Boris Meyn

Das Haus der Stille

Ein Fall für Sonntag, Herbst und Jensen

Danksagung

Mit Dank an Roberto, Dübi und alle, die mir Einblick in Unbekanntes gewährten 

Kapitel 1

Konzentriert beobachtete Gero Herbst die Wasseroberfläche. Sein Blick streifte suchend an der Uferkante entlang, schließlich entdeckte er eine geeignete Stelle. Bevor die Wellen sanft vom Schilfgras gebrochen wurden, war eine deutliche Vertiefung zu erkennen. Behutsam näherte er sich. Nach einem Moment der Besinnung schnellte sein rechter Arm vor, und augenblicklich gab der Daumen die Schnur frei. Fast lautlos schwirrte der Köder seinem Ziel entgegen. Nur ein Vogel schien die Gefahr wahrgenommen zu haben. Mit hektischen Flügelschlägen startete er aus seinem vermeintlich sicheren Versteck unter der fast blattlosen Weide, deren Zweige sich weit über die Kloppkolben des Schilfgrases beugten. Etwa einen Meter hinter dem gewählten Platz tauchte das kleine Metall ein. Etwas absinken lassen, dann einholen. Geschmeidig verrichtete die alte Ambassadeur ihren Dienst. Nur nicht zu schnell kurbeln. Geros Blick verfolgte die Spur der Sehne, die sich langsam ihren Weg durch das Wasser bahnte. Als der Blinker vor ihm auftauchte und mit einem Glucksen aus dem Wasser sprang, hielt er einen Augenblick inne. Weit hinter der gegenüberliegenden Uferkante vollzog sich ein phantastisches Naturschauspiel. Ein letzter Rest des feuerroten Sonnenballs versank am Horizont. Der Himmel schimmerte für wenige Minuten in herbstlicher Glut, und die leuchtenden Streifen der Wolkenbänder zeigten für einen erhabenen Moment eindrucksvoll die Geringfügigkeit des irdischen Mikrokosmos.

Die Spiegelungen auf dem Wasser verhinderten die Jagd auf Sicht. Gero hatte die Größe des Köders so ausgewählt, dass sich nur ein kapitaler Brocken verleiten lassen würde. Langsam machten sich seine Füße in den hohen Gummistiefeln bemerkbar, die Kälte kroch ihm die Beine hoch. Noch zwei, drei Versuche, dann wurde es Zeit für einen Ortswechsel. Gero zog seine Lesebrille aus der Weste und montierte einen Blinker mit hellerer Farbe. Der winzige Karabiner hinter dem Vorfach war knifflig zu öffnen, ohne Sehhilfe war es aussichtslos. Lange hatte er es nicht wahrhaben wollen, aber nun war er dankbar. Mit sechsundvierzig sei eine Lesebrille die Regel, hatte ihn der Augenarzt beruhigt.

Gero fischte das Gewässer im Bogen vor sich ab. Wurf folgte auf Wurf. Er fragte sich, welche Temperatur das Wasser wohl haben mochte. Im letzten Monat hatte er am Bootssteg noch ein erfrischendes Bad nehmen können. Inzwischen sollte sich die Temperatur der Zehn-Grad-Marke genähert haben. Gero fröstelte bei dem Gedanken. Nichts tat sich. Ein Hecht würde gewaltig anschlagen.

Hundert Meter zur Linken gab es eine weitere vielversprechende Stelle. Auf dem Weg dorthin verhedderte sich sein Kescher auf dem Rücken in ein paar Zweigen. Umständlich befreite sich Gero aus der misslichen Lage und folgte dann dem schmalen Trampelpfad, der am Schilf entlangführte. Diese Stelle noch, nahm er sich vor. Er wollte auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause sein.

Die letzten Herbstmücken tanzten über den Gräsern. Ob er es in diesem Jahr noch einmal schaffen würde, auf die Pirsch zu gehen? Die Rutenspitze durchschnitt die Luft mit einem peitschenden Geräusch. Ein alter Räuber zu später Stunde – das wäre der versöhnliche Abschluss eines stressigen Tages.

Als er vor gut zwei Stunden von der Dienststelle aufgebrochen war, hatte noch jede Menge Arbeit auf seinem Schreibtisch gelegen. Wenn man ihm nur nicht den Vorsitz dieser Sonderkommission übertragen hätte. Er war der Dezernatsleiter, sicher, aber Jörn Lüneburg hätte den Job als Dienstältester genauso übernehmen können. Erfahrung hatte er mehr als genug, und die Funktion eines Koordinators setzte in diesem Fall keine Mobilität voraus. Es ging vor allem um die Abstimmung der Aufgabenverteilung zwischen Kripo, Zoll und Bundespolizei. Und die Auswertung der Ergebnisse oblag Jörn in jedem Fall.

Gero sehnte den Jahreswechsel herbei. Ab Januar würde es keine festen Sperrmülltermine mehr geben, dann war endlich Schluss mit den vagabundierenden und patrouillierenden Kleinlastern aus dem Osten. Dass damit auch die Serieneinbrüche aufhörten, bezweifelte Gero jedoch. Irgendetwas würden sich die Täter schon einfallen lassen, um geeignete Objekte in Zukunft anders auszukundschaften. Ihre Vorgehensweise war einfach zu offensichtlich geworden. Anfangs hatten sie ja an einen Zufall gedacht, aber seit die Serie von Einbrüchen und Diebstählen regelmäßig den regionalen Sperrmüllterminen folgte, war der Zusammenhang eindeutig.

Vierzig Zivilfahnder standen der Sonderkommission Sperrmüll zur Verfügung. Viel zu wenig, um die ganze Region systematisch abdecken zu können. Wenn überhaupt, dann hatten sie in dieser Woche eine Chance auf Erfolg. Laut Plan gab es in der 44. Kalenderwoche zwar Sperrmüll in zehn Ortsteilen im Lauenburgischen, aber nur vier davon hatten Straßenzüge mit großen Grundstücken, auf denen vorwiegend Einzelhäuser standen mit teuren Autos davor. Und genau das waren die bevorzugten Objekte. Die städtischen Bereiche mit den Mehrfamilienhäusern in Geesthacht, Mölln und Ratzeburg konnten sie vernachlässigen, blieben allein die Neubausiedlungen in Büchen und Schwarzenbek sowie die Randbezirke.

Die Abstimmung aller Beteiligten musste akribisch organisiert sein. Jeder verdächtige Kleintransporter mit polnischem oder litauischem Kennzeichen sollte in den betreffenden Straßen von den Zivilfahndern erfasst werden. Die Kennzeichen wurden an die Kollegen vom Zoll und von der Bundespolizei weitergeleitet, die die Autobahnzufahrten und Grenzübergänge im Auge zu behalten und die Wagen bei Bedarf zu kontrollieren hatten. Es ging nur um wenige Tage. Bislang geschahen die Einbrüche spätestens in der dritten Nacht nach den Abholungsterminen. Die Täter schlugen blitzschnell zu, arbeiteten lautlos und professionell. Vor allem der Diebstahl der Luxuslimousinen barg einige Rätsel. Aber dafür kam in den nächsten Tagen ja dieser Spezialist von den Versicherungen, der dem Team mit entsprechendem Insiderwissen zur Seite stehen würde.

Der Blinker sauste erneut durch die Luft und schlug etwas zu laut auf. Gero spürte einen leichten Widerstand – die Rute bog sich. Ein Biss? Nein, der Haken musste sich im Kraut verfangen haben. Die Rückstände am Drillingshaken bestätigten seine Vermutung. Ein Schwarm Gänse flog schnatternd über die Baumwipfel in das verblassende Abendrot. Die Zugvögel hatten sich vom warmen Oktober täuschen lassen und machten sich viel zu spät auf die Reise. Vor allem die Kraniche, die sich in den letzten Jahren anscheinend stattlich vermehrt hatten, waren an den großen Sammelstellen ein faszinierender Anblick.

Gero wechselte ein letztes Mal den Köder. Ein großer Perlmuttspinner. Es kostete ihn Mühe, damit auf Weite zu kommen. Ein unablässiges Vibrieren durchströmte die Rute beim Einholen. Gero mochte dieses Gefühl – auf den letzten Metern konnte man unter der Wasseroberfläche erkennen, wie der Löffel surrend flink um das Gewicht rotierte. Nach einigen Versuchen hatte er den Bogen raus und kam der angepeilten Stelle immer näher.

Der Biss kam so überraschend und mit einer solchen Gewalt, dass Gero fast das Gleichgewicht verlor. Er schaffte es gerade noch, trotz des Schwankens die Sternbremse zu öffnen. Die Schnur flog nur so von der rotierenden Rolle. Das war ein Brocken – bestimmt ein Hecht von mindestens fünf Kilo. Jetzt nur nicht den Kontakt verlieren. In dem Moment klingelte das Handy.

«Ja?» Die kurze Ablenkung hatte gereicht – Bremse zu fest, Fisch weg. Enttäuscht schaute Gero auf das von der Rutenspitze herabbaumelnde Ende der gerissenen Schnur.

«Ich bin es, Schatz. Alles in Ordnung mit dir?», fragte seine Frau, nachdem er nicht sofort antwortete.

«Geht so», antwortete Gero jetzt. Was sollte er auch groß sagen.

«Wo bist du gerade?»

«Beim Fischen.»

«Ach so», entgegnete Lena. «Ich habe mich schon gefragt, warum zu Hause niemand abnimmt.»

«Ich dachte, du wärst längst da.» Gero legte die Rute auf den Boden und schaute auf die Uhr. Eigentlich hätte Lena bereits seit Stunden auf dem Hof sein müssen. «Überstunden?», fragte er.

«Ich habe doch Bereitschaft», stöhnte sie. «Hast du vergessen, dass Vetter im Urlaub ist? Und wie das dann so ist … Deswegen rufe ich an.»

«Was Wichtiges?», fragte Gero.

«Kann man schon sagen. Ich wollte dich zumindest informieren, bevor die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wird.»

Obwohl die Verbindung gut war, presste Gero das Gerät unwillkürlich fester ans Ohr. «Erzähl.»

«Du kennst doch dieses Haus der Stille in Bugendorf.»

«Flüchtig», entgegnete Gero. «Unauffällige Leute, eben sehr still. Bislang hat es nie Ärger gegeben.»

«Ein buddhistisches Meditationszentrum», erklärte Lena. «Die halten dort Seminare ab, Yoga und so etwas. Jedenfalls habe ich einen der Bewohner gerade auf dem Tisch gehabt.»

«Dann dürfte es mit der Stille dort vorbei sein», folgerte Gero. Lena hatte von der Staatsanwaltschaft gesprochen, und wenn eine Gerichtsmedizinerin solche Worte in den Mund nahm, war gewöhnlich Unheil im Anmarsch. Gero konnte im Moment alles gebrauchen, aber nicht auch noch einen Mordfall. «Todesart?», fragte er vorsichtig.

«Eine hohe Konzentration toxischer Stoffe. Digitalis wahrscheinlich. Genaueres wird der Laborbefund zutage fördern. Der Mann, Dr. Kurt Bassen, war Seminarteilnehmer im Haus der Stille. Gestern ist er dort nach dem Abendessen zusammengebrochen. Zuerst hat man ihn nach Ratzeburg in die Klinik gebracht, aber als sich sein Zustand rapide verschlechterte, wurde er nach Absprache direkt hierher nach Lübeck in die Uniklinik verlegt. Exitus heute um zehn Uhr vormittags. Tod durch Atemlähmung. Sein Kreislauf hat auf keine der medizinischen Maßnahmen mehr reagiert. Unsere Kardiologen stehen vor einem Rätsel.»

«Deswegen die Leichenöffnung?»

«Du weißt, bei unklarer Todesursache ist das obligatorisch. In diesem Fall wollte man wohl in erster Linie einen Behandlungsfehler ausschließen – zur Absicherung. Aber was ich gefunden habe, deutet darauf hin, dass dem Mann etwas ins Essen gemischt wurde. Und zwar nicht zu knapp.»

«Was ist mit Suizid?»

«Es gibt bestimmt angenehmere Arten der Selbsttötung», antwortete Lena.

«Scheiße», entfuhr es Gero. «Das hat uns gerade noch gefehlt. Erst die Sonderkommission, und nun auch noch so was. Wir können eigentlich niemanden entbehren. Wann verständigst du die Staatsanwaltschaft?»

«Jetzt gleich – fährst du nochmal in die Dienststelle?»

Gero überlegte einen Augenblick. «Nein», meinte er schließlich. «Matthias hat heute Spätschicht, er wird das übernehmen. Wenn du die Wissmann dranhast, dann bestell ihr einen schönen Gruß und bitte die Frau Oberstaatsanwältin, mich nochmal auf dem Handy anzufunken, bevor sie das Prozedere in Gang setzt. Wenn wider Erwarten Heiko Hellsink noch im Amt sein sollte, dann nicht. Den Kerl verkrafte ich heute Abend nicht mehr. Wann kommst du?»

«Ich stelle noch meinen vorläufigen Bericht fertig, dann mache ich mich auf den Weg. Hast du was gefangen?»

«Fast.» Gero verkniff sich eine Bemerkung. «Ich freue mich auf dich – es gibt Fischstäbchen.»

Kapitel 2

Der Pfeil zischte nur knapp auf Kopfhöhe an ihm vorbei und traf exakt das Zentrum der großen Strohscheibe, die wenige Meter neben ihm stand. Verdammt, worauf hatte er sich nur eingelassen. Wahrscheinlich hatte er, ohne es zu wissen, irgendeine verbotene Zone betreten. Leif schlug das Buch «Buddhismus für Einsteiger» zu und versteckte es unauffällig hinter dem Rücken. Der Mann mit dem halbnackten Oberkörper und dem weißen Pludergewand musste der Schütze sein. Erstaunlich – es mochte bestimmt unter zehn Grad sein. Er lächelte Leif mit versteinerter Miene an. Leif nickte freundlich.

«Der Weg ist das Ziel», sagte der Mann leise. Jetzt war auch der Bogen zu erkennen, den er mit der linken Hand seltsam weit vom Körper weghielt. Er sprach einen undefinierbaren Akzent und schien selbst beim Reden zu lächeln. «Und auf dem Weg war ich», antwortete Leif im Flüsterton und versuchte, es dem Mann gleichzutun, aber er merkte selbst, dass sein Lächeln zu einer Fratze mutierte. Innerlich bebte er, schließlich hatte ihn der Pfeil nur knapp verfehlt. Dann ging er weiter. Der Gong würde ihn rufen, hatte dieser Shamadingsbums gemeint. Verärgert blätterte Leif auf die letzte Seite des Buches, wo er den Namen notiert hatte. Shamayana, so hieß der Leiter des Seminars. Zwei Stunden Pause. Bis dahin hatte er ihm nahegelegt zu schweigen. Alle schienen hier die meiste Zeit über zu schweigen.

Mit Schweigen und Lächeln durch den Tag. Fünf Tage Ruhe würden ihm guttun. Das letzte Zusammentreffen mit seiner Frau hatte ihm den Rest gegeben. Er hatte keine Kraft mehr – die endlosen Debatten hingen ihm zum Hals heraus. Natürlich hatte Miriam einen Neuen, obwohl sie es abstritt. Finn hatte ihn auch schon gesehen. Zufällig, als sie zur letzten Theateraufführung ins Internat gekommen waren. Fast so alt wie Opa, hatte sein Ältester gemeint. Und er habe ihr einen Kuss gegeben, bevor sie aus dem Wagen gestiegen sei. Es war aussichtslos. Die Sache würde sich nicht wieder einrenken. Zu viel war zerbrochen. Eigentlich ging es ihm nur noch um die Kinder. Für Leif war es völlig unverständlich, warum sie nicht mit offenen Karten spielte. Miriam lag nichts an einem geregelten Familienleben. Die Woche über brachte sie die Zwillinge nach wie vor bei irgendwelchen Klassenkameraden und Freundinnen unter, damit sie selbst Tennis spielen und reiten konnte, und an den Wochenenden setzte sie sich wie gewohnt ab, und er durfte sich kümmern. Bevor er einen Schlussstrich zog, wollte er jedoch noch einmal mit Miriams Vater sprechen. Er wollte keinen Streit, der vor Gericht ausgetragen wurde. Weder was das Sorgerecht noch was die finanzielle Seite betraf. Ernst von Gossewitz hatte schon immer auf seiner Seite gestanden, auch wenn Miriam seine Tochter war. Sie würden eine Lösung finden. Aber vorerst war er in Bugendorf.

Leif konnte sich kaum vorstellen, dass hier Unruhe herrschen konnte. Fünf Tage dauerte das Seminar im Haus der Stille noch. Nun, mit Schweigen verriet er sich zumindest nicht. Bislang wusste niemand, warum er hier war. Nur dass er den Platz von Dr. Kurt Bassen eingenommen hatte, der mit Herz-Kreislauf-Versagen im Krankenhaus lag. Kein Wort von dessen Tod. Die Seminarplätze waren begehrt. Bei bestimmten Veranstaltungen gebe es schon mal eine Warteliste, hatte ihm der Vorsitzende des Vereins, Dr. Schmidt, erklärt. Er war als Einziger eingeweiht und hatte sich sogleich kooperativ gezeigt. Nur kein Aufsehen, keine große Geschichte und bitte keine Presse. Buddhisten seien friedvolle Menschen und Pazifisten, hatte er erklärt. Das erstrebenswerte Ziel sei es doch, im friedlichen Miteinander und zudem im Einklang mit sich selbst und den Mitmenschen zu leben. Starke Worte. Nur hatte sich irgendjemand offenbar nicht an die Spielregeln gehalten. Er hatte es Schmidt gegenüber nicht aussprechen müssen. Der Mann war hochintelligent.

Gero war mit diesen Sperrmüllsammlern beschäftigt, und Conni jagte irgendwelchen gestohlenen Autos hinterher. Also war er hier. Bei Ines Wissmann waren gleich die Alarmglocken losgegangen, als sie von Dr. Schmidt erfahren hatten, dass der Seminarleiter ein hoher Würdenträger der Glaubensgemeinschaft war. Was er genau für einen Posten innehatte, war noch nicht ganz klar. Bei religiösem Hintergrund waren auch deutsche Behörden inzwischen einigermaßen sensibilisiert. Überflüssigerweise saß der Wissmann ein Landesabgeordneter im Nacken, der für Ausländerfragen zuständig war, aber keine Ahnung von Religionen hatte. Zugegeben, Leif wusste über Buddhismus auch recht wenig – ehrlich gesagt so gut wie gar nichts, aber dass Buddhisten keine Moslems waren und Fanatiker, höchstens Askese am eigenen Leib betrieben und in der Regel keine Andersdenkenden massakrierten, das war ihm schon bekannt. Mit diesem rudimentären Wissen war er ins Haus der Stille gezogen. Den Rest würde er sich anlesen.

Der Name des Hauses schien Programm. Selbst die Vögel im Garten hielten sich dem Anschein nach an das Schweigegebot. Leif setzte seinen Weg durch die parkartige Anlage fort, zuerst wollte er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen. Das Hauptgebäude konnte das Herrenhaus eines ehemaligen Gutes sein, das man nach dem Krieg zu einem Schullandheim umgebaut hatte. Zumindest gab es keine Stallungen mehr. Zur Rechten erstreckten sich ausgedehnte Obstgärten und mehrere Gewächshäuser, dahinter lagen die beiden Pavillons, in denen die Gäste untergebracht waren. Sogar eine Sauna gab es. Die Zimmer im Gästetrakt waren schlicht eingerichtet. Ein Bett, ein Schrank, Tisch und Stuhl. An den Wänden kreisförmige Bilder aus geometrischen Mustern, wie sie die Zwillinge aus dem Kunstunterricht der Schule mitbrachten. Der Geruch erinnerte ihn an irgendetwas von früher, wahrscheinlich Jugendherberge oder tatsächlich Schullandheim. Gewöhnungsbedürftig war es, dass die Zimmer nicht abschließbar waren. Leif dachte an sein PowerBook, das, mit dem Handy verbunden, seinen Kontakt zur Außenwelt sicherte. Dr. Schmidt hatte ihm nahegelegt, das Klingelsignal stumm zu schalten. Ruhe war hier erste Bürgerpflicht. Auch Alkohol wurde im Zentrum nicht gerne gesehen, wie Dr. Schmidt es höflich ausgedrückt hatte. Leif wollte nicht auffallen. Zwei Straßen weiter gab es einen Gasthof. Morgen Abend hatte er sich dort mit Gero auf ein Bier verabredet.

Bis auf die Kastanien trug der Großteil der alten Bäume noch sein Herbstkleid. Nur vereinzelt regnete es Kaskaden aus rot und gelb leuchtendem Laub. Die angekündigten Herbststürme hatten noch nicht eingesetzt. Am Himmel zeichneten sich weiße Haufenwolken ab. Leif ging auf den großen Ginkgobaum zu, vor dem ein steinerner Buddha saß. Auf der Bank dahinter erkannte er die graue Katze, die das Zimmer neben ihm bewohnte. Ein Raubtier mit erwartungsvollem Blick. Man merkte, dass ihr das Schweigen schwerfiel. Die andere Mittvierzigerin, die gemeinsam mit ihrer Tochter hier war, stand mit einem Rechen bewaffnet auf der Wiese und fegte das wenige Laub zusammen. Jeder tat hier etwas für die Gemeinschaft, viele arbeiteten im Garten. Aber die friedliche Stimmung war trügerisch. Irgendwer hatte ein tödliches Gift in die Müslischale des Shamayana gemixt. Das hatten die Nachforschungen ergeben, denn Bassen hatte nach Aussage der anderen Gäste beim Frühstück versehentlich aus der Schale des Seminarleiters gegessen. Mehr hatte er den Tag über nicht zu sich genommen. Es sah so aus, als wenn Dr. Kurt Bassen nur zufällig zum Opfer geworden war und der Anschlag eigentlich dem Leiter des Seminars gegolten hatte.

Um was für einen Wirkstoff es sich genau handelte, würde man in den nächsten 24 Stunden wissen. So gut wie jeder hatte hier Zugang zur Küche, denn hauptsächlich war Selbstversorgung angesagt. Die Kost war streng vegetarisch. Obst, Gemüse, Joghurt, Müsli, das Brot wurde selbst gebacken. Für den Einkauf und die wenigen warmen Mahlzeiten war ein gewisser Rolf Kossetzki zuständig, der als Hausmeister und Mädchen für alles in der Einrichtung arbeitete. Dann gab es noch einen Angestellten namens Lachmann, der sich dreimal wöchentlich um den parkähnlichen Garten und die Pflanzen kümmerte. Heute war er anscheinend nicht auf dem Gelände. Auf die Frage nach seinen Bezugsquellen hatte Kossetzki zögernd erklärt, es handle sich um ganz gewöhnliches Müsli aus dem Supermarkt, verschiedene Sorten zusammengemischt. Ein Schelm, wer anderes erwartet hätte. Leif konnte sich ein Grinsen nur mühsam verkneifen – auch Buddhisten kochten eben nur mit Wasser. In der Nachfüllpackung konnte kein toxischer Wirkstoff nachgewiesen werden, es war also eine gezielte Handlung gewesen. Auch aus dieser Perspektive betrachtet war es gut, dass er vor Ort war, denn vielleicht würde es der Täter erneut versuchen. Leif nahm sich vor, diesen Shamayana vor dem Abendessen noch abzufangen und über die möglichen Gefahren aufzuklären.

Der Bogenschütze hatte seine Übungen beendet. Erhobenen Hauptes und mit langsamen Schritten ging er in Richtung Pavillon. Leif schlug die Liste mit den Teilnehmern auf, die er als Lesezeichen im Buch versteckt hielt. Der Mann musste entweder Shangrila Gaya oder T’Hom Badschur heißen. Er tat sich schwer mit den fremd klingenden Namen, auch wenn es nur drei auf der Liste waren. Außer ihm selbst und dem Leiter gab es noch vier männliche Seminarteilnehmer, und Peter Gölz war das nicht. Den Namen hatte er bereits zuordnen können. Gölz war zusammen mit seiner Frau Alexandra hier. Leif hatte die beiden vorhin auf dem Flur in inniger Umarmung ertappt, doch in der Gemeinschaft gaben sie sich anscheinend Mühe, nicht als Paar aufzutreten. Auf jeden Fall war der Bogenschütze kein Asiat oder Inder, eher Europäer. Also hatte er in Wirklichkeit einen anderen Namen. Wer sich hinter den beiden seltsamen Namen verbarg, war das Erste, worum er sich kümmern wollte. Keine leichte Aufgabe, denn bei der Anmeldung musste man sich, wie ihm gesagt worden war, nicht ausweisen.

Leif ging die Liste weiter durch. Dr. Leon Remmter musste der hagere Kerl mit der Messerschnittfrisur sein. Der Erscheinung nach war er Banker oder Wirtschaftsprüfer. Kleidung, Gestik und distinguiertes Verhalten legten diese Vermutung nahe. Der Mann hatte tadellos manikürte Fingernägel und trug am Handgelenk einen fünfstelligen Markenwecker. Solche dezent versteckten Insignien stachen Leif sofort ins Auge. Er hatte vorhin bei der Vorstellung neben Remmter gesessen und beobachten können, wie er alle fünf Minuten auf die Uhr geschaut hatte. Zeitdruck und Termine hatten diesen Menschen geprägt. Die tiefen Furchen, die sich auf seinen Wangen abzeichneten, ließen zudem auf ein Magengeschwür oder ähnlich nervöse Stresssymptome schließen. Dass Remmter hier wirklich meditative Ruhe fand, wagte Leif zu bezweifeln.

Die graue Katze hatte sich Leif als Einzige mit Namen vorgestellt. Sie hieß Daniela Koch, war ungefähr in Leifs Alter und hatte den Blick eines Raubtiers auf Beutesuche. Augen und Haarpracht hatten bei Leif sofort diese Assoziation ausgelöst. Ihre üppigen, mit deutlichem Grau durchwachsenen Locken, die weit über ihre Schultern hingen, erinnerten an die Mähne eines Löwen. Auf der anderen Flurseite wohnte Rika von P., mit Abstand die jüngste Teilnehmerin des Seminars, höchstens Mitte zwanzig. Eine große, schlanke Person mit schwarzen Haaren, die sie streng zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Mit ihren hohen Wangenknochen und dem dunklen Teint glich sie einer orientalischen Schönheit. Im Nachbarzimmer wohnte ihre Mutter. Es gab hier nur Einzelzimmer. Victoria von P. hatte fast die Größe ihrer Tochter, aber eine kräftigere Statur mit einem mächtigen Busen. Die weißgraue Kurzhaarfrisur mit dem ausrasierten Nacken, ihr vom Wetter gegerbtes, grobporiges Gesicht unterstrichen den Naturmenschen. Sie stand immer noch auf dem Rasen und harkte Laub. Von ihrer Tochter keine Spur. Leif folgte dem Bogenschützen zum Pavillon.

Auf dem Flur verströmten Räucherkerzen einen moschusartigen Geruch, das Licht war gedämpft. Blieb noch Gundula Meyer-Vielhoff, der letzte Name auf der Liste. Beim morgendlichen Treffen war sie nicht anwesend gewesen. Leif machte die Zimmertür zu und streckte sich auf seinem Bett aus. Die Stille war wirklich erstaunlich. Für einen Augenblick schloss er die Augen. Seine Fingerspitzen kreisten langsam über die Schläfen. Jetzt nur nicht nachgeben, es war eine der Attacken, die man ihm prophezeit hatte. Seit er der Nikotinsucht mit einer Hypnosebehandlung den Garaus gemacht hatte, war es bereits zweimal vorgekommen. Seine Nerven spielten ihm einen Streich. Ruhe war gefährlich. Er war vorbereitet. Einmal hatte er sich Akupunkturnadeln zur Stimulation bestimmter Nervenpunkte setzen lassen. Seine Fingerspitzen suchten die Bahnen. Er sollte sich auf die Zirkulation der Luft zwischen seinen Lungenbläschen konzentrieren.

Die Gedanken gingen durcheinander. Irgendwo tauchte dieser Fluss auf. Er musste wandern, das Tal entlang. Keine Spur von diesem Baum der Weisheit. Er erreichte eine Wegkreuzung. Wie Knotenpunkte einzelner Nervenbahnen verzweigte sich der Pfad vor ihm. Jemand rief nach ihm, aber es war nicht sein Name, was ihn verstörte. Als er sich umdrehte, erkannte er eine Frau, die Miriams Gesichtszüge hatte. Sie stand am anderen Ufer des Flusses und winkte ihn zu sich. Zwischen ihr und dem mächtigen Gebirge, das sich am Horizont erstreckte, lag ein riesiger Palast. Miriam hielt ein Kind an ihrer Hand und rief ihm in einer fremden Sprache etwas zu. Dann nahm er sich plötzlich selbst wahr, sah seine zerschlissene Kleidung und sah sich lächeln. Er musste sich für einen Weg entscheiden. Einer der acht Pfade sollte ihn zu diesem Baum führen.

Ein sanfter Gong riss Leif aus seinen Gedanken. Hatte er geträumt? Seine Fingerspitzen ruhten immer noch auf seinen Schläfen. Irritiert schaute er auf das Buch, das neben seinem Bett auf dem Boden lag. Die Kapitel über das Leben des Buddha, den Siddhartta Gotama, hatte er bereits gelesen. Im sechsten Jahrhundert vor der heutigen Zeitrechnung wurde er als Sohn des Königs der Sakyas in Tibet geboren. Mit sechzehn Jahren wurde Siddartha mit Prinzessin Yasodhara verheiratet, sie lebten standesgemäß im elterlichen Palast. Beeindruckt vom Leid der Menschen, dem er stellvertretend durch einen Bettler, einen Kranken, einen Toten und einen Mönch begegnete, beschloss er, seine Familie zu verlassen, um einen Weg aus dem allgemeinen Leid zu finden. Sechs Jahre wanderte er in Askese lebend durch das Tal des Ganges, aber er fand keine Befriedigung. Erst als er seinen eigenen Weg ging, erreichte er die vollkommene Erleuchtung. Dies geschah angeblich am Ufer des Neranjara-Flusses unter dem Baum der Weisheit, dem Bodhi-Baum. Den Kern seiner Erkenntnis bildeten dabei die vier edlen Wahrheiten. Weiter war Leif noch nicht gekommen, er hatte nur verstanden, dass ein achtfacher Pfad der Wegweiser zu Glück und Harmonie sein sollte. Das war doch verrückt.

Der Gong rief zum meditativen Gebet in die kleine Halle des Haupthauses. Danach wollte der Shamayana das erste Mal über Samudaya Sacca sprechen. Leif schlug im Glossar des Buches nach. Die Wahrheit von der Ursache des Leidens. Gespannt, was der Shamayana zu erzählen hatte, machte er sich auf den Weg.