Die kleine Patisserie in Paris

Nina stampfte mit ihren müden Füßen auf den Kiesboden, um sich warm zu halten. Zum fünfundneunzigsten Mal in zehn Minuten schaute sie auf ihr Handy, wobei sie es beinahe fallen ließ. Wo zum Henker blieb Nick? Er war bereits eine Viertelstunde zu spät, und ihre Finger froren ihr langsam ab. Mal ganz abgesehen davon, war ihre Stimmung sowieso schon trübselig. Der Hintereingang der Küche, der auf den Mitarbeiterparkplatz hinausführte, bot nur wenig Schutz vor dem beißend kalten Wind, der um das Sandsteingebäude pfiff – und überhaupt keinen vor den finsteren Gedanken in ihrem Kopf.

«Hey, Nina – bist du sicher, dass du nicht mitfahren willst?», fragte Marcela, eine der anderen Kellnerinnen. Sie hatte das Autofenster heruntergekurbelt, nachdem sie mit ziemlicher Geschwindigkeit rückwärts aus einem der Parkplätze gefahren war.

Nina schüttelte den Kopf. «Alles gut, danke. Mein Bruder ist schon auf dem Weg.» Zumindest hoffte sie das. Sie wünschte, sie könnte jetzt mit Marcela und den anderen beiden Angestellten in dem kleinen Auto mit den beschlagenen Fensterscheiben sitzen, und musste beinahe lachen über die Ironie der Situation. Mum hatte darauf bestanden, dass Nick sie abholte, damit Nina sicher nach Hause kam, und jetzt stand sie in der Dunkelheit auf einem Parkplatz und würde gleich vollkommen allein sein.

«Okay. Dann also bis in acht Wochen.»

«Ha!», ließ sich eine tiefe Stimme mit osteuropäischem

Ein gutgelaunter Chor buhte ihn aus.

«Bis bald, Nina!» Alle winkten und riefen zum Abschied durcheinander, Marcela kurbelte das Fenster wieder hoch, und dann raste der alte Polo von dannen, als könnte Marcela es kaum abwarten, ihre Schicht zu beenden und die Füße hochzulegen. Genau danach sehnte Nina sich auch, falls ihr Bruder jemals kommen sollte.

Endlich sah sie, wie sich Scheinwerfer näherten. Das musste Nick sein. Alle anderen waren schon weg. Das Auto kam so abrupt vor Nina zum Stehen, dass die Kiesel spritzten.

Sie riss die Beifahrertür auf.

«Hey, Schwesterchen. Wartest du schon lange? Sorry, Notfall bei den Schafen.»

«Ja», fauchte Nina, dankbar für die Wärme im Auto. «Draußen ist es arschkalt. Ich bin so froh, wenn mein Auto wieder heil ist.»

«Ich auch. Ich bin gerade erst wieder halbwegs warm geworden. Blöde Schafe. Auf dem Moorweg hatte sich eins der Muttertiere im Zaun verhakt. Ich musste anhalten und das dumme Schaf befreien.»

War es schlimm von ihr zu denken, dass das Schaf wenigstens einen schönen Wollmantel trug, während sie an einem kalten Februarabend nur in Rock und Strumpfhose draußen stehen musste?

«Also, wie war der letzte Abend?», fragte Nick und stellte das Radio ab, aus dem in voller Lautstärke die Stimme eines Fußballkommentators schallte. «Hat deine Freundin eine schöne Abschiedsfeier bekommen?»

«Ja. Es war ein bisschen traurig, weil wir uns wegen der

«New York. Mal was ganz anderes.»

«Sie ist eine phantastische Patissière. Die bringt es noch weit.»

«Offensichtlich. Zum Beispiel nach New York. Und was machen die anderen so lange?»

«Die Festangestellten wurden auf andere Restaurants verteilt und bekommen Fortbildungen.»

«Klingt irgendwie nicht fair. Warum du nicht?»

«Weil ich nur Aushilfe bin, schätze ich.»

«Na, bestimmt kannst du ein paar Extrastunden im Hofladen übernehmen und auch im Café. Und Dan kann dir Arbeit in der Brauerei geben. Gails Schwester zahlt vielleicht fürs Babysitten, und George kann noch mal in der Tankstelle nachfragen, die brauchen doch immer Leute. Auch wenn das spätabends wäre, also vielleicht eher nicht.»

Nina schloss die Augen. Es war ihr schon klar, dass alle in ihrer Familie loslaufen würden, um eine Beschäftigung für die ‹arme Nina› zu finden, während das Restaurant Bodenbroke Manor wegen Renovierung geschlossen war – ob es ihr nun gefiel oder nicht. Sie wollte nicht undankbar sein: Sie meinten es alle gut mit ihr, aber sie war erwachsen und durchaus in der Lage, selbst Arbeit zu finden ohne die langen Arme ihres Familiennetzwerks, die sich ihretwegen in alle Richtungen ausstreckten. Sie liebte ihre Familie, wirklich, aber …

«Was seufzt du so vor dich hin?», fragte Nick und drehte den Kopf zu ihr.

«Nichts», sagte Nina und schloss die Augen wieder. «Mein Gott, bin ich müde. Meine Füße fühlen sich an, als wären zwölf Elefanten darübergelaufen.»

«Memme», neckte Nick.

«Das ist nicht gut. Du solltest dich beschweren.»

«So einfach ist das nicht. Alle haben so viel zu tun. Heute war einfach keine Zeit für eine anständige Pause.»

«Erzähl mir nicht, dass du heute noch gar nichts gegessen hast!»

Nina zuckte mit den Schultern. Sie war ohne Frühstück aus dem Haus geeilt, sehr zum Verdruss ihrer Mutter. «Ein bisschen was.» In diesem Moment knurrte ihr Magen ziemlich laut, gerade als wollte er sich über ihre Antwort beschweren. Offensichtlich fand er, dass ein Brötchen und eine Scheibe Käse nicht ausreichten.

Nick runzelte die Stirn. «Trotzdem. Willst du, dass ich mal mit dem Manager rede, wenn das Restaurant wieder öffnet?»

«Nein, alles gut. Wir essen ja, wenn wir zu Hause sind.»

«Aber das geht –»

«Du arbeitest nicht da, du verstehst das nicht.» Ninas Stimme hob sich. Typisch Nick, immer glaubte er, alles besser zu wissen.

«Ich muss das nicht verstehen. Es gibt Arbeitnehmergesetze. Pausen sind vorgeschrieben. Das –»

Was auch immer er sagen wollte, ging im Klingelton seines Handys unter, der über seine Freisprechanlage dröhnte.

«Nick Hadley», meldete er sich, nachdem er das Telefonsymbol auf dem Armaturenbrett gedrückt hatte.

Nina ließ sich tiefer in den Beifahrersitz sinken und war froh über die Unterbrechung. Das gab ihr die Möglichkeit, die Augen wieder zu schließen und den Rest der Fahrt so zu tun, als wäre sie eingeschlafen.

«Hey, Schäfer, hast du deine Schäfchen im Trockenen?» Nina

«Alles bestens. Und wie ist es bei dir, Messerwerfer? Unterstützt du immer noch dieses peinliche Rugbyteam?» Und offenbar war ‹Messerwerfer› ein dummer Spitzname für Köche. Besonders für arrogante, eingebildete Köche.

«Dafür gab es echt keine Worte, Kumpel. Gegen Frankreich konnten die nichts ausrichten. Dabei habe ich viel Geld für die Tickets bezahlt.»

«Was, du warst im Stade de France? Du Glücklicher!»

«Nicht so glücklich, wenn diese Idioten verlieren.»

«Kommst du zum Calcutta Cup zurück? So lange willst du ja wohl nicht in Frankreich bleiben. Sonst gewöhnst du dir noch komische Sachen an.»

«Hab ein kleines Problem.»

«Was?», fragte Nick.

«Ich bin etwas unpässlich. Darum rufe ich an.»

Nina presste die Lippen aufeinander, um nicht höhnisch zu grinsen. Sebastian wusste offenbar nicht, dass sie mithörte, und das wollte sie auch gar nicht. Wenn man dieser albernen Unterhaltung lauschte, würde man nicht glauben, dass die beiden erwachsene Männer waren, keine Teenager. Und sie wollte sich auf keinen Fall an Sebastian als Teenager erinnern oder wie sie sich seinetwegen komplett lächerlich gemacht hatte. Sich in den besten Freund des eigenen Bruders zu verlieben, war vermutlich das Dümmste, was man tun konnte. Selbst jetzt, nach zehn Jahren, brachte irgendwer in der Familie das Thema immer noch auf.

«Was ist passiert?»

«Scheiße, Mann, wann denn?»

«Vor ein paar Tagen. Einer von diesen bescheuerten Kofferwagen am Flughafen hat mich umgefahren. Und dabei hab ich mir was verdreht.»

«Aua. Kommst du klar?»

«Nein», knurrte Sebastian. «Alles läuft gerade total daneben. Einer der Läden, die ich in Paris gekauft habe, hatte noch eine Überraschung für mich parat. Der vorige Besitzer hat Patisseriekurse gegeben und vergessen, mir zu erzählen, dass noch ein siebenwöchiger Kurs ansteht, der schon ausgebucht und bezahlt ist.»

«Kannst du den nicht absagen?», fragte Nick, stellte den Blinker an und lenkte den Wagen weg von der Hauptstraße in Richtung Dorf.

«Leider habe ich mich dazu verpflichtet. Ich dachte, ich könnte das ruhig machen, weil die Handwerker erst noch die anderen beiden Läden fertig machen müssen, und das dauert ein paar Monate – wäre ja sogar sinnvoll gewesen. Wenn ich mir nicht das Bein gebrochen hätte.»

In der Dunkelheit biss Nina sich auf die Lippen. Sie wünschte normalerweise niemandem etwas Böses, aber irgendwie juckte es sie bei Sebastian. Es war nicht sein Erfolg, um den sie ihn beneidete. Er hatte wirklich hart genug dafür geschuftet, ein sehr guter Koch mit einer eigenen kleinen Restaurantkette zu werden. Zu hart, wenn es nach ihr ging. Nein, es war seine überhebliche Art, die ihre niederen Instinkte weckte. Außerdem hatte sie es in den letzten zehn Jahren bei jeder ihrer Begegnungen irgendwie geschafft, unvorteilhaft rüberzukommen. Und beim letzten Mal war es einfach nur noch beschämend gewesen.

«Kann den Kurs nicht jemand anderes für dich übernehmen?»

«Nina könnte dir helfen. Sie wurde gerade in dem Restaurant gekündigt, in dem sie gearbeitet hat.»

Nina schoss in ihrem Sitz hoch und funkelte ihren dämlichen Bruder an. Hatte er wieder Sprechdurchfall? Nick wandte ihr den Kopf zu, und sie sah im Dunkeln seine Zähne blitzen, als er sie breit angrinste.

«Bei allem Respekt, Nick, aber deine Schwester ist nun wirklich der letzte Mensch auf Erden, von dem ich mir helfen lassen würde.»

Nicks Grinsen erstarb. Das Schweigen im Auto breitete sich aus.

Dann murmelte Sebastian: «Oh Scheiße, sie sitzt neben dir, oder?»

Mit eisigem Lächeln richtete Nina sich auf. «Oh Scheiße, allerdings. Aber keine Sorge, Sebastian, denn bei allem Respekt würde ich lieber die Lämmer auf dem Hof mit meinen eigenen Zähnen kastrieren, als dir zu helfen.»

Und damit lehnte sie sich vor und trennte die Telefonverbindung.

In der Küche war der große Tisch für acht Personen gedeckt. Aus verschiedenen Töpfen und Pfannen auf dem großen Herd dampfte und blubberte es, während Ninas Mutter, die Hände in geblümten Ofenhandschuhen, umherhuschte.

«Nina, Nick, ihr kommt gerade richtig!»

«Hier riecht es aber gut», sagte Nick und warf seine Autoschlüssel auf die Kommode zu dem Durcheinander, das sich täglich anzusammeln schien, egal wie oft ihre Mutter aufräumte. Obwohl ihre vier erwachsenen Söhne längst ausgezogen waren, gingen sie immer noch mit der Küche um, als wäre es ihre eigene, was Ninas Mutter nur recht war. Keines ihrer Kinder hatte sich weit von zu Hause entfernt. Nick, der zwei Jahre älter war als Nina, wohnte im Cottage auf der anderen Seite des Hofes und half Dad mit der Farm und den Schafen. Er war unverheiratet und schien es auch nicht eilig damit zu haben, eine Frau zu finden, sondern ließ sich viel Zeit damit, nach potenziellen Kandidatinnen Ausschau zu halten.

«Setzt euch. Ihr müsst ja ganz verhungert sein. Wo sind Dan und Gail? Sie wollten schon vor fünf Minuten hier sein.»

«Mum, wir reden hier über Dan. Der kommt noch zu spät zu seiner eigenen Beerdigung», sagte Nick und zwickte ihr liebevoll in die Wange, während er seinen Schal abnahm.

«Sprich nicht über solche Sachen», bat ihn seine Mutter schaudernd. «Heute haben sie viel zu tun in der Brauerei und im Hofladen. Eine ganze Busladung aus Wales ist gekommen. Die arme Cath.» Ihre Mutter warf Ninas Schwägerin einen

«Es war schlimm. Sie haben alle Scones und den ganzen Walnusskuchen aufgegessen und den gesamten Kaffee ausgetrunken. Diese Senioren sind die reinsten Heuschrecken. Man könnte meinen, die hätten seit Tagen nichts gegessen. Unsere Vitrinen sind komplett leer.»

Ihre Mutter lächelte Nina besorgt zu.

Nina stöhnte und zog ihren Mantel aus. «Keine Sorge, sobald ich was gegessen habe, backe ich ein paar Bleche mit Scones und rühre einen schnellen Kuchen zusammen. Die Buttercrème kann ich morgen früh zubereiten.»

«Oh, Liebling, du kommst doch gerade von der Arbeit. Du musst ganz kaputt sein. Cath schafft das schon.»

Nina bemerkte, wie Cath kurz die Augen verdrehte. «Mum, das geht ganz schnell.»

«Na, wie du meinst, Schatz.»

Glücklicherweise kam in diesem Moment Dan herein, Jonathons immerhin um fünf Minuten älterer Zwillingsbruder. Er zog seine Frau Gail kichernd durch die Tür hinter sich her.

«Hey, euer Lieblingsfamilienmitglied ist hier», rief er dröhnend. Seine Frau knuffte ihn in die Rippen.

Als Jonathon und ihr Vater auch noch aus dem Flur hereinkamen, stieg der Lärmpegel in der Küche gleich ums Zehnfache an. Stühle wurden über den Fliesenboden gezogen, Bierflaschen klirrten aneinander, die Kronkorken klimperten auf den Tisch, während ihr Dad sich mit dem Korkenzieher an der Weinflasche zu schaffen machte und kurz darauf das befriedigende Ploppen des Korkens zu hören war. Alle setzten sich um den

«Willst du wirklich noch backen? Ich kann doch morgen früher aufstehen und ein paar Bleche Scones backen, um Cath zu helfen.»

«Mum, ehrlich, das geht schon.» Sie fing einen kurzen Blick zwischen ihren Schwägerinnen auf, und dann blinzelte Gail ihr zu. «Wenn ich erst mal gegessen habe, komme ich schon wieder in Schwung.» Es waren doch schließlich nur ein paar Kuchen, um Himmels willen – und sie würden ihr eine perfekte Ausrede liefern, um das übliche Chaos hier zu verlassen und etwas Ruhe in ihrer eigenen kleinen Wohnung über dem Stall zu finden, ohne dass alle sich wieder Gedanken darüber machten, sie könnte vereinsamen.

Ihre Mutter schürzte die Lippen und wandte ihre Aufmerksamkeit der Kasserolle auf dem Tisch zu.

«Jonathon, du tropfst mit dem Löffel alles voll.»

«Oh, Jonathon!», rief Dan sofort und nutzte die Gelegenheit, seinen Zwillingsbruder aufzuziehen. Der Rest der männlichen Familienmitglieder stimmte in die Neckerei ein.

«Dan, willst du nicht ein bisschen mehr essen?»

«Siehst du, du bist ihr Liebling.» Jonathon deutete mit dem Löffel auf seinen Bruder, nur um von seiner Frau angestoßen zu werden.

Wie immer ähnelte das Abendessen eher der Fütterung im Zoo, doch Nina stellte erleichtert fest, dass keiner mehr auf sie achtete. Es gelang ihr, bis zum letzten Bissen des großen Eintopfgerichts unter dem Radar zu bleiben, während Dan und Jonathon sich darüber stritten, wer das letzte Stück Lamm bekam.

«Was ist denn nun mit deinem Auto, Schatz?», fragte ihr Vater.

«Da ist bestimmt mehr als nur ein Ersatzteil nötig, um dieses Ding zu reparieren.» Ihre Mutter schauderte. «Das Auto ist die reinste Todesfalle.»

Nina murmelte vor sich hin, doch niemand hörte sie, weil sie alle bereits ihre eigene Sicht auf ihr Auto zum Besten gaben. Dabei war an ihrem kleinen Fiat überhaupt nichts auszusetzen.

«Mum, du musst dir um Nina keine Sorgen machen, sie kann die Pedale gar nicht so schnell treten, dass es gefährlich werden könnte», spottete Nick.

«Eine Nähmaschine hat mehr PS», fiel Dan ein.

«Ich wünschte wirklich, du würdest dir ein stabileres Auto zulegen. Ich habe immer Angst, dass dich ein größeres Auto zermalmt.»

«Ma, keine Sorge, unter Nicks Laster würde es einfach durchrutschen.» Dan hatte den Kampf um das Stück Lamm gewonnen und ließ sein Besteck auf den Teller fallen.

Mum schauderte noch einmal. «Das ist ja noch schlimmer.»

«Ich liebe mein Auto, seid still», sagte Nina. Im Moment vermisste sie es noch mehr, weil sie so abhängig davon war, dass andere sie fuhren.

«Die Frau von Tom aus dem Pub verkauft ihr Auto. Ich kann’s mir mal ansehen, wenn du willst», meinte Dad. «Es ist ein Ford. Die machen gute, verlässliche Autos. Und sind nicht teuer im Verbrauch.»

Und außerdem todlangweilig, dachte Nina.

«Oh, das ist doch eine gute Idee, Schatz», meinte ihre Mutter.

Nina wollte etwas Vernünftiges erwidern, wie ‹Da ich schon die Reparatur bezahlen muss, ist jetzt vielleicht nicht der beste Moment, noch ein Auto zu kaufen›, aber eigentlich hatte sie

Als sie die Tür hinter sich zuknallte, lauschte sie befriedigt dem erschrockenen Schweigen am Tisch.

 

Als es leise an Ninas Tür klopfte, kühlten bereits vier Biskuitböden auf dem Kuchenrost ab. Sie wusste schon, dass es Nick war. Abgesehen davon, dass er am wenigsten an ihr herumnörgelte, war er auch der fürsorglichste von ihren Brüdern. Ein Teil von ihr wollte ihm nicht öffnen, sondern lieber so tun, als läge sie schon im Bett. Aber natürlich wusste sie, dass ihr untypischer Ausbruch vorhin für Wirbel gesorgt hatte, und wenn sie ihn nun stehen ließ, würde er bestimmt weiterklopfen.

«Ja?» Sie öffnete die Tür nur ein paar Zentimeter, um klarzumachen, dass sie keine Gesellschaft wollte.

«Wollte nur mal gucken, ob alles okay ist bei dir.» Sein fröhliches Grinsen wirkte ein kleines bisschen bemüht.

Schuldbewusst vergrößerte sie den Spalt. «Mir geht’s gut.»

«Nur gut?» Er betrat ihre offene Atelierwohnung und schloss die Tür hinter sich.

«Ja, nur gut.» Sie seufzte. «Willst du einen Tee oder so was?»

Er hob belustigt die Augenbrauen. «Oder so was? Hast du irgendwo Brandy oder Whisky versteckt, von dem ich nichts weiß?»

«Herrgott noch mal, und wenn?» Sie hatte keine Lust mehr darauf, aufgezogen zu werden, und wollte sich auch nicht mehr zusammenreißen. «Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Ich bin eine erwachsene Frau. Das war bloß eine Redewendung. Und

«Ooh, heute ist aber jemand mit dem falschen Fuß aufgestanden – oder liegt es an einem gewissen Telefonat von vorhin?» Nick verschränkte die Arme und lehnte sich an die Wand.

«Es hat absolut gar nichts mit deinem bescheuerten Sebastian Finlay zu tun. Ich hab einfach die Nase voll davon, dass mich die ganze Familie wie ein Baby behandelt. Ich bin fast dreißig, verf…» Bei seinem Stirnrunzeln unterbrach sie sich. Wenn sie jetzt fluchte, würde ihn das wirklich beunruhigen. «Mum und Dad behandeln mich wie ein Kleinkind, und Jonathon und Dan machen natürlich sofort mit. Cath und Gail finden es beide völlig lächerlich, wie ihr euch ständig über Albernheiten Sorgen macht. Und du bist der Schlimmste, wie du hier rüberkommst und einen auf großer Bruder machst. Das brauche ich echt nicht.» Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Auch wenn sie die größte Lust hatte, durch das Zimmer zu stürmen und sich aufs Sofa zu werfen, würde das sehr kindisch wirken. Dabei musste sie ihm zeigen, dass sie sie alle wahnsinnig machten. Vielleicht war sie in letzter Zeit wirklich ein wenig hormonell oder auch schlichtweg müde, aber dieses Thema brodelte schon seit Monaten in ihr.

«Du bist uns eben wichtig», erklärte Nick.

«Das weiß ich. Wirklich.»

«Aber?»

«Ich … ich fühle mich …» Das Problem war, dass sie gar nicht richtig wusste, wie sie sich fühlte. Frustriert. Wütend. Schwach. Auf der Stelle tretend. Sukie, ihre Freundin aus dem Restaurant, die Chef-Patissière, war auf dem Weg nach New York. Ihre Karriere nahm richtig Fahrt auf. Nina hatte nicht einmal eine Karriere und schon gar keine Möglichkeit, sie in Schwung zu

«Ich weiß, es ist schwer als die Jüngste und dann noch als einziges Mädchen, und Mum und Dad machen sich natürlich immer Sorgen um dich, weil du so einen schweren Start hattest –»

«Fang bloß nicht damit an!» Nina hob die Hand.

«Womit? Dass du bei der Geburt beinahe gestorben wärst? Aber es stimmt.»

Nina vergrub das Gesicht in den Händen. «Ja, aber das ist doch Vergangenheit. Man könnte glauben, ich hätte den Großteil meines Lebens an der Schwelle des Todes verbracht! Mal abgesehen von einer Blinddarmentzündung und den üblichen Erkältungen oder Windpocken, hatte ich doch nie gesundheitliche Probleme!»

Nick sagte nichts.

«Oder?», hakte sie nach.

«Nein», gab er mit widerwilligem Lächeln zu. «Also, kriege ich jetzt einen Tee oder so was

«Oh Mann.» Jetzt stürzte Nina doch durchs Zimmer hinüber zum Küchenbereich und setzte einen Kessel auf. Sie konnte ja sowieso noch nicht ins Bett gehen, denn die Biskuitböden mussten erst abkühlen, bevor sie sie mit der Kaffee-Walnuss-Crème bestreichen und zusammenrollen konnte. «Hey!» Sie

«Mmm, die sind gut.»

Nina ignorierte ihn und bereitete den Tee zu. Es hatte etwas Beruhigendes, und sie konnte ein bisschen Zeit schinden.

Sie trug die Teekanne zum kleinen, runden Esstisch links der Küche, einen Becher für Nick und für sich eine ihrer Lieblingstassen. Die offene Wohnküche war perfekt für eine Person, und sie hielt die Zahl der Stühle absichtlich klein. Dies war ihr Zufluchtsort, und das sollte auch so bleiben. Sie hatte die Wände in Pastellfarben gestrichen und hübsche, zarte Blumenstoffe für die Vorhänge und Kissen gekauft, um der Wohnung ihren weiblichen Stempel aufzudrücken. Mit vier Brüdern aufzuwachsen, hatte definitiv Einfluss auf sie gehabt, ebenso wie die Farm, in der die meisten Dinge praktisch und robust sein mussten. Farben hatten hier keine große Bedeutung. Jonathon und Dans Vorstellung von Inneneinrichtung war, ihre Schlafzimmerwände schwarz-weiß gestreift anzumalen, um damit ihren geliebten Club Newcastle United zu unterstützen.

«Hier.» Sie schob ihrem Bruder den Teebecher zu.

«Also, warum bist du vorhin so explodiert?», fragte Nick und sah sie mitfühlend an.

«Das brodelt schon eine ganze Weile. Ich habe das Gefühl, ich stecke fest. Als würde ich nirgendwo ankommen und niemals irgendwas erreichen.»

«Was möchtest du denn tun?»

Nina spielte mit dem Rand ihrer Untertasse. Es war eine dumme Idee. Immerhin hatte sie es schon einmal versucht und war grandios gescheitert.

Von all ihren Brüdern war Nick ihr am nächsten. Vielleicht, weil sie beide im selben Boot saßen.

Nicks Mund zuckte. «Gelegentlich frage ich mich, ob ich nicht was verpasse. Es ist nicht gerade einfach, hier Leute kennenzulernen. Aber ich liebe die Landwirtschaft, und leider kann ich die Farm nun mal nicht einpacken und mitnehmen. Und dann stehe ich wieder oben auf dem Hügel und schaue ins Tal, sehe mir die Bruchsteinmauern an, die da schon seit Jahrhunderten stehen, und weiß, dass ich hierhergehöre.»

Nina sah ihn an und lächelte. Er würde immer ihr Held sein – nicht, dass sie ihm das jemals sagen würde. Er war schon eingebildet genug. Trotz all seiner kindischen Frotzeleien war er eine Seele von Mensch, die ihren Platz in der Welt gefunden hatte.

Sie seufzte. Sie wollte nicht undankbar wirken. «Zumindest bist du nützlich. Du hast ein echtes Ziel und einen richtigen Job.»

«Was würdest du denn gern machen?»

Sie verzog das Gesicht und fuhr wieder mit dem Finger an ihrer Untertasse entlang. «Eine Weile weggehen. Ich sein. Herausfinden, wer ich eigentlich bin.»

Nick runzelte verwirrt die Stirn.

«Gerade eben habe ich zum Beispiel nicht geflucht, weil ich wusste, dass du was dagegen hättest.»

Jetzt sah er noch verwirrter aus.

«Ich fühle mich, als würde ich die ganze Zeit nur auf der Stelle treten. Ich möchte … ich möchte richtig in der Küche arbeiten. Nicht bloß hin und wieder ein paar Kuchen machen.»

«Du willst Köchin werden? Aber das hast du doch schon mal versucht.» Er hielt ihr den Finger entgegen. «Du erinnerst dich, die Sache mit dem rohen Fleisch? Als du, äh, diese Panikattacke hattest? Hast du dich nicht sogar übergeben?»

«Danke, dass du mich daran erinnerst, aber damals

Seit Sebastians Anruf im Auto hatte sie ständig daran denken müssen, dass er so einen Kurs gab. Und dass er Hilfe brauchte. Sie hatten sieben Wochen frei, na ja, fast. Und Mum und Cath fanden sicher jemand anderen, der ein paar Wochen für sie Kuchen backte.

Dies war das Schicksalhafteste, was ihr jemals passiert war. Sie wäre verrückt, dem Wink nicht zu folgen. Bestimmt sollte es so sein, selbst wenn es etwas mit Sebastian zu tun hatte. Es war die perfekte Möglichkeit, allen zu zeigen, wie leidenschaftlich sie sich für Patisserie interessierte. Und jedem zu beweisen, dass sie endlich ‹ihr Ding› gefunden hatte.

«Würdest du ihn für mich fragen?»

«Wen fragen?»

«Sebastian.»

Als sie am Gare du Nord aus dem Eurostar stieg, hätte sie sich am liebsten in den Arm gezwickt, so unglaublich und wundervoll fand sie die Tatsache, dass sie tatsächlich in einem anderen Land war. Und das, indem sie einfach unter dem Kanal hindurch gefahren war! Erst vor zwei Stunden war sie noch am Londoner Bahnhof St. Pancras gewesen, und jetzt war sie in Paris. In Paris. Allein. Ohne ihre Familie. Es fühlte sich an, als hätte sie eine schwere Daunendecke von sich abgeschüttelt, die sie zu ersticken gedroht hatte. Bevor Dad sie mit dem Auto zum Bahnhof fuhr, hatte Mum ihr noch ein paar Euros zugesteckt und gemurmelt: «Für ein Taxi, wenn du in Paris ankommst. Damit du nicht mit deinem ganzen Gebäck mit der Metro fahren musst.»

Und als ihr Dad sie am Bahnhof absetzte, hatte er genau dasselbe getan. Ihre Eltern waren ja süß, und Nina wollte wirklich nicht undankbar sein, aber ganz im Ernst, sie würde ja wohl noch in der Lage sein, allein mit der Metro zu fahren!

Aber obwohl sie während der Zugfahrt die ganze Zeit ihrer Sprach-App gelauscht hatte, stellte Nina enttäuscht fest, dass sie überhaupt nichts von dem verstand, was der Mann am Informationsschalter in einer Geschwindigkeit von etwa tausend Wörtern pro Sekunde von sich gab. Leider war er außerdem eisern entschlossen, kein Englisch zu sprechen, und das einzige Wort, auf das sie sich verständigen konnten, war ‹Taxi›. So viel also zu ihrer Unabhängigkeit. Zumindest wären ihre Eltern zufrieden.

 

Trotz der alten Mauern und der schweren Holzverkleidung öffnete sich die Tür zum Gebäude mit einem elektrischen Summen, und dann stand Nina in der schlichten Eingangshalle, von der aus sich eine geflieste Treppe nach oben wand. Sebastian war vorerst in ein Hotel umgezogen, da es in seinem Haus keinen Aufzug gab. Seufzend blickte Nina die Stufen hinauf. Wie sollte sie ihren großen Koffer, die schwere Reisetasche und ihre Handtasche bis in den obersten Stock befördern? Das ist Unabhängigkeit. Denk dran – das war es, was du wolltest. Trotzdem sah sie sich um, in der Hoffnung, dass jemand aus dem Nichts auftauchte, um ihr zu helfen. Doch anders als im Film erschien kein gutaussehender Ritter und bot ihr an, ihr Gepäck für sie zu tragen. Seufzend legte sie sich den Riemen ihrer Handtasche über die Brust, schob die Griffe ihrer Reisetasche über die Schulter und ergriff ihren Koffer. Dann stieg sie die Treppe hinauf.

Wie Sebastian ihr geschrieben hatte, klingelte sie an der Wohnung 44b. Kaum hatte sie den Finger von der Klingel genommen, öffnete sich die Tür schon.

Eine schlanke Frau schaute heraus. Ihr glattes blondes Haar war zu einem schmalen Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihre Wangenknochen und ihr selbstbewusstes Kinn betonte. Sie hätte ein Buch über klassischen Chic und kühle Gelassenheit schreiben können, wie sie da in ihren glänzenden Pumps, der weiten crèmefarbenen Hose und der hochgeschlossenen hellblauen Seidenbluse in der Tür stand. Nina fühlte sich gleich doppelt so verschwitzt und klebrig.

«Bonjour, Nina. Ich habe schon gehört, wie Sie die Treppe heraufgekommen sind.» Ihr Missfallen war deutlich zu spüren. «Ich bin Valerie de …» Ihren Nachnamen verstand Nina nicht – es klang, als hätte die Frau sämtliche Silben verschluckt. «Hier sind die Schlüssel.» Sie hielt sie Nina mit ausgestrecktem Arm entgegen wie eine Königin, die sich bemüht, jeden Körperkontakt mit einer Bäuerin zu vermeiden. «Wenn Sie Sebastian treffen, dann grüßen Sie ihn bitte von mir.» Ihr fehlerloses Englisch und ihr sexy Akzent vermittelten Nina nur noch mehr das Gefühl, schlecht angezogen und reiseschmutzig zu sein. «Ich werde ihn vermissen, er ist eine so angenehme Gesellschaft.» Valerie bedachte sie mit einem wissenden, anzüglichen Blick.

Nina schluckte. «Mache ich. Ähm, danke.» Valerie sah mindestens fünfzehn Jahre älter aus als Sebastian. Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür vor Ninas Nase.

«Willkommen in Paris», murmelte Nina vor sich hin. «Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise. Falls Sie irgendetwas brauchen, fragen Sie mich gern, schließlich sind Sie hier in einer fremden Wohnung und in einer fremden Stadt und kennen keine Menschenseele.»

Als sie ihre Gepäckstücke mühsam durch die Tür gezerrt hatte, gab ihr Handy ein Ping von sich.

Ich nehme an, du bist angekommen. Du musst mir ein paar Sachen aus der Wohnung ins Hotel bringen. Ruf mich an, und dann sage ich dir, was ich brauche. Wenn du hier bist, können wir besprechen, was dich erwartet. Ich schlage 15 h vor. Sebastian.

 

Sebastian war ein fürchterlicher Pedant, befand Nina, als sie seinen Koffer vom Schrank im Flur herunterhievte. Mit Sicherheit waren seine Sachen hierin viel besser zu transportieren als in der Leinentasche, die er verlangt hatte. Den Koffer, der aussah wie ein übergroßer silberner Käfer mit Schnappschlössern, konnte man wenigstens hinter sich herziehen, statt ihn wie die Tasche zu schleppen.

Während ihres kurzen Telefonats, bei dem er ihr die Adresse seines Hotels gegeben hatte, hatte sie die Dinge, die er haben wollte, schnell auf einen Zettel notiert. Zuerst seinen Laptop und einige Unterlagen, die sie auf dem Esstisch fand. Dann ging sie in sein Schlafzimmer. Sie faltete fünf Hemden und legte sie in den Koffer, dann befüllte sie die Kulturtasche mit Utensilien aus dem Bad, darunter das Tom-Ford-Aftershave, um das er ausdrücklich gebeten hatte – und nein, sie schnüffelte nicht daran wie ein kleines Mädchen, auch wenn sie sich fragte, wie es wohl roch. Als Nächstes: Unterwäsche. Zögernd zog sie die oberste Schublade seiner Kommode auf. Bingo. Irgendwie hatte sie schon geahnt, dass er der Boxershorts-Typ war. Und eher Calvin Klein als Marks & Spencer. Natürlich hatte sie schon einiges an Männerunterwäsche gesehen, aber … das hier fühlte sich irgendwie zu persönlich an. Sich Sebastian darin vorzustellen … nein, das würde sie nicht tun. Er war bloß irgendein Kerl. Nicks Freund. Ein alberner Junge,

Guck nicht rein. Lass es.

Sie ließ sich auf sein Bett fallen.

Vier Kondome fehlten. Sebastian. Hatte. Sex. Gehabt. Hatte Sex. Mehrfach.

Und es interessierte sie definitiv überhaupt kein bisschen. Das hatte nichts mit ihr zu tun. Sie würde nicht auf das Haltbarkeitsdatum gucken. Und es gab überhaupt keinen Grund dafür, dass ihr Herz diesen albernen stechenden Schmerz empfand.

Es war kein Geheimnis, dass Sebastian gut aussah. Natürlich war er mit Frauen zusammen. Als sie ihn das letzte Mal getroffen hatte, hatte er eine Freundin. Und davor auch. Eine andere. Er hatte Freundinnen, das wusste sie. Es war kaum eine Überraschung und bedeutete ihr gar nichts.

Oh, verdammt. Was sollte sie jetzt mit den Kondomen anfangen? Sie ignorieren? So tun, als hätte sie sie nicht gesehen? Aber er wusste, dass sie da waren. Und er würde wissen, dass sie sie gesehen hatte. Vielleicht hatte er sie aber auch vergessen. Wenn sie sie einpackte, würde sie ihm damit zeigen, dass es ihr komplett gleichgültig war. Sie würde damit zum Ausdruck bringen, wie erwachsen und erfahren sie mit solchen Sachen umging. Wenn er sie allerdings wirklich brauchte, wäre es schon interessant, wie er das mit einem gebrochenen Bein anstellen wollte. Und wo kam dieser Gedanke jetzt wieder her? Hastig stopfte sie die Kondome in den Koffer. Das war schließlich verantwortungsvoll, oder etwa nicht?

 

Leider hatte die Metro eine Betriebsstörung, weshalb sie sich verspätete, und als Nina auf die Straße trat, hatte es

Als sie schließlich die letzten Stufen zu Sebastians Unterkunft hinaufstolperte, ungefähr mit dem Elan von Tony Curtis in «Manche mögen’s heiß», war es beinahe 17 Uhr. Der Portier öffnete ihr die Tür, sie hob den Kopf und brachte ein kleines Lächeln zustande – das ihr sofort wieder aus dem Gesicht fiel, als sie mit ihren nassen Schuhen auf den Fliesen ausrutschte. Sie stürzte auf den Rollkoffer, der aufsprang und seinen farbenfrohen Inhalt über die Fliesen ergoss. Und natürlich musste die verdammte Packung Kondome über den Boden schlittern und erst neben den auf Hochglanz polierten Schuhen eines großen dunklen Grégory-Fitoussi-Doubles anhalten.

Als er sich danach bückte und ihr die Kondome zurückgab, war ihr Gesicht so rot wie eine Tomate mit Sonnenbrand.

«Merci», stammelte sie und bemühte sich um ein unbekümmertes Lächeln, als würde ihr so etwas ständig passieren und als würde sie nicht gerade innerlich vor Scham sterben.

Er lächelte ihr charmant zu, sagte irgendwas in schnellem, unverständlichem Französisch, stieg über ein paar Boxershorts hinweg und ging davon.

Nina merkte, dass sie in der belebten Eingangshalle ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich zog und dass ihr sonst niemand zu Hilfe eilen würde, darum sammelte sie die verstreuten Kleidungsstücke hastig wieder ein, stopfte sie in den Koffer und klappte ihn zu. Dann strich sie sich die Haare glatt und ging

Was die Leute jetzt wohl dachten, was sie mit einem Koffer voller Kondome und Männerunterwäsche vorhatte? Die Rezeptionistin schenkte ihr ein eisiges Lächeln. Vermutlich hielten alle sie für ein Callgirl. Die Ironie an der Situation entging ihr nicht: Schließlich würde sie die kommenden Wochen tatsächlich auf Abruf für Sebastians Bedürfnisse sorgen …