Lian Hearn
Die Kinder der Otori
Waisenkrieger
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
FISCHER E-Books
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Goolwa, Australien.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Der Junge, der die Toten zum Leben erwecken kann
Kasho wächst in einem kargen Kloster auf und hat vergessen, dass er eine besondere Begabung hat. Doch als er zum Jugendlichen wird, erwacht seine mächtige Fähigkeit: Er kann Tote zum Leben erwecken. Damit wird Kasho für die Überlebenden des Otori-Clans zur letzten Hoffnung, denn mit seiner Hilfe könnten ihre grausam ermordeten Brüder, Väter und Söhne wiederauferstehen. Doch im Reich der Toten begegnet Kasho dem schönen Mädchen Utahima und verirrt sich auf der Suche nach ihr.
Fesselnd und von unglaublicher sprachlicher Schönheit lässt Lian Hearn eine betörende, mittelalterlich grausame Welt auferstehen. Ein großes Leseglück.
Eigenlizenz Kinder-/Jugendbuch
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die australische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Orphan Warriors - Children of the Otori« bei Hachette Australia, einem Imprint von Hachette Australia Pty Limited, Sydney
© Lian Hearn Associates Pty Ltd 2020
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH,
Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Dahlhaus & Blommel Media Design, Vreden nach einer Idee und unter Verwendung einer Illustration von Fréderic Bertrand Irmela Schautz,
Dahlhaus & Blommel Media Design, Vreden nach einer Idee und unter Verwendung einer Illustration von Fréderic Bertrand Irmela Schautz
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0365-6
Ein Kind vermag auch ohne Eltern aufzuwachsen.
Japanisches Sprichwort
Otori Takeo, Herrscher der Drei Länder (verstorben)
Otori Kaede/Shirakawa Kaede, seine Frau
Shigeko, Kaedes älteste Tochter und Erbin von Maruyama, Ehefrau von Lord Saga
Maya (verstorben) und Miki, Kaedes Zwillingstöchter
Lord Sonoda Mitsuru und Lady Ai, Onkel und Tante von Miki
Kei, Tochter und einziges Kind von Lord Sonoda und Lady Ai
Hisao, Sohn von Otori Takeo
Saga Hideki, General des Kaisers, Ehemann von Shigeko
Miyoshi Kahei, Lord von Yamagata, Bruder von Gemba
Sugita Hiroshi
Arai Sunaomi (umbenannt in Kasho), Bruder von Chikara (umbenannt in Sozo), Sohn von Arai Zenko (verstorben) und Arai Hana
Chikara (umbenannt in Sozo), Bruder von Arai Sunaomi (umbenannt in Kasho), Sohn von Arai Zenko (verstorben) und Arai Hana
Abt Makoto
Miyoshi Gemba
Terayama Minoru, Gesandter aus der Hauptstadt, zuvor der Schreiber von Lord Takeo
Lord Hidemasa, ältester Sohn von Lord Saga, Vater von Masao
Mizuno Masayuki und dessen Sohn Masao (der in Wahrheit der Sohn von Lord Hidemasa ist)
Muto Mai, »eine Art Cousine« von Sunaomi und Chikara; Freundin Mikis
Muto Shizuka, Kenjis Nichte und Nachfolgerin, Mutter von Zenko und Taku, Großmutter von Sunaomi (umbenannt in Kasho) und Chikara (umbenannt in Sozo)
Okuda Tadaie, Sohn von Tadamasa, Gesandter von Lord Saga
Sonoda Mitsuru, Onkel von Kasho
Muto Tomiko, Ehefrau von Taku
Madaren, Schwester von Takeo
Kichizo, Sohn von Tomiko und Cousin von Kasho
Kuroda Yasu, Dorfoberhaupt
Umaoka Ren und ihre Schwester Rei
Terada Fumio, Entdecker und Schiffskapitän
Kaheis Pferd Tenba, ein Rappe mit einer weißen Narbe auf der Brust
Kinus Pferd Ashige, ein Grauer mit schwarzer Mähne (Hengst von Lady Shigeko)
Juns Pferd Hitare, ein Dunkelbrauner
Rote Feuerpferde
Am Ende des Jahres, in dem Otori Takeo nach der Entfremdung von seiner Ehefrau Kaede verstarb, wurde der Friede zwischen dem Clan der Otori und Saga Hideki, General des Kaisers, durch die Heirat von Takeos Tochter und Erbin Shigeko mit Lord Saga besiegelt.
Die Tragödien, die Morde und der Verrat jener schrecklichen Ära der Zwietracht zwischen den Familien der Clans und dem Stamm sorgten in den Drei Ländern für Trauer und Verbitterung, die sich noch weiter vertieften, als man begriff, dass Saga sein Wort nicht halten würde.
Kaede und ihre jüngste Tochter Miki suchten Heilung und Vergebung, Miyoshi Kahei erwog, Lord Saga die Stirn zu bieten, und Sugita Hiroshi dürstete nach Rache. Nicht nur die Lebenden forderten Vergeltung, sondern auch die Toten, darunter Taku und Sada, beide sinnlos in der Blüte ihres Lebens erschlagen.
Zu den Hinterbliebenen zählte auch Arai Sunaomi, dessen Vater Zenko den Pfad des Kriegers eingeschlagen und für seinen Ehrgeiz mit dem Leben bezahlt hatte. Sunaomi blieb nur unter der Bedingung verschont, dass er, wie auch sein Bruder, bis an sein Lebensende im Tempel von Terayama blieb, wo Takeos älteste Freunde, Abt Makoto und Miyoshi Gemba, den Weg des Houou lehrten und wo auch sein Sohn Hisao lebte.
Sie glichen Spielsteinen auf einem umgeworfenen Brett und lagen nun einsam im Dreck.
Eigentlich war er der erstgeborene Sohn eines Kriegsherrn, aber nun war er eine Waise. Am Abend der Wintersonnenwende – er lag in dem eiskalten Raum, den er mit anderen Jungen und den älteren Mönchen teilte – wurde ihm bewusst, dass man ihn seit Wochen nicht mehr mit seinem Namen angeredet hatte. Man winkte ihn mit den Fingern heran oder rief: »He, du!« Er wusste, dass sein früheres Leben endgültig vorbei war, aber was an seine Stelle treten würde, wusste er nicht.
Man hatte sein Leben unter der Bedingung verschont, dass er den Tempel nie mehr verließ, aber es wollte ihm nicht in den Kopf, dass er sein restliches Leben mit diesem strengen Regiment kurzer Nächte und langer Tage verbringen sollte, mit Fasten, Meditation, Lernen und Verzicht.
Er versuchte, nicht an das zu denken, was er vermisste, denn wenn er es tat, drohten ihn tiefe Sehnsüchte zu überwältigen. In einer schlaflosen Nacht wie dieser sehnte er sich trotzdem nach dem salzigen, öligen Geschmack gegrillter Fische, nach der Süße der Kakis, dem Gefühl neuer Seidengewänder am ersten Tag des Jahres, dem warmen Duft seines Pferdes, das ihm leise wiehernd den Kopf zuwandte.
Es war stockdunkel. Er konne seine Gefährten leise atmen hören, und manchmal hustete sein jüngerer Bruder Chikara, der nun auch namenlos war. Er hätte ihm gern etwas zugerufen, wäre am liebsten zu seiner Matte geschlichen, um sich neben ihn zu legen, aber es war ihnen verboten, sich zu unterhalten, man hielt sie Tag und Nacht voneinander fern.
Obwohl alle Fensterläden geschlossen waren, drang kalte Luft in den Raum. Wenn er ausatmete, wölkte sein Atem weißlich über seinem Gesicht. Er schien als einziger noch wach zu sein. Manchmal sprach ein Junge im Schlaf, und dann fragte er sich, welche Träume die anderen hatten.
Kurz vor Mitternacht schien es ein bisschen wärmer zu werden. Draußen war ein Säuseln zu hören, das ihn einlullte. Er war gerade eingeschlafen, als die Glocke ertönte, die die Mönche zum Gebet rief.
Er folgte den anderen Jungen verschlafen durch den Flur und dann auf den Innenhof. Einer rempelte ihn an und zischte: »Arai-Verräter!« Das geschah oft. Wenn er sich näherte, verstummten manche Jungen, als hätten sie über ihn getuschelt oder Gerüchte ausgetauscht, die er einerseits gern gehört hätte, andererseits aber auch fürchtete. Eigentlich durften sie gar nicht sprechen. Wenn man von den Gesängen und den Diktaten der Lehrer absah, war es still in Terayama, so still, dass die Geräusche der Natur umso eindringlicher waren: der Wind in den uralten Zedern, das heisere Krächzen der Krähen, die schwermütigen Rufe der Eulen, das unvermittelte Piepsen einer Maus unter den Holzdielen.
Der Schnee fiel stetig und in großen Flocken, die bereits den Boden, die Laternen und die Äste der Bäume bedeckten. Lampen warfen Lichtbahnen ins Dunkel und ließen die weißen Vorhänge schimmern. Irgendwo tief im Tempel spielte jemand Flöte. In der großen Halle ertönte ein Gong. In all dem lag eine Schönheit, die ihm den Atem raubte. Es gab durchaus Momente, in denen er ein Leben, das ganz dem Beten gewidmet war, reizvoll fand.
Ein Tritt gegen seinen Fußknöchel, gefolgt von einer weiteren Beleidigung. Zorn loderte in ihm auf, und er fuhr herum. Doch sein Lehrer Gemba hatte ihn im Visier, und sein fester Blick bremste die Streithähne. Er mochte Gemba, fühlte sich ihm sogar nahe, denn Gemba war den Bären des Waldes tief verbunden, und eine Bärentatze war das Symbol seines Clans – war es jedenfalls gewesen.
Chikara hustete wieder und rang nach Luft. Er klang ernsthaft krank, aber sogar Kranke mussten um Mitternacht aufstehen, um bis Sonnenaufgang zu singen und zu beten. Diese Disziplin sollte Körper und Geist stählen.
»Dein kleiner Zottelbär wird Neujahr nicht mehr erleben«, flüsterte Hisao neben ihm aus dem Mundwinkel, ein Trick, den er mit der Zeit perfektioniert hatte. Hisao hatte für jeden einen Spitznamen. Kaede, die ihre zwei Neffen zum Tempel gebracht hatte, wurde von Hisao die »Witwe« genannt, ihre Tochter Miki hieß bei ihm »Rachegöttin«. Der Junge wünschte sich, die zwei Frauen öfter zu sehen – immerhin waren sie verwandt –, aber sie blieben im Gästehaus, wo sie die Toten betrauerten. Er fragte sich, ob Hisao ihm auch einen Spitznamen gegeben hatte.
Hisao ließ Gembas mahnenden Blick wie üblich an sich abprallen. Sein Ungehorsam war unverbesserlich, er handelte oft aus purem Trotz, blockte ab, wenn man ihm gut zuredete, und verschloss die Ohren vor Appellen an seine Vernunft. Gemba behandelte ihn mit Sanftmut und Geduld, besorgte ihm Blöcke aus dem Holz von Kirschbaum, Pfirsichbaum oder Zypresse und gab ihm Schnitzmesser. Der geschickte Hisao verwandelte diese Blöcke im Handumdrehen in Tiere. Der Junge bewunderte ihn dafür. Außerdem empfand er ein schwer zu beschreibendes, schmerzhaftes Mitleid mit ihm, und im Gegensatz zu anderen Jungen, die sich vor Hisaos spitzer Zunge fürchteten und seine offene Missachtung den älteren Mönchen gegenüber als verstörend empfanden, überging er die Sticheleien. So war es zu einem verhaltenen Miteinander gekommen, das keine echte Freundschaft, aber auch keine Feindschaft war.
Hisaos Worte beunruhigten ihn, denn er ahnte, dass sie einen wahren Kern hatten. Bei der ersten Mahlzeit des Tages erhaschte er einen Blick auf Chikaras gerötete Wangen und wässerige Augen. Sein Bruder hustete unaufhörlich und aß wie ein Spatz. Anschließend bekam der ältere Bruder den Auftrag, den Schnee wegzufegen, der auf den Veranden lag und nun in der Sonne schmolz. Es hatte wieder aufgeklart. Die Bäume des Waldes, der den Tempel umgab, trugen schwer an der weißen Blüte des Winters. In der Ferne ragten verschneite Gipfel auf, golden und rosig im Morgenlicht. Einer der Mönche, ein großer, hagerer Mann, fegte Schnee von Holzscheiten und stapelte sie in einem Korb. Die Mönche waren schwer zu unterscheiden, es gab so viele, und mit ihrem rasierten Kopf und dem dunklen Gewand sahen alle gleich aus. Die anderen Jungen widmeten sich ihren morgendlichen Aufgaben im Haushalt oder lernten, doch Hisao saß in der Sonne. Er schnitzte. Der Junge vergaß seinen Besen und sah hingerissen zu, wie sich ein Bärenjunges aus dem Holz schälte.
»Ein Wunder, wie du das machst.« Sein Flüstern klang wie ein Schrei. Im Wald rief ein Fasan schrill und beharrlich. Er konnte das Klappern von Holzschalen und das Seufzen stählerner Messer hören, und irgendjemand stampfte Reis. In dieser Zeit wurden Reiskuchen als Opfergaben für Neujahr gebacken. Die Große Kälte wich allmählich den Vorboten des Frühlings. Der Pestwurz am Fuß der Treppe trieb schon Knospen. Er hatte den Geschmack der Reiskuchen im Mund, doch die Vorstellung, dass Chikara vielleicht nicht mehr lange genug lebte, um davon zu kosten, erfüllte ihn mit Schrecken.
»Ich war immer geschickt«, erwiderte Hisao. »Ich mag Werkzeuge. Ein gutes Messer ist lebendig. So verhält es sich mit allen Waffen. Sie haben ihren Zweck, egal in welcher Hand sie liegen. Wenn du das begreifst, gewinnst du Macht über sie, und sie müssen sich deinem Willen fügen. Das Messer weiß, was es vom Holz will. Sie halten Zwiesprache, und dies ist das Ergebnis.« Er reckt das halb fertige Bärenjunge. »Wenn ich es fertigstelle, schenke ich es deinem Bruder, vorausgesetzt, er ist noch nicht tot.«
»Du stellst nie etwas fertig.«
»Stimmt. Tue ich nicht.« Hisao lächelte in sich hinein.
Der Junge betrachtete ihn. Der sieben oder acht Jahre ältere Hisao war schon fast erwachsen und hatte eine glatte, dunkle Haut und kräftige, rabenschwarze Haare. Sein Mund war breit, die Stirn über den listigen, wachsamen Augen niedrig.
»Was glotzt du so?« Hisao klang herausfordernd.
Der Junge begann wieder zu fegen.
»Na, was ist?«
»Ich habe bloß nachgedacht. Über dich – wer du in Wahrheit bist, wieso du hier bist, obwohl du es hasst wie die Pest, ob du gezwungen wirst hierzubleiben, so wie ich.«
»Wir sollen nicht von uns selbst sprechen«, meinte Hisao und äffte damit Miyoishi Gemba nach.
»Ja, richtig. Entschuldige.« Der Besen war schneenass, und die Spuren, die er hinterließ, sahen aus wie von Klauen gezogen.
»Na, dann verrate ich’s dir.« Hisao lachte verächtlich. »Ich bin der Sohn von Otori Takeo.«
»Von meinem Onkel? Der gestorben ist?«
»Ja, er ist tot. Meine Mutter auch. Sie gehörte zum Stamm. Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja«, erwiderte er, und sein Herz schlug schneller. Er hatte sein Leben lang Gesprächsfetzen und Getuschel zu diesem Thema aufgeschnappt. Und weil er Hisao beeindrucken wollte, fügte er hinzu: »Mein Onkel gehörte auch zum Stamm.«
Hisao lachte wieder. »Das klingt, als hätte man eine Wahl. Man gehört aber nicht einfach so zum Stamm. Man entstammt ihm, man wird hineingeboren, man darf ihn nie verlassen.« Er schwieg kurz und fuhr dann in einem anderen Ton fort: »Ich hatte ganz vergessen, dass Taku dein Onkel war.«
»Du kanntest ihn?«
»Ich habe ihn getötet, du Idiot. Wusstest du das nicht?« Hisao sah ihm direkt ins Gesicht, seine Augen funkelten böse. »Natürlich auf Befehl deines Vaters. Dein Vater hat viele Leute auf dem Gewissen. Taku war bloß der Erste.«
Der Junge schwieg.
»So geht es unter Brüdern zu, das ist die traurige Wahrheit.« Hisao betrachtete die fast fertige, feine Schnitzerei, die auf seiner Handfläche lag, und säbelte mit einer brutalen Bewegung den Kopf des Bären ab. »Chikara bekommt ihn doch nicht. Jammerschade.« Er warf die Teile weg, und sie landeten im Garten, wo sie zwei kleine, dunkle Löcher im Schnee hinterließen.
Der Junge stand reglos da, den Besen in den Händen.
»Dein Onkel ist ein spezieller Fall. Er ist ein hundertprozentiger Angehöriger des Stammes, sogar noch im Tod. Er lässt mich nicht in Frieden.« Hisaos Augen funkelten weiter, doch er klang anders, und der Junge glaubte, etwas wie Entsetzen aus seiner Stimme herauszuhören. Die Luft hinter Hisao wirkte auf einmal unnatürlich kompakt. Die schneebedeckten Büsche im Garten verschwammen, waren wie verwischt. Die Sonne strahlte, und trotzdem herrschte Dunkelheit.
Da ist jemand, dachte der Junge. Aber vielleicht war es nur der Schatten einer Krähe, der über den Schnee glitt. Er hörte Flügel schlagen, und dann ertönte hinter ihm Gembas Stimme.
»Was plappert ihr zwei hier draußen? Rein mit euch. Ab jetzt wird geschwiegen.«
Hisao rührte sich nicht vom Fleck. Der Junge, wie immer mit glühenden Wangen, weil er gerügt worden war, trollte sich und hängte den Besen unter die Dachtraufe. Er zitterte und war den Tränen nahe. Er stand eine Weile da und versuchte sich zu sammeln. Der Mönch aus dem Garten ging mit dem Korb voller Scheite an ihm vorbei und schien etwas sagen zu wollen, aber da erschien Gemba und verkündete: »Unser Abt wünscht dich zu sehen.«
»Weil ich mit Hisao gesprochen habe?«
»Er wird dir den Anlass selbst erklären.«
Er folgte Gemba durch den langen Korridor, wobei er sich den Kopf darüber zerbrach, was der Abt von ihm wollte. Hoffentlich verpasste er nicht das Mittagsmahl. Diesen Teil des Tempels hatte er noch nie betreten, und die vielen kleineren Räume jenseits der zentralen Hallen, jeder durch Wandschirme vom Korridor getrennt, waren ihm fremd. Es gab auch viele Alkoven und Nischen mit Statuen und Schriftrollen. Davor brannten Öllampen, deren warmer Schein auf den dunklen gebohnerten Holzboden fiel.
Sie traten aus dem Korridor auf den Innenhof hinter Haupttor und Wachhaus und bogen in den Wandelgang ein, der zur Halle mit den Gemälden von Sesshū führte. Das munterte ihn etwas auf. Er würde wenigstens jene Bilder sehen, die er nur einmal zu Gesicht bekommen, aber nie vergessen hatte.
Der Abt saß auf dem Fußboden seiner Halle, die einen Blick in den Garten bot. Die Schneehauben auf den drei Felsen, die die Berge der Drei Länder symbolisierten, glitzerten in der Sonne. Er war ein gefürchteter Krieger gewesen, hatte seine Waffen aber abgelegt, um dem Weg des Houou zu folgen. Sein Name hatte Makoto gelautet, und obwohl er nun mit Abt angeredet wurde, dachte der Junge stets unter dem alten Namen an ihn.
Makoto trug ein dunkles Gewand aus Hanf, das seine breiten Schultern und kräftigen Arme nicht verbergen konnte. In den Falten hatte sich eine kleine, getigerte Katze zusammengerollt.
»Hier ist Arai Sunaomi«, sagte Gemba und bedeutete dem Jungen, auf die Knie zu fallen.
Makoto gestattete ihm nach kurzer Zeit sich aufzurichten. Er musterte das Gesicht des Jungen und erklärte: »Arai Sunaomi. Du wirst nun zum letzten Mal mit diesem Namen angeredet.« Und zu Gemba sagte er: »Er hat mehr von seiner Mutter und den Shirakawa als von den Arai.«
»Das schützt ihn, bedeutet aber zugleich eine Gefährdung«, sagte Gemba kryptisch.
»Richtig. Du kannst uns nun allein lassen. Ich möchte unter vier Augen mit ihm reden.« Sobald Gemba weg war, sprach Makoto den Jungen wieder an. »Du musst nicht nur deine Eltern, sondern dein ganzes früheres Leben vergessen. Tilge es aus deinem Gedächtnis. Lord Saga Hideki, der die Acht Inseln im Namen des Kaisers regiert, hat dein Leben und das deines Bruders unter der Bedingung verschont, dass ihr für immer in Terayama bleibt. Das mag nach einem schweren Schicksal klingen, aber ich weiß noch, dass du den Wunsch geäußert hast, wiederzukommen und mit uns zu lernen, als Lord Otori dich damals gebracht hat. Du hast uns dies zur Aufbewahrung übergeben.«
Er nahm eine goldene Feder zur Hand und hielt sie dem Jungen hin. Sie stammte von einem Houou, dem heiligen Vogel, der in den Wäldern rings um Terayama heimisch war. Der Junge erinnerte sich deutlich an den Tag, als er die Houou gesehen, ihre magischen Rufe gehört und die Feder gefunden hatte. Er nickte. Sein Blick glitt vom Abt zu den Gemälden, die nebelige Landschaften, ein Pferd und Spatzen zeigten.
Makoto lächelte, klang aber besorgt. »Seither haben sich die Zeiten geändert, und viele, die damals unter uns weilten, sind in die nächste Welt hinübergewechselt. Ich hoffe aber, dass dein alter Wunsch dir Kraft verleiht, damit du das, was dir vielleicht als schweres Los erscheint, leichter erträgst. Gemba erzählt, dass du ein ungewöhnliches und hochbegabtes Kind bist. Wir wollen glauben, dass sich dieser Weg als richtig für dich erweist, obwohl du ihn nicht frei gewählt hast. Ein Kind vermag auch ohne Eltern aufzuwachsen, sagt man. Ab jetzt sind wir wie Eltern für dich.«
Der Schrei eines Fasans hallte durch den Garten.
»Der Frühlingsanfang bringt stets Hoffnung mit sich«, sagte Makoto. »Ich weiß, dass der Fasan gerufen hat, aber wenn ich ihn höre, hoffe ich jedes Mal inständig, es möge ein Houou sein. Sie haben uns verlassen, und wer weiß, ob sie je zurückkehren.«
»Muss ich auch vergessen, dass ich sie gesehen habe?«, fragte der Junge und richtete seinen Blick wieder auf den Abt.
»Diese Erinnerung darfst du bewahren.«
Die Gefühle, die in dem Jungen aufwallten, waren so intensiv, dass er fast geschluchzt hätte. Er holte rüttelnd Luft. »Und wie heiße ich von nun an?«
»Ich dachte an Sozo und für deinen Bruder an Kasho.«
»Kann ich Kasho heißen?«
»Gewiss, wenn dir das besser gefällt. Es sind ja nur Namen.«
Kasho, sagte er zu sich selbst und begriff plötzlich, dass er weder Sunaomi noch Kasho war. Er war nicht der schmale, vor dem Abt kniende Junge, der zum Mann heranwachsen würde, nicht der Geist, der nachdachte und erinnerte, nicht einmal das Herz, das liebte und trauerte. Er sah etwas anderes, etwas Unzerstörbares, Flammendes. Die Augen, mit denen er sich in der Halle umsah, waren wie neugeboren. Alles war von einem schimmernden Licht erfüllt. Und alles, sogar die verschneiten Felsen und schwarzen Baumstämme, stand im Einklang mit dem machtvollen Puls des Lebens. Sein Blick glitt über die Gemälde. Der Künstler hatte darauf die Zeit angehalten, aber nichts bleibt für immer reglos. Schlussendlich wird alles erlöst. Das Pferd sah ihn mit blitzenden Augen an und stampfte mit einem Huf auf. Auf dem Landschaftsgemälde rüttelte der Wind an den Bäumen, der Schnee fiel von den Ästen. Die Spatzen drehten sich um und schlugen mit den Flügeln.
Die Katze im Arm Makotos erwachte, fauchte leise und duckte sich sprungbereit, den Blick auf die kleinen Vögel geheftet.
Der Abt gebot mit einer Hand Einhalt. »Gemba hatte offenbar recht.«
Seine Stimme beförderte den Jungen, der nun Kasho hieß, zurück in seinen Körper. Alles kam wieder zur Ruhe. Die Spatzen zwitscherten noch einmal und regten sich dann nicht mehr. Die Katze blinzelte verwirrt und begann zu schnurren, als der Abt sie kraulte.
»Was ist geschehen?«, fragte Kasho.
»Vielleicht ein Wunder.« In Makotos Blick lagen tiefe Sorge und Mitleid. »Behalte es für dich. Und wenn du dergleichen noch einmal erlebst, kommst zu mir oder Gemba.«
Kasho verneigte sich und stand auf.
»Ich bin froh, dass du unter unsere Fittiche geschlüpft bist«, sagte der Abt. »Ich hoffe, wir können dich weiter beschützen.«
Kasho fühlte sich ausgelaugt, lief aber wie auf Wolken. Gemba war weg, und er fragte sich, ob er zur Halle zurückfinden würde und ob es noch etwas zu essen gäbe. Im Wandelgang sah er, dass das Haupttor offen stand. Ein Gast traf ein; Träger setzten eine Sänfte ab. Kasho hätte gern verweilt, um zu erfahren, wer es war, doch der Mönch, der sich um den Garten kümmerte, kam über den Innenhof auf ihn zu, eine Schüssel in der Hand.
»Ich habe Essen für dich«, sagte der Mann.
»Vielen Dank«, erwiderte der Junge. »Ab jetzt heiße ich Kasho.«
Der Mönch machte Anstalten, sich zu verneigen, besann sich aber anders. »Ein hübscher Name«, sagte er ernst. »Komm, ich bringe dich zurück.«
Hisao saß noch auf der Veranda und warf das Messer müßig von einer Hand in die andere. Im Tempel war es still. Schmelzender Schnee tropfte von den Dachtraufen. Der Himmel war klar, die Sonne stand schon im Westen. Nachts würde es bitterkalt und frostig werden, das Schmelzwasser würde zu Eiszapfen gefrieren. Kasho konnte hören, wie ein Lehrer in einiger Entfernung leiernd eine heilige Schrift diktierte. So durfte es eigentlich nicht klingen, so lahm und monoton. Sondern fröhlich. Er hatte den starken Drang, die Worte zu singen, bremste sich aber, weil er von Hisao nicht verspottet werden wollte.
»Setz dich und iss«, sagte der Mönch. »Ich muss wieder an die Arbeit, und du musst anschließend zu den anderen Jungen gehen.« Er wandte sich an Hisao. »Solltest du nicht auch lernen?«
»Man hat eingesehen, dass ich unbelehrbar bin«, entgegnete Hisao. »Warum sollte ich mich stundenlang langweilen?«
»Hier herumzulungern ist gewiss noch langweiliger«, bemerkte der Mönch.
»Du wagst es, über mich zu urteilen?«, gab Hisao zurück. »Weißt du etwa nicht, dass ich der Sohn von Lord Otori bin?«
Der Mönch schwieg, sah Hisao aber so verächtlich an, dass es Kasho weh tat. Er konzentrierte sich auf das Essen – Hirsebrei mit Pfeilwurzknollen und Mizuna-Blattstielen.
»Er hat einen Narren an dir gefressen«, sagte Hisao, als sich der Mönch mit langsamen, bewussten Schritten entfernte. »Na, wen wundert’s, schließlich bist du ein hübscher Junge. Nimm dich in Acht, sonst befummelt er dich noch. Sie sind alle gleich. Hat sich der Abt an dich herangemacht?«
»Natürlich nicht!« Kasho schwor sich, weder Hisao noch jemand anderem von seinem Erlebnis zu erzählen, befürchtete aber auch, es könnte verblassen und mit allen anderen Erinnerungen in Vergessenheit geraten.
»Wer ist dieser Kerl?«, meinte Hisao. »Ich finde, er sieht nicht aus wie ein Mönch.«
»Er ist Gärtner. Wahrscheinlich kein regulärer Mönch.«
»Er will sicher etwas von dir.«
»Er war freundlich, mehr nicht.« Kasho schlürfte den letzten Rest Brei und stand auf.
Als er davonging, rief Hisao ihm nach: »Niemand ist ohne Grund freundlich. Jeder erwartet eine Gegenleistung.«
Der Tag, an dem die Gemälde lebendig geworden waren und Kasho die Ankunft des Fremden in der Sänfte beobachtet hatte, lag noch nicht lange zurück, da kam Gemba in die Halle des Lernens, um ihn und seinen Bruder abzuholen.
»Eure Tante will euch sehen«, sagte er.
Kasho hatte seine Tante Shirakawa Kaede, die von Hisao die »Witwe« genannt wurde, nicht mehr gesehen, seit sie ihn und seinen Bruder zum Tempel gebracht hatte. Das war nun über zwei Monate her. Gemba nahm denselben Weg, auf dem er Kasho zum Abt geführt hatte. Der Nachmittag war kalt und grau. Auf den Innenhöfen und den Dächern türmte sich der Schnee, und obwohl Blüten an den knorrigen Ästen des Pflaumenbaums leuchteten, lag der Frühling noch in weiter Ferne.
Die Brüder hatten seit Wochen kaum ein Wort gewechselt. Kasho hatte Chikara noch nicht mit dessen neuem Namen – Sozo – angeredet. Er sagte ihn immer wieder vor sich hin, um sich daran zu gewöhnen. Sozo, der dicht neben ihm ging, streifte ihn manchmal. Kasho hatte sofort gesehen, wie schlecht es seinem Bruder ging. Er hustete immer noch bellend und war kurzatmig. Er hatte seine kindliche Pummeligkeit verloren und war stark abgemagert. Nachdem sie den verschneiten Garten vor dem Wohngebäude der Frauen durchquert hatten, zitterte er wie Espenlaub. Kasho kam der Gedanke, dass sie mit ihren kahlgeschorenen Köpfen, den alten, abgetragenen Gewändern und nackten Füßen, grau-lila vor Kälte und voller Frostbeulen, einen erbärmlichen Anblick boten. Das entsetzte Gesicht seiner Tante bestätigte dies.
Sie eilte zu ihnen, strich ihnen über den Kopf und ergriff Sozos Hand.
»Er ist nicht wohlauf!«, entfuhr es ihr.
»Er hatte Fieber, und sein Husten ist zäh«, erklärte Gemba. »Aber er war schon vorher nicht ganz gesund.«
Sie wechselten einen Blick.
»Wie können wir ihm helfen?«, fragte Kaede. »Kann er eine Weile bei mir und meiner Tochter wohnen?« Sie zog Sozo zu sich heran und schloss ihn in die Arme.
Kasho merkte, dass sein Bruder stumm weinte, denn seine Schultern bebten.
»Sie kümmern sich ja schon um unseren neuen Gast«, antwortete Gemba. »Und Sie sind nicht bei Kräften.«
Kaede wirkte tatsächlich angeschlagen. Ihr einstmals schönes Gesicht war grau und verhärmt. Sie bedeckte ihr Haupt stets mit einem Tuch. Wenn es abrutschte, waren die Narben der Brandwunden zu sehen.
Seine Tante lächelte ihn über Sozos Kopf hinweg an. »Kommt herein und setzt euch an das Kohlebecken, während ich mich mit Gemba berate.«
Sie führte sie in ein langes, elegantes Zimmer, ausgelegt mit goldenen Strohmatten, jede mit purpurner Seide gesäumt, in die man den Reiher, das Wappentier der Otori, gewebt hatte. Das Schneelicht verlieh den geschlossenen Papierjalousien einen perlweißen Ton. Lampen brannten in der Ecke, und der Duft getrockneter Zitronenschalen, der ihm auf angenehme Art zu Kopf stieg, lag in der warmen Luft.
Eine junge Frau kniete vor einem Spalier von Kissen, auf denen ein Mann lag. Kasho begriff, dass es der Fremde war, den man in der Sänfte gebracht hatte. Kaede löste ihre Hand behutsam aus Sozos Griff und setzte die beiden Jungen neben ein eisernes Becken, dessen Holzkohle eine wohltuende, seit Wochen entbehrte Wärme verströmte.
»Meine kleinen Cousins«, sagte die junge Frau. »Wie schön, euch wiederzusehen.«
Sie hieß Miki. Kasho wusste noch, dass es früher geheißen hatte, er werde sie später einmal heiraten. Damals hatte ihn diese Vorstellung angewidert, denn sie hatte ihn gemeinsam mit ihrer Schwester oft geärgert, und am Ende hatte er sie nicht mehr gemocht. Nun aber, da eine solche Verbindung unmöglich war, trauerte er ihr nach.
»Ich nehme an, wir sind nicht mehr Cousin und Cousine«, sagte er.
»Wir werden immer Cousin und Cousine sein«, erwiderte Miki. »Selbst, wenn wir das verleugnen müssten. Wie ich höre, habt ihr neue Namen bekommen.«
»Kasho und Sozo«, bestätigte er.
»Gut, dann koche ich jetzt einen Tee und schaue, ob es etwas Süßes für Kasho und Sozo gibt. Dies ist Sugita Hiroshi. Er wurde in der Schlacht von Takahara schwer verwundet, hat jedoch überlebt, und dafür sind wir unendlich dankbar.«
Der Mann schien zu schlafen. Kasho betrachtete ihn. Er wusste alles über Hiroshi, war ihm auch schon begegnet. Er hätte ihn allerdings nicht wiedererkannt. Hiroshi war so bleich und mager wie ein Gast aus dem Jenseits, doch sein Zustand verlieh ihm eine spezielle Schönheit. Seine dichten, schwarzen Haare waren seit Monaten nicht mehr gestutzt worden und über der Stirn von einem weißen Streifen durchzogen. Sie verwandelten sein Gesicht in eine kantige, leidzerfurchte Maske.
Hiroshi riss die Augen auf. Er drehte den Kopf, um die Jungen betrachten zu können. Seine Augen verengten sich, die Miene wurde härter. Kasho senkte mit pochendem Herzen den Blick.
Als Miki mit einem Teekessel, Tonschalen und einem kleinen Teller mit Würfeln aus roter Bohnenpaste zurückkehrte, stemmte sich Hiroshi auf einen Ellbogen und fuhr sie an: »Wer sind diese Jungen?«
»Zwei junge Mönche«, antwortete sie. »Ganz gewöhnliche Jungen.«
»Du kannst mich nicht belügen, Miki. Ich kenne dich seit deiner Geburt.«
»Ich lüge nicht«, entgegnete sie, wobei ihr blasses Gesicht leicht errötete. »So lautet die Wahrheit, die ab jetzt zu gelten hat.«
»Sie sind die Söhne von Arai Zenko«, sagte Hiroshi. »Der eine ist seiner Mutter und ihren Schwestern wie aus dem Gesicht geschnitten, der andere ist das Ebenbild seines Vaters. Zenko und Hana, die schlimmsten Verräter. Warum sind ihre Söhne noch am Leben?«
Kasho hatte das Gefühl, eine Ohrfeige bekommen zu haben. Er zwang sich, den Blick zu heben, und sah Hiroshi in die Augen.
»Lord Hiroshi«, sagte Miki, »sie sind doch nur Kinder. Meine Mutter hat sie hierhergebracht. Sie werden ihr Leben Terayama und dem Weg der Houou weihen.«
»Der eine ist kein Kind mehr. Er ist doch sicher bald volljährig.«
»Er ist jünger, als er aussieht, und man sollte ihn nicht anhand der Untaten seines Vaters beurteilen.«
»Warum nicht? Ich liebe dich und deine Schwestern, und ich diene euch, weil euer Vater einen edlen Charakter hatte und von hoher Tugend war.«
»Wir sind aber auch die Töchter unserer Mutter«, sagte Miki. »Wenn du so denkst, müsstest du uns hassen.«
»Ich werde dich niemals hassen«, entgegnete Hiroshi. »Und ich habe deiner Mutter nichts vorzuwerfen.« Sein Blick verlor sich, Erinnerungen an die Vergangenheit holten ihn ein. Schließlich seufzte er. »Verzeih mir. Die Schmerzen machen mich mürbe, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sie nun täglich die Ehe schließen könnte.«
»Ob sie das wirklich tun wird?«, fragte Miki.
»Du kennst deine Schwester. Nichts kann Shigeko von dem abbringen, was sie für ihre Pflicht hält. Lord Saga hat zugesagt, die Drei Länder zu verschonen, und im Gegenzug wird sie ihn heiraten.«
»Wenn das Gemetzel damit ein Ende nimmt, trifft sie die richtige Entscheidung.«
»Mein Verstand pflichtet dir bei, nicht aber mein Herz. Lord Saga ist unberechenbar und aufbrausend. Und er ist von Vipern umgeben – angefangen mit seinen drei ehrgeizigen Söhnen. Warum sollten sie eine neue Stiefmutter dulden, die eine Bedrohung darstellt, weil sie dem Vater weitere Kinder schenken könnte, die er vielleicht vorzieht? Sie werden jede Gelegenheit nutzen, um sie zu verleumden und ihr Schaden zuzufügen. Sie ist viel zu gütig, um eine solche Bosheit durchschauen zu können.«
Das Reden schien ihn zu ermüden, er legte sich wieder hin und schloss die Augen.
Miki schenkte Tee in die Schälchen und reichte sie den Jungen. Sie tranken die würzige Flüssigkeit und aßen wortlos die Süßigkeiten, wobei sie versuchten, sie möglichst lange zu genießen.
Nachdem sie fertig waren, wollte Sozo leise von Miki wissen: »Welche Verwundungen hat Lord Hiroshi davongetragen?«
Hiroshi schlug die Augen auf. »Wollt ihr mal sehen?« Er zog die Decke weg und enthüllte die Narben an seinen Beinen. Die Wunden waren sowohl lang als auch tief gewesen. Das frisch verheilte Gewebe sorgte für hässliche rote Male und eine fahl und silberig glänzende, überdehnte Haut. Die prallen Muskeln hatten sich zurückgebildet. Seine Füße waren weiß, makellos sauber und so zart, als wäre er seit Monaten nicht mehr gelaufen.
»Das muss eine schreckliche Schlacht gewesen sein«, sagte Sozo. In der Wärme war sein Fieber gestiegen, seine Augen glänzten unnatürlich, und seine Wangen glühten.
»Viele sind gestorben und mit ihnen viele Illusionen und Pläne«, erwiderte Hiroshi.
»Bleibst du jetzt hier?«, fragte Sozo.
»Nur, bis ich wieder laufen kann.« Er wandte sich an Miki. »Ich habe mich in Inayuma nicht sicher gefühlt. Lord Sonoda und deine Tante Lady Ai haben alles für mich getan, was in ihrer Macht stand, aber sie mussten ihr einziges Kind, ihre Tochter Kei, als Geisel an Lord Saga überstellen. Hätte Saga ihnen befohlen, mich auszuliefern, dann hätten sie sich nicht widersetzen können.«
»Warum sollte er das tun? Es herrscht doch Friede«, sagte Miki.
»Im letzten Jahr wurde Saga von deiner Schwester Shigeko, Gemba und mir in Anwesenheit des Kaisers bei einem Wettkampf mit Jagdhunden besiegt. Er wird uns das nie verzeihen. Er besitzt nun Shigeko, und er wird alles daransetzen, Gemba und mich zu töten. Aber vielleicht habe ich hier genug Zeit, um zu genesen.« Er verstummte kurz und sagte dann so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnten: »Jedenfalls körperlich. Mein Herz wird sich niemals erholen.«
Kasho hatte tiefes Mitleid mit ihm und wünschte sich, für die Untaten seiner Eltern Abbitte leisten zu können. Das hätte er Hiroshi am liebsten gesagt, fand aber nicht die richtigen Worte. Kaede und Gemba traten wieder ein und setzten sich zu ihnen an das Kohlebecken.
»Dein Bruder bleibt hier«, teilte Kaede ihm mit. »Wir pflegen ihn gesund.«
»Du kannst nun gehen«, ergänzte Gemba. »Ich will noch mit Hiroshi reden.«
Auf dem Weg zurück zur Halle des Lernens fühlte sich Kasho einsamer denn je.
Der Frühling kam ungewöhnlich spät. Wochenlang fiel Schnee, der den Tempel von der Welt abschnitt. Die Übungen wurden intensiviert, denn die Mönche waren überzeugt, dass Kälte den Charakter stärkte. Hiroshis Worte gingen Kasho nicht aus dem Sinn. Er wollte, dass der Krieger ihm vergab, und begann, ihm nachzustellen, weil er hoffte, ihm irgendwie zu Diensten sein zu können. Gemba bastelte eine hölzerne Krücke, und sobald Hiroshi kräftiger war, schwang er sich mit ihr durch Gänge und Hallen. Das tat er verblüffend geschickt und entwickelte obendrein mächtige Schulter- und Armmuskeln.
Unter dem Schnee verbargen sich jedoch vereiste Stellen, und eines Tages rutschte er darauf aus. Kasho entdeckte ihn zufällig auf dem Innenhof, wo er hinter einem Zitronenstrauch gestürzt war. Der Schneeregen verwandelte sich in Eis, sobald er den Boden berührte.
»Hilf mir auf, sonst erfriere ich hier draußen«, rief Hiroshi, als er Kasho erblickte.
Kasho versuchte, ihn aufzurichten, war aber zu schwach.
»Ich hole Hilfe«, sagte er und eilte zur Seitenveranda, wo Hisao wie üblich saß und schnitzte. Ein kleines Feuer brannte neben ihm in einem Eisenbecken.
»Komm mit«, bat Kasho, »du musst mir helfen.«
Hisao sah von dem Holzstück auf. »Ich bin noch nicht fertig.«
»Du kannst später weitermachen. Komm jetzt.«
»Meinetwegen, ist sowieso Abfall.« Hisao warf die halb fertige Schnitzerei auf die Kohlen.
Kasho konnte den Kopf eines Wolfes erkennen, bevor die Flammen das Holz umzüngelten. »Das hättest du nicht tun müssen!«
»Hätte ich nicht. Habe ich aber.«
»Warum musst du immer alles zerstören?«
»So bin ich nun mal.« Hisao lächelte schief, wie es seine Art war, sagte aber nichts mehr, sondern folgte Kasho zu dem auf dem eiskalten Boden liegenden Hiroshi.
Hisao starrte den Gestürzten an, und Kasho befürchtete kurz, er könnte seine Hilfe verweigern, aber dann kniete er sich hin. »Leg deine Arme um meinen Nacken«, sagte er unwillig.
Nachdem Hiroshi das getan hatte, stemmte sich Hisao blitzschnell hoch. Als Kasho die Krücke aufhob und den beiden folgte, wurde ihm bewusst, wie stark Hisao war, er konnte Hiroshi mühelos stützen.
Hisao setzte sich an den Rand der Veranda, und Hiroshi löste sich von ihm. Der Krieger versuchte, sein Zittern zu unterdrücken.
»Du bist ganz nass«, sagte Kasho. »Ich hole dir trockene Kleider.«
»Ach, was«, erwiderte Hiroshi. »Sie trocknen am Körper.« Er rückte näher an das Kohlebecken heran und pustete in die Glut. Flammen loderten auf. Von der Schnitzerei blieb nur Asche übrig. Bläulicher, würziger Rauch stieg auf.
Hisao ließ sich ihm gegenüber nieder und überkreuzte die Beine. Beide musterten einander durch den Rauch.
»Du könntest dich bedanken«, bemerkte Hisao.
Vielleicht war es nur der Rauch, aber Kasho hatte den Eindruck, dass im Rücken von Hisao, unmittelbar hinter dem Schleier der realen Welt, etwas schwebte – eine fast greifbare Präsenz, die darauf wartete, heraufbeschworen zu werden. Er fror bis auf die Knochen.
Hiroshi sagte nur: »Du siehst ihm gar nicht ähnlich. Vermutlich eine Erleichterung.«
»Meinem Vater?«, erwiderte Hisao. »Schwer zu sagen. Ich habe ihn kaum gekannt.«
Dieser abschätzige Ton schien Hiroshi zu erbosen, denn er sagte mit tiefer Verbitterung: »Ich hätte dich hinrichten lassen. Wieso hat man dich verschont?«
»Man hofft, mich noch retten zu können«, antwortete Hisao.
»Retten? Wovor?«
»Vor meiner finsteren Natur. Du musst wissen, dass ich als Mitglied des Stammes aufgewachsen bin.«
»Weder kann man den Fuchs zähmen noch die Schlange lehren, nicht zu beißen. Das sind Tatsachen, an denen niemand rütteln kann. Du wirst dich nicht ändern.«
Diese Worte schienen Hisao weder zu verärgern noch zu beleidigen, denn er lächelte. »Wie gut, jemanden vor sich zu haben, der nicht heuchelt. Hass ist mir viel vertrauter als Zuneigung oder Verständnis.«
»Tja, und ich hasse dich, was auch immer das heißen mag«, sagte Hiroshi.
»Und ich hasse dich.« Hisao deutete eine spöttische Verbeugung an.
»Ich hasse euch nicht«, mischte sich Kasho ein.
Die beiden schenkten ihm keine Beachtung.
»Du bist sehr kräftig«, meinte Hiroshi. »Und du hast einen guten Gleichgewichtssinn. Könntest du mich auf dem Rücken tragen?«
»Ich denke schon.«
»Auch wenn du ein Schwert oder einen Bogen dabeihättest?«
Hisao lachte. »Sicher. Aber warum sollte ich?«
»Um zu verschwinden«, antwortete Hiroshi energisch. »Ich gehe bald, und ich sehe dir an, dass du auch nicht ewig bleiben willst. Wenn du mir die Beine ersetzt, kannst du Terayama verlassen. Nie wieder Zuneigung und Verständnis. Nur ich und mein unauslöschlicher Hass.«
Hisao schwieg. Er hatte die Stirn gerunzelt, als lauschte er einer anderen Stimme.
»Kanntest du Muto Taku?«, fragte er schließlich.
»Ja, natürlich. Er war mein bester Freund und das seit unserem zehnten Lebensjahr. Du hast ihn getötet. Warum fragst du?«
»Vielleicht erkläre ich das eines Tages. Sobald wir uns besser kennen und bis auf das Blut hassen.«
»Du willigst ein?«
»Ich bin dabei«, sagte Hisao halb ernst und halb spöttisch. »Hauptsache, du bringst mich hier raus.«
Hisao hatte mit der Begründung, sich gut genug verteidigen zu können, nie am täglichen Kampftraining teilgenommen. Wieso, fragte er, solle man mit Stangen kämpfen, wenn es nicht darum gehe, den Gegner zu töten? Nachdem er eingewilligt hatte, Hiroshi zu schleppen, holte er ihn jedoch jeden Nachmittag zum Training ab. Sie stritten sich immer wieder so heftig, dass es mehrmals fast zu einer Schlägerei gekommen wäre, hielten aber durch. Sie übten zunächst auf dem Tempelgelände, aber nach einer Weile benutzten sie auch die Stufen, die in den Berg geschlagen worden waren. Kasho sah erstaunt zu, denn Hisao sprang so trittsicher bergauf und bergab wie eine Bergziege. Eines Tages, dachte er, kommen sie nicht wieder.
Hiroshi bestand darauf, in den Tempel umzuziehen, wo er an den Gebeten und Meditationen teilnahm und den Jungen in den Lehrstunden die Bedeutung der alten Schriften erklärte. Manchmal konnten sie ihn dazu bringen, über die Taktiken und Strategien einer Schlacht zu dozieren. Dann lauschten die Jungen voller Respekt, weil sie wussten, dass Hiroshi zu einem Krieger erzogen und ausgebildet worden war.
Der Winter lockerte seinen Griff, die Tage wurden wärmer. Die Weidenbäume trieben weiche, pelzige Knospen, und man schickte die Jungen in die Berge, um Farnspitzen, Beifuß und wilden Spargel zu sammeln. Kasho vermisste seinen Bruder bei diesen Expeditionen. Als er Gemba einmal allein antraf und sich zaghaft erkundigte, antwortete der Kriegermönch: »Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Der Himmel entscheidet über sein Leben.«
Danach erfuhr Kasho nichts mehr. Er bekam seine Tante nicht zu Gesicht, erhaschte nur hin und wieder einen Blick auf Miki, wenn sie durch die Gärten schlenderte.
Eines Nachmittags wurde Kasho nach dem Training zum Brunnen geschickt, um das eiskalte Wasser zu holen, das angeblich Kampfgeist und Ausdauer stärkte. Während er mit dem Seil hantierte, wurden seine Finger taub. Es war ihm gerade gelungen, den Eimer hinaufzuziehen, als der Gärtner wie aus dem Nichts erschien. Kasho erschrak, und als ihm das Seil entglitt, verbrannte er sich die Finger. Der Eimer klatschte dumpf ins Wasser.
Der Mann war kreidebleich, sein Blick verzweifelt.
»Lord«, begann er, bremste sich aber. »Kasho, du musst deinen Bruder rufen. Schnell, ruf ihn!«
»Wo ist er? Was ist passiert?« Die Furcht ließ Kashos Herz in die Tiefe stürzen wie einen verwundeten Vogel.
»Du kannst ihn zurückrufen! Ruf in den Brunnen! Sofort!«
So rief man die Toten herbei.
»Nein«, flüsterte Kasho. »Nein!«
»Du kannst ihn retten!«, beharrte der Mann, ergriff Kashos Schultern und drückte ihn über den Brunnenrand.
»Sozo …« Er wollte rufen, doch ihm brach die Stimme.
»Ruf ihn bei seinem wahren Namen! Schrei den Namen in den Brunnen!« Der Gärtner drückte ihn tiefer den Schacht.
Kasho roch die feuchten Steinwände und sah das schwarze Wasser, aufgewühlt vom Absturz des Eimers.
»Chikara!«, brüllte er, und das Echo warf den Namen als kara-kara zurück. »Chikara, komm zurück. Ich bin’s, dein Bruder Sunaomi. Komm zurück! Chikara!«
Eine Welle aus Luft schien aus der Dunkelheit nach oben zu schwappen wie aus den Tiefen der Erde oder aus jener anderen Welt, in der die Toten zu Hause waren. Kasho sah mit blinden Augen und hörte mit tauben Ohren. Er sah Chikaras einsame Gestalt auf einer schmalen, hellen Straße. »Chikara!«, schrie er wieder.
Sein Bruder blieb stehen, drehte sich um und horchte.
»Kehr um!«, flehte Kasho, als wäre die Abenddämmerung, in der die Jungen heimkehren mussten, schon angebrochen.
Chikara begann, auf ihn zuzugehen.
Kasho war erleichtert, spürte aber, wie noch etwas erwachte. Ein Wesen riss den Kopf herum, als hätte es Witterung aufgenommen. Und nicht nur eines, sondern unzählige. Die unüberschaubare, namenlose Menge der Toten fuhr zu ihm herum, und alle horchten in der Hoffnung, ihren Namen zu hören. Er wusste, dass er sie nicht hätte wecken dürfen. Er spürte, wie er von ihrer Begierde in ihre Welt gezogen wurde. Er sah einen Kriegsherrn mit streitlustigem Blick und ein Mädchen mit langen, schwarzen Haaren und weißem Gewand, das beim Tanzen Flöte spielte. Er sah die Gesichter seiner Eltern vor sich. Er war versucht zu verweilen.
Dann wurde er vom Gärtner zurückgerissen. Kasho holte mehrmals tief und prustend Luft.
»Gut gemacht, gut gemacht«, flüsterte der Mann und umarmte den Jungen flüchtig. »Und nun ab zu deiner Tante. Sie hat nach dir geschickt.«
»Er ist tot, nicht wahr?« Kasho kamen die Tränen.
»Ich denke nicht.« Der Mann begann, das Seil einzuholen. »Ab mit dir. Ich bringe den Jungen das Wasser.«
Kasho eilte über den Innenhof und durch den Wandelgang. Er rannte durch den Garten zum Wohnhaus, spurtete über die Veranda und schob die Türen auf, ohne um Erlaubnis zu bitten oder sich anzukündigen.
Seine Tante und seine Cousine knieten neben den Kissen, auf denen der stumme, reglose Chikara lag. Kaede hielt eine Perlenkette und betete laut. Beide Frauen sahen mit tränenüberströmten Gesichtern auf.
Kasho stockte das Herz. Er fiel auf die Knie und ergriff Chikaras Hand. »Er ist noch so warm!«
»Mein Kind, er ist gerade von uns gegangen«, sagte Kaede liebevoll.
Die Finger erwiderten seinen Druck. Chikara öffnete die Augen. »Ich habe dich gehört«, flüsterte er. »Ich habe dich gehört und bin umgekehrt.«
Miki schrie überrascht auf. Sie sah ihre Mutter mit großen Augen an.
»Was ist geschehen?«, wollte Kaede von Kasho wissen.
»Der Gärtner hat mich aufgefordert, in den Brunnen zu rufen«, antwortete Kasho. »Und das habe ich getan.« Er erschauderte bei der Erinnerung und fragte dann zaghaft: »War er … war er denn wirklich tot?«
»Das dachten wir jedenfalls«, antwortete Kaede. »Wir haben nach dir geschickt, um dir die traurige Neuigkeit mitzuteilen. Miki, du musst den Abt informieren. Wir dürfen dies nicht verheimlichen. Aber erzähl es sonst niemandem.« Sie lachte und weinte zugleich. »Dem Himmel sei Dank! Ich hätte einen weiteren Tod nicht ertragen. Eure Mutter hat euch in meine Obhut gegeben. Chikara, Sunaomi, ihr seid nun meine Söhne. Ich würde alles für euch tun.«
»Du darfst mich aber nicht Chikara nennen«, sagte der jüngere Bruder. »Ich bin Sozo. Und Sozo hat Hunger, Tante.«
»Was sollen wir bloß mit dir machen?«, sagte der Abt nicht unfreundlich zu Kasho.
Es war ein warmer Abend, einige Tage nachdem sein Bruder sich erholt hatte. Sie saßen gemeinsam mit Gemba in der Sesshū-Halle. Alle Türen standen offen, und der Duft von Jasmin erfüllte die Luft. Fledermäuse schossen mit schrillem Quieken durch den Garten. Ein Nachtvogel stieß einen langen, knarrenden Ruf aus.
Kasho versuchte, die Gemälde nicht anzuschauen, damit sie nicht wieder zum Leben erwachten. Er wich auch Makotos Blick aus. Sie wussten, was passiert war, als er in den Brunnen gerufen hatte, aber die zahllosen Toten, den Kriegsherrn und das Mädchen hatte er ihnen verschwiegen. Er bemühte sich, beide zu vergessen.
»Es war doch nicht falsch, ihn zurückzurufen, oder?«, fragte er zaghaft, obwohl er wusste, dass er den Namen seines Bruders selbst dann in den dunklen Mund des Brunnens gerufen hätte, wenn der Herr der Hölle dies strengstens verboten hätte.
»Nein, gewiss nicht«, antwortete Makoto. »Es ist ein Lichtstrahl, der unsere Trauer erhellt. Nun habe nsich schon zwei Wunder zugetragen. So etwas kann man schwer verheimlichen. Der Gärtner ist noch nicht lange bei uns, und wir wissen wenig über ihn. Wir behalten ihn ab jetzt genauer im Auge. Gut möglich, dass es hier Mönche gibt, die für Lord Saga oder für Gembas Bruder, Lord Miyoshi Kahei, spionieren.«