Jürgen Kehrer
Münsterland ist abgebrannt
Kriminalroman
Rowohlt Digitalbuch
Jürgen Kehrer wurde 1956 in Essen geboren und lebt seit langem in Münster. Er hat bisher 18 Krimis mit seinem einzigartigen Helden, dem unter chronischem Geldmangel leidenden Privatdetektiv Georg Wilsberg, veröffentlicht. Teilweise wurden die Stoffe vom ZDF verfilmt. Jürgen Kehrer schreibt außerdem Drehbücher und Sachbücher. Die Gesamtauflage seiner Bücher beträgt über 700000 Exemplare. Jürgen Kehrer ist verheiratet mit der Autorin Sandra Lüpkes. «Münsterland ist abgebrannt» bildet den Auftakt zu einer neuen Krimireihe mit ungewöhnlichen Charakteren.
Wen rettest du, wenn Flammen alles bedrohen?
Es ist heiß im Münsterland. Und Kommissar Bastian Matt ermittelt in einer fatalen Serie von Brandstiftungen. Zwei Todesopfer hat es schon gegeben. Für den Kommissar aus Münster ein Albtraum, wurde er doch selbst vor Jahren bei einem Feuer schwer traumatisiert. Aber er will bei der Polizei keine Schwäche zeigen, sondern dauerhaft in die Mordkommission versetzt werden. Deshalb setzt er alles daran, den Fall zu lösen.
Hilfe bekommt er von der attraktiven Rechtsmedizinerin Yasi Ana. Sie stammt aus dem in China lebenden Volk der Mosuo, in dem die Frauen das Sagen haben. Eine Herausforderung auch für Matt. Denn Yasi pflegt ein ganz besonderes Verhältnis zum anderen Geschlecht. Zwischen Matt und der Kollegin knistert es bald gewaltig – bis Yasi Ana selbst ins Visier der Ermittler gerät ...
«Jürgen Kehrer ist ein Meister der Spannung.» (Welt am Sonntag)
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2013
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem
(Abbildung: Andy & Michelle Kerry/Trevillion Images)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream Inc.
ISBN Buchausgabe 978-3-499-26650-8 (1. Auflage 2013)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-49071-0
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-49071-0
Vom Lugu-See aus fuhren sie noch eine Stunde, dann wurde der Weg so steil und schmal, dass die Jeeps nicht mehr weiterkamen. Den letzten Teil der Strecke legten sie mit ihren schweren Rucksäcken zu Fuß zurück. Als sie schließlich das Dorf erreichten, in dem sie die nächsten Wochen verbringen sollten, waren die drei Deutschen – zwei Männer und eine Frau – am Ende ihrer Kräfte. Aber auch ihre chinesischen Begleiter schnauften in der dünnen, gegen Abend empfindlich kühlen Höhenluft. Das Dorf, falls man es überhaupt so nennen wollte, bestand aus wenigen verstreut in einer Talmulde liegenden Höfen, die alle nach dem gleichen u-förmigen Schema errichtet waren. Bo, der Dolmetscher, hatte ihnen erklärt, dass die abgelegene Siedlung für ihre Zwecke geeigneter sei als die dichter bewohnten Ufer des Lugu-Sees.
Bo, der ein paar Jahre in Deutschland verbracht hatte, führte sie zu einer kleinen Anhöhe am Rande der Siedlung, auf der das größte Holzhaus thronte. Schon auf dem Trampelpfad dorthin wurden sie von einer Horde kreischender Kinder empfangen. Das Geschrei der Kleinen lockte nun auch Erwachsene an, nach und nach kamen etwa zehn Männer und Frauen aus dem Gebäude. Die Älteren gaben sich Mühe, ihre Neugier nicht so offen zu zeigen wie die Kinder, doch auch sie staunten über die Kleidung und vor allem über die riesigen Rucksäcke der Fremden. Zuletzt trat eine ältere Frau aus dem Hauptgebäude. Während die Jüngeren meist Hosen und chinesische Jacken trugen, hatte sie einen weißen Wickelrock angelegt, darüber einen breiten roten Gürtel und ein blumengemustertes Oberteil. Das schwarze, von silbernen Fäden durchzogene Haar steckte zum größten Teil unter einem kunstvoll geschlungenen Turban. Für die Deutschen war es schwierig, dem dunkelbraunen, vom Leben in den Bergen gegerbten Gesicht ein Alter zuzuordnen, es mochte irgendwo zwischen vierzig und sechzig liegen. Der Blick, mit dem sie die Neuankömmlinge bedachte, und die Art, wie sie dabei ihre selbstgerollte Zigarette rauchte, machten allerdings unmissverständlich klar, dass sie hier das Sagen hatte.
«Das die Dabu, die Hausherrin», kommentierte Bo.
Der Dolmetscher begrüßte die Mosuo-Frau und übergab ihr einige Geschenke – Kleidung, Lebensmittel und Geld. Die Mitbringsel stießen auf Wohlwollen, auf dem zuvor skeptischen Gesicht der Dabu breitete sich ein Lächeln aus, das eine Reihe brauner Zähne enthüllte. Dann sprach sie ein paar Worte mit dem Dolmetscher.
«Wir bekommen jetzt Zimmer gezeigt», wandte sich Bo wieder an die Deutschen. «Danach man erwartet uns zum Essen im Haupthaus.»
Die Gästezimmer lagen über den Stallungen in einem Seitenflügel des Haupthauses. Die beiden deutschen Männer bekamen ein gemeinsames Zimmer zugeteilt, die Frau erhielt ein eigenes. Das, betonte Bo, entspräche den Sitten der Mosuo, es sei verpönt, Frauen zusammen mit Männern in einem abgeschlossenen Raum unterzubringen.
«Und wie entstehen die kleinen Mosuo?», erkundigte sich der hagere Deutsche ein wenig spöttisch. Mit seinem fusseligen Vollbart und der ins Haar geschobenen Sonnenbrille sah er aus wie ein Bergsteiger auf dem Weg zum Himalaya-Gipfel. «Doch nicht etwa heimlich?»
«In gewisser Weise», nickte Bo. «Sehen Sie Räume dort drüben?» Er deutete auf den gegenüberliegenden Seitenflügel. «Da sich befinden die Blumenzimmer. Sie vorbehalten Frauen in gebärfähigem Alter.»
Der Dolmetscher und ein weiterer Chinese logierten im selben Gebäudetrakt wie die Deutschen, alle übrigen Wissenschaftler der Expedition sowie die Fahrer und Soldaten bezogen ihr Quartier in anderen Höfen des Dorfes.
Nachdem sie ihr Reisegepäck und ihre Ausrüstung provisorisch gelagert hatten, schlossen sich die drei Deutschen Bo an, der sie schon vor dem Eingang zum Hauptgebäude erwartete.
Als sie den großen Raum im Haupthaus betraten, brauchten sie ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Es gab keine Fenster, und die einzige Lichtquelle war eine Feuerstelle in der Mitte, in der Holzscheite loderten. Der Rauch, soweit er sich nicht im Raum verteilte und als Ruß an den geschwärzten Wänden ablagerte, zog durch winzige Ritzen im Dach ab. Mit Fellen behangene Bänke an den Seiten dienten als Schlafstätten, weiche Matten auf einem Holzpodest oberhalb der Feuerstelle luden zum Sitzen ein. Unter einer goldglänzenden Buddha-Statue standen Schalen mit Opfergaben.
«Setzen!», sagte Bo. Während der gesamten Forschungsreise kümmerte sich der Dolmetscher so intensiv um die Deutschen, dass nicht klar war, wo die Betreuung aufhörte und die Kontrolle begann. Keinen Schritt konnten die drei machen, ohne dass Bo und mehrere zivil gekleidete Männer auftauchten und sich an ihre Seite hefteten.
«Zur Begrüßung …» Bo lächelte. «… wir bekommen eine Tasse Buttertee.»
Das Getränk schmeckte ranzig und zugleich salzig.
«Was ist das denn?» Die Deutsche, deren bleiches Gesicht seit der schlingernden Fahrt über die Bergpässe grünlich schimmerte, unterdrückte den Impuls, den Buttertee sofort wieder auszuspucken.
«Nicht Sache von jedermann», strahlte Bo. «Ich mag ihn auch nicht.»
Nach dem Buttertee wurden Tabletts mit verschiedenen Speisen herumgereicht: Reiskuchen, Würste, Nüsse und Früchte. Dazu trank man einen süßlichen Wein. Nach und nach füllte sich der Hauptraum mit immer mehr Menschen. Anscheinend war das halbe Dorf eingeladen, die Fremden zu begutachten. Dabei verhielten sich die Mosuo sehr höflich und zurückhaltend. Man plauderte locker miteinander wie bei einem Familienfest, nur ab und zu warfen die jungen Frauen den beiden deutschen Männern spöttische Blicke zu. Auch einige chinesische Uniformierte saßen jetzt in der Nähe des Eingangs.
Unterdessen trug die Hausherrin ein weiteres Tablett herein. An dem feierlichen Gesichtsausdruck, mit dem sie es neben der Feuerstelle absetzte, erkannten die deutschen Forscher, dass sich in den Schalen eine besondere Köstlichkeit befinden musste. Umso enttäuschter waren sie, als sie eine undefinierbare gräuliche Masse erblickten, die entfernt an eine sehr alte Speckschwarte erinnerte.
«Wundervoll», schwärmte Bo. «Das Beste schon am ersten Abend.»
«Es sieht aus wie ausgekotzt», zischte der korpulente Deutsche.
«Chris! Reiß dich zusammen», ermahnte ihn die Frau.
Bo nahm sich eine Schale und stopfte sich einen Klumpen in den Mund. «Das sein Bocher. Zehn Jahre altes Schweinefleisch.»
Chris schluckte. «Und das ist genießbar?»
«Unbedingt», antwortete Bo. «Probieren Sie! Deshalb sind wir hier. Zu ergründen die Geheimnisse der Mosuo.»
Die Frau steckte sich ebenfalls ein Stück Fleisch in den Mund und kaute tapfer. «Was macht das Fleisch denn so haltbar?»
«Die Mosuo verwenden Salz und bestimmte Kräuter.»
«Die Kräuter interessieren mich.»
«Natürlich.» Bo lächelte. «Man sagt, Kraut hat besondere Wirkung. Vor allem für alte Frauen. Sie bleiben gesund und stark. Sehen Sie die Dabu an. Sie ist zweiundsiebzig.»
Die Frau blickte zu dem Bärtigen. «Hast du das gehört, Ujo?»
Der Angesprochene verzog das Gesicht. «Freu dich nicht zu früh, Hel! In jedem abgelegenen Tal der Welt schwören die Einheimischen auf irgendein Wunderkraut, das sich bei näherem Hinsehen als ganz gewöhnlich erweist.»
«Sei nicht so pessimistisch!», widersprach Hel. «Mein Gefühl sagt mir, dass wir hier auf eine Goldader stoßen könnten.»
«Goldader …» Bo kicherte. «Sehr gut.»
Plötzlich gellte irgendwo draußen der Angstschrei einer Frau. Die Gespräche im Raum verstummten. Einige Mosuo sprangen auf, wurden jedoch von den Soldaten davon abgehalten, das Haus zu verlassen.
«Was hat das zu bedeuten?», fragte Ujo.
«Nehmt und esst!» Der Dolmetscher zeigte auf die Schalen, als sei nichts geschehen.
«Wahrscheinlich hat einer der Chinesen die Sache mit dem Blumenzimmer falsch verstanden und sich über eine Mosuo hergemacht», sagte Hel.
«Und du denkst, das geht uns nichts an?», fragte der Bärtige.
«Genau.» Hel trank einen Schluck Wein. «Und jetzt hör endlich auf mit dem Gequatsche, Ujo. Wir sind Wissenschaftler und haben einen Auftrag. Alles andere interessiert uns nicht.»
Abgesehen von den bräunlichen Flecken auf dem Parkettboden, war die Einrichtung perfekt. Eine kuschelige Sofaecke, so groß, dass eine ganze Grundschulklasse darauf hätte herumhüpfen können. Alte Schränke und Hightech, alles aufeinander abgestimmt. Die Bilder an den Wänden waren sicher keine billigen Drucke, und der Farbton der blutroten Landschaft neben dem Kamin passte exakt zu dem klotzigen Kronleuchter, an dem der Hausherr baumelte. Von da oben hatte man bestimmt einen phantastischen Blick über die sanft abfallenden Wiesen bis zum Waldrand.
Bastian Matt dachte an seine schäbige Zweizimmerwohnung im münsterschen Geistviertel. Nie im Leben würde er es in so eine Villa schaffen. Dazu musste man schon mit einem satten Vorschuss auf die Welt kommen und den entsprechenden Lebensstil mit der Muttermilch aufsaugen. Falls er selbst mal zu Geld kommen würde, was schon deshalb unwahrscheinlich war, weil er nie Lotto spielte, hätte er sicher Mühe, es in etwas anderes als ein dickes Auto und das neueste Technikspielzeug zu investieren. Zu mehr reichte sein Geschmack nicht. Aber er lebte – und Carl Benedikt Mergentheim nicht mehr. Das ganze Geld, die schönsten Privilegien und ein vermutlich gottähnliches Selbstvertrauen hatten den Bank-Manager nicht davon abgehalten, sich einen Strick um den Hals zu legen, auf einen Stuhl zu steigen und diesen mit der letztmöglichen freien Willensentscheidung umzustoßen. Danach sah es nämlich aus. Dass Mergentheim seinem Leben selbst ein Ende gemacht hatte.
Hinter Bastian quietschten die Gummisohlen der Uniformierten auf dem Parkett. In Altenberge war Mergentheim eine große Nummer. Die Chance, einen Blick in seine gute Stube zu werfen, hatte gleich fünf Streifenwagenbesatzungen angelockt.
Bastian drehte sich um. «Nur fürs Protokoll: Habt ihr euch im Haus umgesehen?»
«Wir sind ja nicht blöd», sagte der Polizist mit dem grauesten Schnurrbart. «Wir haben bloß gecheckt, ob noch jemand da ist.»
«Und?»
«Niemand.»
«Bis auf die Putzfrau», korrigierte Bastian.
«Die hat uns sofort angerufen, als sie die Sauerei gesehen hat.»
«Okay.» Bastian klatschte in die Hände: «Und jetzt raus hier! Gleich taucht die KTU auf. Die mögen es nicht, wenn man auf ihren Spuren herumtrampelt.»
Murrend verzog sich die uniformierte Truppe nach draußen. Bastian blieb regungslos stehen und versuchte, den Gestank zu ignorieren. Leute, die sich selbst aufhängten, unterschätzten, wie lang sich die Sekunden dehnen konnten, bis man das Bewusstsein verlor. Und was der Körper alles anstellte, um dem Ende zu entgehen. Sich in die Hose zu machen, sei ein Fluchtreflex, hatte Bastian mal gehört.
Auf dem Tisch, den Mergentheim vor seiner Kletteraktion zur Seite gerückt hatte, lag ein Blatt Papier. Nicht weiß, sondern aus diesem edlen, handgeschöpften Büttenpapier. Bastian streifte die Latexhandschuhe über, die er für solche Zwecke immer dabeihatte, und trat näher. Nach den Spurenfetischisten von der Kriminaltechnischen Untersuchung würde das KK 11 auf der Bildfläche erscheinen, die Mord- und Totschlagsexperten, die Elitetruppe des Präsidiums. Bei einem so prominenten Mann wie Mergentheim würde die Todesursache sicher gründlich ermittelt werden, schon um den Vorwurf der Schlampigkeit zu vermeiden. In jedem Fall konnte es nicht schaden, mit sachdienlichen Informationen zu glänzen. Vor einem Jahr hatte Bastian bei einer Mordkommission mitgewirkt und danach den Antrag gestellt, dauerhaft ins KK 11 versetzt zu werden. Bis jetzt war daraus nichts geworden, allerdings hatte man ihm Hoffnung auf eine der nächsten frei werdenden Stellen gemacht. Bis dahin versuchte Bastian, die Arbeit bei seiner jetzigen Dienststelle, der K-Wache, so positiv wie möglich zu sehen. Immerhin kam man viel herum, stand immer als Erster am Tatort, schaute den Opfern, den Zeugen und manchmal auch den Tätern in die Augen, bevor sie sich komplizierte Lügengeschichten ausdenken konnten. Doch sobald die eigentlichen Ermittlungen begannen, übergab man das Material den zuständigen Fachdezernaten. Zudem schlauchte der Schichtdienst, die K-Wache war rund um die Uhr besetzt.
Bastian beugte sich über das Papier. Eine schwungvolle, nach rechts strebende Handschrift: «Meine liebe Gerlinde, es tut mir leid, dass es so enden musste …» Na also, ein Abschiedsbrief.
«Fass bloß nichts an!» Udo Deilbach, der K-Wachen-Kollege, mit dem er von Münster hierhergefahren war.
«Ich doch nicht.»
«Mann, Mann, Mann», sagte Udo. «Wenn ich so eine Hütte besitzen würde, wären mir alle anderen Probleme so was von egal, die würde ich auf einer Arschbacke aussitzen.»
«Du vielleicht. Wer genug Geld hat, denkt nicht darüber nach.»
«Trotzdem. Eine Schande ist das», beharrte Udo. «Unsereins muss mit tausendfünfhundert im Monat auskommen, den Unterhalt für die Ex und die Brut abgezogen – und der da scheißt auf alles.»
Bastian schaute nach oben. Noch für den Tod hatte Mergentheim auf korrekte Kleidung geachtet: dunkelblauer Anzug, weißes Hemd, schwarze, glänzend polierte Schuhe. Allerdings fehlte die Krawatte, und das halblange, granitgraue Haar hing ungefestigt herunter. Ein wenig nachlässig war der Banker also doch geworden.
«Was sagt die Putzfrau?»
«Nicht viel», berichtete Udo. «Ist ziemlich durch den Wind. Kann man ja verstehen.»
«Mochte sie ihn?»
Udo nickte. «Sie meint, er hat kaum Dreck gemacht, war fast nie da und hat immer mal einen Extraschein unter die Kaffeetasse gelegt. So einen Job musst du erst wieder finden.»
Die Sonne brannte saharamäßig vom Himmel, obwohl es noch keine zehn Uhr war. Das Hoch Armin hatte Mitteleuropa seit Tagen fest im Griff.
Bastian und Udo suchten sich einen schattigen Platz unter einer großen Linde vor der Villa. Der weiße Sprinter der KTU, der Kriminaltechnischen Untersuchung, parkte direkt vor der Haustür. Bei dieser Hitze in geschlossenen weißen Overalls und mit Mundschutz herumzulaufen, musste die Hölle sein.
Udo wischte sich den Schweiß von der Stirn und sog an seiner Zigarette. «Großer Bahnhof.» Er deutete mit dem Kinn zur Straße. Mehrere Limousinen rollten die gekieste Auffahrt herauf. Das halbe KK 11 schälte sich aus den Sitzen. Sogar Olaf Brunkbäumer, der Leiter des Kommissariats, der sein Büro normalerweise nie verließ, hatte sich auf den beschwerlichen Weg gemacht. Dazu Dirk Fahlen, der vermutlich die Leitung der Mordkommission übernehmen würde, Susanne Hagemeister, mit der Bastian in der Kantine gelegentlich Tratsch austauschte, und einige jüngere Kollegen. Aus dem hintersten Wagen stieg Thomas Neumann, einer der für Kapitalverbrechen zuständigen Staatsanwälte. An seiner Seite ein braun gebrannter Sechzigjähriger mit gezwirbeltem Schnurrbart und Föhn-Frisur, das Fernsehgesicht der münsterschen Ermittlungsbehörden.
«Oberstaatsanwalt Willenhagen», sagte Udo und trat seine Zigarette aus. «Die erwarten wohl, dass hier gleich ein paar Kameras am Zaun stehen.»
«Na klar», sagte Bastian, «bei so einer Geschichte kommen sie alle aus ihren Löchern.»
Die beiden Erstermittler schlenderten zu ihren Kollegen hinüber. Allgemeines Genicke und Begrüßungsgemurmel. Bastian fasste zusammen, was sie wussten. Viel war das natürlich nicht. Der Anruf aus Altenberge war kurz nach Beginn der Tagschicht gekommen. Unterwegs hatten sie sich telefonisch ein paar Informationen über Carl Benedikt Mergentheim geben lassen: Vorstandssprecher der Münsterländischen Privatbank van Waalen. Altes niederländisches Geld. Irgendwann hatte ein Mergentheim eine van Waalen geheiratet, von da an übernahmen die Mergentheims das Kommando. Carl Benedikt, sechsundfünfzig Jahre alt, alleinlebend, war seit elf Jahren im Amt und seit fünf Jahren geschieden. Sein Sohn Veit Constantin, der designierte Nachfolger, saß ebenfalls im Vorstand der Bank.
«Keine Einbruchspuren, nichts, was auf Fremdeinwirkung hindeutet», kam Bastian zum Ende. «Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Abschiedsbrief.»
«Danke, Matt», sagte Fahlen grimmig. «Das schauen wir uns lieber selber an. Bis zum Mittag erwarte ich euren Bericht auf meinem PC.»
Susanne Hagemeister schickte ein kleines verlegenes Lächeln hinterher. Und das war’s dann. Bastian fühlte sich abserviert, wie ein unerwünschter Gast auf einer Beerdigungsfeier. Den Kranz durfte man noch ablegen, aber Kaffee gab’s nur für die anderen.
Udo Deilbach klatschte ihm eine Hand auf die Schulter. «Nimm’s nicht persönlich. Der Fahlen ist ein sturer Bock, der kann nicht anders.»
Als sie in ihren Dienstwagen stiegen, rollte ein Kombi mit buntem RTL-Logo die Straße entlang. Der erste Geier hatte die Leiche entdeckt.
Während sie durch Altenberge zur B 54 fuhren, ließ Udo das Fenster herunter und blies den Zigarettenqualm nach draußen. Bastian hasste es, wenn sein Kollege im Auto rauchte, die Kleidung stank anschließend nach Nikotin, und Ärger konnten sie auch bekommen, schließlich war in den Dienstwagen das Rauchen verboten. Im Radio warnte ein Meteorologe vor der Gefahr von Waldbränden. Bastian dachte an seine Mutter, deren Haus in Horstmar nur einen Steinwurf von einem kleinen Wald entfernt stand. Er musste sie unbedingt mal wieder besuchen. Am nächsten Wochenende, nahm er sich vor.
Udo warf die Kippe auf die Straße. Das Fenster surrte nach oben, die Klimaanlage arbeitete auf Hochtouren.
«Hast du nicht zugehört?», sagte Bastian. «Eine Zigarettenkippe kann einen Waldbrand verursachen.»
«Siehst du hier irgendwo einen Wald?» Udo verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Es müffelte nach kaltem Zigarettenrauch. «Ach ja, entschuldige. Ich vergaß dein Trauma.»
«Ich hab kein Trauma.»
«Nee, du gehst nur seit zwei Jahren zu unserer Psychologin.»
«Vorschrift», brummte Bastian. «Ich bin dazu verdonnert worden.»
«Die Hagemeister steht auf dich», wechselte Udo unvermittelt das Thema. Bastian erschien es allerdings nicht weniger heikel.
«Tatsächlich?», fragte er.
«Ja. Wie sie dich angeguckt hat. Ich kenn mich da aus, glaub mir.»
Seit ihn seine langjährige Freundin Lisa verlassen hatte, trat Bastians Privatleben ebenso auf der Stelle wie seine Karriere. Doch auch das wollte er jetzt nicht mit Udo erörtern. «Hab ich nicht gemerkt.»
«Deswegen sage ich es dir ja.»
«Und wenn schon. Don’t fuck in the factory – weißt du doch.»
Um zehn vor zwölf schickten sie ihren Bericht ab. Kurz darauf klingelte das Telefon.
«Glückwunsch», sagte Susanne Hagemeister. «Du bist Mitglied der Mordkommission. Ich habe mit deinem Kommissariatsleiter schon alles geklärt.»
«Gibt es denn irgendwelche Zweifel?»
«Erzähl ich dir unterwegs. Wir fahren zur Rechtsmedizin, um bei der Obduktion dabei zu sein. In fünf Minuten auf dem Hof.»
«Ja!» Bastian knallte den Hörer auf die Halterung und sprang auf. «Ich bin in der MK.»
«Mordkommission?», schnaubte Udo, dessen Schreibtisch gleich neben Bastians stand. «Wer hat sich denn diesen Schwachsinn ausgedacht?»
«Keine Ahnung. Hauptsache, ich bin dabei.»
«Eigentlich ist das mehr Show als Notwendigkeit», erklärte Susanne Hagemeister, als sie vom Polizeipräsidium am Friesenring in Richtung Gievenbeck fuhren. «Vor der Presse kommt es einfach besser, wenn Willenhagen sagt, dass vierzig Beamte an den Ermittlungen beteiligt sind.»
«Ihr geht also auch von Suizid aus?», fragte Bastian.
«Es gibt bis jetzt nichts, was dagegenspricht. Aber wir müssen auch die Plausibilität klären: Steckte Mergentheims Bank in finanziellen Schwierigkeiten? Hatte er private Probleme? War er vielleicht depressiv oder todkrank? Brunkbäumer und Willenhagen möchten am liebsten bis siebzehn Uhr ein komplettes Ergebnis auf dem Tisch haben. Und damit sind vierzig Leute gut beschäftigt.» Susanne bog vor der Hautklinik in eine schmale Nebenstraße ab. Das Institut für Rechtsmedizin befand sich hinter dem Klinikkomplex.
Susanne parkte vor dem Institutsgebäude und stöckelte auf hohen Absätzen zum Eingang. «Bin ich froh, dass Mergentheim noch halbwegs frisch ist. Ich hasse Gammelleichen. Den Geruch kriegt man nicht mehr aus der Kleidung.»
Sie trug einen schwarzen Hosenanzug. Das sah auf den ersten Blick ziemlich seriös aus, auf den zweiten etwas tantenhaft. Nein, Bastian konnte sich nicht vorstellen, mit Susanne etwas anzufangen. Falls Udo recht hatte mit seiner Vermutung, dass Susanne es auf ihn abgesehen hatte, waren die Gefühle sehr einseitig verteilt.
Drinnen wartete bereits das Obduktionsteam. Es bestand aus zwei Rechtsmedizinern und einem Sektionsassistenten. Der männliche Rechtsmediziner war groß und blond, seine Kollegin klein und zierlich. Auf ihren asiatischen Zügen lag ein Lächeln, so klar und rein wie eine Bergquelle im Himalaya.
«Yasi Ana», sagte sie und reichte Bastian die Hand. «Ich freue mich.» Der kaum merkliche Akzent machte die Stimme noch attraktiver. Und ihre fast schwarzen Augen musterten ihn so offen, dass er schlucken musste. Zum letzten Mal war er so taxiert worden, als er versehentlich eine Schwulenbar betreten hatte. Bastian fragte sich, ob er ihren Blick persönlich nehmen durfte oder ob sie jeden Fremden so behandelte, als wäre er der potenzielle Vater ihrer Kinder.
Die beiden Polizisten folgten dem Obduktionsteam durch verwinkelte Flure und einen Innenhof. Der Sektionssaal lag in der Nähe des Hintereingangs, so kamen die Leichen ohne großen Umweg auf den Metalltisch.
Als die Rechtsmediziner mit ihrer Arbeit begonnen hatten und die Knochensäge kreischte, stellte Bastian die Frage aller Fragen: «Wer ist sie?»
«Kommt aus China», sagte Susanne. «Hat in Deutschland studiert. Soll sehr begabt sein.» Bastian spürte den Blick der Hauptkommissarin. «Und sieht gut aus, findest du nicht?»
«Nicht mein Typ», antwortete er eine Spur zu schnell.
In den nächsten Stunden löste sich Mergentheims Leiche in ihre Einzelteile auf, Herz, Lunge, Leber, Nieren und Gehirn wurden fotografiert, gewogen und kleine Proben zu den Labors in den anderen Abteilungen des Instituts geschickt. Yasi Ana und der blonde Rechtsmediziner erklärten ab und zu, was sie gerade machten. Und Bastian hatte Mühe, nicht ständig auf den schmalen Augenstreifen zu starren, der zwischen Anas Mund- und Haarschutz sichtbar war. Wobei sie ihn regelmäßig dabei ertappte, dass er es doch tat.
«Also …» Der Blonde räusperte sich. «Vorbehaltlich der noch ausstehenden Ergebnisse der Labortests kann man zum jetzigen Zeitpunkt sagen …» Erneutes Räuspern. «Der Geschädigte befand sich vor seinem Tod in einer guten körperlichen Verfassung. Keine chronischen Krankheiten, die Funktionsfähigkeit der Organe scheint, unter Berücksichtigung des biologischen Alters, jeweils im optimalen Bereich zu liegen. Von daher lässt sich der Tod problemlos durch Erhängen erklären.»
«Kampfspuren?», fragte Susanne Hagemeister.
«Nein. Weder äußere noch innere Verletzungen. Typische Kampf- oder Abwehrspuren sind ja gewöhnlich an den Händen zu erkennen, hier haben wir lediglich Abdrücke des verwendeten Seils. Ebenso fehlen Griffspuren, wie sie bei der Mitwirkung einer zweiten Person häufig entstehen.»
«Warte mal.» Yasi Ana schüttelte das Gefäß, in dem sich der Mageninhalt des Toten befand. Dann fischte sie mit einem pinzettenähnlichen Gerät ein kleines blaues Ding aus der schleimigen Masse.
Bastian erkannte die charakteristische Rautenform: «Viagra.»
«Richtig», sagte die Chinesin. Bastian war sich sicher, dass sie ihn anlächelte. «Der Geschädigte muss die Tablette kurz vor seinem Tod geschluckt haben. Wir sollten einen Abstrich am Penis machen.»
Später – Mergentheims Organe lagen mehr oder weniger an ihren ursprünglichen Plätzen, und der Körper war wieder zugenäht – saßen sie zu viert um einen kleinen Konferenztisch.
«Ein Laborergebnis liegt uns schon vor.» Der Rechtsmediziner schaute auf einen Ausdruck, der vor ihm lag. «Der Blutalkoholgehalt betrug zum Zeitpunkt des Todes eins Komma eins neun Promille.»
Das war ein gepflegter Rausch, aber noch kein Komasaufen. Bastian dachte an die leere Flasche Rotwein, die er in Mergentheims Küche gesehen hatte.
«Könnte das seine Koordination erheblich beeinträchtigt haben?», fragte Susanne.
«Sie meinen, ob er damit nicht mehr in der Lage war, sich selbst zu töten?» Der Rechtsmediziner legte den Kopf schief. «Das ist nicht eindeutig zu beantworten, sondern hängt davon ab, wie oft und wie viel er getrunken hat. Regelmäßige Trinker leiden bei eins Komma zwei Promille kaum unter Beeinträchtigungen, Ausnahmetrinker dagegen schon.»
«Falls er also pro Woche ein paar Flaschen Rotwein geköpft hat …»
Der Blonde nickte.
«Das Einzige, was nicht ins Bild des einsamen Selbstmörders passt», ergriff nun Yasi Ana das Wort, «ist die Tatsache, dass er sein Stehvermögen verbessern wollte.» Sie hielt ein kleines Plastiktütchen mit der Viagra-Tablette hoch.
«Und? Hatte er Sex?», fragte Bastian.
«Möglicherweise. Jedenfalls hat der Abstrich am Penis ergeben, dass er ein Kondom getragen hat. Meine Kenntnisse des europäischen Sexualverhaltens sind nicht tiefgründig genug, um Selbstbefriedigung gänzlich auszuschließen.»
Auf den Wangen des Rechtsmediziners blühten rote Flecken.
Yasi Ana wandte sich Bastian zu. «Aber wenn Sie das Kondom finden, können wir sagen, ob er einen Spatz in der Hand oder eine Taube im Bett hatte.»
Susanne stöhnte. «Geht das auch weniger blumig?»
Die Chinesin tat erstaunt. «Deutsches Sprichwort. Sagt man nicht: Lieber einen Spatz in der Hand …»
Der Kopf ihres Kollegen glühte inzwischen wie eine Birne. «Das ist kein Sprichwort, Yasi.»
«Entschuldigen Sie, aber wir haben nicht endlos Zeit», maulte Susanne und stand auf. «Kommst du, Bastian?»
«Was ich damit sagen wollte …» Yasi Ana ließ sich nicht beirren und schaute Bastian in die Augen. «Falls eine zweite Person im Spiel war, hat sie wahrscheinlich DNA-Spuren auf dem Kondom hinterlassen.»
Susanne Hagemeister war nicht begeistert, sie fürchtete, zu spät zur Sitzung der Mordkommission zu kommen. Bastian musste schon seinen ganzen Charme aufbieten und zudem versprechen, alle Schuld auf sich zu nehmen, bevor sie dem Abstecher zu Mergentheims Villa zustimmte.
In Rekordgeschwindigkeit prügelte Bastian den Dienstpassat über die B 54 ins nördliche Münsterland, kurvte durch Altenberge bis zu dem Hügel, der der Kleinstadt nicht nur ihren Namen, sondern dem Banker auch reichlich Baugrund für seinen Protzbau verschafft hatte. Der weiße Sprinter parkte noch vor dem Eingang, die Leute von der KTU würden eine Weile brauchen, bis sie alle Räume durchkämmt hatten.
«Da darfst du nicht rein!», rief Millitzke, der Chef des Trupps, als Bastian zur Haustür stürmte.
Bastian blieb stehen. «Wart ihr schon im Schlafzimmer?»
Millitzke schaute auf sein Klemmbrett. «Bislang nur oberflächlich.»
«Habt ihr ein benutztes Kondom entdeckt?»
Der Spurensicherer grinste. «Glaubst du, er hat letzte Nacht eine Nummer geschoben? Die muss ja wahnsinnig schlecht gewesen sein, wenn er sich gleich anschließend aufgehängt hat.»
«Habt ihr, oder habt ihr nicht?»
«Nee, das hätte sich herumgesprochen.»
Bastian ging nicht auf das Gefrotzel ein. «Und wie sieht das Bett aus? Hat Mergentheim alleine darin gelegen?»
«Falls du auf Körperflüssigkeiten anspielst, die zwischen Mann und Frau ausgetauscht werden: Auch davon ist mir nichts bekannt.»
Bastian gab sich Mühe, freundlich zu klingen: «Darf ich mich im Schlafzimmer umgucken? Nur ein paar Minuten.»
«Du kennst ja die Vorschriften.» Millitzke deutete zum Kastenwagen. «Ohne Vermummung geht gar nichts. Und bring nichts durcheinander.»
Susanne Hagemeister schaute demonstrativ auf ihre Armbanduhr, während Bastian in einen weißen Plastikanzug stieg und zwei Hüllen aus dem gleichen Material über die Schuhe streifte.
Das plüschige französische Bett sah tatsächlich nicht nach einer wilden Nacht aus, die Tagesdecke war ordentlich gefaltet und das Kopfkissen aufgeschüttelt. Vielleicht hatten sie es gar nicht hier, sondern gleich unten auf dem Wohnzimmertisch getrieben, überlegte Bastian. Andererseits: Passte es zu Mergentheim, dass er derart über eine Frau herfiel? Ein Mann von Welt, der auf die sechzig zuging, ließ es vermutlich lieber ruhiger angehen. Bastian kniete sich auf den Boden und leuchtete mit einer Taschenlampe unter das Bettgestell. Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn er das Kondom einfach hätte einsammeln können.
Er stand wieder auf und betrachtete die lackierten Schränke und Kommoden. Was machte man normalerweise mit einem benutzten Kondom? Sein Blick blieb an einer Seitentür hängen. Dahinter befand sich Mergentheims schnuckeliges kleines Badezimmer, kaum größer als der Jungenumkleideraum einer Turnhalle. Und wesentlich sauberer. Mergentheim schien nicht der Typ gewesen zu sein, der benutzte Gegenstände einfach in eine Ecke warf. Bastian schaute in den Abfalleimer. Nichts. Blieb noch als Möglichkeit die Entsorgung im Klo. Bastian hockte sich vor die Marmorschüssel, als wolle er sich übergeben, und streckte die behandschuhte Rechte ins Wasser. Bei seinem K-Wachen-Job bekam er eine Menge ekelhafter Sachen zu sehen, ein Griff ins Klo war da noch eine der leichteren Übungen. Hinter dem Knick ertastete er etwas Weiches. Als er es herauszog, musste er sich beherrschen, um nicht in Triumphgeheul auszubrechen.
Nach einem kleinen Disput mit Millitzke, der das Kondom zum Eigentum der Spurensicherung erklären wollte, hielt Bastian seiner Kollegin den durchsichtigen Plastikbeutel vor die Nase.
Susanne tat gelangweilt. «Glückwunsch. Und was machen wir jetzt?»
«Wir geben es auf dem Rückweg in der Rechtsmedizin ab. Es hat zwar im Wasser gelegen, aber mit etwas Glück finden sie noch eine DNA-Spur.»
Die Hauptkommissarin blies genervt eine Haarsträhne nach oben. «Ich kann schon den Anschiss hören, den wir gleich bekommen.»
Die Konferenz hatte natürlich längst begonnen, die Luft im Sitzungssaal der Mordkommission roch nach Schweiß, Deorollern und Konzentration. Auch KK-11-Chef Brunkbäumer, Staatsanwalt Neumann, Oberstaatsanwalt Willenhagen und Kriminalrat Biesinger, der zuständige Gruppenleiter, hatten sich unter die rund vierzig Ermittler gemischt, den Vorsitz allerdings Dirk Fahlen überlassen. Bastian sah gleich, dass Fahlen mächtig unter Dampf stand, so viel hohen Besuch gab es bei einer MK-Sitzung selten. Neben Fahlen saß Norbert Willschrei, ein älterer Kollege aus dem Kommissariat Organisierte Kriminalität, der gerade über die wirtschaftliche Lage der Münsterländischen Privatbank referierte. Bastian und Susanne suchten sich so unauffällig wie möglich zwei freie Stühle und zogen die Köpfe ein.
Bis zur ersten Atempause des Redners ging alles gut, dann giftete Fahlen in ihre Richtung: «Schön, dass ihr es auch noch zu uns geschafft habt. Seit wann dauern Autopsien vier Stunden?»
«Wir …», begann Susanne.
«Später», schnitt ihr Fahlen das Wort ab. «Zuerst kommen die an die Reihe, die pünktlich waren.»
Arschloch, dachte Bastian. Kontrollfreaks wie Fahlen würden nie begreifen, dass man mit Disziplin zwar eine Horde Menschen herumscheuchen, aber keinen Fall lösen konnte. Dazu brauchte es nämlich einen Schuss Kreativität. Und falls Fahlen das Wort überhaupt kannte, hielt er es vermutlich für die Vorstufe einer psychischen Störung.
«Ich bin auch schon fast am Ende», sagte der OK-Spezialist. «Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Privatbank die Turbulenzen auf den Finanzmärkten, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, weitgehend unbeschadet überstanden hat. Seiner konservativen Klientel entsprechend, hat sich Mergentheim aus riskanten Spekulationen herausgehalten und in sichere Anlagen investiert. Beton und Gold, um das mal in Schlagworten zu formulieren. Vor dem Ruin stand er jedenfalls nicht.»
«Hat heutzutage nicht jede Bank ein paar Leichen im Keller?», warf Staatsanwalt Neumann ein.
Willschrei nickte. «Keine Frage. Aber um die zu finden, müssten wir etliche Wochen, wenn nicht Monate graben. Und sie werden nicht so stinken wie die der Großbanken, denen der Staat Milliarden in den Arsch bläst.»
Kriminalrat Biesinger stoppte die einsetzende Heiterkeit mit einem trockenen Räuspern.
«Na schön», sagte Fahlen. «Kommen wir zur Familie.»
Auch hier waren die Ermittler, die mit Mergentheims Exfrau, seinem Sohn und den engsten Mitarbeitern in der Bank gesprochen hatten, auf nichts Dramatisches gestoßen. Einen Rosenkrieg hatte es bei der Scheidung anscheinend nicht gegeben, Gerlinde Mergentheim behauptete, dass man sich im Guten getrennt und bis in die jüngste Zeit ein freundschaftliches Verhältnis gepflegt habe, eine Aussage, die von dem gemeinsamen und einzigen Sohn Veit Constantin bestätigt wurde.
«Irgendeinen Grund für die Scheidung wird es doch wohl gegeben haben», warf Fahlen ein. «Oder haben sie angefangen sich zu gruseln, wenn sie sich morgens im Badezimmer begegnet sind?»
«Sie hatten getrennte Schlaf- und Badezimmer», sagte die Oberkommissarin aus dem Morddezernat mit den kurzen platinblonden Haaren, die die Ergebnisse der Ermittlergruppe vortrug. «Und ja, es gab einen Grund: Mergentheim hatte eine Affäre mit seiner damaligen Sekretärin, nicht die erste Affäre und nicht die erste Sekretärin, wenn man seiner Exfrau glauben will.»
«Na also.» Fahlen schnappte nach der Information wie ein englischer Jagdhund nach einem Fuchs. «Da haben wir es doch. Was ist mit der Sekretärin?»
«Arbeitet inzwischen bei einer anderen Bank und in einer besseren Position. Mergentheim hat die Beziehung etwa zeitgleich mit seiner Ehe beendet. Das sagen jedenfalls Veit Constantin und Mitarbeiter der Bank, die das mitbekommen haben.»
«Kommt schon: Er wird eine Neue gehabt haben. Und es würde mich nicht wundern, wenn es seine aktuelle Sekretärin ist.»
Die Oberkommissarin schüttelte den Kopf. «Kein Treffer. Die derzeitige Sekretärin entspricht nicht seinem Beuteschema. Über Mergentheims Sexleben seit der Scheidung ist nichts bekannt.»
«Dann war er eben ein einsamer, alter, des Lebens überdrüssiger Mann», sinnierte Fahlen.
«Entschuldigung.» Oberstaatsanwalt Willenhagen zwirbelte seinen Schnurrbart. «Mit sechsundfünfzig ist man noch kein alter Mann, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Im Gegenteil. Ein attraktiver Mann wie Mergentheim – und ich meine attraktiv in jeglicher Hinsicht – zieht sich nicht einfach aus dem Leben zurück, so einen Quatsch kann ich der Presse nicht verkaufen. Also lassen Sie sich gefälligst etwas Besseres einfallen.»
«Wir haben noch den Abschiedsbrief», zog KK-11-Chef Brunkbäumer den Joker.
«Stammt der überhaupt zweifelsfrei von Mergentheim?», grollte Willenhagen mit seiner Dröhnstimme. Fahlen hatte ihn eindeutig auf dem falschen Fuß erwischt.
«Zu neunundneunzig Prozent», bestätigte Olaf Gerhard, der Leiter des KK 31, das für den Erkennungsdienst und die Kriminaltechnische Untersuchung zuständig war, «unser Handschriftenexperte legt sich da fest.»
«Allerdings enthält der Brief keine Hinweise auf den Suizid», sagte Staatsanwalt Neumann. «Mergentheim drückt vage sein Bedauern aus, wofür auch immer.»
«Das ist nicht untypisch für Selbstmörder», antwortete Brunkbäumer. «Statt die Tat und die Gründe genau zu beschreiben, flüchten sie ins Philosophische.»
Neumann guckte genervt. Auch Willenhagen schien allmählich die Geduld zu verlieren: «Leute, in einer Viertelstunde müssen wir zur Pressekonferenz. Mergentheim hat das Potenzial, es bis in die Tagesschau zu schaffen, also liefert mir verdammt noch mal eine gute Pointe. Selbstmord oder Mord, aber kein Wischiwaschi. Wenn ich sage, dass es ein Selbstmord war, darf es daran keine Zweifel geben.»
«Da wir schon bei der KTU sind, sollten wir hier weitermachen», schlug Fahlen vor. Der MK-Leiter klang jetzt erheblich kleinlauter als noch vor wenigen Minuten.
Gerhard sagte, dass er mit dem Team vor Ort in ständiger Verbindung stehe, man noch ein bis zwei Tage brauche, bis alle Räume der Mergentheim’schen Villa durchforstet seien. Schon jetzt ließe sich definitiv festhalten, dass kein gewaltsamer Einbruch stattgefunden habe, ebenso fehlten Kampfspuren oder verwertbare Hinweise auf die Anwesenheit einer oder weiterer Personen in der Todesnacht, alle Fingerabdrücke, die man gefunden habe, stammten von Mergentheim und seiner Putzfrau.
An dieser Stelle seiner Ausführungen schaute Gerhard kurz zu Bastian. Es war klar, dass Millitzke seinen Chef über ihren Abstecher nach Altenberge informiert hatte. Doch warum erwähnte Gerhard das Kondom im Abflussrohr nicht?
«Na also», stellte Fahlen fest. «Dann sollten wir den Sack jetzt zumachen. Oder hat die überaus langwierige Autopsie eine Überraschung gebracht?»
Die Frage war an Susanne Hagemeister gerichtet, Bastian wurde vom MK-Leiter keines Blickes gewürdigt.
Susanne errötete. «Der Tod ist durch Erhängen eingetreten, so viel steht fest. Und Mergentheim hat sich nicht dagegen gewehrt. Aber …» Sie schaute Hilfe suchend zu Bastian.
Der begriff endlich, was gespielt wurde. Seine Entdeckung, für die er noch bei Betreten des Konferenzsaals Lob und Anerkennung erwartet hatte, würde bei Fahlen und Brunkbäumer nicht gut ankommen, weil sie die Legende vom lupenreinen Selbstmord zerstörte. Deshalb überließen Gerhard und Susanne ihm den Schwarzen Peter.
Bastian holte Luft. «Aber es gab doch eine zweite Person im Haus. Eine Frau, es sei denn, Mergentheim ist im Alter schwul geworden.» Das Spannungslevel im Saal, das im Laufe der Sitzung abgeflacht war, schoss kerzengrade nach oben. «Mergentheim hat kurz vor seinem Tod eine Viagra-Tablette geschluckt. Und er hat ein Kondom benutzt. Deshalb sind wir übrigens zu spät gekommen, wir haben in Altenberge …»
«Keine Anekdoten, Matt», sagte Fahlen. «Komm zur Sache.»
«Das Kondom lag in Mergentheims Klo. Die Rechtsmediziner sind skeptisch, ob sie DNA der Frau finden.»
«Was für eine Scheiße», sagte Neumann.
Drei knisternde Sekunden lang herrschte Stille.
«Und selbst wenn», versuchte es Fahlen. «Er kann Sex gehabt und sich anschließend umgebracht haben. Wir müssen die Selbstmordgeschichte nicht umschreiben.»
«Hören Sie doch auf, Fahlen», widersprach Neumann. «Heute sagen wir, es war Selbstmord und er war allein – und morgen rennt die Frau zu einem Boulevard-Magazin und erzählt eine andere Story. Dann können wir alle einpacken. Nein, wir müssen die Frau finden, daran geht kein Weg vorbei.»
«Leute.» Oberstaatsanwalt Willenhagen stand auf. «Ich sage euch, was wir machen: Wir gehen da jetzt raus und verkünden, dass Mergentheim sehr wahrscheinlich Selbstmord begangen hat, die Ermittlungen aber noch weiterlaufen. Damit sind wir auf der sicheren Seite, egal was passiert. Die MK hat nur noch einen Auftrag: Cherchez la femme. Suchen Sie die Frau – für die Nichtfranzosen unter Ihnen.»
Bastian betrat die K-Wache und ging zu dem Schreibtisch, an dem er normalerweise arbeitete. Udo Deilbach hatte längst Feierabend, die Kollegen von der Nachtschicht machten es sich auf den Sesseln gemütlich und warteten auf den ersten Einsatz. Richtig rund ging es meist erst nach Mitternacht, wenn Alkohol und Drogen ihre Wirkungen entfalteten.
Kriminalrat Biesinger hatte nach dem Abgang von Willenhagen und Neumann entschieden, die MK auf zehn Ermittler zu verkleinern. Da es ausschließlich um das Aufspüren einer Zeugin ginge, sei ein größerer Aufwand nicht zu rechtfertigen. Ein paar bange Minuten lang hatte Bastian befürchtet, seine Zeit bei den Mordermittlern sei damit schon wieder beendet und die erhoffte Versetzung zum KK 11 in weite Ferne gerückt, doch dann hatte sich Brunkbäumer für ihn eingesetzt und Fahlen empfohlen, den Mann von der K-Wache weiter mitmachen zu lassen, schließlich habe der die Suche nach der unbekannten Frau ins Rollen gebracht. Eine späte, wenn auch nicht zu späte Anerkennung seiner Leistung, wie Bastian fand.
Eigentlich sollte er nach Hause gehen. Er war seit über zwölf Stunden im Dienst und hundemüde. Und gleichzeitig total aufgekratzt. Die Vorstellung, in seiner aufgeheizten Dachgeschosswohnung, die er nach der Trennung von Lisa gemietet hatte, auf der Couch zu liegen und mit einem Bier in der Hand auf den Fernseher zu starren, reizte ihn ganz und gar nicht. Überhaupt ging ihm seit einiger Zeit das Alleinsein auf die Nerven. Doch mit wem konnte er sich verabreden? Der Einzige, der ihm spontan einfiel, war Udo Deilbach. Der würde sich allerdings nur widerwillig von der Terrasse seines Reihenhauses in Gievenbeck locken lassen. Und besonders unterhaltsam würde der Abend auch nicht werden.
Bastian zog die Visitenkarte von Yasi Ana aus der Hemdtasche, die ihm die Rechtsmedizinerin bei seinem zweiten Besuch gegeben hatte. Er dürfe sie jederzeit anrufen, hatte sie gesagt. Eine Höflichkeitsfloskel, was sonst. Es war absurd, überhaupt daran zu denken. Sie hatte Medizin studiert und einen Doktortitel, stand bildungsmäßig zwei Klassen über einem einfachen Oberkommissar, warum sollte sie sich für ihn interessieren? Erst ab fünfzig begannen Frauen, jüngere und weniger gebildete Männer in Betracht zu ziehen. Davon war Yasi Ana noch rund zwei Jahrzehnte entfernt.
Trotzdem, anrufen konnte er sie, so tun, als habe er eine dienstliche Frage. Falls sie sich überhaupt noch in der Rechtsmedizin aufhielt und nicht längst nach Hause gegangen war.
Nach dem dritten Klingeln hätte er beinahe schon aufgelegt. «Yasi Ana.»
Er sagte seinen Namen.
Sie lachte. «Ach, der Kommissar! Na, so schnell sind wir auch nicht, da müssen Sie sich schon bis morgen gedulden. Oder geht es gar nicht um das Kondom?»
«Doch … Nein, äh … also, ich …»
«Vielleicht möchten Sie mich ja fragen, ob ich mit Ihnen irgendwohin gehe, wo es etwas Kühles zu trinken gibt?»
Machte sie sich über ihn lustig?
«Und wenn es so wäre?»
«Würde ich nicht nein sagen. Sie kennen sich in Münster besser aus als ich. Was schlagen Sie vor?»
Wo konnte man am besten draußen sitzen? «Den Kreativkai am Hafen?»
«Gut. In einer Stunde.»
Nachdem sie den genauen Treffpunkt vereinbart hatten, legte Bastian auf.
Nie im Leben hätte er heute Morgen um fünf, als sein Wecker klingelte, daran gedacht, dass der Tag eine solche Wendung nehmen würde.
Im olivfarbenen Wasser des Hafenbeckens spiegelte sich der alte Kran, der längst nicht mehr in Betrieb war, sondern als Kulisse für die Kneipenszene auf der anderen Uferseite diente. Ein paar Yachten spielten Marina, Skipper mit Goldkettchen und vollbusigen Begleiterinnen nahmen huldvoll die Prozession der Schaulustigen ab, während sie aus langstieligen Gläsern Champagner tranken. Schon vor mehr als zehn Jahren hatte sich die Industrie aus dem Hafen zurückgezogen, die verbliebenen Reste der alten Kultur warteten auf ihren Abriss oder die Verlegung an den Stadtrand. An die Stelle der Hafenbetriebe waren Investoren getreten, die Neubauten errichteten und ehemalige Silos in Ateliers oder Büroräume verwandelten. Und unterhalb der Büros, in denen Werbemenschen, Architekten und Verlagsangestellte arbeiteten, reihten sich Restaurants, Cafés und Clubs wie Perlen auf einer Kette. An warmen Sommerabenden war es trotzdem nicht einfach, einen freien Platz auf einer der Holzterrassen zu ergattern.
Yasi Ana hatte es geschafft. Bastian entdeckte sie sofort. Aus der Menge der blonden, langhaarigen Frauen in dezentem Chic, die Münster und vor allem die Hafenszene bevölkerten, stach sie heraus wie ein grüner Papagei aus einem Schwarm Krähen. Sie trug eine schwarze Dreiviertelhose, eine bunt gemusterte Bluse und einen Strohhut. Ein bisschen sah sie aus wie eine Reisbäuerin, die kurz ihren Tragekorb abgestellt hatte. Sie winkte ihm zu, und er winkte zurück.
«Ich habe mir schon etwas bestellt.» Sie zeigte auf ein Cocktailglas, in dem geschichtete Flüssigkeiten einen Regenbogen bildeten. «Ein durstiger Bauch hat keine Ohren.»
Bastian beschloss, vorerst nüchtern zu bleiben, und orderte ein alkoholfreies Weizenbier. Dann erzählte er von der Sitzung im Polizeipräsidium und der Wirkung, die das Kondom erzielt hatte. Denn im Grunde genommen war es ja nicht sein, sondern Yasi Anas Verdienst, dass die Ermittlungen in eine neue Richtung liefen.