Lisa Jackson
Shiver
Knaur e-books
Lisa Jackson arbeitete nach ihrem Studium zunächst einige Jahren im Banken- und Versicherungswesen, bevor sie das Schreiben für sich entdeckte. Mittlerweile zählt Jackson zu den amerikanischen Top-Autorinnen, deren Romane regelmäßig die Bestsellerlisten der »New York Times«, der »USA Today« und der »Publishers Weekly« erobern. Ihre Hochspannungsthriller wurden in 15 Länder verkauft. Lisa Jackson lebt in Oregon.
Mehr Informationen über Lisa Jackson und ihre Romane finden sich auf ihrer Website: www.lisajackson.com.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Shiver«
bei Kensington Publishing Corp., New York.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur-ebook.de
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co.KG, München
Copyright © 2006 by Susan Lisa Jackson
Published by Arrangement with Kensington Publishing Corp.,
New York, NY, USA
Copyright © 2007 für die deutschsprachige Ausgabe
by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf.
GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Gisela Klemt
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: FinePic, München
ISBN 978-3-426-55535-4
Wenn Ihnen dieses eBook gefallen hat, empfehlen wir Ihnen gerne weiteren spannenden Lesestoff aus dem Programm von Knaur eBook und neobooks.
Auf www.knaur-ebook.de finden Sie alle eBooks aus dem Programm der Verlagsgruppe Droemer Knaur.
Mit dem Knaur eBook Newsletter werden Sie regelmäßig über aktuelle Neuerscheinungen informiert.
Auf der Online-Plattform www.neobooks.com publizieren bisher unentdeckte Autoren ihre Werke als eBooks. Als Leser können Sie diese Titel überwiegend kostenlos herunterladen, lesen, rezensieren und zur Bewertung bei Droemer Knaur empfehlen.
Weitere Informationen rund um das Thema eBook erhalten Sie über unsere Facebook- und Twitter-Seiten:
http://www.facebook.com/knaurebook
http://twitter.com/knaurebook
http://www.facebook.com/neobooks
http://twitter.com/neobooks_com
Für Jack und Betty Pederson, unglaubliche Eltern, großartige Freunde, zwei Menschen, die daran glaubten, dass ich alles schaffe. Danke, Mom und Dad!
Zwanzig Jahre zuvor
Krankenhaus Our Lady of Virtues
In der Nähe von New Orleans in Louisiana
Sie spürte seinen Atem.
Warm.
Verführerisch.
Auf erotische Weise böse.
Eine Präsenz, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten, dass ihre Haut kribbelte, dass ihr auf dem Rücken der Schweiß austrat.
Ihr Herz pochte heftig. Kaum fähig, sich zu rühren, stand sie im Dunkeln, spähte verzweifelt in die finsteren Zimmerecken. Durchs offene Fenster hörte sie das Froschkonzert in den nahen Sümpfen und das Rumpeln eines Güterzugs auf weit entfernten Schienen.
Aber hier und jetzt war er bei ihr.
Geh weg, wollte sie sagen, hielt jedoch den Mund und hoffte wider besseres Wissen, dass er sie nicht am Fenster stehen sah. Auf der anderen Seite der Scheiben warfen Sicherheitsleuchten blasses, bläuliches Licht über das Grundstück, und zu spät bemerkte sie, dass ihr Körper, nur von einem durchsichtigen Nachthemd verhüllt, vom gespenstischen Schein der Leuchten umrissen wurde.
Natürlich konnte er sie sehen, sie in der Dunkelheit finden.
Er fand sie immer.
Ihr Mund war trocken. Sie trat einen Schritt zurück und stützte sich Halt suchend mit einer Hand am Fensterrahmen ab. Vielleicht hatte sie sich seine Anwesenheit nur eingebildet. Vielleicht hatte sie doch gar nicht gehört, dass sich die Tür öffnete. Vielleicht war sie zu hastig aus einem von Tabletten herbeigeführten Schlaf erwacht. Schließlich war es noch nicht spät, erst acht Uhr abends.
Vielleicht war sie in diesem Zimmer, in ihrem Zimmer in der zweiten Etage, in Sicherheit.
Vielleicht.
Sie tastete nach der Nachttischlampe. Dann vernahm sie das leise Scharren von Leder auf Holzdielen.
Der Schrei erstickte in ihrer Kehle.
Nachdem sich ihre Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten, betrachtete sie das Bett mit den zerwühlten Laken, dem Zeugnis ihres unruhigen Schlafs. Auf dem Frisiertisch standen eine Lampe und ein Doppelrahmen mit kleinen Porträtfotos ihrer beiden Töchter. Auf der anderen Seite des kleinen Zimmers befand sich ein Kamin. Sie konnte die dekorativen Kacheln und den Rost erkennen und über dem Sims eine leere, inzwischen verblichene Stelle, an der einst ein Spiegel gehangen hatte.
Wo also war er? Sie warf einen Blick in Richtung der hohen Fenster. Es war ein heißer, drückender Oktoberabend, und draußen war es schon fast dunkel. In den Scheiben sah sie ihr blasses Spiegelbild: zierlich und feingliedrig der Körperbau, traurige goldene Augen, hohe Wangenknochen, das üppige kastanienbraune Haar aus dem Gesicht gekämmt. Und hinter ihr … War da ein Schatten, der sich näher heranschlich?
Oder bildete sie es sich nur ein?
Das war das Problem. Manchmal bildete sie sich Dinge ein.
Doch er war tatsächlich immer in der Nähe. Immer. Sie konnte ihn spüren, seine leisen, zielstrebigen Schritte im Flur hören, seinen Geruch wahrnehmen – eine Mischung aus männlichem Moschus und Schweiß. Und wenn er vorüberging, konnte sie einen Blick auf seinen huschenden Schatten erhaschen.
Es war ihr nicht möglich, ihm zu entkommen. Niemals. Nicht einmal in der Tiefe der Nacht. Es bereitete ihm höchste Befriedigung, sie zu überraschen, sich anzuschleichen, wenn sie am Schreibtisch saß, sich von hinten über sie zu beugen, wenn sie vor ihrem Bett kniete. Er war jederzeit bereit, sein Gesicht an ihren Nacken zu schmiegen, von hinten an ihre Brust zu greifen, sie zu erregen, obwohl sie ihn verabscheute, sie fest an sich zu ziehen, so dass sie seine Erektion in ihrem Rücken spürte. Sie war nicht sicher vor ihm, wenn sie unter der Dusche stand, und auch nicht, wenn sie unter der Decke in ihrem schmalen Bett schlief.
Welche Ironie des Schicksals, dass man sie hier untergebracht hatte … zu ihrer eigenen Sicherheit.
»Geh weg«, flüsterte sie. Ihr Kopf dröhnte, sie vermochte keinen klaren Gedanken zu fassen. »Lass mich in Ruhe!«
Sie blinzelte, bemüht, deutlicher zu sehen.
Wo war er?
Nervös richtete sie den Blick auf das einzig mögliche Versteck, den Schrank. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Die Holztür stand einen Spaltbreit offen, nur ganz wenig, gerade genug, dass jemand von innen durch die Ritze spähen konnte.
Aus dem sichtbaren Streifen Dunkelheit im Schrank schien etwas zu schimmern. Eine Spiegelung. Augen?
O Gott.
Vielleicht war er dort drinnen. Und wartete.
Eine Gänsehaut überzog ihren ganzen Körper. Sie sollte jemanden rufen! Doch wenn sie das tat, wurde sie ruhig gestellt, sediert … oder noch etwas Schlimmeres. Hör auf, Faith. Überlass dich nicht diesem Verfolgungswahn! Doch die glitzernden Augen im Schrank beobachteten sie. Sie spürte den Blick. Sie schlang einen Arm um ihre Körpermitte, legte den anderen darüber und kratzte mit den Fingernägeln die Haut an ihren Ellbogen auf.
Kratz, kratz, kratz.
Aber vielleicht war alles nur ein böser Traum. Ein Albtraum. Hatten die Schwestern ihr das nicht in sanftem Flüsterton versichert, während sie zärtlich ihre Hände tätschelten und sie aus mitleidigen, ungläubigen Augen ansahen? Ein hässlicher Traum. Ja! Ein Albtraum von ungeahntem, tief gehendem Ausmaß. Selbst die Krankenschwester war einer Meinung mit den Nonnen gewesen und hatte beteuert, das, was sie glaubte, gesehen zu haben, sei nicht wirklich da gewesen. Und der Arzt, kalt, aseptisch, mit dem Mitgefühl eines steinernen Affen, hatte mit ihr geredet wie mit einem dummen kleinen Kind.
»Aber, aber, Faith, niemand verfolgt Sie«, hatte er gesagt und ein schmales, herablassendes Lächeln aufgesetzt. »Niemand beobachtet Sie. Das wissen Sie doch. Sie sind … Sie sind nur ein wenig durcheinander. Hier sind Sie in Sicherheit. Vergessen Sie nicht, hier sind Sie jetzt zuhause.«
Tränen brannten in ihren Augen, und sie kratzte noch heftiger. Ihre kurzen Fingernägel schabten über die Haut des Unterarms, stießen auf alte Verkrustungen. Zuhause? In diesem monströsen Gebäude? Sie schloss die Augen und hielt sich am Kopfende des Bettes fest.
War sie wirklich so krank, wie alle behaupteten? Sah sie tatsächlich Menschen, wo gar keine waren? Das hatten sie ihr vorgehalten, immer und immer wieder, bis zu dem Punkt, an dem sie selbst nicht mehr genau wusste, was real war und was nicht. Vielleicht handelte es sich um eine Verschwörung gegen sie, die sie glauben machen sollte, dass sie wirklich so verrückt war, wie sie sagten.
Sie hörte einen Schritt und hob hastig den Kopf.
Die feinen Härchen auf ihren Unterarmen richteten sich auf.
Sie begann zu zittern, als sie sah, wie sich die Tür noch etwas weiter öffnete.
»Himmel!« Bebend wich sie zurück, den Türspalt fest im Visier. Sie kratzte sich wie verrückt am Unterarm. Wie in Zeitlupe bewegte sich leise knarrend die Tür. »Geh weg!«, flüsterte sie. Ihr Magen krampfte sich zusammen, das Grauen fiel mit aller Macht über sie her.
Eine Waffe! Du brauchst eine Waffe!
Voller Angst blickte sie sich in dem halbdunklen Raum mit dem am Boden festgeschraubten Bett um.
Dein Brieföffner! Schnell!
Sie machte einen Schritt auf ihren Schreibtisch zu und erinnerte sich dann erst, dass Schwester Madeline ihr den Brieföffner weggenommen hatte.
Die Lampe auf dem Nachttisch!
Aber auch die war festgeschraubt.
Sie betätigte den Schalter.
Kein Licht.
Verzweifelt drückte sie den Schalter noch einmal. Immer wieder.
Klick! Klick! Klick! Klick!
Sie hob den Blick, und da sah sie ihn. Einen großen Mann, der sich bedrohlich vor der Tür zum Flur aufbaute. Es war zu dunkel, als dass sie seine Gesichtszüge hätte erkennen können, doch sie wusste, dass er sein boshaftes Lächeln aufgesetzt hatte und in seinen Augen ein niederträchtiges Begehren funkelte.
Er war Satan höchstpersönlich. Und vor ihm gab es kein Entrinnen. Niemals.
»Bitte nicht«, flehte sie. Ihre Stimme klang erbärmlich und schwach. Mit zitternden Knien wich sie zurück.
»Bitte nicht – was?«
Rühr mich nicht an … lass deine Finger von meinem Körper … sag mir nicht, dass ich schön bin … küss mich nicht …
»Geh«, verlangte sie eindringlich. Lieber Gott, gab es denn keine Waffe, nichts, was ihn aufhalten konnte?
»Und wenn ich nicht gehe?«
»Dann schreie ich und rufe die Wärter.«
»Die Wärter«, wiederholte er mit leiser, amüsierter, beinahe hypnotischer Stimme. »Hier?« Er schnalzte mit der Zunge, als wäre sie ein ungehorsames Kind. »Das hast du früher auch schon versucht.«
Sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass sie sich vergebens wehrte. Sie würde sich ihm wieder unterwerfen.
Wie immer.
»Haben die Wärter dir beim letzten Mal geglaubt?«
Natürlich nicht. Warum sollten sie? Die beiden mageren, pickligen Jungen hatten kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sie für verrückt hielten, obwohl sie sich wissenschaftlicher Bezeichnungen bedienten … Wahnvorstellungen … Paranoia … Schizophrenie …
Oder hatten sie überhaupt nichts gesagt? Vielleicht nicht. Vielleicht hatten sie sie nur aus ihren mitleidigen und doch hungrigen Augen angestarrt. Hatte einer von den beiden nicht gesagt, er fände sie sexy? Und der andere hatte ihre Gesäßbacken umfasst … oder … oder war das alles nur ein grauenhafter, lebensechter Albtraum gewesen?
Kratz, kratz, kratz. Sie spürte, wie ihre Nägel die Haut ritzten.
Sie fühlte sich maßlos gedemütigt. Schritt für Schritt wich sie zurück, fort von ihrem Peiniger. Was mit ihr geschah, war ihre eigene Schuld. Irgendwie hatte sie gesündigt, hatte dieses Grauen selbst heraufbeschworen. Sie war diejenige, die schlecht war. Sie hatte Gottes Zorn geweckt. Sie allein konnte es wiedergutmachen. »Geh weg«, flüsterte sie und kratzte ihren Arm immer wilder.
»Faith, lass es«, warnte er mit grausig beschwichtigender Stimme. »Du änderst nichts, indem du dich selbst verletzt. Ich bin hier, um dir zu helfen. Das weißt du doch.«
Um ihr zu helfen? Nein … nein, nein, nein!
Sie wäre am liebsten zu Boden gesunken, um ihre Schuld zu bekennen, sich vor dem Jucken zu retten.
Kämpfe!, befahl ihr eine innere Stimme. Lass dich von ihm nicht zu Dingen zwingen, die nicht recht sind, wie du wohl weißt! Du hast deinen eigenen Willen. Du kannst dir das von ihm einfach nicht antun lassen.
Aber es war schon zu spät.
Er war ihr jetzt ganz nahe, schnalzte wieder mit der Zunge, und sie sah, wie sie spitz und feucht über seine Zähne fuhr.
In heiserem Flüsterton sagte er: »O Faith, ich glaube, du warst wieder ein böses Mädchen.«
»Nein!« Sie wimmerte. Da war sie wieder … diese grauenhafte Erregung, die sich in ihr aufbaute.
»Faith, weißt du denn nicht, dass Lügen eine Sünde ist?«
Sie blickte auf die Wand, an der ein Kruzifix hing. Bewegte sich der Gekreuzigte? Sie blinzelte, bildete sich ein, Jesus sähe sie im Halbdunkel an, mit freundlichem, aber doch missbilligendem Blick.
Nein, Faith. Das kann nicht sein. Reiß dich um Himmels willen zusammen.
Es ist nur ein Schnitzwerk, mehr nicht.
Schwer atmend ließ sie den Blick von Jesu zerquältem Gesicht zum Kamin schweifen … kalt, frei von Asche und ohne den Spiegel, stattdessen ein leeres Rechteck, dessen Umriss sich noch von der Rosenmustertapete abhob. Sie sagten, sie habe den Spiegel in einem Wutanfall zerbrochen und sich mit den Scherben verletzt. Der Anblick ihres Spiegelbilds habe sie in Panik versetzt.
Aber in Wirklichkeit hatte er es getan, oder? Dieser Teufel, dessen einziges Ziel es war, sie zu quälen. Hatte sie die Tat nicht selbst bezeugt? Sie hatte versucht, sich ihm zu verweigern, und er hatte die Faust in den Spiegel gestoßen. Scherben stoben daraufhin in alle Richtungen, trafen sie und regneten dann wie glitzernde, tödliche Messer zu Boden.
So war es gewesen.
Nicht wahr?
Oder nicht? Sie spürte Blut unter den Nägeln und war sich nicht sicher.
Was geschieht mit mir?
Sie starrte auf ihre blutigen Hände. Ihre Fingernägel, vormals hübsch manikürt und lackiert, waren eingerissen, die Handflächen zerkratzt, und weiter oben, an den Handgelenken, verheilten tiefe Schnittwunden. Hatte sie selbst sich das angetan? Vor ihrem inneren Auge sah sie Spiegelscherben in ihren Händen und Blut von ihren Fingern tropfen …
Weil du ihn umbringen wolltest … versucht hast, dich zu verteidigen!
Sie schloss die Augen und stieß ein lang gezogenes, wimmerndes Klagen aus. Es stimmte. Oder etwa nicht? Sie wusste nicht mehr, was sie glauben sollte. Wahrheit und Lüge flossen ineinander, Tatsachen und Fiktion vermischten sich, ihr Leben, einstmals so gewöhnlich, so vorhersehbar, war zerrissen. In Fetzen. Von ihrer eigenen Hand.
Sie tastete sich rückwärts näher ans Fenster, fort von ihm, von der Versuchung, der Sünde.
Wo war ihr Mann … wo waren ihre Kinder, was war aus ihren Mädchen geworden?
Entsetzen fraß sich tief in ihre Seele. Verwirrt und von Panik erfüllt blinzelte sie ein paarmal und versuchte nachzudenken. Sie waren in Sicherheit. Sie mussten in Sicherheit sein.
Konzentrier dich, Faith. Reiß dich zusammen! Zoey und Abby sind bei Jacques. Sie kommen heute Abend zu Besuch, hast du das vergessen? Heute ist dein Geburtstag.
Oder stimmte das nicht? War alles gelogen? Lauter makabre Trugbilder ihrer Fantasie?
Sie trat noch einen Schritt zurück.
»Du bist ganz durcheinander, Faith, aber ich kann dir helfen«, sagte er ruhig, als wäre nie etwas zwischen ihnen vorgefallen, als wäre alles, was sie heraufbeschworen hatte, nur in ihrer Einbildung vorhanden, als hätte er sie nie angerührt.
Lieber Gott, wie verrückt war sie wirklich?
Sie wirbelte herum und ihr Zeh blieb an einer Teppichkante hängen. Sie taumelte nach vorn, sah wieder ihr Spiegelbild im Fensterglas und dieses Mal auch ihn, wie er vorwärts stürmte, und dann spürte sie seine Hände.
»Nein!«, schrie sie und stürzte.
Glas splitterte.
Stob auseinander, als ihre Schulter auf die Scheibe prallte.
Das Fenster brach, zerfiel in Scherben. Gab nach.
Mit lautem metallischen Ächzen befreite sich das schmiedeeiserne Gitter von den Riegeln.
Sie schrie und ruderte wild mit den Armen, versuchte, die Fensterbank, das filigrane Gitterwerk, das nur noch an einer Schraube hing, die Backsteinmauer, irgendetwas zu greifen. Doch es war zu spät. Ihr Körper flog durch die zerbrochene Scheibe, Glas- und Holzsplitter ritzten ihr in die Arme, zerrissen ihr Nachthemd, schlitzten ihre bloßen Beine auf.
Im Bruchteil einer Sekunde wusste sie, dass alles vorüber war. Sie würde keine Schmerzen mehr empfinden.
Faith Chastain schloss die Augen und stürzte in die schwarze Nacht von Louisiana.
Zwanzig Jahre später
Cambrai, Louisiana
Ich rufe nur an, um dir zum Geburtstag zu gratulieren. Herzlichen Glückwunsch!« Ihre Schwester sprach auf den Anrufbeantworter.
Abby stand mitten in ihrer kleinen Küche. Sie hörte zu, überlegte, ob sie den Hörer abheben sollte, entschied sich jedoch dagegen. Sie war einfach nicht in der richtigen Stimmung. Sie hatte Stunden des Tages in ihrem Studio in New Orleans verbracht und sich mit Gören herumgeschlagen, die ihre eigenen Vorstellungen davon hatten, wie ein Porträtfoto auszusehen hatte, das sie zu Weihnachten verschenken wollten. Was sie jetzt brauchte, war ein Glas Wein. Vielleicht auch zwei. Jedenfalls nicht die langatmigen Geburtstagswünsche ihrer Schwester.
»Also … ruf mich bitte an, wenn du nach Hause kommst. Hier an der Westküste ist es noch früh, weißt du. Ich, äh, ich würde gern mit dir reden, Abby. Der fünfunddreißigste Geburtstag ist schließlich ein bedeutender Meilenstein im Leben.«
In mancherlei Hinsicht, dachte Abby, griff in den Kühlschrank und holte eine Flasche Chardonnay hervor. Sie hatte sie vor fast einem Monat gekauft, als sie glaubte, ihre Freundin Alicia würde zu Besuch nach Louisiana kommen.
»Okay … also … wenn du meine Nachricht hörst, das heißt, ich gehe davon aus, dass du sie nicht in diesem Moment mithörst und dich immer noch weigerst, mit mir zu reden, also, dann ruf mich an, okay?« Zoey wartete einen Augenblick lang. »Es ist lange her, Abby. Es ist an der Zeit, das Kriegsbeil zu begraben.«
Abby war sich da nicht so sicher. Sie drehte den Wasserhahn auf. Als sie ein Weinglas ausspülte, ächzten die alten Leitungen. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte sich in ihrem Schrank viel Staub angesammelt.
»Weißt du, Abby, es geht nicht nur um dich«, erinnerte Zoey sie per Anrufbeantworter.
Natürlich nicht. Es geht um dich.
»Auch für mich ist es ein schwerer Tag. Sie war auch meine Mutter.«
Abby biss die Zähne zusammen, erwog, den Hörer abzuheben, und entschied sich auch dieses Mal wieder dagegen. Es wäre ein Fehler, heute mit Zoey zu reden. Das spürte sie in allen Knochen. Sie kramte in einer Schublade, fand einen Korkenzieher, der schon seit ihren College-Tagen in ihrem Besitz war, und machte sich daran, die Flasche zu öffnen.
»Hör zu, Abby, ich hoffe wirklich von ganzem Herzen, dass du nicht allein zuhause bist und dir das hier anhörst … Du solltest ausgehen und feiern.«
Das habe ich auch vor.
Es klickte. Zoey hatte aufgelegt. Abby atmete langsam aus und lehnte sich an den Küchentresen. Sie hätte sich melden, das ganze Geburtstagsgefasel, die geheuchelte Munterkeit, dieses Glückliche-Familie-Getue über sich ergehen lassen sollen, aber sie konnte es nicht. Nicht heute. Denn damit hätte sich Zoey nicht zufrieden gegeben. Es wäre unweigerlich zu einem Gespräch über ihre Mutter und das, was vor zwanzig Jahren passiert war, gekommen, und dann hätte sich die peinliche und unangenehme Frage nach Luke aufgedrängt.
Der Korken ploppte.
Es fiel ihr verdammt schwer, ihrer Schwester zu verzeihen, dass sie mit ihrem, Abbys, Mann geschlafen hatte. Ja, das alles lag weit zurück, war noch vor der Hochzeit geschehen, aber er war da, der Keil, der fünf Jahre zuvor, als Abby von der Affäre erfuhr, zwischen die Schwestern getrieben worden war.
Aber Zoey ist zuerst mit ihm gegangen, nicht wahr?
Na und? Abby schenkte sich Wein ein, sah zu, wie die gekühlte gelbliche Flüssigkeit in das Glas floss. Ihr Gewissen regte sich ein wenig bei dem Gedanken, obwohl sich Luke Gierman letztendlich nicht gerade als mustergültig erwiesen hatte, als Freund nicht und als Ehemann noch viel weniger. Absolut nicht.
Und wenn sich Abby auch von ihm hatte scheiden lassen, blieb Zoey doch ihre Schwester. Das ließ sich nicht ändern. Vielleicht sollte ich das Vergangene tatsächlich vergessen, dachte Abby und blickte aus dem einen Spaltbreit geöffneten Fenster, durch das eine leichte, würzig nach Erde und Wasser duftende Brise ins Zimmer wehte.
Die Dämmerung senkte sich allmählich auf Louisiana herab, die Grillen und Zikaden zirpten, die Sterne begannen am lavendelfarbenen Himmel zu blinken. Es war schön hier, wenn auch ein bisschen einsam. Luke und sie hatten geplant anzubauen, eine typische amerikanische Familie zu werden, mit zwei Komma drei Kindern, einem weißen Staketenzaun und einem Minivan.
So viel zu ihren Träumen.
In der Hoffnung auf ein bisschen Kühlung öffnete sie das Fenster noch weiter.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag …
Der Wind schien in den Ästen der immergrünen Eichen eine scheußliche Beerdigungsmelodie zu singen, so dass sich das Spanische Moos in der allmählich einsetzenden Dämmerung über den Wäldern bewegte. In der Ferne hörte Abby das Rumpeln eines Güterzugs. In der Nähe, auf dem Grundstück eines Nachbarn an dieser kurvenreichen Straße, hörte sie einen Hund bellen, und zwischen den Bäumen ging geisterhaft der Mond auf.
Ihre 35-Millimeter-Kamera lag auf dem Tresen bei der Hintertür, und die Abenddämmerung war so still und friedlich, so geheimnisvoll, dass sie auf den Gedanken kam, vielleicht noch ein paar Aufnahmen zu machen, bis der Film verbraucht war. Er befand sich schon sehr lange in diesem Apparat, da sie inzwischen viel öfter ihre Digitalkamera benutzte. Abby ließ den Wein auf dem Tresen stehen, stellte Kamera und Blitz ein und trat durch die Glastüren ihres Esszimmers nach draußen. Dort bezog sie Stellung am Rande des Plattenwegs. Ansel, ihr Kater, folgte Abby nach draußen und hüpfte auf eine Bank unter einem Magnolienbaum. Abby blickte durch den Sucher. Ihr Motiv war der Kater vor dem dunkler werdenden Wald. Ansel sah mit gespitzten Ohren zu den Bäumen in die entgegengesetzte Richtung des Hauses, und sein Fell wurde von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne vergoldet. »Hey, Freundchen«, sagte Abby, und der Kater blickte über die Schulter zurück. Abby verknipste die letzten Fotos des Films, und das Blitzlicht spiegelte sich in Ansels goldenen Augen. Es ist doch schön, ein paar Fotos von diesem Tag zu haben, von meinem fünfunddreißigsten Geburtstag, sagte sich Abby und ging zurück zum Haus.
Knack!
Im nahen Unterholz hatte sich etwas bewegt.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sie fuhr herum und rechnete beinahe damit, jemanden in den Schatten lauern zu sehen. Ihr Blick wanderte angestrengt durch die beginnende Dunkelheit. Sie spürte eine Gänsehaut, ihr Herzschlag hämmerte in ihren Ohren.
Doch keine menschliche Gestalt tauchte urplötzlich auf, kein finsteres Wesen trat in das Licht, das durch die Fenster fiel.
Lass das, dachte sie und atmete zitternd tief durch. Hör einfach … auf damit. Sie war schon den ganzen Tag über in schlechter Stimmung. Nervös und gereizt. Nicht, weil sie Geburtstag hatte. Wen störte es schon, dass wieder einmal ein Jahr vergangen war? Mit fünfunddreißig war man schließlich noch nicht uralt. Aber der Umstand, dass dieser Tag auch der zwanzigste Todestag ihrer Mutter war, der ging ihr schon nahe.
Immer noch nervös trat sie ins Haus und rief durch die offene Tür nach dem Kater.
Ansel beachtete sie nicht. Er blieb reglos und wachsam sitzen, den Blick auf die dunklen Schatten gerichtet, aus denen vermutlich irgendein Nachtgeschöpf zurückstarrte. Dasselbe Geschöpf, das auf einen Zweig getreten war. Ein großes Geschöpf. »Komm jetzt, Ansel. Machen wir Feierabend«, drängte sie.
Der Kater fauchte.
Plötzlich sträubte sich sein gestreiftes Fell. Er legte die Ohren an, die Augen wurden rund. Wie ein geölter Blitz schoss er plötzlich über die Veranda und um die Ecke in Richtung Atelier. Ausgeschlossen, dass Abby ihn einfangen konnte.
»Du alter Feigling«, neckte sie ihn, doch als sie die Tür hinter sich verriegelte, konnte sie ihre eigene Unruhe nicht recht abschütteln. Zwar hatte sie noch nie jemanden auf dem Grundstück hinter ihrem Haus gesehen, doch einmal war immer das erste Mal. Sie ließ die Kamera auf dem Tisch im Esszimmer liegen und ging zurück in die Küche, wo das blinkende rote Lämpchen des Anrufbeantworters sie wieder an Zoey erinnerte.
Abby und ihre Schwester hatten einander nie sehr nahegestanden, nicht, solange sie denken konnte.
Zum Teufel mit dir, Zoey Susanna, dachte sie, griff nach ihrem Glas und trank einen tiefen Zug. Warum konnte Abby ihrer Schwester nicht innig verbunden sein, dieses Gefühl verspüren, in ihr eine beste Freundin zu haben, das Gefühl, von dem alle, die es kannten, in den höchsten Tönen schwärmten? Lag es womöglich daran, dass der Altersunterschied zwischen Abby und Zoey so gering war, nur knapp vierzehn Monate? Oder lag es daran, dass Zoey so verdammt ehrgeizig war? Oder an ihrer kompromisslosen Art, alles zu tun, um als Siegerin dazustehen? Vielleicht aber, vielleicht war ihre Feindseligkeit genauso gut Abbys Schuld wie Zoeys.
»Blasphemie«, flüsterte sie und ließ sich den kalten Wein durch die Kehle rinnen, was jedoch keine Abkühlung brachte.
Es war heiß. Schwül. Die Ventilatoren in dem knapp hundert Jahre alten Haus konnten gegen die Hitze, die in diesem Teil des Bayou brütete, nichts ausrichten. Mit dem Zipfel eines Geschirrtuchs tupfte sich Abby den Schweiß von der Stirn.
Hätte sie auf den Anruf reagieren sollen?
Nein. Dazu war sie nicht bereit. Nicht heute. Wahrscheinlich nie.
It was twenty years ago today …
Der Text eines alten Beatles-Songs, eines Lieblingslieds ihrer Mutter, schoss Abby durch den Kopf. »Hör auf«, ermahnte sie sich. Sinnlos, die Vergangenheit aufleben zu lassen, wie sie es seit zwei Jahrzehnten zu tun pflegte. Es war an der Zeit, nach vorn zu schauen. An diesem Abend, das schwor sie sich, würde sie neu beginnen. Das war der Neuanfang von Abby Chastain, Phase II. Sie würde versuchen zu vergessen, dass genau an diesem Tag vor zwanzig Jahren, als ihre Mutter fünfunddreißig wurde – genauso alt wie Abby heute –, Faith Chastain ihrem qualvollen Leben ein Ende gesetzt hatte. Grauenhaft. Tragisch.
»O Gott, Mom«, sagte Abby und schloss die Augen. Die Erinnerung, die zu unterdrücken sie sich so sehr bemüht hatte, drängte wie in Zeitlupe an die Oberfläche. Sie sah die Limousine ihres Vaters durch das offene schmiedeeiserne Tor fahren. Vorbei an gepflegten Rasenflächen in Richtung des hohen roten Backsteingebäudes, vor dem die Zufahrt einen Brunnen umrundete – einen Brunnen, aus dem drei Engel Wasser zum sternenklaren Himmel hinaufsprühten. Abby, die sich zu dieser Zeit bereits sehr für Jungen interessierte und überlegte, wie sie es anstellen sollte, Trey Hilliard zum Sadie-Hawkins-Tanz am Freitag einzuladen, stieg aus dem Wagen. Sie trug eine mit einer leuchtend fuchsiaroten Schleife verzierte Schachtel und blickte hinauf zum zweiten Stock, zu den Zimmerfenstern ihrer Mutter.
Kein warmer Lichtschein fiel durch die Scheiben.
Das Zimmer war dunkel.
Und dann überkam Abby ein seltsames Gefühl, das wie ein kalter Hauch ihren Nacken streifte und beinahe ihr Herz stocken ließ. Hier war etwas faul. Oberfaul. »Mama?«, flüsterte sie, bediente sich unwillkürlich des Kosenamens für ihre Mutter, den sie seit einem Jahrzehnt nicht mehr ausgesprochen hatte.
Sie ging gerade die breiten Stufen zum Eingang der Anstalt für psychisch Kranke hinauf, als sie das Klirren hörte.
Ruckartig hob sie den Kopf.
Es regnete Glasscherben. Winzige Teilchen, in denen sich das bläuliche Licht spiegelte.
Ein hässliches Kreischen zerriss die Dunkelheit. Ein Körper fiel vom Himmel. Unter dem Geräusch von brechenden Knochen landete er auf dem Beton.
Angst überfiel Abby.
»Nein! Nein! Neiiiin!« Sie ließ die Schachtel fallen und hastete die Stufen hinunter zu der kleinen, geschundenen Gestalt, die auf dem Rücken auf dem Boden lag. Blut quoll dunkel unter ihrem Kopf hervor, bildete eine Lache. Große whiskeyfarbene Augen starrten blicklos in den Himmel.
Abby warf sich über die Tote.
»Abby!«
Wie vom Ende eines langen Tunnels her hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Die angespannte, verzweifelte Stimme ihres Vaters. »Abby, nicht! O Gott. Hilfe! Jemand muss Hilfe holen! Faith!«
Tränen waren aus Abbys Augen gequollen, und das Grauen hatte sie bis in die tiefste Seele getroffen. »Mama! Mama!«, hatte sie geschluchzt, bis kräftige Hände und Arme sie trotz ihrer heftigen Gegenwehr wegzerrten.
Abby blinzelte und gab sich einen innerlichen Ruck. »Herrgott«, flüsterte sie und schüttelte die grausige Vision ab, die sie seit zwanzig Jahren heimsuchte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass der Wasserhahn über der Spüle tropfte. Statt ihn zuzudrehen, öffnete sie ihn weiter, so dass das Wasser aus dem Hahn schoss. Rasch hielt sie die Hände unter den Strahl und spritzte sich Wasser ins Gesicht, kühlte die Wangen, verdrängte die entsetzliche Erinnerung und wünschte sich, den Horror jener Nacht für immer abwaschen zu können.
Mit zitternden Händen nahm sie ein Geschirrtuch vom Küchentresen und wischte sich das Gesicht ab. Was war los mit ihr? Hatte sie sich nicht eben noch vorgenommen, diesen schmerzhaften Weg in die Vergangenheit nie mehr zu gehen? »Blöde Kuh«, knurrte sie, legte das Geschirrtuch zusammen, bemerkte das halbvolle Weinglas auf dem Tresen und spürte, dass irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung war.
»Reiß dich zusammen«, flüsterte sie in das leere Zimmer hinein und hob das Stielglas, als stünde ihr jemand gegenüber. Sie trank einen Schluck von dem herben Chardonnay. »Auf uns.« Ihre Mutter hatte immer gesagt, sie, Abby, sei etwas Besonderes, und die Tatsache, dass sie am Geburtstag ihrer Mutter zur Welt gekommen war, würde sie besonders eng miteinander verbinden, sie seien zwei vom gleichen Schlag.
Nun ja … nicht ganz.
Ganz und gar nicht.
Absolut nicht.
»Und jetzt … geh bitte«, flüsterte sie. »Lass mich in Ruhe.«
Sie leerte ihr Glas, verkorkte die Flasche und stellte sie ins Flaschenregal in der Kühlschranktür. Sie hatte keine Zeit mehr für Albträume, die den Verstand lähmten, für eine Vergangenheit, die sie manchmal nahezu vernichtete. An diesem Abend sollte das alles vorbei sein.
Entschlossen, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken, stellte sie das Glas viel zu hastig auf den Tresen. Es knackte, der Stiel zerbrach, sie schnitt sich in die Daumenkuppe. »Toll«, knurrte sie, als Blut hervorquoll. Das fehlte ihr gerade noch. Sie öffnete eine Schranktür und griff nach einem Päckchen Pflasterstreifen. Blut tropfte auf die Arbeitsfläche. Sie öffnete das kleine Päckchen und musste feststellen, dass es nur noch zwei Pflasterstreifen in Übergröße enthielt. Umständlich löste sie einen Streifen aus der sterilen Verpackung und wickelte ihn zwei Mal um ihren Daumen.
Sie wischte den Tresen ab und warf das zerbrochene Glas in den Mülleimer, dann ging sie durch einen Vorraum in die Garage und machte Licht. Dort lehnte an einem Holzstapel ein Schild mit der Aufschrift Vom Eigentümer zu verkaufen. Abby hob es auf und trug es zum Ende der langen Zufahrt. Sie hängte das blauweiße Schild an die Haken des Pfostens, den sie am Spätnachmittag dort aufgestellt hatte.
»Perfekt«, sagte sie zu sich selbst, wenngleich der bevorstehende Verkauf des Hauses sie mit leiser Wehmut erfüllte. Hier war der Ort gewesen, an dem sie schon einmal einen Neuanfang unternommen hatte, ein Hafen, den sie als idealen Rückzugsort zur Rettung einer gescheiterten Ehe ausgewählt hatte, ein stilles Refugium, in dem sie viele Hoffnungen, viele Träume genährt hatte. Sie hatte sich selbst die Daumen gedrückt, als sie und Luke dieses Haus kauften. Sie hatte darum gebetet, dass sie hier ihr Glück finden würden.
Wie dumm sie gewesen war! Abby betrachtete das Haus – ein kuscheliges, kleines, etwa hundert Jahre altes Fachwerkhaus mit Ziegeldach. Es lag weit abseits der Landstraße. Die ursprüngliche Bausubstanz war erneuert, es war vergrößert und nachgebessert worden, so dass das Haupthaus jetzt aus zwei kleinen Schlafzimmern, einem Bad und einem Dachgeschoss bestand, das sie zu ihrem Arbeitszimmer ausgebaut hatte. Das Nebengebäude war vormals als Einliegerwohnung gedacht gewesen, und Abby hatte sich dort ihr Atelier, die Dunkelkammer und ein zweites Bad eingerichtet.
Vor fünf Jahren hatten sie und Luke diese Immobilie entdeckt und für »ideal« erklärt. Mehrere Jahre hatten sie dort verbracht, bis alles auseinanderbrach. Irgendwann war er ausgezogen zu anderen Frauen … nein, Moment mal. Es war umgekehrt. Zuerst kamen die Frauen. Angefangen mit Zoey. Noch vor der Hochzeit.
Nicht, dass es jetzt noch wichtig war.
Luke Walter Gierman, vormals ein geachteter Nachrichtensprecher und Discjockey im Radio, wurde zu New Orleans’ Version des Skandalmoderators Howard Stern und zu einem Kapitel in Abbys Leben, das inzwischen endgültig und unwiderruflich abgeschlossen war. Über ein Jahr war vergangen, seit die Scheidungspapiere unterzeichnet worden waren und der Richter die Ehe offiziell für aufgelöst erklärt hatte.
Abby hob den Hammer vom Boden auf und trat einen Schritt zurück, um das Schild zu betrachten und sich zu vergewissern, dass es gerade hing. Noch einmal las sie die Worte und die Telefonnummer, die anzeigten, dass dieses Haus zum Verkauf stand.
Sie war fest entschlossen gewesen, ihrem Leben eine Richtung zu geben, hatte sich an die Ratschläge von Experten gehalten, obwohl sie im Grunde glaubte, dass ein Großteil dieser Ratschläge sinnlos war. Sie hatte ihrer Ehe noch eine Chance geben wollen, doch das war fehlgeschlagen. Sie hatten sich getrennt, und Abby hatte das Haus behalten. Sämtliche Freunde hatten sie davor gewarnt, die Feste, die Jahrestage und die Wehmut allein zu durchleiden, doch diese Meilensteine hatte sie hinter sich gelassen, und es war gar nicht schlimm gewesen. Sie hatte alles ganz gut überstanden. Wahrscheinlich, weil sie Luke im Grunde nicht erneut ihr ganzes Herz geschenkt hatte. Und es hatte sie auch nicht sonderlich überrascht, dass sich sein alter Hang zu anderen Frauen erneut Bahn brach.
Luke würde wohl in alle Ewigkeit an seiner krankhaften Untreue leiden.
Knack!
Im Gestrüpp brach ein Zweig. Schon wieder! Abby spähte angestrengt in die Büsche, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und rechnete damit, eine Beutelratte oder einen Waschbären oder auch ein Stinktier in den schwachen Lichtschein vor der Garage huschen zu sehen.
Doch nichts geschah. Jetzt fiel ihr auf, dass die Grillen zu zirpen aufgehört hatten und die Ochsenfrösche nicht mehr quakten. Abbys Puls beschleunigte sich.
Plötzlich fühlte sie sich an diesem abgelegenen Teil der Straße sehr angreifbar.
Sie spähte in die Dunkelheit und spürte, dass unsichtbare Augen sie musterten, sie beobachteten. Ein Frösteln kroch ihr über den Rücken. Sie schalt sich wegen ihrer überreizten Nerven. Sie hatte Geburtstag, sie war allein, und die Gedanken an ihre Mutter hatten sie schwer mitgenommen.
Beruhige dich, ermahnte sie sich. Geh zurück ins Haus. Jetzt ist es dunkel, und das Schild hängt endlich.
Aus den Augenwinkeln sah sie in den Büschen eine Bewegung, hörte das Rascheln von trockenem Laub. Sie erstarrte. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.
Im nächsten Moment glitt ein dunkler Schatten aus dem Gestrüpp.
Und dann huschte Ansel aus seinem Versteck unter den Zweigen von Lederholz und Kreuzdorn hervor. Zu ihren Füßen drehte er sich um, starrte in das Gebüsch und fauchte laut.
Abby erschrak und zuckte zusammen. »Um Himmels willen«, flüsterte sie und legte die Hand auf ihr rasendes Herz. »Hör auf damit! Willst du, dass ich einen Herzinfarkt kriege? Das ist dir fast gelungen!« Sie beugte sich hinab und versuchte, den Kater hochzuheben. »Schätze, du bist auch nervös. Wie wär’s mit etwas zu trinken? Für mich Wein, für dich frisches H2O.«
Doch bevor sie ihn packen konnte, schoss Ansel die lange Zufahrt hinauf und in die Garage hinein. Etwa eine Viertelmeile entfernt machte der Hund eines Nachbarn einen Spektakel, der Tote hätte wecken können.
Angst nagte an Abbys Seele. Ihre Finger spannten sich um den Stiel des Hammers, und, so albern es war, sie hatte abermals das Gefühl, dass jemand sie beobachtete. Dreh jetzt nicht durch. Du bist nicht wie deine Mutter … du bist nicht verrückt. Gut, der Rottweiler der Pomeroys bellte. Na und?
Sie schüttelte ihre Unruhe ab und begab sich zielstrebig zurück zum Haus. Das erste Herbstlaub raschelte unter ihren Schritten. In der Garage drückte sie den Türschließer und ging dann durch den Vorraum in die Küche, wo Ansel mit nervös zuckender Schwanzspitze auf der Fensterbank über der Spüle saß und gebannt nach draußen blickte.
»Was ist los, Freundchen?«, fragte sie.
Der Kater rührte sich nicht.
»Du weißt genau, dass gewisse Plätze in der Küche für dich verboten sind.«
Keine Reaktion.
Abby trat an die Spüle und sah aus dem Fenster hinaus in die Nacht. Hoch aufragende schwarze Bäume umringten ihre kleine Terrasse und den Garten. Das Fenster war leicht gekippt, so dass die Nachtgeräusche und der Wind in die Küche dringen konnten.
Wieder bellte der Hund. Im selben Moment knarrte irgendwo im Haus altes Holz. Gereizt scheuchte Abby den Kater von der Fensterbank, schloss das Fenster und verriegelte es. Sie ließ sich zwar nicht leicht ins Bockshorn jagen, doch hin und wieder, wenn die Einsamkeit des Alleinlebens sie überkam, wurde sie recht nervös.
Aber das sollte sich jetzt ändern.
Wenn sie Alicias Einladung nach San Francisco annahm, würden sie wieder Zimmergenossen sein, genauso wie im College – abgesehen von der Tatsache, dass sie inzwischen beide geschieden waren und Alicia ein fünfjähriges Kind hatte, das in den Kindergarten ging.
»Verlockend, oder?«, fragte Abby den Kater, der sich, von seinem Plätzchen auf der Fensterbank verscheucht, unter dem Tisch versteckt hatte. »Zieh dich nur in den Schmollwinkel zurück! Als hättest du mir nicht schon genug angetan.«
Das Telefon klingelte. Immer noch von Schuldgefühlen geplagt, weil sie den Anruf ihrer Schwester nicht angenommen hatte, hob sie den Hörer ab, ohne die Nummer des Anrufers zu prüfen.
»Hallo«, meldete sie sich und ging mit dem schnurlosen Gerät ins Wohnzimmer.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Als sie Lukes Stimme hörte, blieb sie wie vom Donner gerührt stehen. »Danke.«
»Du wunderst dich wohl über meinen Anruf.«
Das war die Untertreibung des Jahres. »Ich bin sprachlos. Du bist der Letzte, mit dessen Anruf ich gerechnet hätte.«
»Abby«, sagte er und dehnte ihren Namen so lang, dass er sich wie eine Liebkosung anhörte. »Sieh mal, ich weiß, heute ist ein schwerer Tag für dich, wegen deiner Mom.«
Das kaufte sie ihm nicht ab. Dafür kannte sie ihn zu lange. »Du rufst an, um mich zu trösten?«
»Ja.«
»Mir geht’s gut.« Sie sagte es im Brustton der Überzeugung.
»Oh. Das ist schön«, sagte er verwundert, als erwartete er bei ihr immer noch das totale Gefühlschaos und den drohenden Zusammenbruch. »Wirklich schön.«
»Danke. Bye.«
»Moment! Leg nicht auf.«
Sie hörte das Drängende in seiner Stimme und stellte sich vor, wie er die freie Hand vorstreckte, als wollte er sie körperlich daran hindern, den Hörer auf die Gabel zu legen. Diese Geste war typisch für ihn, wenn er etwas durchsetzen wollte und glaubte, sie würde ihm nicht zuhören.
»Was ist denn, Luke?« Sie stand jetzt im Wohnzimmer, in dem Raum, wo sie mit ihm ferngesehen, Popcorn gegessen und über aktuelle Ereignisse geredet hatte.
Oder gestritten. Sie hatten sich weiß Gott oft angeschrien.
»Sag mal, hast du eigentlich meinen ganzen Kram aufbewahrt?«, fragte er schließlich.
»Welchen Kram?«
»Ach, du weißt schon«, sagte er beiläufig, als wäre ihm das Ganze gerade erst eingefallen. »Meine Angelruten und den Angelkasten. Die alten Golfschläger. Die Taucherausrüstung.«
»Nein.«
»Was?«
»Alles weg.«
Abby warf einen Blick auf den Bücherschrank, in dem zusammen mit den Fotoalben auch ihre Hochzeitsbilder lagen.
Eine kurze Pause entstand, und sie wusste, dass sie ihm den Wind aus den Segeln genommen hatte.
»Wieso weg?«, fragte er, und sie stellte sich vor, wie er die blauen Augen zusammenkniff. »Du hast doch wohl nicht meine Sachen weggeworfen?« Seine Stimme klang plötzlich kalt. Misstrauisch. Vorwurfsvoll.
»Natürlich habe ich sie weggegeben«, antwortete sie ohne eine Spur von Schuldbewusstsein. »Ich habe dir ein halbes Jahr Zeit gelassen, deinen Kram abzuholen, Luke. Und das war schon länger, als ich vorgesehen hatte. Sehr viel länger. Als du nicht aufgetaucht bist, habe ich die Heilsarmee angerufen. Sie haben alles mitgenommen, einschließlich deiner restlichen Kleidung und all dem Zeug, das noch in der Garage und auf dem Dachboden und in den Schränken herumlag.«
»Herrgott, Abby! Einiges davon war echt wertvoll! ›Zeug‹ war das nun wirklich nicht.«
»Dann hättest du es abholen sollen.«
Wieder entstand eine Pause, nur einen Herzschlag lang, und Abby wappnete sich für das Kommende.
»Moment mal. Du hast aber nicht meine Skier weggegeben. Das würdest du nicht tun. Die Rossignols sind noch auf dem Dachboden, nicht wahr?«
Sie vernahm die Fassungslosigkeit in seiner Stimme. Langsam ging sie zurück in die Küche, öffnete den Kühlschrank und holte die Weinflasche wieder hervor.
»Herrgott, Abby, diese Sachen haben mich ein Heidengeld gekostet! Ich fasse es nicht, dass du … Gott im Himmel, bitte sag, dass mein Brett noch in der Garage steht. Das Surfboard.«
»Ich glaube nicht«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Ich bin ziemlich sicher, dass es auch weg ist.«
»Das habe ich auf Hawaii gekauft! Und das Kanu?«
»Hm, ich glaube, Our Lady of Virtues hat es bekommen, für eine Tombola.«
»Our Lady of Virtues? Das Krankenhaus, in dem deine Mutter …«
»Es war für die Kirche«, fiel sie ihm ins Wort. »Das Krankenhaus existiert schon seit Jahren nicht mehr.«
»Du bist ja völlig durchgedreht, Abby«, schimpfte er. »Du bist genauso verrückt wie sie!«
Abbys Magen krampfte sich zusammen, aber sie wartete ab. Reagierte nicht. Weigerte sich, den Köder zu schlucken. Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, zog sie den Korken aus der Flasche und spürte, wie der verletzte Daumen pochte. Sie war nicht verrückt. Ausgeschlossen. Das einzige Mal, dass sie sich einer Geisteskrankheit nahe wähnte, war, als sie Lukes Heiratsantrag annahm. Dieses Jawort war ein einschlägiger Beweis dafür, dass ihr Verstand ausgesetzt hatte. Abgesehen davon aber war sie, klopf auf Holz, geistig gesund. Nicht wahr? Trotz dieses schleichenden Verfolgungswahns, der sie von Zeit zu Zeit befiel.
»Das ist ein Albtraum! Ein verdammter Albtraum! Vermutlich hast du dann auch die 38er von meinem Vater entsorgt?« Als sie nicht antwortete, wurde er deutlicher: »Du weißt schon, Abby, die Pistole?«
»Ich weiß, wovon du redest.« Sie holte sich kein neues Weinglas, sondern begnügte sich mit ihrem Lieblingskaffeebecher aus dem obersten Regalfach, dem mit dem Sprung.
»Die Pistole hat meinem Vater gehört! Jahrelang – jahrelang war sie in seinem Besitz. Er war Cop, verdammt noch mal, und … und diese Waffe hat einen besonderen Wert für mich. Die kannst du doch nicht weggegeben haben!«
»Hm.« Sie schenkte sich Wein ein, ohne darauf zu achten, dass sie ein wenig auf den Tresen verschüttete. »Man fragt sich, was die Heilsarmee damit anfangen will.«
»Die Heilsarmee nimmt keine Feuerwaffen.«
»Ach nein?« Sie trank einen großen Schluck Wein. »Dann waren es vielleicht die Nonnen von Our Lady. Ich kann mich nicht genau entsinnen.«
»Du weißt es nicht einmal?« Luke war außer sich. »Du hast meine Pistole weggegeben und weißt nicht mal, wer sie jetzt hat! Heiliger Strohsack, Abby, diese Pistole ist auf mich zugelassen! Wenn sie mal Tatwaffe bei einem Verbrechen sein sollte …«
»Na ja, ich bin mir nicht absolut sicher, also berufe dich bitte nicht auf mich, aber ich glaube nicht, dass die Schwester Oberin nebenbei Anführerin eines Schmugglerrings ist.«
»Das ist nicht witzig!«
»Doch, Luke. Es ist zum Totlachen.«
»Ich rede von meinem Eigentum. Von meinem!« Sie stellte sich vor, wie er mit einem Finger wild auf seine Brust klopfte. »Du hattest kein Recht, das alles wegzugeben!«
»Dann verklag mich doch, Luke.«
»Das werde ich tun«, antwortete er hitzig.
»Hör mal, ich bin nicht dein Lagerdienst, okay? Ich besitze keinen Lagerraum für deine Sachen. Wenn sie so wertvoll waren, hättest du sie gleich mitnehmen sollen, als wir uns getrennt haben, oder vielleicht zumindest in den darauf folgenden sechs oder sieben Monaten.«
»Ich glaub es nicht!«
»Dann lass es, Luke.«
»Meine Sachen zu entsorgen ist niederträchtig, Abby. Du wirst noch von mir hören. Ich glaube, das nächste Thema in meiner Sendung werden rachsüchtige Exfrauen sein – samt Ratschlägen, wie man mit denen umgeht.«
»Mach, was du willst. Ich werde die Sendung nicht anhören und auch nicht anrufen.« Mit zusammengebissenen Zähnen legte Abby den Hörer auf. Sie hätte sich selbst treten mögen, weil sie nicht auf die Anrufernummer geachtet hatte, bevor sie sich meldete. »Nie wieder«, schwor sie sich, nahm noch einen Schluck von ihrem Chardonnay und wünschte sich, der Wein würde schneller Wirkung zeigen und die Wut, die in ihr kochte, betäuben. Sie hatte eigentlich erwartet, eine gewisse Befriedigung zu empfinden, wenn er endlich erfuhr, dass sie seine Sachen weggegeben hatte. Doch sie fühlte sich leer. Wie ausgehöhlt.
Wie konnten zwei Menschen, die einander einmal geschworen hatten, sich zu lieben, so weit kommen? »Nimm es dir nicht zu Herzen«, ermahnte sie sich und ging ins Wohnzimmer, wo sie trotz der Hitze nach dem Grillanzünder griff und im Kamin Feuer machte.
Sofort schlugen Flammen hoch und knisterten, fraßen das Zeitungspapier, das sie früher am Tag schon auf den Rost gelegt hatte. Im Kamin lag immer Holz bereit, für den Fall eines plötzlichen Stromausfalls, doch an diesem Abend war es etwas anderes. Schon lange vor Lukes unerwartetem Anruf hatte Abby ein ganz bestimmtes Ritual geplant. Zwar war es draußen drückend heiß, aber sie hatte einigen Ballast, der verbrannt werden musste.
Aus dem Regal neben dem gemauerten Kamin zog sie ihr Hochzeitsalbum. Auf den Rat ihrer Freundin Alicia hin hatte sie die fotografische Dokumentation ihres großen Tags nach der Scheidung ein Jahr lang aufbewahrt, doch jetzt war es an der Zeit, die endgültige Tat zu vollbringen. Lukes Anruf hatte sie nur noch in ihren Plänen bestärkt.
Sie schlug das in Leder gebundene Album auf, und ihr Herz wurde schwer, als sie das erste Bild betrachtete.
Da war es, das frisch vermählte Paar, für alle Ewigkeit unter glattem Plastik festgehalten. Die Braut und der Bräutigam. Luke, sportlich, gut aussehend, mit blitzenden blauen Augen, einem beinahe strahlenden Lächeln, einen Arm um Abby gelegt, die fast dreißig Zentimeter kleiner war als er. Ungebändigtes rotblondes Haar rahmte ihr kleines herzförmiges Gesicht ein. Ihr Lächeln war echt, in ihren Augen spiegelten sich die Hoffnungen für ihre Zukunft.
»Erbarmen«, flüsterte Abby, riss das Foto unter dem Plastik hervor und warf es ins Feuer. Langsam schlürfte sie den Wein aus ihrem Becher. Ihr Daumen schmerzte, pochte im Gleichklang mit ihrem Herzen. Sie sah zu, wie das Foto an den Rändern braun wurde, sich wellte und dann in Flammen aufging. Das lächelnde, glückliche Paar war bald vom Feuer verzehrt, löste sich buchstäblich in Rauch auf. »Bis dass der Tod euch scheidet«, höhnte Abby. »O ja.«
Sie senkte den Blick wieder auf das Album. Das nächste Foto zeigte die Familie. Ein Gruppenbild. Sie mit ihrem Vater und ihrer Schwester; er mit seinen stolzen Eltern und seinen beiden jüngeren, nicht so erfolgreichen, nicht so gut aussehenden Brüdern Adam und Lex. Seine Schwester Anna und ihr Mann waren ebenfalls auf dem Bild.
»Keine Zeit für wehmütige Erinnerungen«, sagte Abby. Ansel stakste ins Zimmer und sprang aufs Sofa. Abby warf das Foto auf die brennenden Scheite. Die Flammen leckten eifrig nach der neuen Nahrung, und schon wellte sich das Foto und verbrannte.
Noch ein Schluck Wein und das nächste Bild, eines von Luke allein, groß und stolz in seinem schwarzen Smoking. Er sah wirklich gut aus, das musste man ihm lassen. Und sie hatte ihn einmal geliebt. Doch es schien ihr, als läge das ein ganzes Leben lang zurück. Er war Nachrichtensprecher in Seattle gewesen und hatte sich zunehmender Beliebtheit erfreut. Ihr kleines Studio hatte er aufgesucht, um ein Porträtfoto machen zu lassen.