Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2019
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ISBN 978-3-644-40670-4
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ISBN 978-3-644-40670-4
Für Steven, der meine Hunde versteht – und mich
«Steven, wo sind deine Schneeschuhe?»
«Schneeschuhe? Reicht es nicht, wenn du welche dabeihast?» Mein volljähriger Sohn saß dick eingepackt neben mir im Scooter, die Nasenspitze rot, die Augenbrauen vereist, ebenso ein paar seiner braunen Locken, die sich aus der wärmenden Kapuze hervorgewagt hatten. Seit Tagen – ach was, seit Wochen – stürmte es, seit Tagen fiel Schnee. Schnee und Sturm, Sturm und Schnee, als würde es kein anderes Wetter geben. Sonne und blauer Himmel? Fehlanzeige. Dazu immer wieder Whiteout: Himmel und Erde gingen ineinander über, der Horizont verschwand, alles verschwamm zu einem Raum ohne Konturen. Mit den Hunden in Höchstgeschwindigkeit über Schnee und Eis zu preschen, konnte dann direkt in den Abgrund führen. Sofort verscheuchte ich den furchtbaren Gedanken, nicht einmal vorstellen wollte ich mir das.
«Mama, hast du mich gehört?»
«Klar habe ich dich gehört. Schneeschuhe werden wir aber brauchen. Wir müssen einen Trail brechen, einen neuen, damit ich nicht immer dieselben Runden mit den Hunden laufen muss. Die drehen ja sonst noch durch bei dem ewigen Einerlei, die brauchen Fun.»
«Den Trail brechen wir aber doch mit dem Scooter», wandte Steven ein, gemäß seiner eigenen Logik.
«Richtig, kluger Sohn, aber ich habe einen kleinen Canyon im Sinn, von dem aus ein Stichweg hochgeht, einige hundert Meter lang. Den müssen wir mit Schneeschuhen platt treten, der ganze Pulverschnee muss fest werden.»
«Die Hunde sollen ja nicht darin versinken.»
«Manchmal kriegst du ja doch mit, was deine Mutter dir sagt.»
Steven ging nicht auf meine Bemerkung ein, stattdessen hatte er eine neue Idee, um die Sache mit den Schneeschuhen zu begraben. Er hatte natürlich keine dabei, das war mir inzwischen schon längst klar. «Wir haben eine Schaufel dabei.»
«Wir haben immer eine Schaufel dabei, weil man ohne Schaufel nicht mit einem Scooter rausfährt. Aber willst du ein oder zwei Kilometer mit der Schaufel bearbeiten?»
«Eben waren es noch einige hundert Meter.»
«Steven!»
«Okay.»
Nachdem wir die kleine Schlucht erreicht hatten, gab es nur eine Möglichkeit, da nur ich entsprechend ausgerüstet war: ich mit den Schneeschuhen voran, Steven mit dem Snowmobil hinterher. Schon nach fünfzig Metern war ich komplett durchgeschwitzt, Schweiß lief mir den Rücken runter. Aber aufgeben kam nicht in Frage. Dieses Jahr hatte der Winter früh angefangen, im Grunde mit Beginn meiner Trainingssaison im Oktober. Doch bislang war es noch nicht so kalt gewesen, dass der See vor unserer Haustür, der Møsvatn-See, komplett zugefroren war. Noch wagte ich es nicht, mit meinem Gespann übers Eis zu rennen, es war zu gefährlich, konnten wir doch im Whiteout an einer noch offenen Stelle einbrechen. Nicht auszudenken … Kaum einer würde uns im Weiß finden, keiner uns retten können. Tod durch Ertrinken, das wäre unser Schicksal.
Da der See aber als Trainingsplatz fehlte, gab es nur eine Strecke, die ich bei Schnee und Sturm nutzen konnte: den Traktorweg zu meiner Nachbarin Anne. Sechseinhalb Kilometer hin und sechseinhalb Kilometer zurück, gekennzeichnet durch Marker, sodass ich genau wusste, sollte es mal stürmen, wo der Trail verlief. Und seit Wochen hatten wir nichts anderes getan, als diesen Traktorweg abzufahren, hin und zurück, hin und zurück, wie Zootiere im Käfig; es fehlte nur noch, dass meine Alaskan Huskys dauerhaft einen mentalen Schaden davontrugen.
Als der Schnee noch dürftig vom Himmel gefallen war, hatte ich sie vor unseren ATV gespannt, ein All-terrain Vehicle mit Allradantrieb und dicken Reifen, sieht ähnlich aus wie ein Quad, nur etwas kleiner. Eine Ausweichmöglichkeit mit Bremsfunktion. Um ein Gespann mit sechzehn Hunden im hohen Tempo zu bremsen, werfe ich als Hundeführerin Schneeanker – die greifen aber nur, wenn der Untergrund stimmt. Schnee muss also vorhanden sein, man muss die Anker fest in ihn treten, auf blankem Eis oder Minimalschnee bleiben sie wirkungslos. Hunde pesen auf Eis, aber auch auf Schnee in höchster Geschwindigkeit. Wenn dann plötzlich ein Hindernis auftaucht und man keine Möglichkeit zu bremsen hat, kann es zu einer lebensgefährlichen Karambolage führen, das macht man sich bei diesem Sport oft nicht klar. Und Schnee brauche ich auch, wenn ich nicht auf dem Eis bin. Unsere Gegend zeichnet sich durch Steine und Huckel in allen Größen und Formen aus. Hunde können sich an ihnen verletzen, der Schlitten zu Bruch gehen.
Noch fanden meine Huskys alles klasse, in dieser Phase waren sie motiviert, hatten Spaß an ihren Bewegungstrips, ihre Muskeln wurden aufgebaut, sie sollten nach der Sommerpause wieder fit gemacht werden. Es ging noch nicht darum, schnell zu laufen, sondern lang und ausdauernd. Inzwischen hatte ich die Hunde in einen Trab mit einer Geschwindigkeit von dreizehn bis sechzehn Stundenkilometern gebracht, das war schon mal nicht schlecht. Wettbewerbstauglich. Ihr «Checkpoint» war die große Wiese vor dem Kennel, der Zwingeranlage. Natürlich war das kein wirklicher Checkpoint wie bei den mehrtägigen Rennen, bei denen ich und mein Team Pausen machten, bei denen die Ausrüstung überprüft und die Hunde von Tierärzten untersucht wurden. Aber als gedankliche Orientierung half diese Checkpoint-Vorstellung, sich wie bei einem großen Rennen zu fühlen.
Nach einer ersten Runde folgte eine zweite, eine dritte. Nur um Trainingsstrecke zu haben. Zugebenermaßen, es war auf Dauer öde geworden, für mich und auch für die Hunde. Ich lebte in Norwegen, einem Land mit unendlicher Weite, und hatte nur diese eine Route zur Verfügung. Mist war das. Normalerweise wäre der See längst befahrbar gewesen, und ich hätte mit sechzehn Hunden vor dem Schlitten ganz andere Touren fahren können, aber diesen wetterbedingten Gefallen tat man mir nicht. Noch dazu hasste ich es, auf dem ATV zu sitzen, ich konnte mich auf diesem Gefährt nicht bewegen. Stieg ich runter, um zu den Hunden zu gehen, bekam ich Krämpfe im Oberschenkel, so verspannt war ich vom Sitzen auf diesem Ding. Verspannt war ich auch deswegen, weil ich meine Huskys bewusst bremste. Sie mussten gegen mein Bremsmanöver anlaufen, aber nur so bauten sie noch mehr Muskeln auf.
«Mama, du absolvierst heute ja ein Fitnesstraining der ersten Klasse.» Steven rief es mir zu, fast ein wenig schadenfreudig. Er liebt die Huskys über alles, vielleicht weil er als Kleinkind schon mit mir nach Alaska und Kanada gereist war, wo ich mich für meine ersten großen Rennen vorbereitete. Der Schlittensack, in den normalerweise erschöpfte oder kranke Hunde kamen, war wochenlang sein zweites Zuhause. Wer, wenn nicht er, hatte das Husky-Feeling im Blut? Von der Mutter vererbt – oder zumindest im Schlittensack aufgesogen.
«Morgen bist du dran», warnte ich ihn. «Morgen sind deine Schneeschuhe mit dabei.»
Er grinste. Wahrscheinlich war er gerade dabei, sich eine Ausrede für morgen auszudenken.
«Manchmal glaube ich», fuhr ich etwas ungehalten fort, «du und Papa, ihr beide nehmt meinen Sport nicht ernst. Ihr haltet das für eine Spielerei, eine Beschäftigung für eine Hausfrau, die sich nebenbei noch erlaubt, etwas Außergewöhnliches zu machen, um sinnvoll ihre Zeit zu füllen.»
«Wie kommst du darauf?» Voller Empörung schaute mich mein Sohn an. «Ich habe nie so empfunden.»
Da ich gerade so am Schwitzen und in Rage war, stampfte ich meine Überlegungen förmlich in den Pulverschnee. «Wahrscheinlich haltet ihr mich auch noch für bekloppt, dass ich jeden Winter so viele Strapazen auf mich nehme», fuhr ich, einmal in Fahrt, fort.
«Mama!»
«Nix, Mama. Aber im Warmen vor dem Computer zu hocken, ist euch lieber, als Trails im Schnee anzulegen.»
Steven schwieg. Was sollte er auch dazu sagen? Ihm gegenüber war mein plötzlicher Ausbruch ungerechtfertigt. Er half, wo er nur konnte, doch bei meinem aktuell größten Problem konnte er mich aufgrund seiner körperlichen Einschränkungen, die er noch vor seiner Geburt erlitten hatte, einem Schlaganfall, nicht unterstützen: dem Training. Jürgen jedoch schon, jedenfalls wenn er daheim arbeitete und nicht auf irgendeiner Ölplattform in Asien oder den Vereinigten Staaten unterwegs und damit wochenlang nicht zu Hause war. Mein Mann hatte größte Toleranz für ein Leben mit vierzig Hunden (plus/minus) im Lauf der Jahre entwickelt, war mit mir sogar von Deutschland nach Norwegen der besseren Trainingsmöglichkeiten wegen gezogen, doch nach Feierabend favorisierte er ein gemütliches Dasein auf der Couch mit einer Flasche Bier auf dem Tisch (oder zwei). Was aber gar nicht so häufig vorkam, denn nichts war ihm wichtiger als seine Arbeit. Noch abends beantwortete er E-Mails, diskutierte per Skype mit Kollegen über neu aufgetretene Probleme. Er kam gar nicht auf den Gedanken, draußen in der Kälte mit den Huskys den Traktorweg entlangzulaufen. Das hatte für ihn keine Priorität. Aus seiner Sicht verständlich. Dabei könnte ich ihn so gut gebrauchen, sozusagen als zweiten Mann auf dem Schlitten.
Solange ich nicht mit sechzehn Hunden raus auf den See konnte, musste ich mein Team verkleinern, es aufteilen, zweimal acht Hunde. Sechzehn Hunde durch holpriges Gelände zu führen, war zu riskant. Sechzehn Hunde musste ich aber trainieren, denn ich wollte 2018 am Finnmarksløpet teilnehmen, Europas längstem und härtestem Hundeschlittenrennen. Und noch eine Steigerung sollte nicht unerwähnt bleiben: Es ist auch das nördlichste Rennen der Welt, es beginnt in der Stadt Alta in der norwegischen Provinz Finnmark nahe dem Nordkap, 1200 Kilometer lang, berüchtigt für extreme klimatische Bedingungen. Starten musste ich mit vierzehn Hunden, plus zwei Ersatzhunde, die jedoch nicht während des Rennens ausgetauscht werden durften (es konnte aber sein, dass unterwegs zum Rennen der eine oder andere Hund schlappmachte). Ich benötigte also mindestens ein fittes, lauffreudiges Vierzehnergespann.
Das hieß, dass ich in zwei Teams mit jeweils acht Hunden fuhr. Hatte ich eine Trainingsrunde absolviert, wurde das erste Team ausgespannt, das zweite eingespannt, dazwischen trank ich gerade noch einen Kaffee. Wir trainierten selbst im Dunkeln, mit Stirnlampen, denn auch beim Finnmarksløpet, dem FL, wie alle sagen, sind die Musher, die Schlittenhundeführer, in der Nacht unterwegs; das Rennen wird gar am Abend gestartet. Pause wird dann gemacht, wenn es gerade passt, mal im Hellen, mal in größter Finsternis. Doch dieses ewig gleiche Training unter unverändert schlechten Wetterbedingungen fing an, uns langsam aufs Gemüt zu schlagen. Deshalb brauchten wir Abwechslung, deshalb waren zumindest kleinere Varianten bei der täglichen Strecke vonnöten.
Während ich weiter den Schnee feststampfte, dachte ich an einen Menschen, der jeden Tag denselben Weg zur Arbeit fährt, jedes Mal im Regen, jedes Mal in einem Stau stecken bleibt. Tag für Tag. Anfangs hört er noch Musik, dann Hörbücher, aber irgendwann hat er von dem Einerlei die Nase voll. Schon bevor er morgens ins Auto steigt, ist seine Motivation gleich null. Und sie wird auch nicht besser, wenn er sein Büro erreicht hat. Ihm graut schon vor dem nächsten Morgen.
Ich musste mir eingestehen, dass wohl ich dieser Mensch war. Jedenfalls ging es mir ähnlich, auch wenn meine Arbeitsstrecke etwas anders aussah. Ich hatte bemerkt, wie ich mit mir selbst sprach: «Ach, ich muss ja wieder raus.» Währenddessen lag ich im Bett und hörte draußen den Sturm toben. Seit Wochen dachte ich immer wieder daran, im Haus eine Sonnenbrille aufzusetzen, weil es durch das Whiteout so grell war. Ging man raus, war es für die Augen kaum auszuhalten. Wer als Läufer oder Schwimmer für Olympia trainiert, kann sich in der Halle oder im Schwimmbecken auf mehr oder weniger identische Bedingungen einstellen. Ich war von äußeren Gegebenheiten abhängig, ich konnte keinen Einfluss auf das Wetter nehmen oder mich zum Training in eine Halle verziehen. Außerdem: Sportler, die sich für Olympia fit machen, haben in dunklen Stunden immer einen Menschen an ihrer Seite, einen Trainer oder eine Trainerin, der oder die genau mit den richtigen Worten dafür sorgt, dass das Tal nur vorübergehend ist. Mit dem man diskutieren kann: Ist der Weg richtig, den ich eingeschlagen habe? Ist es stimmig, so wie ich es mache? Oder soll ich vielleicht anders vorgehen?
Seit dreißig Jahren war ich auf mich allein gestellt. (Überhaupt: Welcher Hochleistungssportler konnte dreißig Jahre in der ersten Liga mitmischen?) Und dieser Winter war eine Herausforderung, erst recht, wenn man sich zum Ziel gesetzt hatte, am FL an den Start zu gehen. Es musste aber sein, ich wollte es noch einmal wissen, der Ehrgeiz hatte mich gepackt – na ja, eigentlich hatte er mich nie verlassen. Immer wieder hatte ich mit den Hunden nach Alaska fliegen wollen, aber ohne eine Vielzahl von Sponsoren war nie daran zu denken gewesen. Zu teuer. Doch zum FL konnte ich mit Auto und Anhänger fahren, wie 2014 zum Wolga Quest.
Die letzten Wochen waren hart gewesen, trotz ungebrochenem Willen. Die Spuren, die sie bei mir hinterlassen hatten, waren nicht zu übersehen. Den Hunden gegenüber gab ich unentwegt vor, positiv gestimmt zu sein, aber meine Körpersprache sowie meine Stimme verrieten ihnen etwas anderes. Ich war mir dessen sicher, denn Hunde sind sehr einfühlsame Wesen. Lange Zeit hatte man sich Mühe gegeben, die wesentlichen Unterschiede zwischen dem menschlichen und dem tierischen Verstand zu definieren, so wissen wir inzwischen, dass es keine gibt. Tiere verfügen über ein Bewusstsein, haben Gefühle und Gedanken. Und auch wenn sie nicht immer mit unseren identisch sind, so kann man an ihren Reaktionen erkennen, dass Mensch und Tiere so weit gar nicht voneinander abweichen. Meine Hunde nahmen meine Stimmung auf jeden Fall sofort wahr, so wie ich ihre wahrnahm. Selbst wenn ich sie für eine Weile unter Kontrolle zu halten und verbergen vermochte, ständig konnte ich sie nicht täuschen.
Bestimmt hatten sie gemerkt, dass ich ihre Pausensnacks nicht so fröhlich verteilte wie üblich, sie weniger überschwänglich als sonst lobte. Sie mussten spüren, in welchem Tonfall ich meine Kommandos gab, ob voller Elan oder leicht genervt. Sie sind in der Lage, nicht nur zu unterscheiden, was ich sage oder befehle, sondern ebenso, das von mir Gesagte einzuordnen. So können sie Inhalt und Tonfall eines von mir gegebenen Lobs oder Kommandos verarbeiten. Sie prüfen Inhalte, ob diese mit der jeweiligen Intonation zusammenpassen. Die Mechanismen der Sprachverarbeitung sind, wie man inzwischen auch wissenschaftlich nachgewiesen hat (mich hat das wenig erstaunt), bei Mensch und Tier sehr ähnlich. Und klingen meine Kommandos nicht so happy wie in der Vergangenheit, wissen meine Hunde sofort, was die Stunde geschlagen hat.
«Kannst du noch?» Steven folgte mir im Schneckentempo mit dem Snowmobil, wir hatten gut einen Kilometer geschafft, ein weiterer lag noch vor mir, alles auf Schneeschuhen, eine wahrlich anstrengende Angelegenheit. «Mama, du wirst auch älter, du musst auf dich aufpassen.»
Grrr.
«Alles gut, Steven», antwortete ich.
«Was ist, wenn es gleich wieder zu schneien anfängt? Ich meine, so richtig heftig zu schneien.»
Auf diese Frage hatte ich nur gewartet.
«Dann war alles umsonst gewesen. Wir können es nur wieder versuchen.»
Die Ohren flogen, die Freude war ihnen anzumerken, mit ungestümer Lauflust warfen sie sich nach vorne, stemmten sich gegen den Wind. Die ganze Plackerei am Morgen war nicht umsonst gewesen. Endlich konnte ich meinen Hunden eine Abwechslung bieten, es ging rauf und runter, nicht nur ständig geradeaus. Donna lief mit im Team, meine zehnjährige Dame, sie hatte beschlossen, noch nicht in Rente zu gehen. Obwohl klein und kompakt, demonstrierte sie für alle sichtbar, dass sie zu einem wunderschönen Trab fähig war. Als wir mit dem Training begannen und sie die Wiese vor dem Kennel sah, drehte sie regelrecht auf, um geradeaus in den Zwinger zu kommen – noch bevor ich das Kommando geben konnte, das sie zum Abbiegen nach rechts anhielt: Gee (sprich: dschi). Erstaunt schaute Donna mich an. Wie? Nicht zum Zwinger? Ihre Teamkollegen und -kolleginnen gaben ihr zu verstehen: «Hey, nicht geradeaus, geht nicht, wir müssen nach rechts.» Einen Moment lang sah man ihr an, was sie dachte: Mist, noch eine Runde. Aber dann entschied sie, dass es auch für sie zu früh war, sich in ihrer Hundehütte lang auszustrecken. Eine Teamplayerin gab nicht so ohne weiteres auf.
Besonders im Visier hatte ich Darcy, sie war als Leaderin eingespannt und somit das Vorbild für das gesamte Team, sie sollte die anderen anspornen, bloß nicht aufzugeben und an gemütliches Fressen zu denken. Alles zu seiner Zeit. Sie kannte den Trail in- und auswendig – bis auf die neue Canyon-Etappe. Ich war gespannt, wie sie auf die Route reagieren würde. Darcy gab gern den Ton an. Dann aber auch wieder nicht. Genau das konnte ich nicht vorhersagen, das war jedes Mal ein Abenteuer. Für den Schlittenhundesport keine gute Ausganglage.
An sich war Darcy ja ein ordentlicher Hund, nicht so vogelwild wie ich, die es auch gern mal querfeldein versuchte, jedenfalls in meinen Gedanken, nicht bei einem Rennen. Mit Vorliebe orientierte sie sich an Markern, alles sollte seine Richtigkeit haben. Dann aber – kaum zu glauben – suchte dieser schlanke Hund mit seinen entzückenden Schlappohren nach dem Trail, obwohl sie mitten draufstand. Unfassbar. Wie konnte man von einem Moment auf den anderen so orientierungslos sein? Was fuhr in solchen Augenblicken in sie? Ich hatte keine Ahnung.
Und nun der Canyon. Fast hatten wir ihn passiert. Problemlos. Fast konnte ich aufatmen. Doch nur nicht zu früh, dachte ich. Ich war ziemlich ermattet, unentwegt hatte auch mir der Wind ins Gesicht geblasen, zum Glück waren es bis zum Kennel nur noch fünf Kilometer. Bislang hatte bei dieser Trainingseinheit wirklich alles wie am Schnürchen geklappt, doch plötzlich hob Darcy den Kopf, ihr langer, giraffenartiger Hals präsentierte sich im windschnittigen Team wie ein U-Boot-Rohr mit Flatterohren an der Wasseroberfläche. Eindeutiges Alarmsignal. Nein!
«Darcy, was ist los? Was willst du mir damit sagen? Hast du dich mal wieder in Dorie verwandelt?» Dorie ist in dem Film Findet Nemo eine Paletten-Doktorfisch-Dame, die kurzzeitig ihr Gedächtnis verliert und dann «Huch» und «Hach» ausstößt, wenn ihr etwas Merkwürdiges widerfährt. Und genauso verhielt sich Darcy, wenn sie auf einmal glaubte, nicht zu wissen, wo sie sich gerade befand.
«Huch» und «Hach» gab nun auch Darcy von sich. Huch, wo bin ich denn? Hach, was soll denn dieser Marker hier, der hat doch woanders zu sein, der hat hier nichts zu suchen? Hektisch guckte sie nach links, nach rechts, als wollte sie auch noch den Erdmännchen Konkurrenz machen.
«Fragst du dich, wo der Trail ist? Darcy, du musst dich das nicht fragen, du bist auf ihm. Du brauchst ihn nicht zu suchen, du hast ihn schon gefunden.»
Immer hektischer blickte sie umher, ihre Augen schienen zu fragen: «Was soll das? Früher sind wir immer auf dem Traktortrail gelaufen. Das war eine solide Angelegenheit. Wieso schickst du mich hierher, was soll ich denn in diesem blöden Canyon? Ich will zurück auf die alte Strecke.»
«Ganz ruhig. Ich wollte euch mal was anderes bieten! Eine Abwechslung. Damit ihr wieder Spaß am Laufen habt.»
«Ich will aber keine Abwechslung, ich will den Trail, den ich kenne. Basta. Habe ich meinen Traktortrail, habe ich auch Spaß am Laufen. Kannst du das denn nicht begreifen?»
«Ich verstehe dich gut, Darcy. So wie du jeden Tag Fisch willst, so willst du auch keine Abweichung bei der Route. Morgen darfst du die alte Strecke wieder laufen, aber jetzt könntest du mir den Gefallen tun und weiter auf diesem Trail vorankommen. Ich habe nämlich heute Morgen einige Stunden gebraucht, um ihn zu brechen. Du siehst doch die Markierungen, schön hintereinander aufgereiht, das müsste dir doch gefallen.»
«Die Arbeit hättest du dir sparen können.» Darcy seufzte regelrecht auf, und mit ihren Ohren driftete sie plötzlich ab wie ein Segler. Findet Nemo war nicht mehr angesagt, stattdessen Vom Winde verweht.
«Hey, du läufst falsch, du rennst geradewegs in den Tiefschnee hinein. Bist du noch bei Sinnen? Was soll das? Im Tiefschnee musst du stampfen, da kannst du nicht einfach über den Trail tänzeln. Das ist viel zu anstrengend und auch gefährlich. Was ist nur in dich gefahren?»
Keine Reaktion. Ich war für den Hund nicht mehr existent. Darcy hörte nicht mehr auf mich, jedes Kommando, das sie zur Umkehr Richtung Trail bewegen sollte, drang nicht in ihre Ohren. Und weil sie eine solche Dominanz im Team hatte, rebellierte auch kein anderer Hund, ganz gleich ob weiblich oder männlich. Sie hatte das Ruder übernommen: «Wir gehen hier entlang», und jeder andere folgte ihr gehorsam, ließ sich von ihr beeinflussen, unterdrücken. Was auch immer.
Was war nur mit meiner Superleaderin los? Wieso erkannte sie nicht die Marker, die den Trail absteckten? Wollte sie sie in ihrem Eigensinn nicht wahrnehmen? Wieso fand sie es nicht zu mühsam, durch den weichen Schnee zu stapfen? Und wieso meckerten und meuterten die anderen nicht? Waren die denn alle verrückt geworden? Wie auch immer, Darcys Gebaren war ein untrügliches Zeichen dafür, dass wir neben der Spur liefen. Als Leaderin zeichnete sie das nicht aus. Doch das war ihr schnurzegal, weiter und weiter lief sie in den Tiefschnee hinein, schwamm geradezu in ihm wie Dorie im Korallenriff, mal nach links, mal nach rechts schauend.
Ich hörte auf, Kommandos zu geben. Schon früher hatte ich in ähnlichen Situationen die Erfahrung gemacht: Je mehr Befehle ich gab, desto selbständiger entschied Darcy, wohin die Reise gehen sollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Schlitten zu stoppen und die in Dorie verwandelte Darcy an ihrer Leine zu packen. Ich hatte keine andere Wahl, ich führte sie eigenhändig zurück auf den Trail, sonst wären wir wer weiß wo gelandet. Ich konnte regelrecht fühlen, als ich sie an der Leine zog, dass sie auf einem schlechten Trip war. Klar war mir auch, dass ich sie heute von diesem nicht mehr runterkriegen würde.
Und wie würde es morgen sein? Was war nur in Darcy gefahren? Was in das Team? Weil mir graues Wetter oder Whiteout auf Dauer zu schaffen machten, vermutete ich Ähnliches bei den Hunden. Darcy war so eine Gewissenhafte, aber irgendwie hatte wohl auch sie manchmal die Schnauze gestrichen voll von dieser Ödnis. Jedenfalls war das meine Vermutung. Etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Wenn ich schon so empfand, dann mussten auch meine Hunde so empfinden. Oder war das ein Irrtum, dem ich da aufsaß?
Doch wenn meine Vermutung richtig war, was konnte ich tun? Sollte ich vielleicht die Reißleine ziehen, Varmevoll in dieser restlichen Trainingssaison den Rücken zukehren, die Koffer packen, die Hunde einladen und nach Schweden fahren, wo laut Wetter-App seit Oktober die schönste Wintersonne schien? Immerhin hatten wir schon Anfang Dezember. Freunde hatten mir schon vor einigen Tagen dazu geraten. Hätte ich ein anderes Geschlecht, wäre ich ein Mann, hätte ich wohl ohne zu zögern das Weite gesucht, den Platz an der Sonne. Steven kam gut ein paar Tage allein zurecht, aber ich würde bei einer solchen Entscheidung Wochen, ja Monate unterwegs sein, bis zum Beginn des Rennens im kommenden März. Das war keine Option, ich war Mutter, und Jürgen würde auch bald wieder für längere Zeit aufbrechen, an die polnische Ostsee, der konnte sich dann auch nicht um seinen Sohn kümmern.
Voller Wehmut dachte ich in diesem Moment an mein zweites Yukon-Quest-Abenteuer in Kanada und Alaska. Beim ersten Start hatte ich ja zusammen mit Steven im Schlittensack trainiert, beim zweiten Anlauf hatte ich egoistisch entschieden: «Ich trainiere allein, ich nehme Steven dieses Mal nicht mit.» Und dann geschah auch das, was mir bei meinem ersten Versuch nicht gelungen war: Ich konnte das Rennen finishen, zu Ende bringen, lief mit meinem Team durch die Ziellinie. Auch wenn ich keinen der vordersten Plätze belegt hatte, ich hatte es geschafft. Vorderste Plätze nahmen damals sowieso nur Männer ein, die sich ganz auf ihr Training konzentrieren konnten, die nicht zwischendurch Wäsche waschen oder kochen oder Brot backen mussten, wenn man nach einem Sechzehnstundentag nach Hause kam. Oder jene wenigen Frauen, denen alles von ihren Partnern abgenommen wurde. Mir stellte niemand ein Essen hin, wenn das Training vorbei war, eher stellte ich mich dann noch für meine beiden Männer an den Herd. Mir fehlte die Zeit, die andere Musher hatten, um sich mehr auf sich und das Training zu konzentrieren, sich mental detailliert vorzubereiten. So banal das vielleicht auch klang, aber es war nicht zu ignorieren, dass ich noch eine zweite Arbeit besaß, die sich Haushalt nannte.
Wir waren endlich im Kennel angekommen. Darcy hatte sich zwar schließlich dazu bequemt, die restlichen fünf Kilometer auf dem Trail zu bleiben, aber ihre Laune war im Keller. Sie zog jedoch sofort ab, als ich sie von der Tugleine löste und dann auch von ihrer Neckleine, mit der sie samt Halsband mit ihrem Nachbarhund verbunden war. Kein Lecken der Hand wie bei den anderen Hunden, nicht einmal eine kurze Berührung. Bloß weg von der Chefin.
«Du bist aber spät», begrüßte mich Steven. «Habt ihr Probleme gehabt? Seid ihr doch irgendwie auf der neuen Strecke in Tiefschnee geraten?»
Ich warf ihm einen missbilligenden Blick zu. Mein Sohn konnte wohl Gedanken lesen, zumindest kannte er sehr gut meine Zeiten.
«Kleiner Zwischenfall», knurrte ich.
«Dann bin ich ja beruhigt. Aber Mama, wann gibt es denn was zu essen? Und was überhaupt?»
«Ich mache das Beste daraus, auch wenn es nicht immer das Beste ist.» Ich saß bei Anne in der Küche und versuchte ihr meine Situation zu schildern.
«Was redest du denn da für gequirltes Zeug?» Mit schweren Schritten ging meine korpulente Nachbarin zum Kühlschrank, um Milch für unseren Kaffee zu holen. «Silvia, du redest doch sonst immer Klartext. Sag, was ist los mit dir?»
«Wenn ich das so genau erklären könnte, dann hätte ich es getan.» Ich betrachtete Annes rundes Gesicht, nachdem sie sich schnaufend wieder gesetzt hatte, das kurze braune Haar, das glatt auf ihrem Kopf lag, als könnte ich darin eine Antwort finden.
«Spinnt Jürgen herum?»
Irritiert blickte ich sie an. «Wie kommst du denn darauf?»
«Na, dein Mann ist zehn Jahre jünger, wer weiß, was ihn so umtreibt.» Anne trank einen Schluck von ihrem Kaffee. «Puh, der ist noch heiß, warte noch ein bisschen, wenn du dir nicht den Mund verbrennen willst.»
«Ich kann dir genau sagen, was ihn umtreibt: seine Arbeit. Er ist ein Workaholic.»
«Na, dann wäre das ja schon mal abgehakt. Nicht dass ich mich mit Männern wirklich auskenne, aber sie können Probleme bereiten, ganz unerfahren bin ich nicht darin, auch wenn ich noch immer alleine in dieser Wildnis lebe. Oder gerade deshalb. Aber das will ich nicht weiter ausführen. Also, dann kann es nur was mit deinen Hunden zu tun haben.»
Ich pustete über den Kaffee. «Da kommen wir der Sache näher», gestand ich. «Eigentlich kann ich mich ja selbst gut motivieren, jahrzehntelang habe ich mich selbst motiviert, aber manchmal fehlt mir jemand, der mir sagt: ‹Los, raus, Silvia, das wird draußen ein toller Tag!› Ich will ja nicht jammern, aber in diesem Winter fällt mir alles schwerer als sonst. Die Hunde und ich, wir trainieren hart, so intensiv habe ich mich selten auf ein Rennen vorbereitet, und trotzdem denke ich, irgendwie fehlt etwas. Doch ich weiß nicht, was es ist.»
«Denkst du daran, aufzuhören? Vielleicht nicht bewusst, aber womöglich unbewusst?»
«Wo denkst du denn hin? Irgendwann einmal, sicher, aber doch nicht jetzt. Der Amerikaner Mitch Seaevy hat noch mit siebenundfünfzig das Iditarod-Rennen gewonnen, der älteste Gewinner in der Geschichte dieses legendären Wettbewerbs. Und da geht es sogar 1850 Kilometer durchs Eis von Alaska. Das ist noch viel härter als das FL.»
«Okay, aber du gehst auch schon auf die sechzig zu, vergiss das nicht.»
«Halt mal, ich werde erst achtundfünfzig. Du musst nicht gleich übertreiben. Außerdem hat es nichts mit dem Alter zu tun. Ich fühle mich fit, bin körperlich super drauf. Ich kann es mit jeder Fünfzigjährigen aufnehmen.»
«Aber du kannst das nicht ewig weitermachen.»
«Da magst du recht haben. Aber den Zeitpunkt, wann ich aufhöre, bestimme ich selbst, da gucke ich nicht auf ein Datum. Das wäre ja so, als würde man mich in Rente schicken wollen, obwohl ich noch gar keine Lust dazu habe. Ich möchte noch eine Weile Rennen fahren, ich habe noch die Energie dafür, den Ehrgeiz, den Willen.»
«Gut, dann wäre das ebenfalls geklärt. Mir fällt jetzt nur noch eine Sache ein, die dich vielleicht umtreibt: Glaubst du, dass deine Familie dich nicht richtig unterstützt? Dass sie dir nicht genügend Rückendeckung gibt?»
Fast hätte ich mich am Kaffee verschluckt. «Wieso fragst du das?»
Anne zuckte mit ihren kräftigen Schultern, das konnte einen Mann schon einschüchtern, so lässig, wie sie das tat. «Aus keinem besonderen Grund. Nur so eine Vermutung. Du hast in letzter Zeit öfter von Profisportlern gesprochen, die von ihren Familien viel Kraft erfahren, die es toll finden und wertschätzen, was man den ganzen Tag lang macht.»
Ich legte den Kopf in den Nacken, betrachtete Annes Holzdecke in der Küche, einst hatte ihr Vater sie angebracht, der aber nicht mehr lebte und ihr den Hof vermacht hatte. «Ja, ich wünsche mir, dass meine Familie mehr anerkennt, was ich tue. Sie nachvollziehen kann, dass ich mit großer Leidenschaft Schlittenhunderennen fahre. Nicht mal nur so nebenbei. Ich vermute, dass ich mit der richtigen Unterstützung viel mehr in diesem Sport erreichen könnte. Ich womöglich längst viel mehr erreicht hätte.» Bei diesen Worten blickte ich meine Nachbarin an. Das war mir nicht leicht über die Lippen gekommen, aber es war die Wahrheit.
«Wow, das muss man erst mal verkraften», sagte Anne und aß einen von meinen mitgebrachten Keksen. Ich hatte so wenig Zucker wie möglich verwendet, um die Kalorien zu reduzieren.
«Aber verstehe mich nicht falsch, ich will es auch nicht dramatisieren. Es ist mehr eine Feststellung.»
«Eine Bilanz ist eine Bilanz.» Anne nahm sich noch einen Keks, zählte sicherlich innerlich mit, wie viel sie schon gegessen hatte. «Und mit dieser im Kopf willst du zum Finnmarksløpet?»
«Nicht gleich. Zuerst, zur Einstimmung, will ich noch am Amundsen-Rennen in Schweden teilnehmen, von dort geht es dann weiter zum FL. Ersteres beginnt am 22. Februar, Letzteres am 9. März. Unbedingt will ich da mitmachen. Für mich ist das eine ganz wichtige Sache. Auch aus diesem Grund will ich mein Bestes geben.»
«Du wirst es wissen, ich werde dir das bestimmt nicht ausreden. Und dein Mann, was sagt er dazu?»
Jürgen will dann wieder in Norwegen sein und mich als Doghandler begleiten.» Ein Doghandler unterstützt den Musher vor und besonders während eines Rennens, er darf ihm aber nicht zur Hand gehen, sondern höchstens verbale Ratschläge erteilen. Ansonsten hat er darauf achtzugeben, dass die Futterrationen auch wirklich die jeweiligen Checkpoints erreichen.
Anne fing laut an zu lachen. «Erst bemängelst du, dass deine Familie dich nicht konsequent genug unterstützt – und nun höre ich, dass dein Mann sich um alles Organisatorische während des Finnmarksløpet kümmern will. Findest du nicht, dass das irgendwie ein Widerspruch ist?»
Ich stimmte in ihr Lachen ein. «Du hast recht. Zumal: Jürgen hat das noch nie gemacht, und ich weiß nicht, ob er sich so zurücknehmen kann, dass er sich nur um die Extra-Depotsäcke für die Hunde kümmert oder darum, wo ich nach einem Lauf meine Wäsche ungestört trocknen kann. Ich habe da so meine Zweifel.»
«Schwarzmalen kannst du später noch, jetzt freu dich, dass du so aufregende Wochen vor dir hast.»
«Einverstanden. Doch da fällt mir ein, weshalb ich überhaupt hier bei dir sitze.»
«Vielleicht, weil du dich einfach mal nur mit einer guten Freundin unterhalten willst? Oder hast du einen Termin gefunden, wann wir endlich wieder zusammen Brot backen können?»
Ich grinste. «Weder das eine noch das andere.»
«Was dann?» Anne legte ihren angebissenen Keks auf einen Teller.
«Könntest du nicht etwas vergessen haben? Ich denke da zum Beispiel an die Marker auf dem Trail zu dir. Du wolltest sie doch bis zum Wochenende gesetzt haben. Ist dir da mal wieder was dazwischengeraten?»
Meine Nachbarin schlug sich die Hand auf den Mund, eine Schauspielerin war nicht an ihr verlorengegangen. «Stimmt. Das habe ich ganz verdrängt. Oder – nicht völlig. Heute Morgen habe ich ein paar gesetzt. Zwanzig Marker will ich täglich schaffen.»
«So viele habe ich aber nicht auf der Herfahrt gesehen. Das waren keine zwanzig Stück.» Sie wollte Klartext, sie bekam Klartext.
«Es ist plötzlich so kalt geworden. Minus 20 Grad.» Anne warf einen verschwörerischen Blick zum Fenster.
«Bei uns am See ist es noch um fünf Grad kälter. Ich bin froh, wenn es so bleibt, dann kann ich bald mit den Hunden übers Eis laufen. Aber bis dahin bleibt uns das Training auf dem Traktortrail nicht erspart. Mit Markern auf deiner Seite.»
«Du musst verstehen, das ganze Bücken und so, davon tun mir die Füße und Knie weh. Deshalb habe ich nach einer Weile aufhören müssen.»
«Ach, Anne.» Mit diesen Worten erhob ich mich und fuhr auf meinem Snowmobil heim. Unterwegs dachte ich: Bei dem Tempo würde sie noch in drei Wochen mit der Markierung des Trails nicht fertig sein. Und ich schon längst auf dem Eis.