Inhalt
Cover
Titel
Widmung
Zum Anfang
KREIDE FRESSEN
1949 bis 1962
JETZT HAN ICH NOCH ENE KLEINE JUNG
AUF TOURNEE MIT ZARAH LEANDER
TEEBEUTELSUPPEN
ICH GEH UND STEH AN DIR VORBEI
DUNKLE GESCHÄFTE
BLENDAX-ITALIENISCH-ENGLISCH
BOTZE, HEUTE BLAUER ANZUG!
DER KAMELLELUMP
111 MARK
ZIGARREN, PRALINEN UND EIN MODELLSEGELSCHIFF
PÄNZ, PÄNZ, PÄNZ
RÄDCHE OHNE KÄTTCHE
DANNY AUS DOLHAIN
WAS HEISST DENN HIER DEUTSCHER?
ES HAT SICH GUT ANGEFÜHLT
ENE SCHMALE MEDDACH
HUNDE BELLEN, LEHRER SCHLAGEN
MITLEID STATT RACHE
DOOF UND DOOFLINCHEN
1962 bis 1970
DIE LUCKIES IN ST. NIKOLAUS
IN DER BEATMUSIK WURDE RICHTIG HINGELANGT
MEISTER ESSER, DER HELMUT UND ICH
HEISS, GIFTIG, SCHMIERIG
KNOCHENARBEIT IM DOPPELKELLER
EINE UNERGRÜNDLICHE GEFANGENSCHAFT
UND PLÖTZLICH FÄRBTE SICH ALLES ROT
WEIHNACHTSSKAT
DER JUNGE MACHT SEINEN WEG
IM STAR-CLUB
IMMER AUF DIE EINS UND DIE DREI, DAS IST ES NICHT
RÜSCHENHEMDEN, BEATLES-BOOTS UND SCHWARZER KAFTAN
EIN FÜRCHTERLICHES WORT
GUYS AND DOLL
GESCHICHTEN, DIE MAN BESSER NICHT ERZÄHLT
BLACK BEATS
JEVV JAS, MIR MÜSSE HE FOTT!
SCHWEINE IN WEISSEN WESTEN
ERSTE LIEBE
DE KUNDSCHAFF LÄUF ERÖM
I’VE SAID MY SAY
BIST DU DAS NOCH?
SMOKING UND KLEINES SCHWARZES
DREI KINDER, 33 QUADRATMETER
HERINGE UND MAYONNAISE
HÜHNERSTALL UND TANTE EMMA
EIN BULLI T1 ALS BANDBUS
KNARREN IM KOFFERRAUM
LOOP DI LOVE
RENÉ WAR SCHON GEBOREN
1970 bis 1974
IB’N DIB’N DAB
BLINDE PASSAGIERE
EIN STINKIGER LUFTSCHUTZKELLER
MACHT DOCH MAL WAS MIT EUREN KÖLSCHEN BIERLIEDERN
BLACK BIRDS, BLACK BEATS, BLÄCK FÖÖSS
ENE BESUCH EM ZOO UND SPEED KING
HEY, HEY, WICKIE
IN DER LEILA
DIE WOLLEN DIE BÜHNE STÜRMEN!
AM ARSCH DER WELT
NIX MIT KACKE
DER HERR KOLVENBACH
DER QUERLÜFTER
LEEVER JOTT, DAS KANN DOCH NICHT WAHR SEIN
KOTELETT MIT DEN CHEFS
EIN KLEINER, TRAURIGER JUNGE
KARNEVALISTISCHE HITPARADE UND NÄRRISCHE OSCARS
AUTOFREIES KÖLN
EIN SECHSKÖPFIGES KOLLEKTIV
1974 bis 1985
ICH DENK AN EUCH
DA IST EIN GLAUBE IN MIR
DER BÖSE METZGERSSOHN
DAS »EI« STAMMT AUS SÜLZ
CESENATICO
FÜNF MARK FÜR ZIGARETTEN
NUMMER 288
DO ES SPANIEN, DO HINGE ES AFRIKA, UN DOZWESCHE ES MING NAS
DEVISENHÄNDLER VERKEHRT RUM
HOUSTON, ICH HABE EIN PROBLEM!
BLACK IS BLACK
BALLADEN VERSUS BALLERMANN
EINEN SONG BAUT MAN WIE EIN HAUS
EINE FRAGE DER EHRE
ANDERE KÖLSCHE LIEDER
MEY, DEGENHARDT UND CO.
TOTE FISCHE
JO, DO WOR WIDDERSTAND
VON ENGEL ZU ENGELS IST ES NUR EIN »S«
1985 bis 1990
BON SOIR, HERR KOMMISSAR
FRANKREICH UND FERNSEHEN
TÜRKISER ANZUG, SCHWARZE KOHLEN, FETTIGER BIG MAC
IHR BRUDER IST MIT DER KASSE ABGEHAUEN
STINA, DIE PALMS UN ET SCHMITZE BILLA
1.200 QUADRATMETER MIT DOPPELGARAGE
... DASS NIEMAND AUF DER STRECKE BLEIBT
ALLES PLÜSCH
NERVÖS
WILLY UND DIE STEVIE-WONDER-MÜTZE
ZU VIEL BUMM-DONG-KLONG
MANNEN TAPPEN MOPPEN
BATIDA DE COCO, FERNET BRANCA, PERSICO
DIE NATURTRÜBEN
MARIA MAGDALENA ENGEL
EINE GEFALLENE MAUER
WILLS DE E HUUS KAUFE?
1990 bis 1994
ZWEIERLEI FÖÖSS
DER BAGUETTE-STEIN
SGT. PEPPER AUF KÖLSCH
AUS DER SEELE SINGEN
DER SHABALALAS-JUPP
PINKELNUMMERN
KALT, VERSCHWITZT, VÖLLIG ERSCHÖPFT
BUTZ WIDDER BUTZ
EINE SUPER VAN CRAFT
MANÖVRIERUNFÄHIG IN DÜSSELDORF
MAL WAS ZUSAMMEN MACHEN
DAS L IN L.S.E.
THOMAS RICHARD, DANN MUSST DU TROMMELN!
NICHT DIE KRONE, SONDERN EINE SÄULE
IM BEL AIR
RALF UND BIRGIT
MAGISCHE MOMENTE
SACH MIR DAT ZAUBERWORT
DER KÖLSCHDETEKTOR
MELATENKÖLSCH
KÖLNWARDA
DER LETZTE GIG NACH 24 JAHREN
KEIN WORT
JEDE MORJE ESS ICH ENE HUNGK
1.500 DURCH 3
1994 bis 2006
TRUDE
LIEBE MÄT JUNG, UN NEID MÄT JÄL
ICH BIN NICHT DER, FÜR DEN SIE MICH HALTEN!
BANDKOLLEGE, KOMPONIST, MANAGER UND FREUND
DO FÄHLT JO E KOMMA
DECKE SCHRUVE, DÖNNE SCHRUVE, DÜBBELE FÜR ENZEMUURE
GANZ EINFACH UND GENAU AUF DEN PUNKT
DER HUUSMEISTER
DUNN IRJENDJET EREN, WAT RAPPELT!
IM SCHAUSPIELHAUS
ACHTUNG, VERLETZUNGSGEFAHR!
NICHT WIE DE NIRO
DER SCHÖNSTE DREHORT DER WELT
BEIM ZWEITEN MAL SCHON TRADITION
DIE HEILIGEN DREI RAPPER
2006 bis heute
DU BES KÖLLE
KULTIVIERTER MÜSSIGGANG
KEINE KÖLSCHEN KELLYS
EICHHÖRNCHEN, PAPAGEIEN UND FÜCHSE
DU NICHT, HAU AB!
DER ARCHIVEINSTURZ
EIN URCHRISTLICHER GEDANKE
BAUCHGEFÜHL
EIN STARKER MANN
E 40ER SCHÖPPEBLATT
DER ESSERS MÄNN
BEIM PLASTISCHEN CHIRURGEN
WARUM ICH MUSIKER BIN
Zum Schluss
LASS EINFACH DEIN PFERD ENTSCHEIDEN
PERSONENINDEX
Danksagung
Impressum
Dieses Buch ist meiner Familie und meinen Freunden gewidmet, die über Jahre und Jahrzehnte, trotz allem, zu mir gehalten und mir ihre Liebe, Treue und Zuneigung geschenkt haben.
Für die wunderbare Zusammenarbeit an diesem Buch und die Geduld danke ich Bernd Imgrund, Anne Polch und meinem Verleger Helge Malchow.
Mein erster und einziger Fußballverein hatte einen seltsamen Namen: DJK Rheinwacht Sülz. Und unser Schlachtruf lautete damals in den 50ern noch: »Deutsche Jugendkraft – Heil!«
Unser Trainer war der Bäcker Brühne, ein verdammt harter Knochen. Seine Backstube lag auf der Berrenrather Straße, direkt neben dem heutigen Sülzer Grill. Selber kicken konnte er nicht. Der Brühne hatte nämlich einen Klumpfuß, der ihn vor dem Kriegseinzug gerettet hatte. Ich glaube, der Mann mochte uns Kinder, der ging regelrecht auf in dieser Jugendarbeit. Aber auf Ordnung und Pünktlichkeit wurde auch bei ihm schwer geachtet.
Ich bin bei der DJK direkt mit sechs Jahren eingetreten. Rhein-wacht Sülz war ein recht kleiner Verein, unser Platz lag am Fort Deckstein. Natürlich spielte ich auf Rechtsaußen, wie mein Idol Helmut Rahn. Der »Boss«, wie er genannt wurde, war einer der Helden von Bern, wo er im Jahr zuvor die Fußballweltmeisterschaft gewonnen hatte. Wenn ich damals schon sein Tor zum 3:2 im Endspiel gegen die Ungarn hätte sehen können, wäre vielleicht ein anderer Fußballer aus mir geworden. Aber es gab ja kaum Fernseher, und ich war auch noch ein bisschen zu klein, um in eine Kneipe zu gehen.
Helmut Rahn zog immer wieder nach innen und schloss selbst ab. Ich hingegen erinnere mich nur an endlose Läufe entlang der rechten Außenlinie. Immer hoch und runter, hoch und runter, mit jedem Abschlag, bei jedem Konter. Die Aufgaben waren damals klarer verteilt, und meine bestand darin, die Flanken zu schlagen. Der Rechtsaußen war dazu da, den Ball an der Linie entlang nach vorne zu tragen und dann nach innen zu den Stürmern zu befördern. Und genau das tat auch ich, Kreide fressen. Bis es dann ein Ende hatte mit dem Fußball.
Eigentlich hatte ich sowieso immer auch ein bisschen Schiss gehabt. Vor allem, wenn mein Gegenspieler größer war als ich. Und der war meistens größer. Als Stürmer wird man permanent attackiert, und wenn es dann gegen Viktoria oder den SC West ging, hatte man es immer mit richtigen Kanten zu tun. Wenn du hart aufkamst, sahen deine Hände hinterher wie Reibekuchen aus. Schließlich spielten wir früher ausschließlich auf Aschenplätzen. Wo die Haut aufplatzte, setzte sich dieser mal feine, mal grobkörnige Dreck in die Wunde. Am schlimmsten war das im Winter. Ich weiß gar nicht, ob ich’s noch bis in die C-Jugend ausgehalten habe, aber irgendwann war mir der Fußball ohnehin egal. Denn da hatte mich schon etwas ganz anderes gepackt. Mit 12, 13 Jahren war mir klar: Ich will Musiker werden. Und sonst gar nichts.
Die ältesten Wurzeln meiner Familie väterlicherseits liegen im thüringischen Judenbach. Noch heute leben dort im Landkreis Sonneberg eine ganze Menge Engels, mit denen ich entfernt verwandt bin. Mein ältester Sohn René hat das mal ein bisschen recherchiert, und auch meine Schwester Hanny wusste einiges darüber. Ein Bürgermeister von Sonneberg zum Beispiel hieß Engel, und der Bruder meines Opas August betrieb dort eine kleine Manufaktur für Holzspielzeug. Deren Produkte lagen dann zu Weihnachten bei uns unterm Baum.
Ein anderer Zweig unserer Familie stammt aus der Neuwieder Gegend. Auch dort lebt noch so mancher Urururonkel von mir. Engel vor dem Berge hießen diese Ahnen wohl, aber viel mehr weiß ich darüber auch nicht. Auf unserem Wappen sieht man zwei Scheren, die männliche Linie scheint also über Generationen das Schneiderhandwerk gepflegt zu haben. Schneider war auch mein Opa August, genauso wie mein Vater. Als der seine Schere wegen des Einstiegs bei den Vier Botze beiseitelegte, war mein Opa nicht gerade begeistert. Trotzdem hat er für die Band später die Anzüge genäht. Schließlich waren »wigge Botze«, also weite Hosen, ihr Markenzeichen: »Mir sin vier kölsche Junge/In d’r janze Stadt bekannt/Mir drare wigge Botze/ Donoh sin mir benannt«, so heißt es im Gründungslied vom Anfang der 30er-Jahre.
Als ich am 28. November 1949 zur Welt kam, wird mein Vater sich gedacht haben: »Wunderbar, jetzt han ich noch ene kleine Jung.« Immerhin war es elf Jahre her, dass die Engels zum letzten Mal Nachwuchs bekommen hatten. Meine Mutter hingegen dürfte deutlich reservierter an die Sache herangegangen sein. Kein Wunder, schließlich hatte sie damals schon neun Geburten hinter sich. In Sülz mag es noch ein paar andere Familien mit vielen Kindern gegeben haben. Aber mit unseren zehn Pänz fielen wir schon auf, keine Frage.
Manchmal hatte ich später das Gefühl, dass es meiner Mutter Gertrud einfach zu viel war mit diesem Nachzügler. Geliebt haben sie mich beide. Aber sie war die Strengere und die, die sich mehr Sorgen machte, vor allem nachdem mein Vater uns verlassen hatte. Ich verstehe sie heute gut, denn ich war minderjährig, und ich war jede Nacht unterwegs. Welche Mutter nimmt das schon völlig gelassen hin?! Wenn ich in eine neue Band wechselte und mal wieder von irgendeinem deutlich älteren Kumpel abgeholt wurde, ließ meine Mutter sich diese Leutchen immer vorstellen. Aber ob sie denen nun vertraute oder nicht – Limits konnte sie mir ohnehin keine setzen. Einem Musiker kannst du nicht sagen: »Junge, du bist mir um zehn Uhr zu Hause!« Denn um die Zeit standen wir schließlich noch auf der Bühne.
Nach den Gigs wartete sie auf mich. Meine Mutter machte immer erst dann die Augen zu, wenn ich spätnachts endlich nach Hause kam. Rührend war das, und zugleich ein bisschen erstaunlich. Denn von meinem Vater hatte sie es nicht anders gekannt – Musiker haben immer Nachtschicht.
Schon als kleiner Junge war mir klar, dass mein Vater anders als die Väter meiner Sülzer Freunde war. Die gingen morgens in ihrer Arbeitsmontur aus dem Haus, während mein Vater sich irgendwann nachmittags für einen Gig fertig machte. Ich habe noch immer das Bild vor Augen, wie er sich rasierte. Das Rasierwasser brannte offenbar stark, wenn er sich das in die Haut klopfte. Er jaulte dann immer ganz laut. Aber danach roch es bei uns sehr schön, das weiß ich noch.
Mit seiner Band, den Vier Botze, ist mein Vater schon lange vor dem Krieg unterwegs gewesen. Gegründet hatten sie sich 1933, und in ihrer Glanzzeit kannte man sie weit über Kölns Grenzen hinaus. Die Botze waren eine Größe im Karneval, sie traten regelmäßig im Rundfunk auf und produzierten Schallplatten. Auf ihren manchmal wochenlangen Tourneen standen sie mit vielen Stars ihrer Zeit auf der Bühne, mit Zarah Leander, Lale Andersen und Marika Rökk zum Beispiel. Manchmal hat mich mein Vater zu Auftritten auf dem Rhein mitgenommen. Die Ausflugsschiffe tuckerten bis Königswinter, bis zum Drachenfels, danach ging’s wieder zurück nach Köln. Und um den Passagieren etwas Unterhaltung zu bieten, wurde während der ganzen Fahrt Musik gemacht. Dort waren nicht nur die Botze am Start, sondern alle möglichen kölschen Sänger und Redner. Ich erinnere mich in dem Zusammenhang etwa an Fritz Weber, von dem unter anderem »Ich bin ene kölsche Jung« stammt. Und an den Büttenredner Karl Schmitz-Grön, der 2002 mit sagenhaften 104 Jahren gestorben ist.
Beliebt waren die Botze vor allem für ihre Parodien. Dafür knöpften sie sich bekannte Schlager vor und setzten auf die Melodien ihre eigenen Texte. Man denke nur an Caterina Valente und ihren Hit »Ganz Paris träumt von der Liebe«. Bei den Vier Botze hieß das stattdessen: »Janz Paris steit unger Wasser, janz Paris kritt nasse Fööss.«
Daneben hatten die Botze aber auch Hits wie die »Kayjass« im Programm. Die Hymne auf den Lehrer Welsch stammt zwar von den Drei Laachduve und aus dem Jahr 1938. Aber erst die Version der Botze von 1945 machte den Song richtig bekannt. Besonders gern mochte ich außerdem ein Lied, das mein Vater immer gesungen hat: »Komm mal zum Papa aufs Schößchen, komm mal ein bisschen zu mir. Und wenn du brav und artig bist, dann bleib ich auch immer bei dir.« Sehr liebevoll klang das, gesungen auf eine getragene, leicht schunkelnde Melodie. Habe ich noch heute als Schellackplatte zu Hause.
Die Vier Botze haben oft irgendwo an der Front gespielt. Jenseits dessen war mein Vater auch selbst als Soldat im Einsatz, in Skandinavien, soweit ich weiß. Aber ich kann mir diesen Mann beim besten Willen nicht mit einer Knarre in der Hand vorstellen. Der war bis ins tiefste Innere Pazifist. Nach dem Krieg lag seine Musikkarriere zunächst einmal brach. Trotzdem musste eine große Familie durchgebracht werden. Und das hat er gut gemacht, mein Vater, in der Hinsicht kann ich nur den Hut vor ihm ziehen. Und genauso vor meiner Mutter, ganz viele Hüte sogar. Die Evakuierung zum Kriegsende hin hatte die Familie in den Westerwald verschlagen, wo nach der Kapitulation die US-Armee einzog. Weil mein Vater Englisch konnte, verdingte er sich bei den Amis als Koch. Der war in der Lage, aus nichts etwas zu zaubern. Später in den 60ern betrieb er für einige Jahre die Sportflieger-Klause am Butzweilerhof, und auch dort hat er selbst gekocht. Um das Aroma seiner Suppen aufzupeppen, verwendete er zum Beispiel einen sehr eigenwilligen Zusatz: Er legte Teebeutel hinein.
Auf dem Gelände des Butzweilerhofes habe ich später so manchen Ferientag verbracht. Hin und wieder gab es Höhepunkte wie die Segelflugwoche. Da kamen Clubs wie der Polizeisportverein oder die Ford-Gruppe und demonstrierten ihr Können. Für mich als kleiner Panz war das eine spannende Zeit. Und das absolut Größte war es, mit einem Zweisitzer-Segelflugzeug, einer K 7 zum Beispiel, ein paar Runden durch die Luft zu drehen. Auch heute noch träume ich davon, den Flugschein zu machen – na ja!
Als mein Vater die Kneipe 1965 aufgab, war er schon zwei Jahre von zu Hause fort. Die richtig großen familiären Zusammenkünfte habe ich leider nicht miterlebt, weil ich so ein später Nachzügler war. Aber auch ich habe nie allein am Tisch gesessen, das gab es bei uns nicht. Unsere Wohnung in der Sülzer Lotharstraße verfügte noch über eine richtige Wohnküche, wie das früher üblich war. Ein großer Tisch gehörte dazu, und am Fenster stand ein geräumiges Sofa. Vom Balkon aus konnte ich über die Mülltonnen in den Hinterhof klettern. Eine Tonne habe ich schon deshalb immer genau darunter platziert, damit meine Katze ins Haus springen konnte.
Am Kopfende des Tisches, mit dem Rücken zum Balkon, saß immer mein Vater. Ein Problem von damals mag heute überraschen: Ich war ein sehr schlechter Esser. Ich mochte nämlich sehr vieles nicht. Nehmen wir nur mal Spinat, das war das Grauen! Deshalb wendete mein Vater oft einen Trick an, um mich zum Essen zu bringen. Dann schmierte er sich sein Butterbrot immer mit unglaublicher Sorgfalt, als wäre diese Scheibe das Wertvollste auf der Welt. Und wenn er fertig war, schnitt er sie in kleine Reiterchen, um sie daraufhin unglaublich genussvoll zu verzehren. Völlig klar, dass er die ganze Nummer nur für mich abgezogen hat, der ich immer direkt neben ihm saß. Und prompt musste ich mir dann natürlich auch das ein oder andere Stückchen klauen, schon allein wegen der gespielten Erstauntheit meines Vaters, wenn er entdeckte, dass von seinem Teller wieder ein Happen fehlte. Ich war damals vielleicht fünf, und in dem Alter amüsiert man sich, wenn der Vater so erschreckt tut: Oh, wer hat denn da wieder was von meinem Teller stibitzt?
Jedenfalls bin ich so ans Essen gekommen. Damals war ich nicht nur klein, sondern auch sehr schmal, aber na ja, auch das hat sich Gott sei Dank ein wenig geändert. Und apropos Gott: Gebetet wurde bei Engels nie vor dem Essen, das war nicht nötig. Schließlich wohnten wir direkt gegenüber der Nikolaus-Kirche.
In unserer Küche ging es immer sehr lebhaft zu. Wir hatten oft Besuch, und als ich 1974 mit meiner eigenen Familie hier einzog, sollte es genauso weitergehen. Beinahe täglich stand Hans Süper in der Tür, dessen Vater hier auch schon oft gewesen war. Schließlich hatte dieser mit meinem Vater bei den Vier Botze gespielt.
Damals, als ich noch klein war, kam auch meine Tante Ulli häufig vorbei. Die Schwester meines Vaters sollte mir bald meine ersten Jobs beim WDR besorgen. Besonders gefreut habe ich mich auch immer über Tante Änne. Eigentlich hatte ich sie als Tante adoptiert, weil sie so intensiv nach Tante roch. In Wirklichkeit war ich mit Änne nicht verwandt und sie nur eine Freundin meiner Mutter. Ich mochte sie nicht zuletzt deshalb so sehr, weil sie mir vieles beibrachte. Tante Änne sprach ein gepflegtes Hochdeutsch und konnte mir bei jeder Art von Hausaufgaben helfen.
Die Mutter meines Vaters habe ich nie kennengelernt, wohl aber Oma Stöcker, wie wir sie nannten. Bis zu ihrem Tod war meine Oma mütterlicherseits oft bei uns zu Gast. Eine resolute Person war das, und sie trug gern ihr schwarzes Kleid mit den weißen Punkten. Damit lehnte sie sich aus genau jenem Fenster, hinter dem Jahrzehnte später meine Kinder herumturnten. Von dort aus überschaut man die Lotharstraße, den Spielplatz und die Kirche. Da war immer was los. Auch meine Mutter stand zum Ende hin oft an diesem Fenster.
Wenn es als kleiner Junge Zeit für mich war, ins Bett zu gehen, kam Marga ins Spiel. So schlecht, wie ich aß, schlief ich auch ein. Und meistens wurde meine jüngste Schwester damit beauftragt, mich in den Schlaf zu singen. Marga sang ein Liedchen nach dem anderen, aber wenn sie fertig war, sah Klein-Thomas sie noch immer mit großen Augen an. Irgendwann muss sie vor lauter Verzweiflung begonnen haben, eigene Verse zu dichten. Einer davon, den sie mir später überlieferte, klingt ausgesprochen lyrisch: »Ich geh und steh an dir vorbei«, sang Marga. Ein herrliches Bild, das ein eigenes Lied wert wäre.
Dass ihr irgendwann schlicht und einfach die Songs ausgingen, war jedoch noch Margas geringstes Problem. Denn draußen wartete längst Theo, ihr Freund, mit dem sie ausgehen wollte. Theo offenbarte mir lange Zeit später, dass er sich über diesen hellwachen Zwerg jahrelang geärgert hatte. Seiner Liebe zu Marga jedoch scheinen meine abendlichen Sperenzchen keinen Abbruch getan zu haben. Die beiden haben trotzdem geheiratet und bekamen zwei Mädels und zwei Jungs.
Auch bei anderen Gelegenheiten war ich meinen älteren Schwestern wohl manchmal im Weg. Wenn sie zum Beispiel ins Kino wollten, aber eigentlich auf mich aufpassen mussten, wurde ich oft einfach mitgeschleppt. Was die Mädels dort hintrieb, war klar: Liebesfilme mit Typen wie Tyrone Power oder Errol Flynn, die sie anschmachten konnten. Einmal begann ich in einer besonders dramatischen Szene zu quengeln, weil ich pinkeln musste. Da jedoch in dem Moment niemand mit mir auf die Toilette gehen wollte, zog man mir die Hose runter, und das Geschäft wurde mitten im dunklen Saal verrichtet.
Meine ersten bewussten Filmerlebnisse spielen im Rolandkino an der Berrenrather Straße. Meistens gingen wir am Sonntagmorgen dorthin, die Frühvorstellungen begannen um elf Uhr. Für 70 Pfennig sah man die Westernserie »Fuzzy Jones« mit Al St. John, das war so ein kleiner Kerl mit großem Schnäuzer. Auch Filme von Dick und Doof, wie wir damals zu Laurel und Hardy sagten, sah ich dort zum ersten Mal.
Später fuhren wir dann natürlich in die Stadt, um richtiges, großes Kino zu erleben. Ich war in »Ben Hur«, als er frisch herauskam, Charlton Heston war noch jung und ich erst recht. Der erste Film mit Überlänge, ein Wahnsinn. Auch meine Lieblingsschauspielerin hatte ich in einem Historienschinken kennengelernt: Michèle Mercier spielte die Angélique in den Serienfilmen nach den gleichnamigen Romanen. Blond war die, eine unheimlich hübsche Frau. Und ihr Liebhaber, den sie nicht sehen durfte, trug eine breite Narbe im Gesicht.
Das Rolandkino existiert schon ewig nicht mehr. Außer dem Weiß-haus hat in Köln kaum ein Veedelskino überlebt. Der Saal im Weißhaus ist bis heute mit einer richtigen Bühne ausgestattet, auf der früher einiges los war. Dort habe ich sogar mal Can gesehen, Kölns einzige weltberühmte Band.
Wann ich selbst zum ersten Mal mit Musik in Berührung kam, ist schwer zu sagen. Bei uns wurde keine Hausmusik gemacht, jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Mein Vater spielte kein Instrument, der war ja Sänger. Davon allerdings bekamen wir zu Hause keine Kostproben, auch in der Badewanne sang er nicht. Ganz anders hingegen »Onkel Toni«, jener Nachbar, der mit seiner Frau Paula gegenüber im Parterre wohnte. Soweit ich weiß, war er als Tenor beim Kölner Opernchor beschäftigt, und er probte praktisch jeden Tag und ohne Kompromisse. »Oh Jott«, sagte mein Vater dann immer, »jetz singk dä widder sing Meet af.«
Immerhin probten die Botze ab und zu bei uns im Wohnzimmer. Dann durfte ich zuhören. In unserem Flur stand sogar ein Klavier, das mein Vater irgendwann gekauft hatte. Darauf habe ich manchmal ein bisschen herumgeklimpert, aber dass diese Fingerübungen mich musikalisch vorangebracht haben, wage ich zu bezweifeln. Echte Choratmosphäre kam immer an Heiligabend auf, wenn meine Brüder eintrudelten. Irgendwann klingelte es, und dann standen die vier im Hausflur: Albert, Peter, August und Josef. Dort im Flur wurden dann auch die Weihnachtslieder gesungen, alle Jahre wieder. Die anderen Hausbewohner kamen von oben dazu, hatten Kerzen in der Hand und stellten sich vor die Briefkästen gegenüber unserer Haustür. Meine Brüder hatten schöne Stimmen, die konnten wirklich toll singen. Und ich – klein, wie ich war – habe mit offenem Mund zugehört, weil ich diese Momente immer so schön fand.
Später, als mein Vater nicht mehr bei uns wohnte, waren wir dann halt allein an Weihnachten. Was willst du machen? Ich habe ihn vermisst, und am Anfang hat es auch eine kurze Funkstille zwischen uns gegeben. Aber als es dann mit der Musik für mich anfing, stand er mir längst wieder zur Seite.
Ich habe noch heute eine kleine Sammlung alter Schellackplatten. Ein großartiges, leider ausgestorbenes Material ist das. Auch ein Grammofon besitze ich. Keine Ahnung, was das Teil heute wert ist, aber ich habe es recht billig bekommen. An der Seite befindet sich eine Kurbel für den Antrieb, und mein Exemplar ist sogar mobil, ein Koffergerät aus den 20er-Jahren. Das konnte man damals mit ins Schwimmbad nehmen und vor den Mädels mit der neuesten Musik angeben. Es gibt Tage, an denen ich den Blues habe, et ärme Dier, wie man in Köln sagt. Dann schmeiße ich den alten Kasten noch mal an, und es geht mir besser.
Als ich klein war, stand bei uns zu Hause eine richtige, tja, heute würde man sagen: Kompaktanlage. Ein großes Möbelstück war das, mit einem Fernseher auf der rechten und dem Radio auf der linken Seite. Unser Wohnzimmer wurde wie in allen Familien damals nur an Sonntagen geheizt. Aber dort stand die Anlage. Zum Glück durfte ich sie benutzen, wann immer ich wollte. Und mir hat auch niemand den Sender vorgeschrieben, meine Eltern waren da vollkommen kulant. Bei uns wurde normalerweise der NWDR eingeschaltet, wie der Westdeutsche Rundfunk nach dem Krieg zunächst hieß. Aber was dort im Radio lief, war damals nicht sonderlich interessant für mich.
Wenn ich allein war, habe ich Schallplatten aufgelegt. Sobald ich die Musiktruhe aufklappte, eröffnete sich ein neues Reich. Mit der Sammlung meiner Eltern war ich schon sehr früh vertraut. Schon als Drei-, Vierjähriger erkannte ich jede Scheibe an ihrem Label, ich wusste immer sofort, welcher Titel sich dahinter verbarg. Mein erster Ohrwurm wurde »Buona Sera Signorina« von Rocco Granata. Der sang auch »Marina«, das war Ende der 50er ein echter Welthit. Und ich stand in Sülz an der Musiktruhe und sang mit. Blendax-Italienisch-Englisch, versteht sich.
Wenn ich heute Vinyl hören will, stelle ich mich zu Hause an meine Musikbox. Die habe ich vor Jahrzehnten einem türkischen Imbissbesitzer abgekauft, total fettig und verranzt sah sie aus. Bis heute führt sie ein gewisses Eigenleben, das heißt, sie läuft nur, wenn sie will. Aber der Sound ist erstklassig, dagegen kannst du jeden CD- oder MP3Player vergessen. Die klingen nach Plastik, Vinyl hingegen ist eine »fette Mama«: Der Sound ist fleischiger, fülliger.
Die Wohnzimmeranlage der Engels war in den 50ern ziemlich beliebt, aber auch aus anderen Gründen hatten wir oft die Nachbarschaft im Haus. Denn dank meines Vaters besaßen wir als eine der ersten Familien einen Fernseher und darüber hinaus sogar ein Telefon. In der Hinsicht konnte in der Lotharstraße kaum jemand mithalten. Bei uns kamen die Leute vorbei, wenn sie jemanden anrufen wollten, und das war gar nicht so einfach. Zunächst wählte man die Nummer, und wenn dann am anderen Ende jemand abhob, mussten schnell die 20 Pfennig in diesen Automaten gedrückt werden. Den Schlüssel für das dazugehörige Geldkästchen hütete mein Vater. Aber mein Bruder August, nun ja, der konnte diese Kassette auch ohne Schlüssel öffnen. Meine großen Brüder haben immer irgendwie versucht, an Knete heranzukommen. Und August war in solchen Angelegenheiten unglaublich geschickt. Deshalb war in dem Telefonkästchen eben nie etwas drin, wenn mein Vater nachsah.
August brachte es auch fertig, unserem Vater regelmäßig die Rückwand seines Kleiderschrankes aufzuschrauben. Von vorn war der verschlossen, aber von hinten konnte man ihn mit einem Schraubenzieher öffnen. Und warum das Ganze? Weil in diesem Schrank die Bühnenklamotten meines Vaters hingen. Feine Anzüge in allen Farben, die Band trat schließlich immer einheitlich auf. Bevor sie zum Gig fuhren, verständigten sie sich: Was ziehen wir heute an? Und dann hieß es meinetwegen: »Rickes, heute laufen wir im braunen Anzug auf, dazu braune Schuhe und braune Krawatte.« Aber wenn mein Vater sich dann umzog, fehlte immer irgendein Teil. Besonders gern die gewichsten Schuhe, mein Vater und der August hatten dieselbe Schuhgröße. Tja, und weil die Zeit immer drängte, musste mein Vater sich schnell an die Strippe hängen: »Botze, heute blauer Anzug, blaue Krawatte, schwarze Schuhe! D’r August hät ming brung Schoh an.«
Man muss allerdings dazusagen, dass mein Bruder sich solche Scherze jederzeit leisten konnte. August war so etwas wie der Lieblingssohn meines Vaters. Ein sehr sportlicher und erfolgreicher Junge, seinerzeit Boxer beim SC Colonia, das freute meinen Vater. Später, als ich auf die Welt kam, verschob sich die Liebe dann ein wenig. So ein Nesthäkchen ist halt immer etwas Besonderes. Aber der August hat mir das nie übel genommen, der konnte mich gut leiden. Überhaupt kann ich mich an keinen einzigen Krach erinnern, den wir unter uns Geschwistern gehabt hätten. Schön, wenn man eine Familie hat, in der man sich geborgen fühlt und alle zusammenhalten.
In Sülz hatten wir zwar nicht den Rhein, aber dafür den Duffesbach. Und der ist ja auch viel wichtiger, Köln liegt nicht am Rhein, sondern am Duffesbach. Den nämlich haben sich die Römer damals als natürliche Südgrenze für ihre neue Kolonie ausgesucht, sonst hätten sie Köln ja auch weiter flussabwärts gründen können. Später, im Mittelalter, hat sich Köln im Halbkreis an den Rhein gelegt, und der Duffesbach floss mitten hindurch. Früher haben die Bauern aus dem Vorgebirge das Wasser des Duffesbachs oft auf ihre Felder abgeleitet. Die Kölner Handwerker standen dann plötzlich ohne ihr Brauchwasser da. Die Streitigkeiten gingen sogar so weit, dass deswegen im 16. Jahrhundert der »Hürther Krieg« geführt wurde. Ein Krieg zwischen Köln und Hürth, das muss man sich mal vorstellen! Und all das wegen des kleinen Duffesbachs.
Ich erinnere mich noch gut an seinen Geruch. Der entspringt ja in der Ville bei Knapsack, also wurde ihm immer ordentlich Chemie beigemischt. Auch wenn man ihn in Sülz nicht gesehen hat, so hat man ihn zumindest gerochen. Der Duffesbach roch in meiner Kindheit säuerlich, angesäuert, sauer. Und ich wäre auch sauer, wenn man mich so behandeln würde. Denn am Militärring/Ecke Berrenrather wird er in eine unterirdische Röhre geleitet, direkt gegenüber der Einfahrt zum Geißbockheim. Ab da ist er nicht mehr zu sehen, das ist eigentlich eine Schande. Die Kölner sollten sich zum Duffesbach bekennen, statt den zu kanalisieren. Ich glaube, der fließt irgendwo auf der Höhe vom Schokoladenmuseum unsichtbar in den Rhein. Kein Wunder, dass heute kaum noch jemand weiß, dass »die Bäche«, also der Rothgerber-, der Blau- und der Mühlenbach, alle eins sind: nämlich Abschnitte des Duffesbachs.
Vor dem Krieg haben meine Eltern mit ihren neun Kindern sogar direkt am Bach gewohnt. Das Haus an der Alten Mauer am Bach gehörte zum Griechenmarktviertel. Auch die anderen Mitglieder der Vier Botze wohnten damals mehr oder weniger um die Ecke, aber alles dort, das gesamte Veedel, ist im Krieg völlig zerstört worden. Da stand 1945 gar nichts mehr.
Nach der Evakuierung kehrte meine Familie zurück nach Köln und wohnte zunächst in einem Behelfsheim an der Boltensternstraße. Ich jedoch bin ein reines Sülzer Kind, denn noch vor meiner Geburt kam das Angebot, eine Genossenschaftswohnung in der Lotharstraße zu beziehen. Meine Brüder erzählten mir später, dass auch dieses Haus arg gelitten hatte und sie die Räume mit vereinten Kräften wieder in Schuss gebracht haben.
Inzwischen wohne ich seit über 20 Jahren im Severinsviertel. Das für mich kölscheste Veedel von allen wurde lange Zeit von der Schokoladenfabrik geprägt. Auch meine Schwestern haben dort eine Weile gearbeitet. Die Firma Stollwerck galt als außerordentlich streng, da durfte man nie etwas mitnehmen und wurde am Ausgang kontrolliert. Den Chef nannte man nicht umsonst den Kamellelump, der passte scharf auf seinen Besitz auf. Darüber gibt es sogar ein altes kölsches Lied, das genau so heißt: »Der Kamellelump«:
Ich han ens jejesse
e Stöck Schokolad’.
Do kom der Inspektor, der stramme Soldat.
Hä pack mich beim Weckel
un schmess mich erus.
Jetz han ich kein Arbeit un setze ze Hus.
Trotzdem brachten mir meine Schwestern manchmal Blockschokolade mit. Die war irgendwie anders als das, was man im Laden bekam. Die war zum Beispiel nie richtig eingepackt. Deswegen nehme ich an, die haben sie für mich einfach vom Band geklaut.
Die ersten Ausflüge in die Südstadt unternahm ich immer am Rosenmontag. Denn den Zug sahen wir stets vor einer Kneipe auf der Severinstraße. Schon seit meiner Geburt war ich dem Karneval verbunden, schließlich hieß mein Patenonkel Thomas Liessem.
Liessem war seinerzeit als langjähriger Präsident von Prinzengarde und Festkomitee schon seit Vorkriegszeiten der mächtigste Mann im Kölner Karneval. Als die Vier Botze einmal im Gürzenich auftraten, stellte er sie mit den Worten vor: »Meine Damen und Herren, ob Sie’s glauben oder nicht, derjenige, der hier am unschuldigsten aussieht, der hat schon sage und schreibe neun Kinder. Und das ist der Richard Engel!« Und als das Gelächter und der Applaus verebbten, setzte er meinem Vater die Pistole auf die Brust: »Wenn d’r Storch noch ens kütt un dat ene Jung weed, weeden ich Pattühm!« So jedenfalls erzählte es der Kölner Stadt-Anzeiger 1949 anlässlich meiner Taufe. Ablehnen konnte mein Vater dieses Angebot damals schlecht. Außerdem wird er sich gesagt haben: Schaden kann es auch nichts. Und bei der Taufe wurde dann auch jenes Foto geschossen, auf dem mich Thomas Liessem im Arm hält. Dazu bekam ich ein Sparbuch mit 111 Mark drauf und einer Widmung: »Däm kleine ›Bötzje‹ et eeschte Fahrjeld för dä wigge Wäch en d’r Fastelovend vun singem Pattühm Thomas Liessem.« Später, zur Kommunion, sollte ich noch einmal 111 Mark bekommen. Und eine Jungenuhr von Junghans, die aber direkt in den dunklen Kanälen meiner großen Brüder verschwand. Die galt dann als verschollen und ist nie wieder aufgetaucht.
Thomas Liessem ist 1973 gestorben, da war ich 23. Er war zwar mein Patenonkel, aber richtig viel zu tun hatte ich mit ihm nie. Als ich erfuhr, wie gut er mit den Nazis gestanden hatte, überraschte mich das nicht wirklich. Er trug ja immer diesen kleinen, markanten Schnäuzer. In die NSDAP war Liessem bereits 1932 eingetreten. Ab 1933 hatte er jene Rosenmontagszüge mit zu verantworten, in denen massiv antisemitische Wagen mitfuhren. Er war in der Partei, er hat mitgezogen, das hat ihm Vorteile gebracht. Wie vielen anderen auch. Ich hoffe, dass er sonst nicht viel Böses gemacht hat.
Zu Lebzeiten war Thomas Liessem nicht nur ein einflussreicher Karnevalist, sondern auch ein reicher Mann. Er führte ein großes Spirituosenunternehmen und arbeitete mit allen möglichen Firmen zusammen. Unter anderem belieferte er Hans Herbert Blatzheim, den »Gastronomie-Zar«. Der Stiefvater von Romy und Mann von Magda Schneider versorgte damals alle großen Sitzungen und sonstigen Feierlichkeiten im Gürzenich mit Essen und Getränken. Thomas Liessem trank dort als Sitzungspräsident also quasi seine eigenen Spirituosen.
Als ich acht Jahre alt war, schenkte mir mein Patenonkel eine Uniform der Prinzengarde. Darin »durfte« ich sogar einmal als Prinzengardist auf Liessems Wagen im Rosenmontagszug mitfahren – ganz unten, zu seinen Füßen. Diese Verkleidung sollte mir die kommenden Sessionen versauen, denn sie war furchtbar unbequem. Der absurd hohe Messinghelm drückte mir schwer gegen die Stirn, die darunterliegende Perücke betäubte meine Ohren. Alles juckte und piekte und schmerzte, dabei wär ich viel lieber als Cowboy rumgelaufen, wie die anderen Jungs in meinem Alter. Aber mein Vater bestand darauf, dass ich auch in den Folgejahren als Gardist ging. Einschneidende Erlebnisse, wobei es allerdings überinterpretiert wäre, daraus meine späteren Probleme mit dem Karneval herzuleiten.
Genauso gut wie an die schreckliche Uniform erinnere ich mich an die Geschichte mit Thomas Liessems Pralinen. Ich ging mit meinem Vater spazieren. Vom Neumarkt aus kamen wir an der Wolkenburg vorbei und wollten über die Zülpicher Straße wieder nach Hause gehen. Plötzlich jedoch sagte mein Vater zu mir: »Ach, he wonnt doch d’r Thomas, dinge Pattühm. Jangk dä doch ens besöke.« Ich wusste nicht, was ich da sollte, aber mein Vater meinte: »Saach dem einfach ens Joden Dach, un dann luure m’r wigger.« Mein Vater hatte immer einen gesunden Erwerbssinn, der wollte mir sicherlich etwas Gutes tun in dem Moment. Er selbst hat draußen gewartet, ich sollte allein gehen. Also wurde ich von einer Frau, Liessems Sekretärin vielleicht, angemeldet. Die Tür ging auf, und was ich sah, war sehr beeindruckend. Ich könnte diesen Raum noch heute aufmalen. Der Schreibtisch stand direkt hinter der Tür, und sämtliche Wände waren mit dunklen Holzpaneelen ausgeschlagen. Sehr edel war das alles, irgendwo stand sogar ein großes Modellsegelschiff. Und vor allem roch es durchdringend nach Zigarren. Den Liessem sah man praktisch nie ohne seine Zigarre. Dann kam er auf mich zu und sagte: »Tömmes, das ist aber eine Überraschung!« Er hat mich umarmt, wir haben uns kurz unterhalten, und dann hat er mir zehn Mark in die Hand gedrückt. Am Ende ging er noch an eine seiner Schubladen und kramte da eine Riesenschachtel Pralinen heraus. »Dat es för ding Mamm«, sagte er, und dann war ich entlassen.
Meine Mutter hat sich natürlich gefreut. Aber als sie ein paar Tage später mal ein Pralinchen essen wollte, kam das böse Erwachen. Die waren nämlich komplett verschimmelt. Der Liessem, der Sack, hatte die wahrscheinlich schon jahrelang in seinem Schrank liegen.
Bei dem Bläck-Fööss-Song »Pänz, Pänz, Pänz« (1975) handelt es sich um ein Neil-Young-Cover. Ein schönes kölsches Wort ist das: Pänz. Und es passt herrlich zum englischen Original, denn bei Neil Young lautet der Refrain »Dance, Dance, Dance«. Vom Rhythmus her erinnert unsere Version an eine Polka, während es inhaltlich um die Probleme von Kindern in der Großstadt geht: um verbotene Grünanlagen, um fehlende Spielplätze und mosernde Erwachsene.
Ich selbst habe noch ein ganz anderes Köln erlebt. An Spielplätzen gab es für uns keinen Mangel, die fanden wir auf Trümmergrundstücken genauso wie in Bombentrichtern. Sülz war unsere Welt, mehr brauchten wir auch nicht. Sobald der erste Schnee fiel, marschierte ich mit meinem Schlitten in den Beethovenpark, das gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen. Auch dort gibt es einen alten Schuttberg aus Kriegstrümmern. Den kraxelten wir hoch mit unseren Schlitten, und dann jagten wir runter. Von morgens bis abends. Noch immer ist mir dieses Geräusch unangenehm in den Ohren, das der Schlitten auf den Straßen machte, wenn der Schnee dort schon geschmolzen war. Dieses Knirschen und Kratzen der Kufen – unvermeidlich, wenn man das Teil nicht tragen wollte. Hart war auch, dass die Klamotten mit jedem Sturz immer nasser wurden. Wir hatten meist einfache Trainingsanzüge an, unten pumpig und mit einem Gummizug versehen. Wenn die sich voll Wasser sogen, wurden sie immer schwerer. Die Feuchtigkeit gefror wieder, und am Ende hingen dir gebrochene Eisschollen um die Knöchel. Den Heimweg absolvierten wir dann durchgefroren und steif wie Holzmännchen.
Ich weiß noch, einmal habe ich mir zu Hause nach so einem Tag eine Wärmflasche gemacht. Meine Mutter hatte mir zwar mal gezeigt, wie das nach dem Einfüllen mit dem Luftherauslassen geht, aber, nun ja, ich war noch ziemlich unerfahren. Und dann ist mir die ganze heiße Suppe auf den Oberkörper gespritzt. Für die Krönung sorgte schließlich meine Mutter, die den Brand mit Mehl »löschen« wollte. Die hat mir da tatsächlich Mehl drübergekippt, was so ziemlich das Falscheste war, was sie machen konnte. Danach sah ich aus wie ein paniertes Schnitzel. Aber gut, es ist nichts zurückgeblieben. Wegen so einer Lappalie ging man damals nicht einmal zum Arzt, und nach ein paar Tagen war ich wieder fit.
Im Winter zogen wir auch gerne zum Weißhaus-Schlösschen. Dieses ganze Anwesen an der Luxemburger Straße ist ja heute fest verschlossen. Aber im Winter erlaubte es der Besitzer damals, dass wir auf seinem zugefrorenen Teich spielten. Ich hatte zwar keine Schlittschuhe, aber einen gebogenen Stock. Und damit haben wir dort Eishockey gespielt. Die Einzigen, die uns manchmal wegjagten, waren die Schwäne dort. Für einen kleinen Jungen sind das ziemlich imposante Tiere, frech wie Dreck, bei denen muss man aufpassen. Im Sommer jedoch blieb das Tor verriegelt. Dann gingen wir stattdessen weiter zum Räuberwäldchen, das direkt dahinterlag. Letztlich handelte es sich dabei um einen riesigen Bombentrichter. Den Schlossherrn sah man erst zu St. Martin wieder, wenn wir dort singen gingen. Auch wenn man Toten nicht übel nachreden sollte, muss ich sagen: Viel bekommen haben wir dort nie.
Der Weg zum Weißhaus-Schlösschen war für uns immer ein regelrechter Ausflug. Das lag schließlich schon in Klettenberg, also auf der anderen Seite der Luxemburger. Das eigentliche Zentrum meiner Welt war hingegen das Nikolausplätzchen, dem wir direkt gegenüberwohnten. Der Spielplatz dort sah damals noch ein bisschen anders aus als heute. Er war schöner, wie ich finde, nicht so nackig, sondern irgendwie spannender. Der war etwas verwilderter und von dichten Büschen umgeben. Der Gärtner dort hat mehrmals versucht, einen Rosengarten anzulegen, um die Ruhebänke vom Spielplatz abzuschotten. Versucht, wie gesagt. Aber daraus wurde nie etwas, an solche Regeln und Grenzlinien haben wir uns einfach nicht gehalten. Wenn wir mit unseren Rädchen durch den frisch angelegten Rosengarten heizten, ging es zur Sache. Jedenfalls bis zu dem Moment, wo ich bremsen musste.
Bei einer meiner Weihnachtsengel-Shows habe ich mal den Witz von dem kleinen Mädchen und dem Polizisten erzählt:
Dieses Mädchen hat zu Weihnachten ein Rädchen bekommen und will seine erste Fahrt machen. Da kommt dieser Polizist auf seinem Pferd dahergeritten und hält das Mädchen an. »Das hast du bestimmt zu Weihnachten gekriegt, das schöne Fahrrad«, sagt er. Und das Mädchen antwortet: »Ja.« Der Polizist darauf: »Da fehlt aber doch eine Lampe hinten. Das musst du dem Weihnachtsmann sagen. Nächstes Mal, wenn du ein Fahrrädchen bekommst, gehört hinten eine Lampe dran!« Sagt das Mädchen: »Und das nächste Mal, wenn du ein Pferdchen kriegst, sagst du dem Weihnachtsmann: Das Arschloch gehört nach hinten und nicht obendrauf.«
Mein erstes Rädchen stammte von der Firma Gold-Rad und fuhr auf dicken Ballonreifen. Irgendwann habe ich es gegen ein richtig großes 26er eingetauscht. Das Problem dabei war nicht nur, dass ich eigentlich noch viel zu klein für diesen Rahmen war – ich kam mit den Beinen nur unter der Querstange an die Pedalen –, nein, viel schlimmer war, dass dieser Drahtesel über keine Bremsen verfügte, nicht mal über Rücktritt. Wenn ich heute zurückdenke, warum ich mir das antat, kann es sich nur um Imponiergehabe gehandelt haben. Klar, ich wollte die Mädels aus dem Veedel beeindrucken, was sonst?! Jedenfalls fuhren wir im Rosengarten unsere Runden, und wenn ich bremsen musste, ging es für mich einfach ab ins Gebüsch. Oder ich versuchte, mit dem Fuß den Hinterreifen zu erreichen und dadurch meine Geschwindigkeit zu drosseln. Aber letztlich war das so oder so eine schmerzhafte Angelegenheit. Und ob das den Mädchen imponiert hat, wage ich zu bezweifeln.
»Ming eetste Fründin«, der Song, in dem ein Junge das »Meiers Kättche« auf seinem »Rädche« mitnimmt, war ein Alleingang von Hans Knipp. Der Hans war für die Bläck Fööss wie ein Scout, vor allem am Anfang profitierten wir sehr von seiner Erfahrung. Gerade was die kölschen Texte betraf, war dieser Mann uns um Längen voraus. Immerhin hatte er bereits Lieder wie »Mer schenken der Ahl e paar Blömcher« (1968) und »Ene Besuch em Zoo« (1969) geschrieben, bevor die Fööss überhaupt gegründet wurden. Und als er 2011 starb, zählte man über 700 Songs!
Mein eigenes Verhältnis zu Hans Knipp war nicht wirklich innig, aber von Respekt geprägt. Man konnte lachen mit ihm, durchaus. Ich weiß das, schließlich war er oft mit uns in Klausur an der Hasborner Mühle. Aber eigentlich war das ein stiller Mensch. Mit den von ihm geschriebenen Hits hätte er ein komplettes Programm bestreiten können, denken wir nur an »Linda Lou« oder den »Buuredanz«. So etwas wie »Ein Abend mit Hans Knipp« hätte durchaus Erfolgschancen gehabt, und wir hätten ihm das auch bestimmt nicht krummgenommen.
Im Gegenteil, ich wäre für einen Song dazugekommen. Aber Hans sah sich nie als großen Sänger, sondern vor allem als den Mann im Hintergrund, als Songschreiber.
Wir Fööss haben aus seiner »Ming eetste Fründin«-Vorlage 1976 jene Version gemacht, die zum Evergreen wurde. Ein »Meiers Kättche« hat jeder mal in seiner Jugend gekannt und dabei etwas Ähnliches erlebt. Mir gefällt der Gedanke, dass ein Lied so beliebt bei den Menschen wird, dass irgendwann kaum noch jemand weiß, wer es überhaupt gesungen oder gar geschrieben hat. Wenn du heute zum Beispiel irgendwo »Spanien« rufst, antwortet die ganze Gemeinde »Olé«. Der Begriff »Volkslied« ist durch die NS-Zeit beschmutzt worden, denn die Nazis haben manches schöne Lied für ihre Zwecke missbraucht. Heutzutage würde ich das Wort jedoch wieder benutzen, weil es den Sachverhalt so gut trifft. Ein Volkslied ist im kollektiven Gedächtnis verhaftet, es ist eingegangen in die ewigen Jagdgründe der Lieder. Auf jeder Blume dort wächst ein Song, und wenn er irgendwo erklingt, kann jeder sofort einstimmen. Es war zum einjährigen Gedenken an den Einsturz des Kölner Stadtarchivs, als ein Mahnmarsch zur Unglücksstelle aufbrach: Am Bauzaun dann stimmte einer der Teilnehmer »En unsrem Veedel« an. Und alle sangen mit.