Für Elisabeth
und Michele und Simon
(meine Kinder)
und alle Menschen,
die meinen Weg
so spannend machen
Man könnte sagen wenn Du
Dich nicht aufs Pferd setzt Dich
ihm also ganz anvertraust so
kannst Du freilich nie abgeworfen werden
aber auch nie hoffen je zu reiten. Und
man kann darauf nur sagen: Du
musst Dich dem Pferd ganz widmen
und doch gefasst sein, dass Du
jederzeit abgeworfen werden kannst.
Wittgenstein
Autobiografien haben oft eine lange Entstehungszeit und ungewöhnliche Entstehungsbedingungen. Das erste Gespräch über ein autobiografisches Buch führte ich mit Peter Zadek Ende 1995 im berühmten Intendanz-Zimmer des Berliner Ensembles. Peter Zadek war damals Mitglied des Leitungsgremiums – neben Heiner Müller, Peter Palitzsch und Fritz Marquardt.
Wegen seiner vielfältigen Inszenierungspläne war klar, dass Peter Zadek das Buch nicht Kapitel für Kapitel am Schreibtisch schreiben konnte. (Während der Entstehung dieses Buches entstanden sieben Arbeiten: Der Ja-Sager und der Nein-Sager, Das Wunder von Mailand, Antonius und Cleopatra, Der Kirschgarten, Moonlight, Alice im Wunderland und Richard III.). So verabredeten wir jeweils zwischen diesen Inszenierungen Treffen, bei denen Peter Zadek mir und dem Recorder sein Leben erzählte: Zwei Wochen in Hamburg, Atlantic Hotel, zwei Wochen Italien, u.a. in Lucca. Während der Hamburger Sitzung ging das Intendantengremium am BE in die Brüche, sodass es nun mehrere Bänder über das höchst komplizierte Verhältnis Peter Zadeks zu Heiner Müller gibt. Während dieser Hamburger Sitzung passierte noch etwas Interessantes: Peter Zadek bekam Besuch von seiner früheren Lebensgefährtin, der Fotografin Roswitha Hecke, von der die meisten Bilder in diesem Buch stammen. Und er reagierte wie bei einer Regiearbeit und nahm dieses Gespräch, in dem es u.a. um Roswitha Heckes abenteuerliche letzte Jahre in Marokko ging, einfach mit in sein Buch auf (zur Textstelle). Eine ständige Offenheit für Umwege und Überraschungen ist eins der Geheimnisse von Zadeks Regiearbeit, über die er in diesem Buch an vielen Stellen spricht und die auch die Form dieser Autobiografie geprägt hat.
Nachdem die einen halben Meter dicke Abschrift dieser Gespräche in eine erste Fassung von ca. 1000 Seiten gebracht worden war, begann für Peter Zadek die Knochenarbeit: Satz für Satz entwickelte er aus diesem Rohmanuskript das nun vorliegende Buch. Der lebendige Ton der ursprünglichen Gespräche sollte dabei erhalten bleiben. Dass dies für Peter Zadek letztlich nicht sehr viel weniger Arbeit bedeutet hat als ein konventionell geschriebenes Buch, wusste ich vorab aus Erfahrung, habe es aber nicht verraten. Manchmal müssen einem Lektor alle Mittel recht sein … Trotz aller List aber wäre dieses Buch niemals entstanden, wenn sich nicht Peter Zadeks Lebensgefährtin, die Autorin Elisabeth Plessen, dieses Projekt zu eigen gemacht und dem Buch eine Form gegeben hätte. Ohne ihre endlosen Recherchen, ihre Beharrlichkeit und ihren Enthusiasmus gäbe es dieses Buch nicht.
Während der Arbeit entstand die erleichternde Idee, aus dem Material zwei Bücher zu machen. Ein Buch von nahezu 1000 Seiten hätte die Oberarme des Lesers und das Vergnügen an der Lektüre gleichermaßen belastet. So aber entsteht hoffentlich Neugier auf die Zeit von 1970 bis in die Gegenwart, die der zweite Band behandeln wird.
Helge Malchow, April 1998
von Peter Zadek
Warum habe ich meinen Weg aufgeschrieben? Warum tut man das überhaupt? Genau kann ichs nicht sagen, ich kann aber vermuten:
Weil ich ein paar Antworten auf die Fragen meines Lebens haben will. Insbesondere, warum ich so obsessiv diesen recht absurden Beruf, der mir, wie ich meine, eigentlich gar nicht hegt – ausgesucht und dann verfolgt habe. Ich dachte, dass das Erzählen meines Lebens mir bei der Suche nach einer Antwort helfen könnte. Bei der Gelegenheit könnten ja auch ein paar Dinge erzählt werden, die andere Leute interessieren. Mal sehen. Eigentlich habe ich damit dieses Buch genauso gemacht wie meine Inszenierungen – die sind auch nur da, weil ich etwas rausfinden will, und die Einladung geht an das Publikum, sich zu beteiligen. Wenn ich Glück habe – und das habe ich oft gehabt –, interessiert sich mein Publikum zur selben Zeit wie ich für dieselbe Suche. Manchmal habe ich auch Pech, dann findet mein Publikum das, was ich gemacht habe, für sich nicht wesentlich. Das beschreiben dann manchmal Zeitungsschreiber als »Flops«. So ist das im Theater – es muss in dem Moment, in dem es passiert, interessieren, sonst ist nichts los, und die Sache ist vorbei.
Weil ich ein paar Antworten auf die Fragen meines Lebens haben will. Insbesondere, warum ich so obsessiv diesen recht absurden Beruf, der mir, wie ich meine, eigentlich gar nicht hegt – ausgesucht und dann verfolgt habe. Ich dachte, dass das Erzählen meines Lebens mir bei der Suche nach einer Antwort helfen könnte. Bei der Gelegenheit könnten ja auch ein paar Dinge erzählt werden, die andere Leute interessieren. Mal sehen. Eigentlich habe ich damit dieses Buch genauso gemacht wie meine Inszenierungen – die sind auch nur da, weil ich etwas rausfinden will, und die Einladung geht an das Publikum, sich zu beteiligen. Wenn ich Glück habe – und das habe ich oft gehabt –, interessiert sich mein Publikum zur selben Zeit wie ich für dieselbe Suche. Manchmal habe ich auch Pech, dann findet mein Publikum das, was ich gemacht habe, für sich nicht wesentlich. Das beschreiben dann manchmal Zeitungsschreiber als »Flops«. So ist das im Theater – es muss in dem Moment, in dem es passiert, interessieren, sonst ist nichts los, und die Sache ist vorbei.
Wie das bei MY WAY sein wird, weiß ich nicht. Ich habe mich vor zu vielen Kommentaren gehütet (wie ich es auch im Theater tue), weil ich meine, dass die Ereignisse und Leute, die ich beschreibe, für sich sprechen. Die Kommentare können und sollen die Leser machen.
Es kommen viele Leute vor, mit denen ich in meinem Leben zu tun hatte. Ich beschreibe sie, wie ich sie damals erlebt habe, und bin sicherlich meistens ungerecht. Aber das soll eine Autobiografie sein, kein Geschichtsbuch, keine Sammlung von Kritiken und Kommentaren wie in meinem anderen Buch DAS WILDE UFER. Dass meine Sicht auf die Welt und das Theater meiner Zeit und auf das Theater, das ich in dieser Zeit gemacht habe, sehr eigensinnig, persönlich und ein bisschen naiv ist, ist wahrscheinlich.
Regisseur sein ist und war ein Privileg und zur selben Zeit eine Tortur. Immer für andere verantwortlich sein, immer anderen vorschlagen, was sie jetzt tun sollen, auch wenn man es selbst nicht so richtig weiß, immer wieder andere anmachen, begeistern, verführen, denselben WAY zu gehen, den ich gerade gewählt habe: herrlich, aufregend, spannend, nervend.
Zwei Menschen haben mir auf diesem Weg mehr als alle anderen geholfen: Wilfried Minks, was die Optik und die Form angeht, Elisabeth Plessen, was das Wort, also auch die Form angeht. An diese beiden meinen ganz großen Dank, auch dass sie meine Fantasie ertragen haben, sie oft umgemünzt und verständlich gemacht haben. Mein Thema war schon immer Sehnsucht, Liebe und die Sehnsucht nach Liebe. Elisabeth und Wilfried haben das begriffen und mir geholfen, es ohne Zynismus zu formulieren.
P S: Frank Sinatra, der gestern starb, lieferte mir schon lange den Titel für dieses Buch. Wie die Bergmans und Fellinis, die Strehlers und Brooks begleitete mich Franky Boy mein Leben lang, und er wird es mit seiner »sexy« Stimme weiter tun. Die Mischung aus Verworfenheit, wahrscheinlich krimineller Aktivitäten und Genie – er war für mich der Entertainer überhaupt. Meine Generation ist ohne ihn gar nicht denkbar. Und Strangers in the Night bleibt unser aller Liebeslied.
16.5.98
Ich bin am 19. Mai 1926 geboren. Ich glaube, um vier Uhr morgens, in der Offenbacher Straße in Wilmersdorf in Berlin. Dritte Etage eines bürgerlichen Mietshauses. Es war eine recht große, schöne Wohnung, glaube ich, erinnere ich so. Mit einem Balkon nach vorne und Pflanzen, einem Wintergarten nach hinten.
Mein Vater war ein Commis voyageur, ein Reisender. Er hat Knöpfe und Gürtel verkauft. Heute nennt man das Vertreter. Und zwar in England. Damals schon. Er arbeitete für eine Berliner Knopffabrik, die Socharszever & Preuss hieß. Und mein Vater ist jedes Jahr ungefähr die Hälfte des Jahres in England gewesen. Er reiste rum und verkaufte die Knöpfe an Kaufhäuser, und dann kam er nach Hause, und den Rest des Jahres machte er dann nichts. Er machte gerne Ferien, war gerne mit seiner Familie zusammen und mit Freunden, reiste gerne und hatte eigentlich nie vor, reich zu werden. Er war nie besonders ehrgeizig, aber er wollte gut leben. Und benutzte die übrigen sechs Monate, um nichts zu tun, das heißt um lauter schöne Sachen zu tun. Wir sind zum Skifahren in die Berge gefahren, und wir sind in den Zoo gegangen. Er verdiente ganz gut. Na ja, nicht sehr gut, aber ganz gut. Gut bürgerlich. Soviel ich weiß, hatten meine Eltern in Deutschland keine Geldsorgen. Wir hatten auch Bedienung, eine Köchin und ein Kindermädchen.
Meine Mutter war zehn Jahre jünger als mein Vater, beide waren schon einmal verheiratet gewesen. Meine Mutter war eine sehr energische Person. Ich weiß nicht, ob sie es immer war, aber ab dem Punkt, wo ich mich an sie erinnere, war sie sehr energisch, eine kleine Person, die nie stillsitzen konnte und von morgens bis abends arbeitete. Und wenn nichts zu machen war, erfand sie einfach etwas. Sie war eine sehr, sehr typische jüdische Mutter, würde ich denken. Mein Vater, der viel entspannter war, war eigentlich immer dabei zu sagen: »Ach Suse, setz dich doch mal endlich.« Ich erinnere das als einen permanenten Refrain im Haus. Susi raste rum, in die Küche oder zu irgendwelchen karitativen Veranstaltungen, oder sie traf jemanden, und dann ging sie zu einer Ausstellung, und dann ging sie ins Konzert und so weiter, und es hörte eigentlich nie auf.
Meine Mutter kam sozusagen aus der besseren Familie, einer jüdischen Bankiersfamilie, also relativ hoch angesehen, und mein Vater kam aus einer Kaufmannsfamilie, und das ist ja ein bisschen niedriger im Prestige. Sie lernten sich über eine Heiratsannonce kennen. Wer sie aufgegeben hat, ob mein Vater oder meine Mutter, weiß ich leider nicht. Mein Vater war mit einer Schottin verheiratet gewesen und im Ersten Weltkrieg in England interniert worden, weil er zufälligerweise in England war, als der Krieg ausbrach. Während er interniert war, hatte die Schottin mit irgendjemand anderem ein Verhältnis. Mittlerweile hatte er auch einen Sohn, meinen Halbbruder Douglas. Im Internierungslager konnten die Gefangenen arbeiten, sich aussuchen, was sie tun wollten. Paul, mein Vater, hat sich ausgesucht, einen Spielzeugladen mit selbst gemachtem Spielzeug aufzumachen. Das war seine große Ambition. Er wollte eigentlich gerne ein Handwerker sein, das durfte er nicht, weil man in einer guten jüdischen Kaufmannsfamilie kein Handwerker wird, sondern etwas »Besseres«. Aber in der Internierung war er, glaube ich, sehr glücklich. Da gibt es ein Bild, wo er in seinem Laden stolz hinter seinem ausgefrästen Elefanten steht.
Später hat er mir immer alles selber gebaut, Spielsachen, Puppenhäuser, Elefanten oder was auch immer. Und er machte auch alles im Haus, er malte immer alles an und konnte auch den Maltopf nie aus der Hand nehmen. Sowie er eine Küche sah – am nächsten Tag war sie schon grün und rot. Er wollte alles bunt malen, und meine Mutter war verzweifelt, weil sie nicht rundherum alles angemalt haben wollte. Aber er malte. Und als sie dann 1959 starb, dachten wir alle, dass mein Vater zusammenbrechen würde. Es passierte genau das Gegenteil. Er lebte auf und wurde Maler. Er malte Hunderte von Bildern. Er hatte nie Unterricht gehabt und wurde so eine Art Grandma Moses, er malte wunderschöne Bilder, andauernd, hörte nie auf zu malen, zehn Jahre lang, bis er starb. Er wurde ja relativ alt, 89.
Nach dem Krieg, 1919, ging Paul nach Deutschland zurück und ließ sich dort von der schottischen Dame scheiden. Ich bin 1926 geboren, und irgendwann dazwischen, ich weiß nicht genau wann, lernte er meine Mutter kennen, wie gesagt, durch eine Annonce. Ein advert in der Zeitung. Meine Mutter war mit einem Jugendfreund verheiratet gewesen, Alfred Lehmann, der dann als Dichter Alfred Lemm hieß. Er war ein junger, deutscher Expressionist, den sie maßlos liebte. Sie hatten sich in der Tanzstunde kennengelernt.
Ich kannte später in London eine Freundin meiner Mutter, Valerie Dietrich, die mir erzählte, Susi und Alfred seien das glücklichste junge Ehepaar gewesen, das sie je gesehen hätte. Dass sie so »rumschwebten«, wie eine ideale junge Ehe. Lemm war ein Pazifist, ein Jude und ein Dichter. Es gibt mehrere Werke von ihm: einen Roman, »Der fliehende Felician«, zwei Bände mit Kurzgeschichten unter den Titeln »Mord« und »Versuche«, die Erzählung »Der Herr mit der gelben Brille« (siehe Anhang Erzählung »Der Herr mit der gelben Brille«) und ein Pamphlet, das er 1917 geschrieben hat: »Vom Wesen der wahren Vaterlandsliebe«. Das von einem Juden im Jahr 1917! Er starb ganz früh während des Krieges, also nach ganz kurzer Ehe, an der großen Grippeepidemie, an der Tausende starben. Er war nicht an der Front, er war Sanitäter, er war ja Pazifist, aber er blieb für meine Mutter irgend so eine idealisierte Figur, ein wunderbarer Idealist, ein großer Künstler, sauber – solche Begriffe. So ein Parzivalbild habe ich auf jeden Fall mitbekommen, und in irgendeiner Weise glaube ich, dass meine Mutter meinen Vater heiratete, weil er genau das Gegenteil davon war. Paul war wirklich all dies nicht. Er war ein einigermaßen cleverer, witziger, lustiger Geschäftsmann und hatte nicht sehr viel Empfinden für Kunst irgendeiner Art. Ich weiß nicht, was er gelesen hat, aber sicherlich nicht viel außer Krimis. Ich lese die auch gerne. Musik hörte er, wenn es sein musste. Er lebte gerne, war aber kein besonders geistig belasteter Mensch. Ich denke, meine Mutter hat ihn als Kontrastprogramm geheiratet, weil sie sich nicht vorstellen konnte, dass sie je wieder jemanden haben könnte, der erfüllte, was ihr der erste Mann erfüllt hatte. Dadurch blieb Alfred in ihrer Fantasie so intakt.
Die Familie meiner Mutter stellte komplizierte Recherchen über Paul an, um herauszufinden, ob er gut genug für sie sei, weil er aus einer niedrigeren Etage kam. Die Berliner Juden waren auf ihre Weise sehr versnobt und class conscious. Da gab es genaue Abgrenzungen, wer was war und wer was durfte.
Als meine Mutter später über diese Zeit mit Alfred Lemm redete, besonders in der Zeit vor dem Krieg, idealisierte sie diese Zeit – sie war damals eben in »Künstlerkreisen«. Mit meinem Vater war sie nicht mehr in Künstlerkreisen, weil mein Vater sich in Künstlerkreisen furchtbar langweilte, ich glaube, dass sie selbst auch nie so richtig dazugehört hatte. Sie bewegte sich eher an der Peripherie. Sie erzählte mir, dass auch Thomas Mann Erzählungen von Alfred Lemm gelesen hatte und ihn weiterfördern wollte, also er war schon ein junger Dichter, der, wenn er weitergelebt hätte, sicherlich Erfolg gehabt hätte.
Meine Mutter hat sich dann entschlossen, ein Kind zu kriegen. Ich glaube, das war der eigentliche Grund, dass sie meinen Vater geheiratet hat. Und das Kind war dann ich. Und dieses Kind war natürlich von vorneherein sehr belastet. Weil es sich als Junge entpuppte, musste es der Ersatz für Alfred werden. Die Vorstellung, dass der kleine Peter eines Tages ein großer Künstler wird, war für meine Mutter absolut klar und festgelegt. Und das hat mir später natürlich sehr große Probleme gemacht. Wie und was ich werden sollte, war unklar. Als ich alt genug war und wir schon längst in England lebten, wurde entschieden, dass ich Musik studieren sollte, und da wurde meine Tante beauftragt, die im letzten Moment vor dem Krieg aus Deutschland gekommen war, eine Geige mitzubringen, weil ich Geige lernen sollte. Warum gerade Geige? Meine Mutter hatte eben beschlossen, ich sollte jetzt Geige lernen. Mich interessierte Musik überhaupt nicht, aber Susi interessierte es sehr. Ich konnte nicht Klavier spielen, nichts, überhaupt nichts. Aber ich musste Geige lernen. Und das war eine mühsame Angelegenheit, aber nach einer Weile fing es an, mich doch zu interessieren. Das Üben ging mir ein bisschen auf den Wecker, aber dann hat es mich immer mehr interessiert, und ich dachte, weil meine Mutter mit so großem Nachdruck behauptete, ich sei ein großer Geiger, dass ich mindestens Menuhin werden müsste innerhalb kürzester Zeit.
In Berlin führten wir ein sehr beschütztes bürgerliches Leben, mit Kindermädchen und täglichem Spaziergang. Wir hatten einen kleinen Schrebergarten, nicht weit weg, um die Ecke in Wilmersdorf.
Da gab es auch eine Sandgrube, in der ich gespielt habe und von wo ich vom Kindermädchen hin und wieder nach Hause geführt wurde. Das war alles sehr schön, und dann gibt es die berühmte Geschichte, die mir heute noch vorgehalten wird: Meine Mutter war manisch mit mir beschäftigt, und ich hatte als kleines Kind einen Leistenbruch und durfte deswegen nicht schreien. Der Arzt hatte gesagt, er darf nicht schreien, sonst knallt das hier. (Er meinte die Narbe.) Dadurch konnte ich natürlich, das spürte ich sofort, eine ganz tolle Macht ausüben. Immer, wenn ich irgendetwas wollte, fing ich an zu schreien und bekam es sofort. Ein Schrei, und es war alles da. Ich war wahnsinnig verwöhnt. Und unten hing – das erzählten mir mehrere Leute, die meine Eltern aus der Zeit kannten – an der Haustürklingel, immer wenn ich schlief, ein kleines Schild, auf dem stand: »Ruhe, Peterchen schläft«. Das wurde in der Familie zu einem Sprichwort … Ruhe, Peterchen schläft. Meine Mutter ging den anderen Leuten mit ihrer Überliebe sicher ganz schön auf die Nerven. Mir natürlich nicht. Ich fand es sehr schön. Ich habe immer auf dem Rüdesheimer Platz gespielt, damals war das ein Platz mit riesigen Steinen und großen Statuen. Es standen Heldenfiguren, wo ich gespielt habe, und in meinem Kopf sind es noch dieselben. Ich bin vor Kurzem einmal dagewesen. Es sind ganz kleine Steinchen, zwei kleine Statuen. Und da habe ich mit einem kleinen Jungen, der mein bester Freund war und Dietrich hieß, gespielt. Irgendwann wurde mir das verboten, weil der Vater Nazi war. Und das habe ich natürlich nicht verstanden, warum ich plötzlich mit meinem besten Freund nicht mehr spielen sollte. Und dann wurde mir ein kleiner jüdischer Junge vorgesetzt, den meine Mutter sehr mochte, mit dem sollte ich jetzt spielen. Und den mochte ich überhaupt nicht. Er war ganz klein und viel intelligenter als ich, und meine Mutter sagte immer »klein, aber oho«. Das ging mir furchtbar auf die Nerven. Ich glaube, er hieß Ludwig. Auf jeden Fall spielte die Erinnerung an diese beiden eine große Rolle in meinem Leben. Den einen, den Dietrich, den sehe ich noch sehr genau vor mir, das war so richtig ein kleiner tougher, gutaussehender Berliner deutscher Junge, mit blonden Haaren, kurz geschoren, den fand ich toll, mit ihm habe ich mich sehr gut amüsiert. Das durfte ich dann eben nicht mehr.
Aus der Berliner Zeit erinnere ich mich an eine große Auseinandersetzung mit meinem Onkel Hans Behr, dem Bruder meiner Mutter, den sie heiß liebte. Er war Bankier. Er kam zum Geburtstag und schenkte mir Zinnsoldaten. Und wurde daraufhin aus der Wohnung verwiesen, rausgeschmissen von meiner Mutter. Die Zinnsoldaten auch. Und ich war natürlich sehr deprimiert, weil ich die Zinnsoldaten toll fand, aber es war damals für manche Kreise auch sehr typisch, der Meinung zu sein, dass Kinder nicht mit Kriegsspielzeug spielen sollten. Meine Mutter beschäftigte sich sehr mit moderner Erziehung, Anna Freud und lauter solchen Geschichten. Mir wurden auch Grimms Märchen nicht vorgelesen, weil sie zu böse waren. Mir wurden immer nur liebe und gescheite Sachen vorgelesen.
Einmal bin ich in Berlin ins Theater gegangen und habe »Rosinchens Reise« gesehen. Das war mein erstes Theatererlebnis, und es war ein großes Erlebnis. Im Zirkus Schumann. Ich weiß noch sehr gut, wie der Teufel Rosinchen gekidnappt und in einem kleinen Auto in irgendein Gingerbread Land weggefahren hat. Böse Sachen erinnert man eben mehr. Es hat mich noch lange beschäftigt. Das Kidnappen von kleinen Mädchen fand ich damals sehr gut. Fand ich länger noch gut, aber damals besonders.
Damals war ich zum ersten Mal krank und wurde als kleiner Junge wegen dieses Bruchs operiert. Ich kam ins Krankenhaus. Es war alles beängstigend. Ich kam ins OP, und da sah ich, wie der Arzt, ein riesenlanger Mensch, der auch noch Dr. Lange hieß, sich hinstellte und die Hände wusch. Und als am nächsten Morgen oder nach der Operation, als ich aus der Narkose aufwachte, meine Mutter kam, war das Erste, was ich zu ihr sagte: dem Arzt darfst du kein Geld geben. »Warum?« – »Der hat überhaupt nichts getan, er hat sich nur die Hände gewaschen.« Vor der Operation hatte ich gesehen, wie er sich die Hände wusch, und als ich wieder aufwachte, war er immer noch dabei und wusch sich die Hände. Meine Logik sagte mir natürlich, er hätte sich nur die Hände gewaschen, und andere hätten mich aufgeschnitten. Diese Tatsache hat mich sehr beschäftigt. Es kam zu mehreren Auseinandersetzungen zwischen meiner Mutter und diesem Arzt. Er war so ein deutscher, etwas schnodderiger junger Mann, der nicht sehr viel Empfinden hatte, und ich kann mir genau vorstellen, wie meine jüdische Mutter ankam und mich bedudelte und bediddelte. Wahrscheinlich hat der Arzt gesagt, und jetzt gehen Sie doch bitte nach Hause, Frau Zadek, die Sprechzeit ist zu Ende. Das war für mich ein sehr deutsches Erlebnis, dieser Arzt und seine Haltung. Sie ist mir noch genauso deutlich im Kopf als Gegensatz oder Widerstand oder irgend so etwas zu meinem Leben wie (als geliebtes Gegenüber) der kleine Nazijunge Dietrich. Bei uns nannte man das »Gojim Naches«. Für mich war dieser Dr. Lange mein erster Antisemit.
Ich erinnere mich an eine zweite frühe Arzt-Geschichte: Schon als ich vier war, bekam ich, sobald ich nervös war, Magenprobleme. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Meinen Eltern ging es auf die Nerven, dass ich ständig sagte, ich hätte Bauchschmerzen. Sie brachten mich zu Professor Meyer, der Internist war und mich in eine Riesenmaschine steckte, die ruckelte, wackelte und summte und mir eine entsetzliche Furcht einflößte. Zum Schluss sagte der Arzt: Siehst du, jetzt ist alles wieder in Ordnung. Zwei Tage später hatte ich wieder Bauchschmerzen. Das war das Resultat. An diese Geschichte erinnere ich mich sehr gut, weil meine Eltern, was Erziehung anging, eigentlich sehr liebevoll waren. Aber hier begingen sie einen Fehler, der Nachwirkungen hatte. Ich mag bis heute keine Ärzte. Ich kann mit ihnen nicht. Ich glaube ihnen nicht. Ich habe das Gefühl, dass sie mich meistens anlügen. Das Gefühl ist durch solche Erlebnisse entstanden und hat sicherlich auch mit der langen Leidensgeschichte meiner Mutter zu tun, obwohl sie selber eher gute Erfahrungen mit Ärzten gemacht hat.
Über uns im Haus wohnte eine Familie von Tippelskirch. Der Mann war Major. Ich sehe ihn noch in seiner Uniform vor mir. Seine Tochter war vielleicht zehn oder zwölf, also viel älter als ich und blond, und ich fand sie unheimlich hübsch. Die Treppe, die zu der Tippelskirch-Wohnung an der unsrigen vorbei raufging, war sehr steil. Und ich weiß noch, wenn ich die Tochter die Treppe raufkommen hörte, marschierte ich ganz schnell raus auf den Flur und guckte ihr hinterher, um ihr unter den Rock zu sehen. Immerhin war ich erst fünf, also das war eine frühe Entwicklung. Das Mädchen faszinierte mich, sie war so ein pralles, deutsches, blondes Mädchen, wie die Statuen am Rüdesheimer Platz.
Unter uns wohnte ein jüdisches Ehepaar, eine ältere Frau und ihr Mann. Die mochte ich nicht, auch weil die Frau so hässlich war, aber beide wurden in unserem Leben wichtig, als die Nazis kamen. Beide wurden nämlich von irgendjemandem angezeigt, weil sie angeblich nachts mit einem Maschinengewehr übten. In Wirklichkeit tippte die Frau nachts auf einer Schreibmaschine Adressen auf Couverts, um etwas Geld zu verdienen. Jemand im Haus hörte es und zeigte sie an, sodass die Polizei kam. Das waren frühe Anzeichen von Dingen.
Eines Tages bat mein Klassenlehrer – ich war gerade eingeschult worden – meine Mutter zu sich. Er war kein Jude, er war ein älterer Herr und hieß Kasprick. Susi ging hin, und er sagte: »Frau Zadek, ich wollte nur sagen, Sie haben doch einen kleinen Jungen, und der ist auch sehr nett und gescheit, und ich würde Ihnen raten, wenn Sie etwas Gutes vorhaben für den Jungen, dass Sie Deutschland verlassen.« Und meine Mutter guckte ihn an, als ob er verrückt wäre, und kam dann ganz aufgeregt nach Hause und erzählte es meinem Vater. »Der ist ja wahnsinnig, völlig verrückt, und was soll das, und Quatsch und absurd.« Mittlerweile war aber schon etwas anderes passiert: Mein Onkel Walter Zadek, der später in Israel gelebt hat, war damals ein kommunistischer Journalist in Berlin. Dem haben sie einen Revolver ins Zimmer gelegt und den Revolver dann gefunden und ihn in den Knast gesteckt.
Und das war gerade passiert. Da dachte Paul, es gibt nur zwei Zadeks im Berliner Telefonbuch, und einer davon ist er, da ist es eigentlich an der Zeit, dass man sich in Bewegung setzen sollte. Es gab zwischen meinen Eltern große Auseinandersetzungen, über die ich nur vom Hörensagen weiß. Susi weigerte sich wie viele (auch meine Tante Grete), Deutschland zu verlassen, weil sie es überhaupt nicht einsah, es würde ja bald vorbeigehen. Und mein Vater sagte: »Nein, wir müssen weg.« Meine Mutter mochte England nicht besonders, vor allen Dingen wollte sie nicht nach England, weil sie es so dreckig fand. Paul dagegen schwärmte von England. Ich glaube, Susi hatte auch Angst, weil Paul in England Freundinnen hatte, sodass da auch Eifersuchtsgeschichten mitspielten. Auf jeden Fall sagte Paul am Ende: »Gut, lass uns doch mal vierzehn Tage nach England fahren, ich zeig dir England ein bisschen, und dann unterhalten wir uns wieder darüber. Erst machen wir dort mal vierzehn Tage Urlaub.«
Und das taten wir dann. Und als wir da waren, kamen die Möbel nach, das hatte Paul organisiert. Diese Emigration fand gegen den Willen meiner Mutter statt. An die Reise selbst erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur noch, dass wir in London zuerst im Regent Palace Hotel wohnten, einem großen Hotel für Commis voyageurs, wo mein Vater immer wohnte. Es war berühmt für seine Nutten, direkt am Piccadilly, wo es immer noch steht. Und ich weiß noch, dass ich von dem Moment, als wir ankamen, bis wir wieder auszogen, immer nur im Aufzug war. Weil ich noch nie einen Aufzug erlebt hatte. Ich bin nur von morgens bis abends mit dem Liftboy rauf- und runtergefahren. Meine Eltern konnten mich da nie rausholen. Das ist die einzige Erinnerung, die ich aus dem Vorgang der Emigration behalten habe, das Hoch- und Runterfahren in einem Aufzug in einem großen Hotel.
Da fällt mir noch eine Geschichte ein, die vor unserer Emigration in Berlin spielte, und zwar auf unserem Balkon in der Offenbacher Straße. Ich hörte da mal Musik und ging raus, und da marschierte die SA die Laubacher Straße herunter, an meiner Schule vorbei. Ich fand es ganz toll – mit Musik und Trallala und Tamtam. Meine Eltern holten mich rein und sagten, das ist was ganz Schreckliches, da darfst du gar nicht hinhören. Ich fand es absurd und blöd, weil ich ja überhaupt keine Vorstellung von irgendetwas hatte. Und ich finde es, wenn ich jetzt zurückdenke, schon kurios, dass man all das miterlebt hat bis 55 und überhaupt nichts begriffen hat.
Ich habe an der Peripherie mitgekriegt, dass wir aus einer ganz beschützten, kleinen Welt in eine wacklige Situation, die ich nicht mehr verstand, geraten waren. Das heißt, wir sind emigriert, doch was hieß das? Eine große Reise nach England (per Schiff nach Harwich), das Regent Palace Hotel, im Lift rauf- und runterfahren, all das war natürlich ganz lustig und wunderbar, aber gleich wurde es nicht so wunderbar, weil dann die Sprache das Problem war. Allerdings am wenigsten für meinen Vater, der sehr anglifiziert war. Er liebte das Land, hatte Freunde und sprach ganz gut Englisch, immer mit Akzent, aber ganz gut, schon damals. Meine Mutter wenig, und ich glaube, für sie war es schlimm. Meine Eltern sahen nur zu, dass solche Probleme nicht vor mir erörtert wurden, bis ich sehr viel älter war. Ich wurde sehr geschützt. Viel zu sehr. (Susi sagte zu dem Thema: Später wird der Junge es schwer genug haben. Also verwöhnen wir ihn jetzt.)
Einen Monat lang saß Onkel Walter im Knast in Spandau. Als er entlassen war und da er den Pass nicht zurückbekam, ist er via Holland schnell nach Palästina abgehauen. Er ist dort ein bekannter Fotograf geworden. Als ich 1984 in Berlin »Ghetto« inszenierte, lud ich ihn ein. Er kam auch, 84 Jahre alt, fand allerdings nicht sehr gut, dass man die Überlebensanstrengungen von Juden aus dem Ghetto in Wilna 1942 wie in Joshua Sobols Stück auf die Bühne brachte. Er war ein sehr konservativer, hochintelligenter, komplizierter Mensch aus Israel. 1992 ist er in Holon, einem Vorort von Tel Aviv, gestorben.
Onkel Hans, der Bruder meiner Mutter, der mir die Soldaten geschenkt hatte, emigrierte mit Frau und Kindern nach Paris. Dort ging es ihnen erst mal relativ gut. Leider blieben sie zu lange in Paris. Als die Deutschen kamen, ist Onkel Hans nach Auschwitz deportiert und umgebracht worden. Der Rest der Familie ist während der Vichy-Zeit nach Südfrankreich marschiert, wie durch ein Wunder haben sie sich dort unten wieder getroffen – Tante Edith, Cousine Ilse und Cousin Knut – und wurden in Gurs interniert. Arthur Koestler, auch ein Gurs-Häftling, beschreibt die Lagerverhältnisse sehr genau. Meine Verwandten sind dort schließlich, ich weiß nicht wie, herausgekommen. Es sollte sie jemand durch die Pyrenäen ins neutrale Ausland schleusen. Der Mann hat sie, wie es so oft passierte, nachdem er Geld kassiert hatte, in den Bergen stehen lassen. So wurden sie in Spanien festgenommen und saßen dort jahrelang in Gefängnissen. Meine Cousine bekam dann Kontakt zum englischen Geheimdienst und ist dadurch mit Edith, ihrer Mutter, rausgekommen. Ilse hat in Frankreich Herbert, auch einen jüdisch-deutschen Emigranten, geheiratet. Der landete zuerst mit ihr in Gurs, kam aber raus, indem er in die französische Fremdenlegion ging. Mein Cousin Knut, den ich sehr mochte, hat sich im Gefängnis eine üble Krankheit geholt, ist auch rausgekommen, dann nach Amerika geflohen. Er war aber gelähmt und ist sehr bald gestorben. Ilse und Tante Edith landeten in New York, Edith wurde Lehrerin, und da sie eine sehr zähe, kleine Frau war, hat sie sich durchgeschlagen. Ilse wurde mit ihrem Mann wieder vereint, doch starb er bald an einem Herzleiden, das er sich durch die Strapazen in der Fremdenlegion geholt hatte. Ilse lebt immer noch in New York. Ich habe sie in den 80er-Jahren mal in München getroffen. Sie war sehr amerikanisiert. Die Frauen der Familie waren sehr zäh, haben wahnsinnige Sachen durchgemacht, erlebt und überlebt.
Mein Vater versuchte ständig, Tante Grete, die älteste Schwester meiner Mutter, die Deutschlehrerin an einem Berliner Gymnasium war, nach England zu holen. Auch meine Mutter versuchte sie zu überreden. Sie wollte lange Zeit nicht und dachte sicher, dass es bald vorbei wäre, warum sollte man das Land verlassen. Dann kam sie ganz kurz vor dem Krieg doch noch raus und hat die berühmte Geige, die ich dann spielen lernen musste, mitgebracht. Beim Zoll, als sie rausging, wurde sie gefragt, was sie denn dabeihätte, und sie sagte, eine alte Geige. Daraufhin haben sie sie erst einmal 10 Stunden dasitzen lassen, weil sie dachten, sie hätte eine Stradivari. Dabei war sie ins KaDeWe gegangen und hatte eine neue Geige gekauft, meinte aber, eine alte Geige wäre nicht so wertvoll wie eine neue. Aber deutsche Literatur hat sie verstanden. Obwohl sie jüdisch war, war sie wie so viele deutschnational, und sie blieb das auch. Sie lebte dann mit uns in London, ging auch mit uns nach Oxford, als wir dorthin evakuiert wurden, starb dann auch in Oxford. Sie war ganz krank vor Verbitterung und versäuerte auch ein bisschen unseren Haushalt. Es war nicht sehr schön, mit ihr zu leben. Ich mochte sie nicht. Mit Kindern, kleinen Jungs insbesondere, hatte sie nichts am Hut. Eine deutsche Lehrerin eben. Mein Vater konnte nicht mit ihr, sie war irgendwie die arme Verwandte, aber was sollte sie sonst machen. Arbeiten durfte sie nicht, sie hatte ja wie die meisten »refugees« keine Arbeitserlaubnis. Eine der nicht so oft beschriebenen Katastrophen der Emigration war das erzwungene Zusammenleben von Menschen, die sich nicht mochten.
Eine jüngere Schwester meiner Mutter, Lotte, war im Kindbett gestorben. Sie hatte einen Sohn, den ich später in Deutschland lange Zeit zu finden versuchte. Er heißt Rolf Kabus und war ein bisschen zurückgeblieben, hat die ganze Hitlerzeit auf dem Land gelebt. Meine Mutter schickte ihm jahrelang Pakete, auch nach dem Krieg noch.
Spezifische jüdische Rituale gab es in der Familie fast keine. Meine Eltern waren typische Berliner Juden, völlig assimiliert, sie machten all die Sachen, die die Deutschen machten, und befassten sich nicht mit der jüdischen Religion, außer dass sie zweimal im Jahr, zu Jom Kippur und Rosch ha Schana, in die Synagoge gingen. Es gehörte sich so, wie für die Christen, die zu Weihnachten in die Kirche gehen. Das tat man in der guten jüdischen Gesellschaft. Und sonst war nichts. Im Glauben bin ich nicht unterrichtet worden, und das finde ich eigentlich schade. Ich finde es besser, Kinder wenn möglich in irgendeiner Religion zu erziehen, dann können sie später noch Atheisten oder Buddhisten werden. Aber ganz ohne Information und Kenntnis ist es beängstigend und kann es leicht zur Vergötterung eines der beiden Eltern oder eines Lehrers oder von weiß ich wem führen. Meine Eltern hatten keine Religion, sie waren selber in nicht orthodoxen Familien aufgewachsen. Ein Onkel, Leo Kopf, ein polnischer Jude, war allerdings orthodox. Er leitete einen Chor in der Synagoge und wurde in der Familie immer als »na ja, diese Polen, weißt du« behandelt. Er war schon wieder die Unterklasse, aber mich hat er fasziniert, denn er sprach hebräisch und ein bisschen jiddisch. Er war ganz fremd, hatte etwas mongolische Backenknochen und war sehr streng und ernst und sehr humorlos, aber ich hatte großen Respekt vor ihm. Er durfte uns besuchen, obwohl er ein polnischer Jude war.
Nach der kurzen Zeit im teuren Regent Palace Hotel wohnten wir zuerst in Abingdon Mansions, einem hässlichen, viktorianischen Wohnblock in Kensington in einer sehr dunklen Wohnung ganz in der Nähe von Holland Park. Meine Eltern mussten jetzt finanziell sehr aufpassen. Mein Vater hatte ein bisschen Geld in England, aber er wusste natürlich nicht, wie es mit dem Geschäft von England aus weitergehen würde. Er hatte ein kleines Konto auf einer Londoner Bank, das ihm sein ehemaliger Berliner Chef, Herr Socharszever, überlassen hatte. Meine Mutter ging jeden Tag mit mir im Holland Park spazieren, und das war schön. Ich mag diesen lieblichen Park heute noch sehr. Und ich ging in die Schule, und zwar in eine Volksschule, da irgendwo in der Gegend, wo ich kein Wort verstand und man, hatte ich das Gefühl, auch überhaupt kein Verständnis für mich hatte. Nun war ich wirklich sehr klein. Ich war sieben. Ich erinnere mich an das Ganze nur als einen Horror. Die Kinder wurden mit dem Rohrstock auf die Hand geschlagen, es hat mich sehr beeindruckt, das hatte ich noch nicht erlebt. Es war in England damals normal. Ich wurde allerdings nie geschlagen. Aber ich habe es gesehen, und es hat mich sehr geängstigt. Meine Eltern fanden sehr bald ein Haus im Nordwesten von London, im Hampstead Garden Suburb, wo die meisten Juden und Deutschen und viele Emigranten wohnten. Es war ein besonders schöner und grüner Teil Londons mit kleinen Häusern und vielen Bäumen, eine Art Gartenstadt. Der Grund und Boden gehörte der Kirche. Heute ist es noch genauso, wie es damals war: etwas niedlich, sehr bezaubernd, naturgeschützt, wunderbar für Kinder. Da so viele Emigranten in der Gegend wohnten, war es so etwas wie ein neues Zuhause, auch für meine Eltern. Hier lebten wir, bis wir evakuiert wurden. Das Haus hat mein Vater noch bis zu seinem Tod gehabt, es gehörte uns, er hatte es gekauft, mit einer Hypothek natürlich. Es war ein kleines Häuschen, vier kleine Zimmer oben, zwei größere unten, ein sehr schöner, kleiner Garten nach hinten hinaus. Meine Eltern fühlten sich da auch ganz wohl und ich mich auch.
Ja, dann dachten sie nach, was sie nun mit mir machen sollten, und schickten mich in eine ganz andere Art von Schule, nämlich eine moderne, in Anführungsstrichen »moderne«, sehr große und relativ berühmte Schule für Jungs und Mädchen, die King Alfred School. Es gibt sie immer noch, da gehen jetzt meine Enkelkinder hin, eine freie Schule, die sich an den Theorien von Neill orientierte. Die Kinder konnten eigentlich machen, was sie wollten. Die Schule lag im Grünen, bei einem kleinen Wald, und bestand aus vielen kleinen Häuschen, in denen die Klassen waren. Ich fand das Leben in dieser Schule sehr schön. Es gab zwar feste Fächer, aber wenn man nicht in die Klasse gehen wollte, dann ging man nicht in die Klasse, dann ging man spazieren oder spielte oder machte irgendwas anderes, und die Lehrer waren freundliche Menschen.
Meine erste, sagen wir mal, wichtige Figur in meinem Leben außerhalb der Familie war eine Lehrerin, Miss Gillett, meine Klassenlehrerin, die sehr liebevoll war und eine Macke für alles Indische hatte. Sie lud die Schüler zu sich nach Hause ein zu indischem Essen und indischer Musik. Es war alles sehr weich und ein bisschen exotisch und ein bisschen fantastisch. Das hat mich sehr gereizt. Es war in meinem Kopf irgendwie der erste Kontakt mit Theater, obwohl es nichts mit Theater zu tun hatte – es gab mir plötzlich ein Gefühl für Exotik, für irgendetwas ganz anderes, Gerüche zum Beispiel. Sie hatte immer Räucherstäbchen und ähnliche Dinge, und das war sehr schön. Wir durften auf dem Boden sitzen, das war ganz toll, man hat auch in der Klasse auf dem Boden gesessen. Es war das erste Mal, dass ich eine Familie außerhalb meiner echten Familie fand, in der ich mich wohlfühlte, unangestrengt, und in Miss Gillett, die Mutter vons Ganze, war ich verliebt. Wenn ich jetzt an Antonius und Cleopatra denke, das ich 1994 am Berliner Ensemble inszenierte – an die erste Szene bei Cleopatra in Ägypten, in der alle Schauspieler auf dem Boden sitzen –, dann bin ich ganz sicher, dass diese Situation oder die Idee aus Miss Gilletts Wohnung stammt. Als ich anfing, die Szene zu probieren, wusste ich noch nicht, wohin ich genau wollte, und schlug vor, setzen wir uns doch alle im Kreis auf den Boden bei dieser Probe, um die Szene zu lesen. Eva Mattes, meine Cleopatra, die sehr gern auf dem Boden sitzt, setzte sich, und wir setzten uns um sie herum und lasen die Szene. Dann fingen die Schauspieler an, die Szene auf dem Boden zu spielen. Da sagte ich, mir tut der Hintern weh, holt doch mal ein paar Kissen. Sie wurden geholt (und man hat sie noch ein Jahr später bei der Aufführung auf der Bühne gesehen). Wilfried Minks, der Bühnenbildner, sagte irgendwann: »Peter, komm, nimm diese schrecklichen Kissen weg, die sind furchtbar spießig, viel zu klein, sie kommen aus dem lausigsten Kaufhof. Wie kannst du solche Kissen in diesen wunderschönen Raum legen?« Ich hatte fast Krach mit ihm, noch in Wien kurz vor der Festwochen-Premiere des Stücks. Ich sagte, es tut mir leid, ich brauche diese Kissen. Johannes Grützke, der mit Wilfried am Bühnenbild gearbeitet hatte und für Requisiten verantwortlich war, kam mit exotischen, schön gestickten Kissen an, wie aus einem Bazar in Tanger für Touristen. Ich probierte sie aus und schmiss sie wieder raus und legte diese komischen kleinen, blöden Kissen wieder hin, und sie sind in der Inszenierung geblieben, sodass Wilfried seinen Namen als Bühnenbildner im Programmheft zurückzog und nur noch mit dem Bühnenraum drinstehen wollte. Ja, diese kleinen Kissen waren die Kissen, auf denen wir Schüler der King Alfred School bei Miss Gillett indische Musik hörten, und Eva-Cleopatra war die Mutterprojektion.
In der King Alfred School habe ich nicht viel gearbeitet, aber ich habe mich gut amüsiert und meine ersten erotischen Erlebnisse gehabt, als ich acht oder neun war, ganz spannend. Zuerst verliebte ich mich in ein russisches Mädchen, Maruschka, dann in ein irisches, Sheila, bullig mit Sommersprossen, »butch«, wie die Engländer sagen, dann in ein indisches, Dinah. Dinah war einen Kopf größer als ich, ein dickes, liebes, mütterliches Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen. Mit der frechen, knabenhaften Maruschka verschwand ich immer in ein Wäldchen und sah mir Sachen an ihrem Körper an, die mich interessierten. Es wurde entdeckt, und die Schule, obwohl sie sehr liberal und offen war, fand es nicht so gut, es gab eine Beschwerde bei meinen Eltern. Meine Mutter wurde zum Rektor, Mr. Bartlett, zitiert. Er sagte nicht: böser Junge, er sagte meiner Mutter: Sie sollten Ihrem Sohn vielleicht ein Tier schenken. Schenken Sie ihm doch einen Hund. Meine Mutter, die sich ja sehr für moderne Psychologie interessierte, fand die Idee interessant und schenkte mir also einen Terrier, Peggy, und natürlich durfte sie ihn betreuen, weil er mich überhaupt nicht interessierte, dieser Hund. Mich haben Mädchen interessiert, nicht Hunde.
Die Sublimation funktionierte nicht, und ich wurde immer unglücklicher an der King Alfred School, komischerweise. Ich konnte und durfte ja machen, was ich wollte. Ich fühlte mich frei, aber es ließ mich unbefriedigt. Ich sagte irgendwann zu meinem Vater, nimm mich aus der Schule raus, ich lerne da nichts. Er sagte, aber du kannst doch lernen, wenn du willst. Da sagte ich, ja, aber in der Schule will ich nicht. Ich will in eine, wo ich lernen muss.
An der King Alfred School – die sich auf schöpferische Dinge, Kunst, Handwerk usw. besonders konzentrierte – habe ich zweimal Theater gespielt. Das erste Mal in meinem Lieblingsstück Peter Pan den Captain Hook, den Bösewicht, den Piraten. Da passierte Folgendes: Wir spielten und probierten, und es war alles sehr lustig. Dann kam die Vorstellung, und als das Krokodil auf die Bühne kam und Hook vom Krokodil gefressen werden sollte, verließ ich die Bühne und erklärte, ich weigerte mich, von einem Krokodil gefressen zu werden. Ende der Aufführung. Das war mein erstes Theatererlebnis als Schauspieler und mein erster Theaterskandal. Captain Hook ist für mich heute noch das Modell für Shylock. Er gehört zu einer Reihe von Figuren, auch Fagin in Oliver Twist – im Film wunderbar von Alec Guinness gespielt – und Rigoletto oder der Alte (Hamsun) in Dorsts Eiszeit. Böse alte Outsider, nicht unbedingt Juden. Nicht junge Teufel, sondern hässliche, olle Widerlinge. Warum ich den Captain Hook spielte, ob ich ihn mir selbst aussuchte oder jemand anderes, weiß ich nicht. Ich weiß nur eins: Der Junge, der den Peter Pan spielte, war ein besonders schöner, kleiner, blonder Junge, in den ich verliebt war. Wie man halt in dem Alter verliebt ist. Ich beneidete ihn. Er hieß Gervais, war Franzose, und ich erinnere mich an ihn als meine Hauptprovokation, als meinen Gegensatz und Gegenspieler – und mit diesem Gegensatz bin ich eigentlich durchs Leben gegangen: Diese Menschen, so schöne, blauäugige Menschen, männlich oder weiblich, haben mich immer gereizt, provoziert und manchmal nahezu zerstört. Von Gervais (der Peter Pan spielte) bis zu Ulrich Tukur, Peter Stein, Werner Schröter, Edith Clever und Gert Voss. Die Liste ist lang, und ich identifizierte mich immer entweder mit den Gegnern der Blauäugigen oder mit ihnen selber. Also wurden die Gegenspieler auch manchmal meine Identifikationsfiguren – wenn ich beispielsweise einen Shylock wie Gert Voss habe, werden die Gegensätze miteinander identisch. Es sind komplizierte Projektionen, die vielleicht das Thema dieses ganzen Buches sein werden, denn das ausgesprochene oder unterschwellige Thema des Buches ist Projektion, weil Theater ja nur Projektion ist. Damals war es die Projektion auf diesen Knaben und mich selber als den Bösewicht in der Geschichte, der sich auch noch weigert, als Bösewicht bestraft – aufgefressen – zu werden – das ist schon fast meine ganze Lebensgeschichte.
Anschließend spielte ich in Christmas Carol von Dickens den Scrooge, den bösen alten Knauser. Ich habe nur ein Stück von Molière immer wieder inszeniert – den Geizigen, es ist dieselbe Figur. Scrooge, Harpagon, Shylock, dieselben Figuren, die sich bei mir wiederholen, mit den entsprechenden Schauspielern, deren Fantasie in diesen Rollen lebt: Wildgruber, Mahnke, Voss und vor ihnen Helmut Erfurth und Norbert Kappen.
Das einzige Kindertheater, das ich inszeniert habe, ist Alice im Wunderland