom Lüftungsturm mit dem Logo des größten deutschen Verkehrsbetriebes, und einzelne Dohlen werfen ihr scharfes «Kjäh» dazwischen. Weiter hinten an der Spree streiten sich ein paar Möwen, während diverse Stockenten und ein einsamer Reiher bewegungslos am Ufer ausharren, als seien sie festgefroren. Für Füchse ist es wohl schon zu hell, zumindest ist keiner zu sehen. Zurück im warmen Wartesaal für Vielfahrer packe ich die Croissaints aus und lasse sie mir mit kleinen Schlückchen Kaffee auf der Zunge zergehen. Während ich abzuschätzen versuche, wie viel Prozent meines Frühstücks wohl als Blätterteigbrösel zwischen meinen Füßen landen, muss ich unvermittelt sehr breit grinsen: Ein Silberfischchen wuselt zwischen den Bruchstücken meines Croissants hindurch auf eine Lüftungsleiste im Boden zu und verschwindet darin. Ein stattliches Exemplar, auf jeden Fall das größte, an das ich mich erinnern kann – ein wahres, schönes, gutes Silberfischchen! Wohnhaft in Deutschlands modernstem Großstadtbahnhof.
Vier mal fünf Minuten, drei Städte, dreizehn verschiedene Arten tierischer Darsteller. Manche dieser Tiere sind so gewöhnlich, dass sie nicht weiter überraschen und eigentlich kaum der Rede wert wären. Tauben kennt man ja aus der Fußgängerzone, Amseln aus dem Park, und Enten schnattern schließlich überall herum, wo es ein paar Quadratmeter Wasserfläche gibt. Die alle waren schon immer da und könnten schon fast als kollektive Haustiere der urbanen Bevölkerung durchgehen. Aber wilde, freie und am besten noch solch eher seltene Tiere wie Sperber und Waldschnepfe, die man als Stadtmensch, wenn überhaupt, eher aus Naturdokumentationen kennt? Quasi vor der Haustür mitten in der Großstadt, ist das nicht unnatürlich? Sind Städte nicht grundsätzlich etwas Unnatürliches, nämlich das Gegenteil von Natur, quasi Un-Natur, und werden deshalb von cleveren Tieren gemieden? Nicht wirklich. Oder besser: ganz im Gegenteil!
In Städten pulsiert das Leben. Hier konzentriert sich mittlerweile der größte Teil menschlichen Daseins und Schaffens. Weltweit lebt längst mehr als die Hälfte aller Menschen in Städten. Sehr, sehr viele von ihnen wohnen wiederum in Großstädten – riesigen, aus Beton, Stein, Stahl und Glas geformten Superorganismen mit mehr als 100000 Einwohnern, die zig Meter tief in die Erde und oft hunderte Meter hoch in den Himmel ragen. Hier ist alles organisiert, elektrisiert, kanalisiert, asphaltiert, alles im rechten Winkel. Menschen gehen, radeln, fahren von A nach B, um dort irgendetwas zu tun, und dann wieder zurück nach A, oder sie nehmen den Umweg über C, um dort erst noch etwas anderes zu tun. Manche haben auch kein A, aber alle sind sie unterwegs. Zeitweise. Und machen etwas. Zeitweise. Und hinterlassen Müll. Ständig. Und bewegen sich dabei durch Straßen, Gänge, Treppen, Aufzüge, Türen, über Plätze, Korridore und Bahnsteige – durch lauter menschgemachte Strukturen, die ohne uns nicht da wären. Die nur da sind, weil wir uns ein effizientes und bequemes System aus Infrastrukturelementen geschaffen haben. Unsere urbanen Zentren haben mit der ursprünglichen Natur, die sich vor ihnen hier befand, auf den ersten Blick nichts mehr gemein. Aber in Städten pulsiert das Leben! Sie sind keine Nuklearwüste und auch nicht der Mond. Denn so sehr wir auch Schlaglöcher stopfen und Unkraut mit dem Gasbrenner aus Pflasterritzen verbannen – das Leben braucht Raum und nimmt ihn sich auch. Dabei kann es schon mal passieren, dass es diesen Raum in einer Stadt findet. Angesichts der immer größeren Fläche, die Städte weltweit beanspruchen, lässt es sich eigentlich kaum vermeiden. Das wilde Tierleben der Umgebung pulsiert ständig in die Städte hinein, und zumindest Teile davon pulsieren dort weiter. Tatsächlich sind unsere Städte bis an den Rand voll mit Tieren, und sie waren es schon immer.
Der Marder, der nachts an Bremsschläuchen geparkter Autos knabbert oder geisterhafte Geräusche vom Dachboden ertönen lässt, ist längst ein Klassiker. Auch die Taubenschwärme, deren ätzende Stoffwechselendprodukte an unseren Baudenkmälern nagen, gehören schon so lange zum Stadtbild, dass wir uns eine Großstadt ohne sie gar nicht mehr vorstellen können. Doch die tierische Vielfalt deutscher Großstädte ist ebenso dynamisch wie die Ballungszentren selbst und entwickelt sich ständig weiter. Um die Jahrtausendwende waren es noch kleine Sensationen, wenn Wildschweinrotten in Frankfurt oder Berlin am helllichten Tag durch Wohngebiete tobten und gepflegte Gartenkultur mit rüsselgetriebener Verachtung straften – heute ist das höchstens noch eine Randnotiz wert. Längst gehört Biber-Watching im Charlottenburger Schlosspark ebenso zum Standard wie das Kreischen hunderter Halsbandsittiche in Wiesbaden und Mannheim. Und wer sich als Kasseler noch nie Gedanken über Waschbären gemacht hat, der ist wohl gerade erst zugezogen.
Während Tierfreunde und Naturliebhaber sich über die zunehmende Wildheit vor der Hochhaustür freuen, geht anderen Städtern die Hutschnur hoch. Denn neben dem emotionalen und ästhetischen Mehrwert, den unsere gefiederten Freunde und andere putzige Knuffeltierchen unseren Parks und Hinterhöfen verleihen, mehren sich auch die Probleme. Na ja, eigentlich ist es immer dasselbe Problem: Wir beanspruchen den urbanen Raum für uns, deswegen haben wir ihn ja bebaut. Als ordentliche Deutsche sind wir es außerdem gewohnt und erwarten regelrecht, dass alles nach Plan läuft. Nach unserem Plan natürlich. Aber diverses Viehzeug fühlt sich in unseren Großstädten ebenfalls wohl und erhebt – je nach Charakter heimlich, still und leise oder aber laut, lärmend und hochdreist – ebenfalls Anspruch auf die Stadtgebiete. Da sind Konflikte vorprogrammiert und guter Rat oft teuer. Besonders dann, wenn man als geborener Städter komplett in einem hoch urbanen Umfeld aufgewachsen ist. Denn dann konnte man sich gerade in den letzten Jahrzehnten weitgehend in multimediale Scheinwelten versenken und dabei zwischen Heimkino und Shoppingtour unbewusst die Überzeugung kultivieren, dass Natur im Allgemeinen und Tiere im Speziellen für das eigene Leben absolut irrelevant seien.
Doch das ist ein Trugschluss! Wer seinen Blick einmal vom Touchscreen abwendet und sich ein wenig umsieht, kommt nicht umhin zu bemerken, dass der Mensch in und zwischen seinen Häusern nicht allein ist. So wie für viele von uns sind Städte auch der Lebensraum für eine Unmenge von Tieren. Und so wie es ganz praktisch und ja durchaus auch sehr erfreulich sein kann, wenigstens ein paar seiner menschlichen Nachbarn zu kennen, so lohnt es sich auch immer, dass man sich ein wenig mit seinen tierischen Nächsten befasst. Je besser man sie kennt, desto weniger Scherereien wird man einerseits mit ihnen haben, und desto mehr kann man sich andererseits an ihnen erfreuen. Das ist der eigentliche Sinn und Zweck dieses Buches: Auf den folgenden Seiten werden wir uns die Tierwelt unserer Großstädte mal etwas näher anschauen. Dabei treffen wir alte Bekannte und Neuzugänge, Groß und Klein, Putziges und Gänsehauterzeuger. Wir werden uns klarmachen, wie und wieso sie in die Stadt gezogen sind und was sie hier hält, und überlegen, ob und inwiefern uns das überhaupt betrifft.
Das alles wollen wir unverkrampft tun, ganz entspannt und mit einem Augenzwinkern. Wer im Folgenden seitenlange Tabellen, harte Statistiken und allerreinste Wissenschaft erwartet, den werde ich enttäuschen. Dieses Büchlein ist vielmehr zum leichten Einlesen in ein unglaublich komplexes und höchst spannendes Themenfeld gedacht. Es will zur grundsätzlichen Beschäftigung mit den Tieren unserer Großstädte anregen, ohne dabei allzu sehr ins Detail zu gehen oder gar einzelne Sachverhalte bis auf den wissenschaftlich belastbaren Grund voll auszuschöpfen. Wer sich fundierter mit dieser Thematik auseinandersetzen will, dem bieten sich eine Fülle von Möglichkeiten, von denen einige gegen Ende dieses Buches aufgeführt werden. Angehenden Experten für die Stadtnatur möchte ich aber hier und jetzt schon zwei wundervolle Werke ans Herz legen, die beide jeweils schon kurz nach ihrem Erscheinen den Status von Klassikern innehatten: Dies sind Josef Reichholfs «Stadtnatur» und Bernhard Kegels «Tiere in der Stadt». Beide Herren sind anerkannte Spezialisten auf dem Gebiet der Stadtökologie und wissen nach Jahrzehnten eigener Forschung beeindruckend viel über ihre Münchner (Reichholf) beziehungsweise Berliner (Kegel) Studienobjekte zu berichten. Doch nun weiter im Text.
Die Landflucht der Wildtiere ist ein globales Phänomen. Wohl jede Großstadt dieser Welt hat alteingesessene und neu zugezogene tierische Bewohner. Diese Stadtfauna kann je nach geographischer Lage einer Stadt und allgemeinem Stadtbild natürlich höchst unterschiedlich ausfallen. So vielfältig wie die Städte und ihre Tiere sind auch die spannenden Fakten und die skurrilen Geschichten, die man über sie erzählen kann. Viel zu viel für so ein kleines Büchlein. Deswegen geht es in diesem Buch, von einigen Abstechern in ferne Länder abgesehen, vor allem um die heimische Stadtnatur. Also um die mehr oder weniger possierlichen Tierchen, die Sie, liebe Leser, genau jetzt sehen könnten, wenn Sie einmal kurz aufblickten und ein wenig umherspähten (sofern Sie sich gerade in heimischen Gefilden befinden). Und da ich meine mittelhessische Herkunft weder leugnen kann noch möchte, kommen viele konkrete Beispiele und begleitende Geschichten aus der womöglich vielfältigsten aller deutschen Großstädte: aus Frankfurt alias Bankfurt alias Mainhattan, der silbern glitzernden Metropole am Main, die sich selbst gerne mit dem Beinamen «Green City» schmückt. Möge Berlin mir verzeihen.
Wenn große, mit bloßem Auge erkennbare Tierarten neu in Großstädten auftauchen, dann machen sie oft Schlagzeilen. Je größer, seltener oder exotischer, kurzum je spektakulärer die betreffende Tierart, umso schneller wird ihr umso intensivere Beachtung zuteil. Als man in Berlin bemerkte, dass der einst so gut wie ausgestorbene Wanderfalke fröhlich im Roten Rathaus und anderen Gebäuden mitten in der Stadt nistet, war das nicht nur für Naturschützer und Vogelfreunde, sondern auch medial eine Sensation. Ähnlich verhält es sich hin und wieder, wenn längst ansässige Tiere etwas Neues ausprobieren, zum Beispiel wenn ein Fuchs seinen Bau und damit seinen Lebensmittelpunkt auf das bestens gesicherte und rund um die Uhr überwachte Gelände des Bundeskanzleramtes verlegt.
Gleichzeitig gibt es aber auch so manche Tierart, an deren pausenlose Präsenz in unseren Städten wir uns längst gewöhnt haben. Oft so sehr, dass wir sie schon nicht mehr wirklich beachten – und uns manchmal, vor allem bei kleineren oder lichtscheuen Tieren wie Flöhen, Mäusen, Kakerlaken, Ratten oder dem eingangs erwähnten Silberfischchen, gar nicht mehr der Tatsache bewusst sind, dass die betreffende Art auch im 21. Jahrhundert noch quasi überall standardmäßig mitten unter uns lebt. Andere, besonders größere, tagaktive und schwer zu übersehende Arten wie Tauben und Enten nehmen wir zwar deutlich wahr und setzen uns sogar aktiv mit ihnen auseinander, empfinden sie aber keineswegs als Besonderheit. Schließlich waren sie schon immer da. Oder zumindest wohnten sie schon während unserer Jugendzeit in unseren Städten, sodass wir sie als normal empfinden. Denn die Welt, die ein Mensch bis etwa zur Mitte seines zweiten Lebensjahrzehnts herum vorfindet und erlebt, wird von ihm für den Rest seines Lebens als «Normalität» abgespeichert. Die Mehrzahl dieser «typischen Stadttiere» bewohnen spätestens seit der Nachkriegszeit unsere Metropolen, viele kamen schon wesentlich früher. Und manche waren wirklich schon immer in der Stadt.
Denn keine Stadt war jemals frei von Tieren. Ganz im Gegenteil: So wie Licht die Motten anzieht, so zieht der Mensch Tiere an. Schon allein weil eben sein Licht Motten anzieht. Und seine Vorräte verlocken jede Menge andere Sechs- oder Wenigerbeiner, sich an ihnen schadlos zu halten, weshalb wir sie dann als Schädlinge bezeichnen. Andere wiederum haben den Menschen selbst zum Fressen gern – Mücken und Flöhe z.B. mögen sein Blut, Milben den Talg und die Schuppen seiner Haut, und manche Made suhlt sich gern in seinem Stuhlgang. Apropos: Natürlich produziert der Mensch dazu seit jeher auch noch andere Abfälle, für die sich ebenfalls dankbare Abnehmer im Tierreich finden. Diese versammelte Belegschaft nahmen wir bereits mit, als wir uns sesshaft machten, oder banden sie spätestens damals endgültig an uns. Und wir behielten sie bei uns, als aus kleinen Siedlungen allmählich Städte wurden. Genau wie unsere Haus- und Nutziere, von denen manche nur deshalb gehalten wurden, weil sie ungeliebtes Kleingetier futterten. Schädlingsbekämpfer also, die wiederum ihren eigenen Hofstaat an Kleingetier um sich scharen. Und wie das Leben so spielt, sind all diesen Tierchen ständig andere auf den Fersen, um sie zu vertilgen. Deshalb waren schon, nein, gerade die ersten Städte mit einer reichen Tierwelt gesegnet. Wobei diese wohl oft als wenig segensreich empfunden wurde.
Schließlich waren die Tierarten, die als erste schon in den frühen Städten landflüchtig wurden und im Gefolge des Menschen den Lebensraum Stadt für sich entdeckten, keine plakativen Elemente der heutigen Grünanlagenfauna wie Amseln und Eichhörnchen. Die wären damals wohl eher gegessen worden, wenn sie sich zwischen so viele Menschen verirrt hätten. Nein, von Haus- und Nutztieren und nicht lange verweilenden Irrgästen mal abgesehen sind die am längsten mit uns lebenden Stadttiere eben größtenteils Schädlinge. Wobei dieser Begriff natürlich ein Unwort ist, schließlich reduziert er diese Tierchen doch gänzlich auf einen negativen Aspekt. Also mal neutraler: Nicht wenige Tierarten sind ganz einfach der Ansicht, dass die Lebensmittelvorräte des Menschen doch genauso gut auch ihnen als Nahrung dienen könnten. Ihr Instinkt verklickert es ihnen so. Da gibt es Futter und davon viel. Klarer Fall: Bevor noch etwas schlecht wird, kümmern sie sich lieber darum – sei es als Made im Speck oder als Mehlwurm, na, Sie wissen schon wo. Schaben, Grillen, Käfer, Mäuse, Ratten, die Liste der sogenannten Vorratsschädlinge ist riesig. Wobei wir uns gleich hier und jetzt darauf einigen, dass ich dieses Wort nur verwende, um nicht immer von «Tierarten, die sich von menschlichen Lebensmittelvorräten ernähren» sprechen zu müssen, und das Wort Schädling ab hier möglichst wertfrei verwendet wird. So auch bei den Materialschädlingen wie Kleidermotten und Holzwürmern, die Stoffe, Holz oder sonstige Dinge futtern, aus denen wir etwas herstellen.
Diese «Schädlingsfauna» ist vielerorts ein wenig in Vergessenheit geraten. Jeder kennt sie dem Namen nach, aber bei weitem nicht jeder aus eigener Anschauung. Vielleicht weil wir unser Hab und Gut inzwischen mit Schraubdeckelgläsern und Lackfarben besser schützen und nach einem Jahrtausende währenden Dauerkrieg mittlerweile über halbwegs effektive Mittel und Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung verfügen. Aber auch weil wir inzwischen anders, verschlossener, bauen und zumindest in Deutschland auch wesentlich höhere Hygienestandards haben als noch vor fünfzig oder hundert Jahren. Jedenfalls war meine Großmutter mit vielen dieser «Plagen» noch viel enger per Du als ihre Urenkel heutzutage. Auch ihre Tochter, also meine Mutter, kann sich noch lebhaft an die ein oder andere Episode mit unerwünschten Tierchen erinnern. Etwa an die fette Made, deren Auftauchen aus einer Mayonnaiseportion ihr jahrelang den Appetit auf Pommes verschlagen hat. Oder daran, wie sie einer verzweifelten Kommilitonin in deren Frankfurter Studentenwohnheim half, eine offenbar sehr bevölkerungsreiche Kakerlakenbrutstätte in der dortigen Gemeinschaftsküche auszumerzen. An so einer Aktion war ich selbst sogar auch schon einmal beteiligt – allerdings nicht in Frankfurt, sondern in einem ziemlich miesen Viertel der kolumbianischen Metropole Cali. Dort war die dreizehnköpfige Familie, bei der ich wohnte, gemeinsam mit mir einen ganzen Vormittag vollauf damit beschäftigt, die wirklich unglaublichen Mengen von Küchenschaben zu zerquetschen, die es sich in der Küchenzeile (eigentlich nur ein Herd, ein Kühlschrank und ein kleines Regal) gemütlich gemacht und hunderte Eipakete in allen verfügbaren Hohlräumen abgelegt hatten: Während drei Leute die Einrichtungsgegenstände bewegten, daran rüttelten und darin wie darunter herumstocherten, schlugen die übrigen Familienmitglieder mit Besen, Kehrschaufeln und Ähnlichem auf alles ein, was flüchtete. Tropisches Chaos eben …
Kakerlake
In deutschen Studentenwohnheimen und Mietwohnungen hingegen werden Kakerlake & Co. heutzutage wohl nicht mehr täglich in größeren Mengen gesichtet. Was keinesfalls heißt, dass sie verschwunden sind! Im Gegenteil, sie verstecken sich nur gut, finden sich aber nach wie vor in jeder Großstadt. Man muss nur wissen wo, dann wird man sie bei genauerem Hinsehen auch entdecken. Vor allem nachts, wenn brave Bürger schlafen, laufen sie dem aufmerksamen Beobachter gerne ganz unverhohlen über den Weg, gerne auch gerade dort, wo man sich derlei Getier am wenigsten wünscht. So hat mir eine liebe Kollegin neulich verraten, in welcher Straße einer bekannten Großstadt sie auf gar keinen Fall jemals wieder eine der dort üblichen, von Dutzenden dort ansässiger Etablissements meist in Fladenbrot servierten Speisen essen würde. Dabei sind die dort von ihr zuhauf beobachteten Ratten nichts Ungewöhnliches, auch nicht in deutschen Städten. Genau wie anderes verruchtes «Ungeziefer» belagern sie die schmierige Frittenbude ebenso wie den herausgeputzten Coffeeshop. In Letzterem vermuten wir sie bloß weniger als in Ersterer.
Doch zurück zur historischen Entwicklung der Stadtfauna. Mit zunehmendem Wachstum der menschlichen Bevölkerung wurden Städte größer. Sie nahmen immer mehr Fläche in Beschlag und wurden zudem auch noch verdichtet. Noch ein Stockwerk draufgesetzt, noch ein Häuschen zwischen den bestehenden hochgezogen. Haus an Haus an Haus an Haus, und in den schmalen Straßen dazwischen wenig Platz für Grün, eher noch für Abfall und Fäkalien. So oder so ähnlich dürfen wir uns manche Stadt zwischen Altertum und Mittelalter vorstellen. Einem Eichhörnchen aus dem nächsten Wald wäre es nicht im Traum eingefallen, hier herumzuhüpfen. Für viele Wildtiere galt seinerzeit: Eher als man in der Stadt Nahrung findet, wird man selbst zu welcher. Anders sahen das die Abfallverwerter, das Heer der Schädlinge jeglicher Couleur und natürlich die Parasiten des Menschen und seiner Nutztiere. Als etablierte Mitglieder der sogenannten Anthropozönose, also der auf den Menschen bezogenen Lebensgemeinschaft, hatten sie sich längst mit dessen seltsamer Lebensraumgestaltung abgefunden. Sie waren bereits das geworden, was man gemeinhin als Kulturfolger bezeichnet.
Die meisten schafften es sogar noch, sich in den Städten zu halten, als diese im Zuge der Industrialisierung ihr Gesicht abermals veränderten – und zwar wiederum in Richtung des Unnatürlichen. Zu noch mehr, noch höheren und noch dichter gedrängten Häusern für immer mehr Mitglieder der Arbeiterklasse kamen im 19. Jahrhundert im wahrsten Sinne des Wortes himmelschreiende Umweltbelastungen. Gar nicht so sehr durch Fäkalien und Abfälle, deren anständige Entsorgung wir in Europa so langsam lernten, sondern vielmehr durch den massenhaften ungefilterten Ausstoß aller möglicher Umweltgifte. Chemische Substanzen, die ohne uns Menschen nicht oder nur in sehr geringem Umfang auf der Erde existieren würden, überzogen in Form von Abwässern, Abgasen und Rußpartikeln die Städte und ihr näheres Umfeld, Rauch aus Industrieschloten schuf die ersten Smog-Glocken und verdunkelte zumindest zeitweise manchen Stadthimmel. Ungesund für Mensch und Tier, wie man sich leicht denken und leider ja auch heute noch in diversen Weltgegenden objektiv nachweisen kann. Dementsprechend dürfte so mancher Kulturfolger, der nicht vollständig auf den Menschen angewiesen war, sich wann immer möglich verkrochen, bestimmte Bereiche bevorzugt gemieden oder gleich das Weite gesucht haben. All diejenigen, die ihr Dasein in absoluter Abhängigkeit von uns Zweibeinern fristen, blieben wohl oder übel. Keine Wahl hatte beispielsweise das wohl auffälligste Stadttier der frühen Neuzeit: das Pferd. Schließlich musste es in Zwangsarbeit einen großen Teil des Personen- und Güterverkehrs am Laufen halten. Und mit vorne wie hinten aus ihm herausfallenden Futterrückständen die Verdauungstrakte vieler anderer Stadttiere.
Heute sind Gäule in großen Städten kaum noch zu sehen. Wenn überhaupt, dann begegnet man ihnen vielleicht noch im Zusammenhang mit berittenen Uniformierten oder beim Ziehen möglichst historisch anmutender, aber für eine pragmatische Fortbewegung definitiv nicht mehr zeitgemäßer Verkehrsmittel. Ansonsten hat der Siegeszug der automobilen Kutsche sie aus den Städten vertrieben und in deren Umland verbannt. Doch selbst von dort aus wirken sie noch auf die Stadtnatur! Denn Pferde brauchen Weiden. Klingt komisch, ist aber so: Pferdehaltung, auch und gerade diejenige, die hobbymäßig in den Speckgürteln um unsere Metropolen herum betrieben wird, erhält wertvolles Grünland! Keine intensiv bewirtschafteten Äcker, sondern Weideland, auf dem auch mal ein Baum oder ein Gebüsch oder gleich der ganze alte Streuobstbestand stehen bleiben darf. Und Pferde brauchen Unterstände und Ställe – relativ offene Gebäude, in denen zum Beispiel Schwalben und Spatzen oft ideale Brutmöglichkeiten vorfinden. Insgesamt ermöglicht dieses «Reiterhof-Grünland», wie man es beispielsweise rund um Frankfurt herum vorfindet, wesentlich mehr pflanzliche und tierische Vielfalt als schnöde Agrarwüsten. Und diese Vielfalt strahlt auch in unsere Städte herein, Pferd sei Dank.
Sein letztes großes Comeback feierte das Nutztier Pferd hierzulande zu einer Zeit, in der die Weichen für die heutige Stadtnatur, also auch für die vieler aktueller Omas, gestellt wurden: nach dem Zweiten Weltkrieg. Deutsche waren mittellos, Autos und Sprit teuer. Da durfte das eigentlich technologisch längst überholte Pferd in unseren Großstädten ein letztes Mal zeigen, was es kann: Waren transportieren und vor allem Schutt. Den gab es im Überfluss, denn kaum eine deutsche Großstadt war vom Krieg verschont worden. Frankfurt zum Beispiel, das heute rund dreihundert Meter hoch in den Himmel ragt, war damals buchstäblich am Boden zerstört und in weiten Teilen ganz einfach ein Trümmerfeld. Was für die Menschen das reinste Elend war, sollte sich für die Natur mittelfristig als Glücksfall entpuppen. Denn hier und da wurde beim Wiederaufbau deutscher Städte tatsächlich intensiv nachgedacht und ziemlich weise geplant. Was da nach und nach aus Ruinen auferstand, war vielerorts grüner als das, was zuvor in Schutt und Asche gelegt worden war.
Taube
Natürlich hatte es Parks und Gärten, Alleebäume und Balkonblümchen schon vor dem Krieg, ja schon vor der Industrialisierung gegeben. Nun aber wurden es sehr viel mehr. Vormals bebaute Flächen, für die nicht gleich ein Masterplan oder entsprechende Mittel zu seiner Umsetzung verfügbar waren, blieben erst mal sich selbst überlassen. Sie boten jeder Menge Tiere unzählige Schlupfwinkel, aufkeimender Vegetation Licht und Raum und über diese wiederum vielen Tieren Nahrung. Für andere Flächen sahen die jeweiligen Masterpläne Grün vor. Neue Grünstreifen, Lustgärtchen und Parkanlagen. Und mit dem aufkeimenden Wirtschaftswunder konnten immer mehr Städter es sich endlich wieder leisten, ihr Zuhause und ihre Gärten zu begrünen und dies nicht nur mit dringend benötigten Gemüsepflanzen zu tun. Mit der Zeit erhielten die Städte ein neues Gesicht, und vielerorts war dies ein grüneres als zuvor. Mit mehr Platz an der frischen Luft, für Menschen wie für Tiere. Spätestens in den Fünfzigerjahren waren all diejenigen Arten wieder in voller Zahl da, die schon vor der totalen Zerstörung das Stadtgrün bewohnt hatten, und verstärkten dort wie auch in den bebauten Bereichen die Reihen derjenigen, die sowieso auch auf dem nackten Pflaster zurechtkommen.
Es sind diese Klassiker heimischer Stadtnatur, mit denen man im Deutschland des zwanzigsten Jahrhunderts aufgewachsen ist. Tiere, deren Namen wir zumindest ansatzweise schon von Mama und Papa, Oma und Opa, spätestens aber in Kindergarten und Grundschule lernen. Solche Tierarten, die etwa auf einem Wimmelbild von einer Fußgängerzone, einem Marktplatz oder einem Stadtpark abgebildet wären. Stadttiere eben, deren altbekannte Anwesenheit niemanden wundert, die jeder kennt. Oder die zumindest jeder kennen könnte, wenn er sich ein wenig für die reale Welt in seiner direkten Umgebung interessiert und seinen Blick nicht nur von Mattscheiben fesseln lässt.
Weil sie unheimlich auffällig, umtriebig, bewegungsfreudig und noch dazu auch mit den Ohren wahrzunehmen sind, kommt den Vögeln innerhalb der Stadtfauna eine besondere Rolle zu. Zuallererst natürlich den Tauben, und ganz besonders den simplen Straßen- oder Stadttauben, die man selbst dann kennen muss, wenn man noch nie in einem Park spazieren war. Eine Innenstadt ganz ohne Tauben? Unvorstellbar, allein der Gedanke ist lächerlich! Ebenso verhält es sich in weiten Teilen Deutschlands mit einem noch etwas putzigeren, uns gerne auch wesentlich näher kommenden Stadtvogel: dem Haussperling, wie er vornehm heißt, oder einfach Spatz. Wie nahe beide Arten uns Menschen schon seit langer Zeit sind, zeigt sich bereits in ihren Namen, aber auch in alten Sprichwörtern. «Die Spatzen pfeifen es von den Dächern»; «Ein Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.» Von Rotkehlchen und Amseln ist da keine Rede, obwohl auch diese beiden im 20. Jahrhundert bereits zu den Standards der Garten- und Parkvögel gehörten. Ebenso wie Kohl- und Blaumeisen, Buchfinken, Elstern, Krähen, Enten und Schwäne verdanken sie ihre Bekanntheit nicht nur dem Umstand, dass sie bundesweit in großer Zahl in Städten leben, sondern auch ihrem unverwechselbaren Äußeren. Manch anderer alteingesessener Stadtvogel hat es da schwerer: Arten wie Zilpzalp, Mönchsgrasmücke und sogar der Zaunkönig fallen für viele Menschen eher in die Verlegenheitskategorie «kleiner brauner Vogel».
Weiblicher Spatz
Abseits der Vogelwelt sind die Reihen der allseits bekannten Stars unter den Stadttieren wesentlich lichter. Das mag daran liegen, dass viele Vertreter anderer Tiergruppen wesentlich weniger auffällig unterwegs, ja teils sogar nahezu unsichtbar klein oder wirklich lichtscheu sind. Die Fledermäuse beispielsweise oder ihre sechsbeinige Nahrung und die Heerscharen kleiner und kleinster Bodenbewohner, Bestäuber und Pflanzenfresser, auf die wir später noch zurückkommen werden. Und natürlich all das «Ungeziefer», von dem weiter oben schon die Rede war. Wenigstens die Säugetiere können abseits unbeachteter Flattermänner und Vorräte fressender Nagetiere mit einigen Knuffelchen aufwarten. An erster Stelle steht natürlich das Eichhörnchen – beeindruckend behende und unverwechselbar süß. Dicht dahinter folgen die Kaninchen, deren offenes Herummümmeln ebenfalls nur so vor Putzigkeit strotzt. Danach käme wohl der Igel, allerdings wegen seiner lichtscheuen Lebensweise erst in einigem Abstand. Nächtliche Heimlichtuerei ist wohl auch der Grund dafür, dass ein weiteres Pelztier meist nur denen auffällt, die es direkt mit ihm zu tun bekommen. Dabei ist der Steinmarder in unseren Städten gar nicht so selten und größer als alle bisher genannten Säuger. Als sehr scheues und unheimlich flinkes Raubtier hütet er sich allerdings mehr als sie alle zusammen davor, sich offen vor unserer Nase blicken zu lassen. Eher noch hören wir ihn, wenn er in Zwischenwänden oder auf Dachböden Quartier bezieht oder einfach dort herumtollt. Oder wir finden die Spuren seines Tuns, wenn ein Blick unter die Motorhaube unseres nur noch eingeschränkt funktionierenden Autos offenbart, dass dort offensichtlich auf Schläuchen und Kabeln herumgekaut wurde. Schade eigentlich, dass ein derart hübsches, überaus elegantes und bewundernswert agiles Tier den meisten Menschen hauptsächlich negativ auffällt. Dabei ist seine Verbindung zu menschlichen Siedlungen ebenfalls schon älter, wie sein zweiter Name erahnen lässt: Hausmarder.
Mit dieser haushaltsnahen Namensvergabe schließt sich dann auch der Kreis zu den beiden Säugetieren, die wahrscheinlich als Erste aus eigenem Antrieb menschliche Behausungen auch zu ihren eigenen machten und uns durch alle Phasen der Urbanisierung hinweg die Treue gehalten haben: Hausmaus und Hausratte. Ebenso wie der Spatz entdeckten sie die Vorzüge eines menschennahen Daseins bereits bevor es Städte gab. Noch mehr als dieser – schließlich halten sie sich standardmäßig auch in unseren Häusern auf statt nur drum herum – profitieren sie schon seit Tausenden von Jahren von unserer mit dem Ackerbau aufgekommenen Angewohnheit, große Mengen an Getreidekörnern anzuhäufen und allerorten auch mal ein paar davon zu verlieren oder sonst wie offen zugänglich herumliegen zu lassen. Und wenn es statt hartem Korn mal Käse oder Schinken ist, dann ist ihnen das auch wurst.
… alias Hausmarder alias Automarder alias Dachmarder …
… ist eigentlich ein Bewohner felsiger Landschaften, begnügt sich aber auch mit Kunstfelsen von Menschenhand.
… frisst als echter Opportunist unter den Raubtieren so ziemlich alles, was er findet. Süßigkeiten wie Kirschen haben es ihm besonders angetan.
… knabbert in der Regel erst dann an Bremsschläuchen und anderen Dingen unter der Motorhaube herum, wenn er dort den Geruch eines Artgenossen wahrnimmt. Seine Wut über eine derartige Verletzung von Reviergrenzen lässt er dann eben am Gummi aus. Jährliche Schadenssumme in Deutschland: zig Millionen Euro.
… kann locker zwei Meter weit springen, schafft also etwa das Vierfache seiner eigenen Körperlänge. Da kann der nahe verwandte Baummarder nur müde lächeln: er bringt es auf bis zu vier Meter.
So weit der kurze Überblick zur «klassischen» Stadtfauna des 20. Jahrhunderts, deren Wurzeln in vielen Fällen weit in die Zivilisations- oder gar die Menschheitsgeschichte zurückreichen. Als dementsprechend gewöhnlich empfinden wir sie heutzutage. Solange diese Tiere nicht über die Stränge schlangen, machen sie auch keine Schlagzeilen. Auch mitten im tiefsten Sommerloch käme selbst der verzweifeltste Redakteur irgendeines Boulevardblättchens wohl kaum auf die Idee, seine Verkaufszahlen mit Titelseiten à la «Unglaublich: Eichhörnchen springt mit Nuss vom Baum» fördern zu wollen. Das muss er auch nicht, denn da gibt es inzwischen andere Kandidaten aus dem Tierreich. Spätestens seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert hat eine muntere Artenschar es sich in unseren Großstädten gemütlich gemacht, von denen man das zumindest als Normalbürger nicht unbedingt erwartet hatte. Als hätte sie ein PR-Experte dahingehend beraten, taten sie das pünktlich zum Aufkeimen des sogenannten Informationszeitalters. Dementsprechend wurde ihnen eine für Stadttiere bis dato nie dagewesene mediale Aufmerksamkeit zuteil.
… alias Dachratte alias Schiffsratte …
… gehört wie die größere, kräftigere, kleinohrigere und kurzschwänzigere Wanderratte (Rattus norvegicus, der Vorfahr unserer Laborratten) zu den wirklich alten Kulturfolgern des Menschen. Beide Arten sind mit uns von Asien ausgehend in die ganze Welt gelangt und gehören heute zu den am weitesten verbreiteten Tierarten überhaupt.
… wohnt spätestens seit dem zweiten Jahrhundert n. Chr. auch in Deutschland. Hier wird sie zunehmend von der Wanderratte verdrängt und gilt in mehreren Bundesländern als vom Aussterben bedroht.
… bleibt auf kontinentalen Landmassen, auf die sie verschleppt wurde, meist in der Umgebung des Menschen. Auf ozeanischen Inseln ohne einheimische Säugetiere besiedelt sie hingegen gern alle natürlichen Lebensräume. Dann richtet der opportunistische Allesfresser, unter anderem als Nesträuber und Kleintiervertilger, oft gewaltige Schäden in der jeweiligen Inselfauna an.
… wird spätestens mit fünf Monaten geschlechtsreif und kann dann bei guten Bedingungen fünfmal im Jahr bis zu acht Junge zur Welt bringen.
… hat als Reservoir des Rattenflohs, der wiederum das Pestbakterium Yersinia pestis überträgt, einen enormen Einfluss auf die europäische Geschichte ausgeübt.
Im Sommer des Jahres 2009 hatte ich Besuch von einem Biologenkollegen aus Panama, der drei Monate als Gast in unserem Institut forschte. Da wir bereits zuvor in seiner Heimat eng zusammengearbeitet hatten, betrachtete ich ihn ein Stück weit als meinen persönlichen Gast. Unserem Feld-, Wald- und Wiesen-Biologendasein gemäß machten wir an den Wochenenden Tagesausflüge in der Umgebung von Frankfurt, damit der Kollege an ausgewählten, möglichst hübschen Flecken ein paar typische Ausprägungen deutscher Natur und Kultur kennenlernte. So wanderten wir auf den Spuren der Römer entlang des Limes durch die Mischwälder des Hochtaunus, schlenderten auf der Rhein-Riesling-Route durch die Weinberge des Rheingaus und fläzten ein Wochenende lang gemütlich fischend, grillend und Bier trinkend an einem Angelteich – übrigens die kälteste Nacht, die er jemals draußen verbracht hat. Kurz vor seiner Abreise beschlossen wir, eines seiner letzten Wochenenden in Berlin zu verbringen. Kultur statt Natur stand nun auf dem Plan, Großstadt statt Gesträuch war angesagt. Gleich nach unserer abendlichen Ankunft liefen wir los in Richtung Zentrum, vor allem um die Vielfalt der Dönerbuden zu sondieren und das Brandenburger Tor mal ohne Hunderte von Touristen zu sehen. Das Highlight des Abends war dann allerdings doch biologischer Natur und erwartete uns schon auf dem Weg nach Mitte: Auf dem Platz vor dem Kulturforum stand ein Fuchs. Ziemlich zerzaust, ganz allein und offenbar vollkommen furchtlos stand er einfach da und sah uns an. Irgendwie surreal, nachdem wir über eine Stunde durch dicht bebaute Straßenzüge gewandelt waren. Aus respektvollem Abstand starrten wir zurück, und mein Kollege freute sich sichtlich über den ersten Rotfuchs, den er lebendig zu Gesicht bekam – und das in einer Millionenstadt!
Fuchs
Am nächsten Abend waren wir wild entschlossen, die Kuppel des Reichstages zu besichtigen. Angesichts der außerordentlich langen Warteschlange beschlossen wir, zunächst ein anständiges Picknick vorzuziehen, um uns danach an einer hoffentlich kürzeren Schlange anzustellen. Also gingen wir über die Scheidemannstraße hinüber in den Tiergarten und ließen uns auf der erstbesten Bank am Simsonweg nieder. Kaum hatten wir Baguette und Käse ausgepackt und den Rotwein entkorkt, begann es im Gebüsch gegenüber, jenseits des Spazierweges, leise zu rascheln. Und alsbald vernehmlich zu rumoren. Zum Geraschel kamen scharrende Geräusche, zunehmend durchsetzt von Geschnüffel, Geschnaufe und einzelnen Grunzern. Meinem Kollegen war das wenige Meter entfernte Treiben anfänglich sehr suspekt, und er blickte mich fragend und auch ein bisschen beunruhigt an. Ich kannte derlei Geräusche aus heimischen Wäldern, hatte längst mitbekommen, dass es im Berliner Tiergarten von ihren Urhebern nur so wimmelte, und konnte ihn aufklären: Wildschweine waren das, die dort in der Dämmerung nach Futter suchten und es, ihren Schmatzgeräuschen nach zu urteilen, auch fanden. Da ihn das nicht sonderlich beruhigte (die in Panama wild lebenden Nabelschweine sind recht rabiate Viecher, um die man stets den größtmöglichen Bogen machen sollte), erklärte ich ihm außerdem, dass die wilden Schweine in diesem speziellen Park für ihre Toleranz Menschen gegenüber bekannt seien, und zeigte ihm obendrein noch einen geeigneten Baum, auf dem er im höchst unwahrscheinlichen Fall einer körperlichen Konfrontation Schutz suchen und finden könnte. Doch wie zu erwarten gewesen war, kam es gar nicht dazu. Stattdessen wurde auf beiden Seiten des Weges reichlich unspektakulär und ausgesprochen friedlich geschmaust und alsbald ebenso gestärkt wie zufrieden weitergestromert – die Schweine zogen tiefer ins Gebüsch, wir aus ebendiesem heraus, um nach kurzem Anstehen noch mit der allerletzten Gruppe in die gläserne Kuppel mit dem wunderbaren Rundumblick aufzufahren. So hatte mein Kollege an zwei Abenden in der Hauptstadt gleich zwei Arten heimischer Großsäuger aus unmittelbarer Nähe kennengelernt, nachdem ein halbes Dutzend Ausflugstage im Grünen ihm gerade mal ein paar lumpige Rehe in großer Entfernung beschert hatten.
Wildschweinfamilie