Joschka Fischer
Risiko Deutschland
Krise und Zukunft der deutschen Politik
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Joschka Fischer wurde 1948 in Gerabronn geboren. Von 1994 bis 2006 war er Mitglied des Bundestages, von 1998 bis 2005 Außenminister der Bundesrepublik Deutschland. 2006/7 Gastprofessor an der Universität Princeton, USA. Joschka Fischer lebt in Berlin.
Weitere Titel bei Kiepenheuer und Witsch:
»Für einen neuen Gesellschaftsvertrag«, 1998. »Mein langer Lauf zu mir selbst«, 1999. »Die Rückkehr der Geschichte. USA, Europa und die Welt nach dem 11. September«, 2005. »Die rot-grünen Jahre. Deutsche Außenpolitik – vom Kosovo bis zum 11. September«, 2009. »I am not convinced«, 2011. »Scheitert Europa?«, 2014.
Mit seinem Buch »Risiko Deutschland« legte Joschka Fischer 1994 eine Bestandsaufnahme deutscher Politik nach dem Ende der deutschen und europäischen Teilung vor und fragte nach den Ursachen der tiefen Krise, in die die deutsche Innen- und Außenpolitik geraten war.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41168-3
John Lukacs – Die Geschichte geht weiter. Das Ende des 20. Jahrhunderts und die Wiederkehr des Nationalismus, München 1994, S. 19
Michael Mann – Geschichte der Macht. Von den Anfängen bis zur griechischen Antike, Frankfurt/M. 1990, S. 142ff.
Friedrich Engels – Einleitung zu Sigismund Borkheims Broschüre »Zur Erinnerung für die deutschen Mordspatrioten. 1806–1807«; aus: MEW Bd. 21, Berlin (Ost) 1969, S. 351
Elsaß-Lothringen etwa blieb nach 1945 endgültig, was es war, nämlich französisch, während das »Saargebiet« einvernehmlich und ebenso endgültig nach einer Volksabstimmung zur Bundesrepublik Deutschland zurückkehrte. Die französische Rheingrenze, jener jahrhundertealte Zankapfel der beiden Erbfeinde, wurde vom besiegten und geteilten Deutschland nach 1945 nicht mehr in Frage gestellt, und damit wurde die uralte Feindschaft dieser beiden Nachbarvölker überwunden. Die »Wacht am Rhein« wurde von Deutschland für immer geräumt. Das alles schreibt sich heute so lapidar aufs Papier, aber um diese Territorien wurden mehrmals blutige Kriege geführt und Millionen junger Männer auf jenem berüchtigten »Altar des Vaterlandes« rücksichtslos geopfert!
DER SPIEGEL zitiert den Moskauer Philosophen Alexander Zipko: »… was mit uns geschieht: Wir stürzen, wir zerfallen, wir stecken bis über die Ohren im Dreck.« Nr. 2 vom 10.1.1994, S. 107
Robert B. Reich formuliert am Ende seines Buches diese Frage für die USA: »Die zentrale Frage für Amerika in der postsowjetischen Welt lautet also: Werden wir imstande sein, unsere Identität und das Gefühl gegenseitiger Verantwortung zurückzugewinnen, ohne uns ein neues Feindbild schaffen zu müssen? Die Antwort ist alles andere als klar.« Robert B. Reich – Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie, Frankfurt/M. 1993, S. 363
Alain Minc – Die Wiedergeburt des Nationalismus in Europa, Hamburg 1992, S. 19
»Im europäischen Rahmen wird es [Frankreich] mit einer imperialen Demokratie in vollem Aufschwung (Deutschland), einem schwarzen Loch an der Stelle einer Großmacht (Rußland) und der Rückkehr zum Stammesdenken und Balkanisierung (in Zentraleuropa) konfrontiert sein.« Ebd., S. 32
Bismarcks »Aufsehen erregende Äußerung in der Budgetkomission des Preußischen Landtags …, die zwar nicht stenographiert, aber in den Zeitungen ziemlich getreu wiedergegeben war«, sollte das Motto für jene sich zur Tragödie hin entwickelnde Epoche der deutschen Geschichte unter Preußens Vorherrschaft werden, die am 8. Mai 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches abgeschlossen war. Otto von Bismarck – Gedanken und Erinnerungen, Berlin 1928, S. 259
»Und so versackte der Kalte Krieg, als die Gratulationsrunde nach dem Zusammenbruch der Berliner Mauer vorüber war, in einem Kalten Frieden.« Jeffrey E. Garten – Der kalte Frieden. Amerika, Japan und Deutschland im Wettstreit um die Hegemonie, Frankfurt/M. 1992, S. 37
Arnulf Baring – Deutschland, was nun?, Berlin 1991, S. 24
»Bis zum Dreißigjährigen Krieg war Deutschland unter allen europäischen Ländern am wenigsten Staat und am wenigsten Nation: es war immer mehr und weniger zugleich. Im Frieden von Münster und Osnabrück wurde der deutsche Zustand vollends europäisiert. Das Ergebnis war eine deutsche Friedens- inmitten einer europäischen Gleichgewichtsordnung. Das eine konnte nicht sein ohne das andere.« Michael Stürmer – Die Grenzen der Macht. Begegnungen der Deutschen mit der Geschichte, Berlin 1992, S. 26
Ebd., S. 19
»In nur zwei Jahrzehnten eines rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs hatte sich das deutsche Kaiserreich zur führenden Industrienation des Kontinents entwickelt. Immer nachdrücklicher hatte es seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts seinen Anspruch auf einen ›Platz an der Sonne‹ neben den arrivierten Kolonialmächten – vor allem England und Frankreich – angemeldet. Zum Symbol und Instrument der weitausgreifenden weltpolitischen Ambitionen wurde der Bau einer großen deutschen Schlachtflotte.« Volker Ullrich – Als der Thron ins Wanken kam, a.a.O., S. 90
Sebastian Haffner – Von Bismarck zu Hitler, München 1989, S. 16/17
»Die Weltgeschichte mit ihren großen Ereignissen … kommt nicht dahergefahren wie ein Eisenbahnzug mit gleichmäßiger Geschwindigkeit. Nein, es geht ruckweis vorwärts, aber dann mit unwiderstehlicher Gewalt. Man soll nur immer darauf achten, ob man den Herrgott durch die Weltgeschichte schreiten sieht, dann zuspringen und sich an seines Mantel Zipfel klammern, daß man mit fortgerissen wird, so weit es gehen soll. Es ist unredliche Torheit und abgelebte Staatsklugheit, als käme es darauf an, Gelegenheiten zu schürzen und Trübungen herbeizuführen, um dann darin zu fischen.« Otto von Bismarck; zitiert nach: Lothar Gall – Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt/M. 1980, S. 56
Die klassische Definition der politischen Revolution der Neuzeit wurde, so die Überlieferung stimmt, zu nachtschlafener Zeit im königlichen Schlafgemach des Schlosses zu Versailles in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1789 im Zwiegespräch des Königs von Frankreich und des Herzogs von Liancourt gefunden: »Da die Berichte sich widersprachen, so erteilte der König keine Befehle, sondern ging, seiner Gewohnheit treu, frühzeitig zu Bett. Der Herzog von Liancourt, der kraft seines Amtes immer, sogar in der Nacht, Zutritt hatte, konnte es nicht mit ansehen, wie der König aus Gleichgültigkeit und Unwissenheit ins Verderben rannnte. Er trat ein und weckte ihn. Er liebte den König und wollte ihn retten. Er klärte ihn auf über die Gefahr, über die Größe der Bewegung und ihre unwiderstehliche Kraft; … Ludwig XVI., der nur halb wach war (er wurde niemals ganz wach), meinte: ›Wie? das ist also eine Revolte?‹ –›Sire, das ist eine Revolution‹« Jules Michelet – Geschichte der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1988, Bd. 1, S. 148
Helmuth Plessner – Die verspätete Nation, Frankfurt/M. 1992
»Der ›Schaden‹ der Bismarckschen Epoche, so zog der Althistoriker Theodor Mommsen am Ende seines langen Lebens aus der Sicht des Zeitgenossen resignierend Bilanz, sei ›unendlich viel größer‹ gewesen ›als ihr Nutzenc‹: ›Die Gewinne an Macht waren Werte, die beim nächsten Sturme der Weltgeschichte wieder verlorengehen; aber die Knechtung der deutschen Persönlichkeit, des deutschen Geistes, war ein Verhängnis, das nicht mehr gutgemacht werden kann.« Lothar Gall, a.a.O., S. 707. Siehe auch Franz Herre – Bismarck. Der preußische Deutsche, Köln 1991, S. 435
Hagen Schulze – Gibt es überhaupt eine deutsche Geschichte?, Berlin 1989, S. 19/20. Wie wichtig die Grenzen für die politische Definiton eines Staates sind, zeigt ein von Hagen Schulze angeführtes Zitat des französischen Historikers Fernand Braudel: »Zuerst stößt man immer auf die Frage nach den Grenzen, … davon leitet sich alles andere ab. Um etwas eine Grenze zu ziehen heißt, es zu definieren, zu verstehen und zu rekonstruieren; darüber hinaus bedeutet es, sich eine bestimmte historische Sichtweise anzueignen.« F. Braudel – La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949, Bd. I, S. 18; zitiert nach: Hagen Schulze, a.a.O., S. 20
»Als sich der König am heiligen Weihnachtstage während der Messe vor dem Grab des heiligen Apostels Petrus gerade vom Gebet erhob, setzte ihm Papst Leo eine Krone aufs Haupt, und das ganze römische Volk brach in den Ruf aus: Dem erhabenen Karl, dem von Gott gekrönten großen und friedensstiftenden Kaiser der Römer Leben und Sieg! Und nach diesen Lobpreisungen wurde er vom Papst nach der Sitte der alten Kaiser durch die Proskynese verehrt und unter Verzicht auf den Titel eines Patrizius nunmehr Kaiser und Augustus genannt.« Reichsannalen zu 801; zitiert nach: Hans K. Schulze – Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger, Berlin 1987, S. 188
Heinrich von Treitschke – Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. I, Leipzig 1886, S. 235
Ebd. S. 236
»Während der Beschießung von Paris war das deutsche Armeehauptquartier in Versailles untergebracht. … Bismarck verkündete, sein Ziel sei die Schaffung eines neuen Deutschen Reiches, mit Preußen als Zentrum und dem preußischen König als dem neuen Kaiser. Die Fürsten der deutschen Staaten, bereits in Versailles versammelt, waren einverstanden. Das Hindernis war König Wilhelm. … Wenn er einen neuen Titel annehmen sollte, dann, so wünschte er, mußte es ein bedeutender Titel sein: ›Kaiser von Deutschland‹ oder ‹Kaiser der Deutschen‹. Bismarck wußte, daß die Süddeutschen solch einem umfassenden Titel nicht zustimmen würden, und bot nur »deutscher Kaiser‹ an, was praktisch eine bloße Präsidentschaft des Reiches darstellte. Die Lösung kam in einer dramatischen Szene im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles am 18. Januar 1871, während die Fensterscheiben im Kanonendonner der Beschießung von Paris klirrten. Wilhelm, der Bismarcks Plan während der Zeremonie zu durchkreuzen hoffte, bat den Großherzog von Baden, ein Hoch auf den ›Kaiser von Deutschland‹ auszubringen. Bismarck fing den Großherzog auf den Stufen ab und überredete ihn, sich mit ›Kaiser Wilhelm‹ zufriedenzugeben. Als das Hoch ausgebracht wurde, war der soeben zum Kaiser proklamierte Wilhelm I. so indigniert, daß er, als er das Podium verließ, um seinen Fürsten und Generälen die Hände zu schütteln, an Bismarck vorbeiging, ihn nicht ansehen wollte und seine ausgestreckte Hand ignorierte.« Robert K. Massie – Die Schalen des Zorns. Großbritannien, Deutschland und das Heraufziehen des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M. 1993, S. 90/91
Hagen Schulze, a.a.O., S. 20
Karl Griewank – Der neuzeitliche Revolutionsbegriff. Entstehung und Entwicklung, Frankfurt/M. 1969, S. 94
Michael Stürmer – Die Grenzen der Macht, a.a.O. S. 25
Vieles an dem gegenwärtigen Balkankrieg um das ehemalige Jugoslawien, nicht zuletzt die völlige Zerstörung der beteiligten Länder, der Haß und die Grausamkeit, aber auch die Unfähigkeit zu einer definitiven politischen oder militärischen Lösung seitens einer der Kriegsparteien, die absehbar nicht einen weiteren Krieg mit sich bringen wird, und die zunehmende Internationalisierung des Krieges, erinnert manchen Beobachter im Europa des späten 20. Jahrhunderts an den Dreißigjährigen Krieg in Deutschland vor 350 Jahren! Am Ende wird es im ehemaligen Jugoslawien wie damals in Deutschland nur Verlierer auf einer riesigen Schädelstätte geben. Siehe dazu: Christoph Bertram – »Die Soldateska zieht weiter. Einunddreißig Monate dauert nun schon der Krieg auf dem Balkan: Zwischenbilanz eines Dramas, das immer mehr an die Greuel des Dreißigjährigen Krieges erinnert«. DIE ZEIT Nr. 7, 11. Februar 1994, S. 10
Michael Stürmer – Die Grenzen der Macht, a.a.O., S. 65
Die dynastischen Konkurrenzen und persönlichen Eitelkeiten der Fürsten spielten bei der Auslösung der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges eine bedeutende Rolle. So hatte etwa der Herzog Maximilian I. von Bayern am Erwerb der Kurwürde von seinem kurpfälzischen Vetter ein überragendes persönliches Interesse: »Seit 1356 durften die Wittelsbacher in Heidelberg allein die Kurwürde tragen, während der Münchner Zweig mit der geringeren Herzogwürde vorlieb nehmen mußte. Dieses ›Unrecht‹ ließ Maximilian wie ein Feuer des Neids in sich brennen, bis sich jetzt die einzigartige Gelegenheit bot, die Bitterkeit in eine Belohnung für ›Kaisertreue‹ umschlagen zu lassen. Denn während eines Besuches von Ferdinand II. in München entwickelte ihm Maximilian einen Plan zum Erwerb der pfälzischen Kurwürde. Die Rechtsnatur des Erblehens machte dieses Projekt möglich, wenn Friedrich V. mit der Reichsacht belegt würde. Der neue Kaiser fand an diesem Unternehmen Gefallen, zumal er dringend Hilfe gegen die erstarkenden Böhmen brauchte.« Günter Barudio – Der Teutsche Krieg. 1618–1648, Frankfurt/M. 1985, S. 140
Friedrich Schiller – Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Vollständiger Nachdruck der Erstfassung aus dem »Historischen Calender für Damen für die Jahre 1791–1793«, Zürich 1985, S. 36
»›Wenn Frankreich‹, so hatte Kardinal Mazarin, der Nachfolger Richelieus als Premierminister, 1646 in einer Instruktion für den französischen Unterhändler über wünschenswerte Gewinne räsoniert, ›irgend etwas vom Hause Österreich zu befürchten hat, dann nur von der Seite Flanderns und Deutschlands her; einerseits wegen der Möglichkeit ihre Kräfte zu vereinigen …, andererseits weil … ein einziger Erfolg in dem nahe gelegenen Paris … Panik hervorrufen könnte. – Der Erwerb der Niederlande schafft uns für immer Sicherheit gegen diese beiden Gefahrenquellen …, weil Spanien auf jener Seite nichts mehr besitzen würde, und wenn wir uns unsere Grenzen in allen Richtungen bis zum Rhein hin ausgedehnt hätten, wären wir in der Lage, von Seiten des Kaisers kein Übel mehr fürchten zu müssen … [Er wäre gezwungen,] auf gutes Einvernehmen mit Frankreich bedacht zu sein, was wiederum nicht wenig zu der für Frankreich mit gutem Grund so erwünschten Trennung der spanischen und deutschen Linie des Hauses Habsburg beitragen würde.« Heinz Schilling – Höfe und Allianzen. Deutschland 1648–1763, Berlin 1989, S. 59/60
»… neben Zonen mit erheblichen Kriegseinwirkungen und Bevölkerungsverlusten zwischen einem Drittel und der Hälfte, wie Brandenburg, Magdeburg, Hessen, Franken, Bayern, Schwaben und im Elsaß oder gar von bis zu zwei Dritteln, wie in Pommern, Mecklenburg, Kurtrier, der Pfalz und Württemberg, gab es im Norden, Nordwesten und in den Alpen Gebiete mit geringen Verlusten. So fanden sich in Westfalen, Niedersachsen und am Niederrhein sogar blühende Städte und Landstriche, die von Bevölkerungsverlusten gänzlich verschont geblieben waren; auch Gebiete wie Salzburg und die österreichischen Erblande, Schleswig-Holstein und weite Teile der Nordseeküste waren unversehrt. Hamburg erreichte jetzt einen ersten Höhepunkt seiner Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung.« Ebd., S. 72
Siehe auch die Gesamtzahlen der damaligen Bevölkerungsentwicklung: »Infolge der Kriegseinwirkungen war die Bewegung in Deutschland besonders extrem. Dem Anstieg von 12 auf 15 Millionen während des 16. Jahrhunderts folgte ein Zusammenbruch auf 12 bis 10 Millionen. Der Krieg hatte fast ein Drittel der Bevölkerung gekostet. Erst seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vermehrte sich die Bevölkerung wieder kontinuierlich, und zwar auf 15 Millionen um 1700 und 17 Millionen um 1750, wobei allerdings auch innerhalb des Reiches deutliche regionale Unterschiede zu beobachten sind.« Heinz Schilling – Reformation und altes Reich; in: Mitten in Europa. Deutsche Geschichte, Berlin 1992, S. 166
Hagen Schulze, a.a.O., S. 20/21
»Mitteleuropa nach dem Siebenjährigen Krieg, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts: ein Flickenteppich wie eh und je, eine ungestalte Fläche ohne Mitte und klare Grenzen, mehr denn je mit den Worten des großen Staatsdenkers Pufendorf ›unregelmäßig und einem Monstrum ähnlich‹. Dreihundertvierzehn größere und kleinere Territorien, zudem anderthalbtausend freie Rittersitze, eine Fülle von ›Deutschländern‹– les Allemagnes, wie die Franzosen sagten – zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt, europäisches Niemandsland. Eine Welt geradezu zoologischer Vielfalt von Königreichen, Kurfürstentümern, Herzogtümern, Fürstentümern, Bistümern, Grafschaften, Reichsstädten, Abteien und Balleien, meist in Fetzen auseinanderhängend und von Enklaven durchlöchert, aber allesamt eifersüchtig auf ihre verbriefte Souveränität bedacht … Und das Reich? Ein verblassender Mythos eher denn Staatswirklichkeit, ein juristisches Konstrukt, gegenwärtig allenfalls in einigen Einrichtungen wie dem Reichshofrat in Wien, dem Reichskammergericht in Wetzlar oder dem »Immerwährenden Reichstag‹ zu Regensburg.« Hagen Schulze – Die Geburt der deutschen Nation; in: Mitten in Europa, a.a.O., S. 208
James Mac Kinnon – Eine Geschichte der modernen Freiheit, Halle a.S. 1913, Bd. I, S. 148
»Der Particularismus des weltlichen Fürstenthums blieb doch die lebendigste politische Kraft im Reiche. Das heilige Reich war in der That, wie Friedrich der Große es nannte, die erlauchte Republik deutscher Fürsten. Seine Stände besaßen seit dem Westphälischen Frieden das Recht der Bündnisse und die Landeshoheit in geistlichen wie weltlichen Dingen, eine unabhängige Staatsgewalt, die nur noch des Namens der Souveränität entbehrte. Sie trotzte der Reichsgewalt, wie das Leben dem Tode trotzt. Keiner der auf den Trümmern der alten Stammesherzogthümern emporgewachsenen Staaten umfaßte ein abgerundetes Gebiet, keiner einen selbstständigen deutschen Stamm; sie dankten allesamt ihr Dasein einer dynastischen Staatskunst, die durch Krieg und Heirath, durch Kauf und Tausch, durch Verdienst und Verrath einzelne Fetzen des zerrissenen Reiches zusammenzuraffen und festzuhalten verstand.« Heinrich von Treitschke – Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, a.a.O., S. 17
Michael Stürmer, a.a.O., S. 35
Heinz Schilling – Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648, Berlin 1988, S. 435. Siehe auch ebd., S. 436/37: »Wie ein Staat die mit den riesigen Söldnerheeren und dem kostspieligen Festungs- und Belagerungskrieg verbundenen Organisations- und Finanzierungsprobleme zu lösen vermochte, war politisch entscheidend geworden. … Es waren gewaltige Aufgaben, die von den Fürsten und ihren frühmodernen Bürokraten gelöst werden mußten und die ihre Institutionen wie ihr Selbstbewußtsein enorm ausweiteten. Der Entwicklungszusammenhang zwischen Krieg, Rüstung und Absolutismus brachte sich in diesem Jahrhundert allenthalben in Europa zur Geltung. … Da Deutschland besonders lange und besonders verheerend vom Krieg heimgesucht wurde, waren hier die Veränderungen besonders radikal. All das kam den Fürsten zugute, die die Organisationsanforderungen zusammen mit dem Notstand des Krieges – die ›necessitas‹- Situation, wie es in der zeitgenössischen Staatslehre heißt – zur Fundamentalrevision der politisch-gesellschaftlichen Ordnung in ihrem Sinne nutzten. Die Kronjuristen erklärten die Fürsten für befugt, zur Abwendung der dem Land drohenden Gefahr die Untertanen auch ohne oder nur mit formaler Zustimmung der Landstände zu besteuern. … Die von den Steuern bezahlten Söldnerheere entwickelten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts zu stehenden Heeren, für die der Westfälische Friede die reichsrechtlichen Grundlagen schuf. Damit hielten die armierten Fürsten innerhalb ihrer Territorien ein bis dahin nicht gekanntes Machtinstrument in Händen, mit dem sie jeden ständischen Widerstand im Keim ersticken konnten.«
Michael Stürmer, a.a.O., S. 36. »Vielleicht wird es einmal Zeit, Preußens Geschichte neu zu überdenken unter der Frage, ob je eine lebensfähige und konsensheischende Alternative bestand zu jenem militanten Machtstreben, das dem Staat des Großen Kurfürsten am Anfang zum Glück und am Ende zum Unglück geriet. Das Schicksal Polens, im 16. Jahrhundert Großmacht und vor Wien 1683 noch Retter des Abendlandes und doch seit 1772 geteilt zwischen den Mächten, mußte jeden schrecken, der zwischen Elbe und Weichsel lebte, ob Bauer oder Offizier, Kaufmann oder Beamter.«
»Sicherlich, man muß sich gerade im Falle Preußen vor mystischen Vorstellungen von historischer Gesetzmäßigkeit und Vorbestimmtheit hüten: An diesem Staat war nie etwas historisch gesetzmäßig vorbestimmt, seine Bestandteile hatte der Zufall zusammengeführt, er war nicht gewachsen, er wurde gemacht. Aber daß er gemacht werden mußte, wenn dieses Zufallsprodukt nicht wieder zerfallen sollte, und daß er sich ausdehnen mußte, um auch nur bestehen zu können: Das lag so sichtlich auf der Hand, für den König wie für den einfachsten Untertanen, daß dagegen nicht anzukommen war.« Sebastian Haffner – Preußen ohne Legende, München 1992, S. 81
G.W.F. Hegel – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Frankfurt/M. 1970, Bd. 12, S. 66
Sebastian Haffner – Preußen ohne Legende, a.a.O., S. 92. Anknüpfend an die beiden großen preußischen Könige des 18. Jahrhunderts, an Friedrich Wilhelm I., den Soldatenkönig, und seinen Sohn Friedrich II. den man später den Großen nannte, schreibt Haffner auf S. 79/80: »Und doch trifft es den Kern der Sache nicht, wenn man das klassische Preußen des 18. Jahrhunderts, das da plötzlich wie aus dem Nichts ins Leben trat und sich dann auf der Landkarte ausbreitete wie ein Ölfleck, einfach als das persönliche Werk dieser beiden Könige darstellt. Der Zeitgeist hat da mitgewirkt – der Geist der Staatsvernunft, der Staatsraison, der damals in ganz Europa herrschend wurde und einen solchen künstlichen Vernunftstaat wie Preußen begünstigte, ja, geradezu nach einem solchen Musterstaat verlangte. Preußen segelte damals vor einem starken Wind. Es war nicht nur neu, es war modern, beinahe könnte man sagen: Es war schick. Und noch etwas hat mitgewirkt, vielleicht sogar entscheidend: Die schiere Notwendigkeit, der Selbsterhaltungstrieb, der jedem Staatswesen eingeboren ist wie jedem Menschen und der im Fall eines so unorganischen, so zufällig zusammengewürfelten Gebildes, wie es das 1701 proklamierte Königreich Preußen immer noch war, zur Arrondierung und Gebietserweiterung, also zur Eroberung, einfach zwang; und das wiederum zwang zur äußersten Straffung und Zusammenfassung aller Kräfte.«
»Dieses Preußen war – wenn man zunächst die allgemeinen Voraussetzungen nimmt – das Ergebnis von Geographie und Willen seiner Herrscher. Die Geburt des Habsburgerstaates war in der Spannung zwischen Reichs- und Erblandpolitik erfolgt, zwischen Habsburgs Traum vom Reichsstaat und der Realität des Partikularstaates. In Preußen waren es die Zwänge der geographischen Lage, die eine Reihe hervorragender Hohenzollernfürsten den modernen Einheits- und Machtstaat aufbauen ließen. Denn aus der teils ererbten, teils erfochtenen Ansammlung von Ländern und Herrschaftstiteln quer über den Norden Mitteleuropas ließ sich nur auf diesem Weg eine politische Kraft formen, die im deutschen und europäischen Mächtekonzert mehr Gehör finden würde als etwa Braunschweig oder Mecklenburg.« Heinz Schilling – Höfe und Allianzen, a.a.O., S. 368
»Der Staat Friedrichs des Großen ist nun aber nicht bloß der natürliche Rivale Österreichs gewesen, mit dem er den Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland begann. Der friderizianische Staat verkörperte auch geistig ein neues Prinzip, indem er in Übertragung der westlichen Staatsraison auf Deutschland eine Politik der Macht eingeleitet hat, wie sie das Reich bis dahin nicht gekannt hat. Preußen war ein unfertiges ›Königreich der Grenzen‹, das nur wachsen konnte oder wieder vergehen.« Heinz Joachim Schoeps – Preußen. Geschichte eines Staates, Frankfurt/M. 1992, S. 97
Sebastian Haffner – Preußen ohne Legende, a.a.O., S. 95
Heinrich von Treitschke – Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, a.a.O., S. 39
»Der gut kalkulierte Griff Friedrichs des Großen nach dem österreichischen Schlesien im Jahr 1740, als Habsburg durch das drohende Aussterben in der männlichen Erbfolge und die Nachfolgeprobleme geschwächt war, bedeutete dem jungen König vor allem ein Rendevous mit dem Ruhm, war daneben aber auch Konsequenz einer bereits von seinen Vorfahren betriebenen Ausdehnungspolitik – der schlesische Feldzug beruhte auf einem Plan, den schon der Große Kurfürst siebzig Jahre zuvor ausgearbeitet hatte.« Hagen Schulze – Die Geburt der deutschen Nation, a.a.O., S. 208/9
Ebd., S. 209/10
»Am 25. Oktober 1760 starb König Georg II. von England. Sein Sohn und Nachfolger Georg III. (1760–1820) warf das Ruder herum … Die Regierung kam in die Hände profranzösischer Kräfte, die im Sommer 1762 die britischen Subsidienzahlungen an Preußen einstellten und Paris die Bereitschaft signalisierten, Friedrich den Großen zu opfern und einen Sonderfrieden zu schließen. Dieser Meinungsumschwung war unumstößlich, weil er fest im englischen Staatsinteresse verwurzelt war. Denn in Übersee standen die Auseinandersetzungen mit dem Rivalen Frankreich sehr günstig für Britannien … Als sich diese Wende im Winter 1761/62 abzeichnete, gab es für den Hohenzollernstaat nach menschlichem Ermessen keine Hoffnung mehr. Die nächste Kampagne konnte nur noch den glorreichen Untergang bedeuten. Da brachte ein erneuter Todesfall die Rettung: am 5. Januar 1762 starb in Petersburg die Zarin Elisabeth, die erbittertste der erbitterten Feinde des Preußenkönigs. An ihre Stelle trat Zar Peter III …, ein glühender Verehrer Friedrichs und zugleich ein auf die Konsolidierung der Finanzen bedachter Realpolitiker, der sogleich Frieden und am 19. Juni sogar ein Bündnis mit dem Hohenzollern schloß.« Heinz Schilling – Höfe und Allianzen, S. 466–468
Friedrich der Große spielte in den Schlußtagen Hitlers eine zentrale Rolle in dessen Selbststilisierung. In Hitlers letztem Wohnraum im Bunker hing ein Bild des großen Friedrich, und »in diesen hoffnungslosen Tagen, so hat Goebbels berichtet, habe er dem niedergeschlagenen Führer, um ihn zu trösten, aus Carlyles ›Geschichte Friedrichs des Großen‹ vorgelesen und dabei jenes Kapitel ausgewählt, das die Schwierigkeiten schildert, denen der König im Winter 1761/62 gegenübergestanden habe: ›… und Carlyle schreibt: „Tapferer König, warte noch eine kleine Weile, dann sind die Tage deines Leidens vorbei, schon steht hinter den Wolken die Sonne deines Glücks und wird sich dir bald zeigen.” Am 12. Februar starb die Zarin, das Wunder des Hauses Brandenburg war eingetreten. Der Führer, sagte Goebbels, hatte Tränen in den Augen.‹
… Goebbels (erfuhr) am 13. April, … daß der amerikanische Präsident Roosevelt gestorben sei. ›Er war in Ekstase‹, hat einer der Miterlebenden geschildert und ließ sich augenblicklich mit dem Führerbunker verbinden. ›Mein Führer, ich gratuliere Ihnen‹, rief er in den Apparat. ›Es steht in den Sternen geschrieben, daß die zweite Aprilhälfte für uns den Wendepunkt bringen wird. Heute ist Freitag, der 13. April. Es ist der Wendepunkt!‹ Im Bunker selber hatte Hitler inzwischen Minister, Generale und Funktionäre zusammengerufen … und ihnen überstürzt, in leicht entrückter Greisenerregtheit, die Meldung vorgehalten: ›Hier! Sie wollten es nie glauben …‹ Noch einmal schien die Vorsehung ihre Verläßlichkeit zu demonstrieren und die vielen wunderbaren Fügungen seines Lebens in einem letzten überwältigenden Eingriff zu beglaubigen. Einige Stunden herrschte im Bunker eine lärmende Hochstimmung …« Joachim Fest – Hitler, Frankfurt 1973, S. 1000–1003.
Der Friedrichmythos war vor allem während des Ersten Weltkrieges Allgemeingut des konservativen Bürgertums in Deutschland geworden, den die Nazis, wie so vieles andere auch, lediglich zu übernehmen hatten. Siehe dazu den jungen Thomas Mann: »Unbesorgt! Wir stehen am Anfang, wir werden um keine Prüfung betrogen sein. Friedrich, nach allen Heldentaten, war im Begriff unterzugehen, als ein gutes Glück, der russische Thronwechsel, ihn rettete. Und Deutschland ist heute Friedrich der Große. Die Koalition hat sich ein wenig verändert, aber es ist sein Europa, das im Haß verbündete Europa, das uns nicht dulden, das ihn, den König, noch immer nicht dulden will …« Thomas Mann – Gedanken im Kriege (November 1914); aus: Thomas Mann – Von deutscher Republik. Politische Schriften und Reden in Deutschland, Frankfurt/M. 1984, S. 13; siehe ebd. S. 28ff.
Joachim Fest – Hitler, o.a. O., S. 1003
»Die Singularität des preußischen Absolutismus seit dem Großen Kurfürsten (1640–1688 Friedrich Wilhelm) bestand aus vier Elementen: 1. der rigorosen Vorherrschaft der Aristokratie in einer vom Monarchen beherrschten Ministerregierung, 2. dem Vermischen von ziviler und militärischer Verwaltung, 3. der Militarisierung des gesamten Lebens, 4. dem ›preußischen Puritanismus‹, dem verabsolutierten Prinzip vermeintlicher Berufung und selbstloser Pflichterfüllung. Der Aufstieg Preußens zur stärksten Militärmacht war weitgehend das Werk dreier vom Machtwillen besessener Dynasten, die bei der Verwirklichung ihrer Ziele von einem Machtvakuum, einer Folge des 30jährigen Krieges, ausgingen und durch wechselnde Bündnisse in den Kreis der Großmächte emporhoben. Beim Tode Friedrichs des Großen (1786) hatte sich die Bevölkerung seit dem Regierungsantritt des Großen Kurfürsten (1640) mit zehn Millionen verzehnfacht. Mit einem stehenden Heer von 250000 Mann galt Preußen ausländischen Beobachtern nicht als ein Staat mit einer Armee, sondern als eine Armee, der alle staatlichen Belange untertan waren« (Mirabeau). Bernd Martin – Weltmacht oder Niedergang? Deutsche Großmachtpolitik im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1989, S. 3
»Es stimmt natürlich, daß der Zeitraum vom Sommer 1789 bis zum neunten Thermidor des Jahres II (27. April 1792) ein rasch fortschreitendes, aber klar unterscheidbares revolutionäres System darstellt, das von der absoluten Monarchie über die konstitutionelle zur parlamentarischen Republik und schließlich zur Diktatur eines parlamentarischen Komitees führt. Es schließt die Abschaffung des wirtschaftlichen Feudalismus und des Gildenwesens wie die vollständige Reorganisation des französischen Verwaltungsapparates in sich; grundsätzlich ist damit auch die Einführung der allgemeinen Dienstpflicht sowie eine umfassende und neue Rechtskodifizierung, ja praktisch sogar die Einführung einer neuen Rechtsordnung verbunden. Darüber hinaus beinhaltet das System auch die Enteignung der Kirche und ihre Unterordnung unter den Staat und letzten Endes die Abschaffung des Christentums und die Aufrichtung einer neuen Religion der Vernunft. Alle diese ungeheuren innerpolitischen Wandlungen sind Teil des machtvollen Aufschwunges der revolutionären Bewegung von 1789 bis 1794.« Robert A. Kann – Die Restauration als Phänomen in der Geschichte, Graz 1974, S. 311
»Die Vernichtung des Königtums in Frankreich hat für ganz Europa zunächst eine inhaltsschwere Folge gehabt. Sie hat das Königtum, das sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts an die Spitze der Reformen stellt, allen Reformen der Gesellschaft auf Dauer entfremdet. Der Tod des Königs Ludwig warf die übrigen Könige offen in die Arme der Aristokratie, und dadurch ist vielleicht mehr als durch alles andere der Weg der ruhigen Entwicklung abgeschnitten …« Lorenz von Stein – Die Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, Bd. I, Hildesheim 1959, S. 274
Horst Möller – Fürstenstaat und Bürgernation, a.a.O., S. 548. Weiter heißt es da: »Die von Carnot organisierten Armeen bewiesen schnell ihre Überlegenheit. Aber es handelte sich nicht allein um eine zahlenmäßige Überlegenheit, sondern zunehmend um eine qualitative, denn die von revolutionärer Begeisterung beflügelten Massenheere ermöglichten den Angriffskrieg in einer zuvor unbekannten Form. Mit ihrer Hilfe ließ sich eine flexible Strategie verfolgen, die der alten hinhaltenden Lineartaktik weit überlegen war: diese mußte auf vergleichsweise schwierig zu rekrutierende, teure Söldner Rücksicht nehmen, sich an Magazinverpflegung orientieren und Kriege als Stellungskriege führen, um Verluste möglichst gering zu halten. Unter der Führung einer beeindruckenden Zahl vorzüglicher junger Generäle, zu denen bald auch Napoleon gehören sollte, überrannten die Massenheere der Revolution in den nächsten eineinhalb Jahrzehnten das alte Europa, das mehr als zehn Jahre benötigte, um sich den Schlaf des Ancien régime aus den Augen zu reiben.«
Jochen Köhler – Das Gewitter der Freiheit. Bedeutung und Wirkung der französischen Revolution heute, Frankfurt/M. 1989, S. 220/221. Siehe auch Albert Soboul – Die Große Französische Revolution, Frankfurt/M. 1988, S. 235/36: »Valmy war weniger eine Schlacht als ein einfaches Kanonengefecht; die Auswirkungen aber waren weittragend. Der Herzog von Braunschweig wollte die Franzosen nach einem kunstgerechten Schlachtplan einschließen; der ungeduldige König von Preußen gab ihm den Befehl, sofort anzugreifen. Am 20. September entfaltete sich die preußische Armee nach einem heftigen Kanonenfeuer in südliche Richtung und baute sich wie im Manöver vor den von Kellermann besetzten Höhen von Valmy auf. Der König von Preußen hatte mit einer überstürzten Flucht gerechnet; die Sanscoulotten hielten stand und verdoppelten ihr Feuer. Kellermann schwenkte seinen Hut auf der Degenspitze und rief: ›Es lebe die Nation!‹ Die Truppen gaben sein revolutionäres Losungswort von Batailloin zu Batallion weiter; unter dem Feuer der geordneten Truppen, der berühmtesten Europas, wich nicht ein Mann zurück. Die preußische Infantrie stand still, Braunschweig wagte nicht den Befehl zum Angriff. Die Kanonade dauerte noch einige Zeit an. Gegen sechs Uhr ging ein Platzregen nieder. Die Armeen verbrachten die Nacht in ihren Stellungen … Valmy bedeutete nicht einen strategischen, aber einen moralischen Sieg. Die Armee der Sanscoulotten hat vor der ersten Armee Europas standgehalten. Die Revolution offenbarte ihre Kraft. Gegenüber der auf passive Disziplin gedrillten Berufsarmee behauptete sich die neue, nationale, aus dem Volk gebildete Armee.«
Siehe dazu auch Heinrich von Treitschke – Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, a.a.O., S. 129: »Den ungeheuren Massen, welche der Convent in’s Feld führte, konnten die friderizianischen Generale wohl auf dem Schlachtfelde den Sieg entreißen, doch eine solche Volkserhebung völlig niederzuwerfen war für die kleinen Heere der alten Zeit völlig unmöglich Also kündigte sich hier eine neue Kriegsweise an und eine neue Staatskunst, welche die Ländergier der alten Cabinetspolitik mit einer unerhörten Mißachtung aller überlieferten Formen des Völkerrechts verband.«
»Es waren nicht die Vorstöße der Revolution, sondern die Eroberungszüge und militärischen Triumphe des Ersten Konsuls, die das alte Reich zerschlugen. 1797 rückte nach den Friedensschlüssen von Rastatt und Campo Formio die französische Republik an den Rhein, um dort zu bleiben. Köln wurde ›bonne ville‹, das linke Rheinufer großenteils Teil des ›Departements de la Roer‹. … ›Am Anfang war Napoleon‹ so hat Thomas Nipperdey in seiner magistralen ›Deutschen Geschichte‹ die Goethesche Idee der Epochenwende um 1800 modifiziert. Am Ende war aber auch Napoleon, am Ende des Alten Reiches.« Michael Stürmer – Die Grenzen der Macht, a.a.O., S. 38
»… Deutschlands erste Rußlandkatastrophe war der Zug der Grande Armée, von deren 600000 Mann nicht weniger als die Hälfte deutsch sprachen – und stärkte auf diese Weise nicht das französische Empire, sondern rief den deutschen Nationalismus ins Leben. ›Das soll uns nie wieder passieren!‹ und: ›Das können wir auch!‹ – so lautete, in den Worten Sebastian Haffners, die Schlußfolgerungen, welche die Deutschen aus den Dissonanzen der napoleonischen Erfahrung zogen. Das Alte Reich, das sie nicht hatte schützen können, lernten sie fortan verachten. Nation und Machtstaat wurden die Gottheiten des 19. Jahrhunderts, 1848 noch in der liberal-demokratischen Variante, zwanzig Jahre später in der agrarisch-industriellen.« Michael Stürmer – Die Grenzen der Macht, а. a.O., S. 39/40
Sebastian Haffner – Von Bismarck zu Hitler, a.a.O., S. 24
»Immer wieder hat man darauf verwiesen, daß sich die preußischen Reformen gegen Napoleon richteten und es sich deshalb um eine ›defensive Modernisierung‹ gehandelt habe. Mit Napoleon konnte sich Preußen natürlich nicht reformieren. Reform war aber auch die Voraussetzung der Befreiung von Napoleonischer Herrschaft, die schließlich Preußen auf den Status einer kleinen Macht reduziert hatte … Die preußischen Reformen betrafen sehr verschiedene Sektoren:
erfolgte eine Reorganisation und Neustrukturierung der obersten Staatsverwaltung;
eine Verwaltungsreform auf provinzialer und kommunaler Ebene;
eine Finanzreform;
eine Agrarreform;
eine Gewerbereform;
eine Heeresreform;
eine Reform des Bildungswesens;
gab es sektoral begrenzte Rechtsreformen; beispielsweise in der rechtlichen Besserstellung der Juden.
Die umfassende Verfassungsreform blieb indes Programm und wurde erst im Gefolge der Revolution von 1848/49 begonnen.« Horst Möller – Fürstenstaat und Bürgernation, a.a.O., S. 616.
Siehe dazu auch über die preußische Militärreform und die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in Preußen unter der Überschrift »Volk in Waffen« bei Heinrich von Treitschke – Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts, a.a.O., S. 295: Scharnhorst »erinnerte den König daran, sein Ahnherr Friedrich Wilhelm I. habe zuerst unter allen Fürsten Europas die allgemeine Conscription eingeführt; dieser Grundsatz habe Preußen einst groß gemacht und sei in Österreich und Frankreich nur nachgeahmt worden; jetzt erscheine es geboten, zu dem altpreußischen Systeme zurückzukehren … Fast genau mit den Worten des alten Soldatenkönigs begann Scharnhorst seinen Entwurf für die Bildung einer Reserve-Armee also: i. Alle Bewohner des Staates sind geborene Vertheidiger desselben.«
»Die Armee war vernichtet. Durch den Fall von Stettin und Küstrin ward auch die Oderlinie unhaltbar, und völlig aussichtslos schien der Gedanke, mit den ostpreußischen Regimentern jenseits der Weichsel noch einen letzten Widerstand zu versuchen. Napoleon schrieb dem Sultan befriedigt: ›Preußen ist verschwunden‹ und selbst Gentz meinte: ›es wäre mehr als lächerlich, an die Wiederauferstehung Preußens auch nur zu denken‹ Wie viele Stürme waren über diesen Staat dahin gegangen, seit seine Herscher ihm den steilen Weg zur Größe wiesen; schon oft hatte die Hauptstadt den Landesfeind in ihren Mauern gesehen; doch jetzt zum ersten Male in Preußens ehrenreicher Geschichte gesellte sich dem Unglück die Schande.« Ebd., S. 250
»König Friedrich Wilhelm III. erließ in seiner Breslauer Residenz am 17. März 1813 den berühmten, durch Theodor Gottlieb von Hippel verfaßten Aufruf ›An mein Volk!‹ … Ein solcher Aufruf des Königs an sein Volk, die Verbindung des alten, auf den eigenen Staat und seinen Monarchen bezogenen Patriotismus mit dem Appell an die Zugehörigkeit zur deutschen Nation, wäre noch wenige Jahre vorher undenkbar gewesen: Was das alte Reich, der deutsche Kaiser über Jahrhunderte nicht vermocht hatten, der Erbe der Revolution und Kaiser der Franzosen schaffte es in kürzester Frist: Napoleons Herrschaft schmiedete nach Jahrzehnten der Vorbereitung die Deutschen zur politischen Nation oder fachte doch wenigstens das seit längerem schwelende nationale Feuer an, in dem sich erheblich divergierende soziale und ideelle Strömungen zur Forderung nach Freiheit, oder besser nach Befreiung, mischten.« Ebd. S. 639/640
»Was ist des Deutschen Vaterland?
Ist’s Preußenland, ist’s Schwabenland?
Ist’s, wo am Rhein die Rebe blüht?
Ist’s wo am Belt die Möwe zieht?
o nein! nein! nein!
Sein Vaterland muß größer sein …
Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!«
Ernst Moritz Arndt – »Des Deutschen Vaterland«; aus: Deutsche über die Deutschen. Auch ein deutsches Lesebuch, München 1974, S. 174/175
Heinrich Lutz – Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1815–1866, Berlin 1985, S. 32. Siehe auch S. 33: »Die Entscheidung zwischen ›Volksheer‹ und ›Königsarmee‹ – um es vereinfacht auszudrücken – fiel endgültig erst unter Bismarck. Aber sie war langfristig vorbereitet durch das Scheitern wesentlicher Teile des militärpolitischen Reformkonzeptes; es blieben nur jene Teile, die der Steigerung der technischen und disziplinären Leistung dienten. Als besonders wichtig erwies sich dabei die gesellschaftspolitische und militärische Disponibilität des Adels.«
»Die Siegermächte von 1815 – Rußland, England, Österreich und Preußen – hatten auf dem Wiener Kongreß in mühsamen Kompromissen die Neuordnung des europäischen Staatensystems vorgenommen. Man hatte schließlich zu einer ›Quadruple-Allianz‹ gefunden, einem Bündnissystem, das bis in die zwanziger Jahre hinein wirksam funktionierte. Frankreich, der besiegte Gegner, dessen Wiederaufstieg zur beherrschenden Macht in Europa die vier Siegermächte verhindern wollten, wurde erst 1818 auf dem Aachener Kongreß als fünfte europäische Großmacht in das ›Konzert der Mächte‹ aufgenommen. Für den Weg der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert blieb ausschlaggebend, daß die beiden ›deutschen Mächte‹, Österreich und Preußen, in der Stufenleiter der realen Machtverhältnisse erst hinter England, Frankreich und Rußland rangierten; dies galt auch, wenn man ihren Rückhalt am Deutschen Bund in Rechnung setzte.« Ebd., S. 14/15
»Aktive deutsche Außenpolitik in diesen Jahrzehnten war, da Preußen, der schwächste der europäischen Großstaaten, sich im großen und ganzen an Österreich anschloß, die Sache Österreichs, war die Politik Metternichs. Seine Politik war von drei Grundsätzen geleitet. Sie war 1. ideologisch, sie wollte die konservative Ordnung Europas bewahren, sie setzte auf die Solidarität der Mächte, die gegen jede Revolution gemeinsam intervenieren sollten. Sie war 2. an Stabilität und Gleichgewicht orientiert, sie wollte die Machtambitionen durch eine Ordnung der kollektiven Sicherheit bändigen. Metternich liebte es, sich als Arzt der Revolution und als Garant der europäischen Ordnung zu stilisieren. Und diese Politik folgte natürlich 3. der österreichischen Staatsräson: jede Revolution bedrohte die Existenz dieses übernational dynastischen Reiches, und jede Veränderung der Machtlage mußte die Position Österreichs, das gerade als Balancefaktor, trotz seiner strukturellen Schwäche, eine überproportionale Machtposition behauptete und zudem gänzlich saturiert war, schwächen.« Thomas Nipperdey – Deutsche Geschichte, München 1983, S. 364
Leopold v.Ranke; zitiert nach Michael Stürmer – Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin (West) 1983, S. 365
Michael Stürmer – Die Grenzen der Macht, a.a.O., S. 46
»Die ›halykonischen Tage‹ (Leopold von Ranke) nach dem Wiener Kongreß endeten in Massenelend und Angst. Beides wurde in den vierziger Jahren aber noch einmal gesteigert: auf der einen Seite dramatische Kapitalknappheit, die den Realzins auf sieben bis acht Prozent trieb, auf der anderen Seite Mißernten, Hunger und Nahrungslosigkeit. Die letzte klassische Krise alten Typs – schlechte Ernte, hoher Brotpreis, Arbeitsmangel und Zusammenbruch der gewerblichen Märkte – verband sich seit Mitte der vierziger Jahre mit der ersten vorindustriellen Wachstumskrise. 1846 war eine Mißernte, die Kartoffelpest verdarb das Hauptnahrungsmittel der kleinen Leute. 1847 stiegen die Preise noch einmal auf das Doppelte, Dreifache, Vierfache. Die Armen nagten an ihrem sprichwörtlichen Hungertuch.« Ebd., S. 48. Siehe auch Heinrich Lutz – Zwischen Habsburg und Preußen, a.a.O., S. 244ff.
»In Paris siegte nach dreitägigen Barrikadenkämpfen am 24. Februar 1848 die Revolution. Der König Louis Philippe floh, die Monarchie wurde abgeschafft, die Republik ausgerufen. Die Gesamtzahl der Toten und Verwundeten auf beiden Seiten betrug etwa 1200 bis 1300. Die Wirkung der Februarrevolution auf Europa war ungeheuer. Das Feuer der revolutionären Begeisterung griff sofort auf Italien und Ungarn über, wo es um äußere Freiheit gegen die österreichische Herrschaft ging. So war Deutschland schon wenige Tage nach dem Umschwung in Paris auf drei Seiten von einer mächtigen Freiheitsbewegung umgeben. Diese Situation, nicht nur die rasch gelungene Revolution in Frankreich, hat viel dazu beigetragen, daß die in der deutschen Öffentlichkeit vorhandene Unruhe sich so rasch zum politischen Umsturz steigerte.« Ebd., S. 246
Ebd., S. 246/247
»Eine große Volksmenge vor dem Schloß … dankt dem König mit lauten Ovationen, aber die Bajonette irritieren, es ertönen einzelne Rufe nach dem Abzug der Soldaten. Darauf ergeht Befehl an die Truppen, den Platz zu räumen, einzelne ungezielte Schüsse lösen sich, der Ruf ›Verrat‹ und ›Zu den Waffen‹ ist die Antwort – die Kämpfe beginnen von neuem. Das war freilich mehr als ein unglücklicher Zufall, Mißverständnis oder Kopflosigkeit. Das war der Grundkonflikt der Berliner Revolution, der Konflikt zwischen Zivil und Militär. Die Frage Abzug oder Verbleib der Truppen war die Frage nach Substanz und Seele der preußischen Monarchie, nach der unantastbaren Autorität des Königs, gegründet auf das königliche Heer. Der Ruf »Militär weg‹ bedeutete: der König sollte dem Militärstaat abschwören, sollte Bürgerkönig werden – das revolutionierte die Grundlage des preußischen Staates.« Thomas Nipperdey – Deutsche Geschichte, a.a.O., S. 598/599
Heinrich Lutz – Zwischen Habsburg und Preußen, a.a.O., S. 266
»… der Bundestag demonstrierte antirevolutionäre Legalität, indem er seine Kompetenz an den eben gewählten Reichsverweser übertrug. Am 13. Juli nominierte dieser den Fürsten Karl Leiningen, Halbbruder der Königin Viktoria und einer der führenden deutschen ›Whigs‹, zum Ministerpräsidenten; im Kabinett saßen vor allem rechte, aber auch linke Zentrumsleute, der Österreicher Anton von Scherling war Innenminister und wurde der starke Mann der Regierung … Die neue Reichsgewalt konnte sich auf die Autorität der Paulskirche und auf den Konsens der Deutschen stützen, aber sie hatte keine reale Macht: kein Geld und wenig Kredit, keine Büros, kein Papier, keine Sekretäre und erst recht keine nachgeordneten Behörden im Land. Und sie hatte natürlich kein Heer – nur eine durch und durch revolutionäre Regierung hätte versuchen können, das zu schaffen, mit wenig Aussicht auf Erfolg; allein in Ungarn ist das damals gelungen.« Thomas Nipperdey – Deutsche Geschichte, a.a.O., S. 614
»In einer Revolution siegt, wer die Machtfrage zu seinen Gunsten beantwortet, und die Paulskirche war völlig machtlos.« Hagen Schulze – Die Geburt der Deutschen Nation, a.a.O., S. 270