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Segelschiff, das am 7. Nov. 1872 von New York nach Genua auslief und am 4. Dez. von einem anderen Schiff völlig intakt, aber ohne Rettungsboot verlassen im Atlantik aufgefunden wurde. Von der elfköpfigen Besatzung fand sich nie eine Spur.
Flammenbrut ist mein dritter Roman. Damals wollte ich unbedingt einen psychologischen Thriller schreiben, der im Ton weniger literarisch ist als meine ersten Bücher, Voyeur und Tiere. Der Zufall half mir dabei. Eines Tages stieß ich in einer Zeitung auf eine kurze Meldung: Eine Leihmutter weigerte sich, ihr Baby dem Ehepaar zu übergeben, das sie für die Schwangerschaft bezahlt hatte. Ich begann darüber nachzudenken, wie es wohl wäre, wenn eine Frau sich einen Spender für ihr Kind sucht. Mir schien, als wäre eine Situation wie diese dafür prädestiniert, zu eskalieren – besonders dann, wenn der Mann nicht der ist, der er zu sein vorgibt.
Flammenbrut war der erste meiner Romane, der eine ausgiebige Recherche nach sich zog; nicht nur, was die Gesetzgebung hinsichtlich künstlicher Befruchtung und Spender-Vermittlung betrifft, sondern auch die der Brandstiftung und Pyromanie. Außerdem steht hier – zum ersten Mal in meiner Schriftstellerkarriere – eine Frau im Zentrum des Romans.
Mein Ziel war es, einen gut konstruierten und spannenden Thriller zu schreiben, der zeigt, wie sich ein normales Leben in einen Albtraum verwandeln kann. Und einen Roman, der Männer und Frauen gleichermaßen anspricht.
Das Buch erschien 1997 in Großbritannien und wurde später verfilmt. Ich habe die Gelegenheit genutzt, einige Änderungen vorzunehmen, mich aber gegen eine Aktualisierung entschieden. Flammenbrut ist weder ein Dr.-Hunter-Thriller noch ein Kriminalroman. Aber fest steht: Ohne diesen Roman hätte es Dr. Hunter nie gegeben.
Viel Spaß bei der Lektüre!
Simon Beckett/Mai 2009
Manche Augenblicke brennen sich uns unauslöschlich ein.
Im Flur ist es dunkel. Durch ein Fenster am anderen Ende fällt Licht, genug, um sich zu orientieren. Ihr Atem geht schwer. Von der Treppe hallen die polternden Schritte des Verfolgers. Der Flur endet an einer letzten Tür. Es gibt keinen Ausweg mehr, sie muss sich verstecken.
In dem Raum ist es noch dunkler als im Flur. Es ist wie ein Gang durch Tinte. Blind tastet sie sich durch die halbvertraute Einrichtung aus Betten und Bücherregalen. Dann kommt die Wand. Sie presst sich dagegen, versucht den Atem anzuhalten, der ihr in der Kehle brennt. Ihr Herz hämmert. Das Blut aus der Wunde ist klebrig, und als sie die Stelle berührt, durchzuckt sie ein gleißender Schmerz, der das Dunkel erhellt.
Jetzt hört sie die Schritte wieder, sie kommen näher. Überall im Flur werden Türen geöffnet, immer eine nach der anderen, bis nur noch ihre übrig ist. Der süßliche Geruch nach Benzin ist intensiv und wie eine Drohung. Sie presst die Arme vor den Bauch, spürt den kleinen Puls des neuen Lebens darin, in sich zusammengerollt und verletzlich. Die Schritte setzen aus. Das wispernde Geräusch der sich öffnenden Tür. Ihr Name.
«Kate.»
Das Licht wird eingeschaltet.
Manche Augenblicke brennen sich uns unauslöschlich ein.
Das Lagerhaus hatte die ganze Nacht gebrannt. Rauch stieg gen Himmel, eine dunklere Wolke in einem verhangenen Morgenhimmel. Der Feuergeruch machte die Luft zum Schneiden dick, verlieh dem Frühlingstag einen verfrühten Hauch von Herbst.
Die Rushhour-Gesichter draußen vor King’s Cross waren der dunklen Säule zugewandt, als Kate die Treppe der U-Bahn-Station heraufkam. Zuerst sah sie den Rauch über den Dächern vor sich, dann versperrte ihr die dichte Bebauung den Blick darauf.
Kate beachtete ihn kaum. Ein Schmerzgefühl, wie von einer Verspannung, kroch ihren Nacken hinauf. Sie hatte gerade ein Aspirin genommen und verzog bei dem bitteren Geschmack das Gesicht, als sie um eine Ecke bog und das Feuer direkt vor sich hatte.
Sie hielt inne, verblüfft, dem Brand so nah zu sein, ging aber weiter, sobald ihr klar wurde, dass die Straße nicht abgesperrt war. Als sie sich weiter näherte, wurde das Tosen und Prasseln der Flammen lauter. Das etwas abseits von der Straße gelegene Lagerhaus war umringt von einem Gewimmel aus Uniformen und gelben Helmen, weißen Autos und roten Feuerwehrwagen. Wasserschläuche schlängelten sich über den Boden, schleuderten Wasserfontänen in den Rauch. Die Flammen züngelten vielfarbig in alle Richtungen, kümmerten sich nicht um das schnell verdampfende Wasser.
Ein heißer Windhauch strich über ihr Gesicht und überzog es mit Asche. Kate wandte sich mit brennenden Augen ab und stellte mit einiger Überraschung fest, dass sie tatsächlich stehengeblieben war. Sie ärgerte sich darüber, und statt weiter zu gaffen, machte sie einen großen Bogen um die kleine Menschenmenge, die sich hinter dem Polizeikordon angesammelt hatte.
Das Lagerhaus lag jetzt hinter ihr. Als sie mehrere Straßen davon entfernt zu den georgianischen Reihenhäusern kam, hatte Kate es bereits vergessen. Die meisten Reihenhäuser hier waren ziemlich heruntergekommen, nur eines von ihnen stach mit seinem frischen Anstrich hervor wie eine erhobene Hand in einem Klassenzimmer. Auf einem Fenster im unteren Stock standen in Goldlettern die Worte: «Powell PR & Marketing».
In dem kleinen Büro drängten sich drei Schreibtische; sie waren so aufgestellt, dass man von jedem aus die anderen sehen konnte. An einem dieser Schreibtische stand ein hochgewachsener Westinder mit glattrasiertem Kopf und goss Wasser in einen Kaffeefilter. Er begrüßte sie mit einem Grinsen.
«Morgen, Kate.»
«Hallo, Clive.»
Die Kaffeemaschine zischte und gurgelte. Der Mann kippte den Rest Wasser in den Filter und setzte die Kanne ab. «Tja. Der große Tag.»
Er sprach mit ganz leichtem Tyneside-Akzent. Kate trat vor einen der großen Aktenschränke und zog eine Schublade auf. «Erinnere mich bloß nicht daran.»
«Nervös?»
«Sagen wir, ich bin froh, wenn ich endlich Gewissheit habe, so oder so.»
Die Kaffeemaschine gab nur noch ein leises Zischen von sich. Clive schenkte zwei Tassen ein und reichte eine davon Kate. Er hatte fast von Anfang an für sie gearbeitet, seit sie vor beinahe drei Jahren die Agentur eröffnet hatte, und wenn sie sich jemals einen Partner nahm, würde er es sein.
«Bist du unterwegs an dem Feuer vorbeigekommen?» «Mhm.» Kate ging die Aktenordner im Schrank durch.
«Hat anscheinend die halbe Nacht gebrannt. Schlimme Sache, das mit dem Kind, was?»
Sie sah ihn an. «Was für ein Kind?»
«Das Baby. Da haben doch ein paar Hausbesetzer gewohnt. Sie sind alle rausgekommen, nur das Baby nicht. In den Nachrichten hieß es, die Mutter habe sich schwere Brandverletzungen zugezogen, als sie es noch retten wollte. Zwei Monate alt.»
Kate setzte ihre Kaffeetasse ab. Sie bemerkte, dass ihr noch immer der Rauchgestank anhaftete, und blickte an sich herab; winzige Flöckchen grauer Asche bedeckten ihre Kleider. Sie erinnerte sich an die federleichte Berührung der Asche auf ihrem Gesicht, das Kitzeln in ihrer Kehle, als sie sie eingeatmet hatte. Noch einmal spürte sie das Brennen in ihrem Hals.
Sie schloss den Aktenschrank, ohne etwas herauszunehmen. «Ich bin dann oben.»
Ihr Büro lag im ersten Stock. Kate schloss die Tür und klopfte sich die grauen Pünktchen von ihrem marineblauen Kostüm. Sie wusste, dass sie sich in dem Kostüm erst wieder wohl fühlen würde, wenn es gereinigt war. Sie hängte ihre Jacke hinter die Tür und trat an das einzige Fenster des Raumes. Als sie hinausblickte, konnte sie ihr Spiegelbild als Schemen auf der Fensterscheibe sehen. Dahinter breitete sich der Rauch am Himmel aus und ließ den Umriss ihres dunklen Haares verschwimmen. Nur ihr Gesicht war zu erkennen: ein bleiches Oval, das im leeren Raum hing.
Sie wandte sich ab und ging an ihren Schreibtisch. Von unten hörte sie Stimmen, als die anderen kamen. Das vordere Büro war zu klein für Clive und die beiden Mädchen, aber der einzige weitere Raum im Haus musste erst renoviert werden und eine neue Decke bekommen, bevor irgendjemand darin arbeiten konnte. Es würde nicht billig werden. Kate seufzte und griff nach einer Aktenmappe. Als sie sie öffnete, klopfte es an ihrer Tür.
«Herein.»
Ein Mädchen trat mit einem zellophanverpackten Strauß roter Rosen ein. Ihr rundliches Gesicht verriet unverhohlene Neugier, als sie Kate die Rosen überreichte. «Die sind gerade geliefert worden.»
Zwischen den Stängeln klemmte ein kleiner Umschlag. Kate öffnete ihn und nahm die schlichte weiße Karte heraus. Darauf stand mit einer schwungvollen, nach vorn geneigten Handschrift eine kurze Nachricht. Sie las sie und schob die Karte wieder in den Umschlag. Dann gab sie dem Mädchen die Rosen zurück. «Vielen Dank, Caroline. Bring sie raus und gib sie der ersten alten Dame, die dir über den Weg läuft.»
Die Augen des Mädchens weiteten sich. «Was soll ich denn sagen?»
«Irgendwas. Sag einfach, sie wären von uns, mit den besten Empfehlungen.» Kate brachte ein mühsames Lächeln zustande. «Und je näher sie den neunzig ist, umso besser.»
Sobald die Tür geschlossen wurde, hörte sie auf zu lächeln. Sie nahm die Karte aus dem Umschlag und las sie noch einmal. «Mein Beileid im Voraus. Gruß Paul.»
Sorgfältig riss Kate die Karte in zwei Hälften, die sie dann noch einmal zerriss, bevor sie die Fetzen in den Papierkorb warf. Erst da bemerkte sie, dass ihr ganzer Körper sich verkrampft hatte, und zwang sich, sich zu entspannen.
Sie wandte sich wieder der Mappe zu, aber das plötzliche Schrillen ihres Telefons ließ sie innehalten. Sie griff nach dem Hörer.
«Ja?»
Es war Clive. «Paul Sutherland von CNB Marketing ist am Apparat.» Sein Tonfall war neutral. «Soll ich ihm sagen, dass du zu tun hast?»
Kate zögerte. «Nein, das geht in Ordnung. Ich nehme den Anruf an.»
Dann folgte ein mehrmaliges Klicken. Kate schloss für einen Moment die Augen. Eine Sekunde später hörte sie die vertraute Stimme.
«Hallo, Kate. Ich dachte, ich klingele mal durch und frage, ob du die Blumen bekommen hast.»
«Ja. Ein bisschen verfrüht, würde ich sagen.» Sie war froh, dass ihre Stimme ruhig klang.
«Ach, komm schon. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du immer noch eine Chance hast, oder?»
«Warten wir doch einfach ab, was passiert, ja?»
Sie hörte ihn seufzen. «Kate, Kate, Kate. Du weißt doch, was passieren wird. Du hast dich wacker gehalten, dass du überhaupt so weit gekommen bist, aber mach dir doch nichts vor.»
«Ist das alles, was du zu sagen hast? Wenn ja, habe ich noch zu arbeiten.»
Am anderen Ende der Leitung ertönte ein Kichern. «Ach, sei doch nicht so. Ich geb dir bloß einen freundschaftlichen Rat, das ist alles. Um der alten Zeiten willen.»
Kate biss die Zähne zusammen.
«Kate? Bist du noch dran?»
«Du hast dich nicht geändert, Paul. Du warst schon immer ein Arschloch.» Sie bedauerte ihre Worte sofort. Wieder klang das belustigte Lachen durch die Leitung, diesmal mit unverkennbarer Selbstzufriedenheit.
«Und fandest du es nicht einfach herrlich? Aber ich sehe, ich verschwende nur meine Zeit, wenn ich versuche, dich zur Vernunft zu bringen. Die arme kleine Kate muss die Dinge auf ihre Art und Weise tun, auch wenn das heißt, dass sie sich die Finger verbrennt. Versuch wenigstens, nicht allzu enttäuscht zu sein.»
Dann war die Leitung tot. Kates Knöchel waren weiß, als sie den Hörer auf die Gabel knallte.
Mistkerl.
Kate wühlte in ihrer Tasche und förderte ein Einwegfeuerzeug und ein zerknittertes Zigarettenpäckchen zutage. Ihre Hand zitterte, als sie sich eine Zigarette zwischen die Lippen schob. Sie machte das Feuerzeug an und hielt die Flamme dicht an die Zigarette, ohne sie zu entzünden. Der Geschmack schal gewordenen Tabaks lag kalt auf ihrer Zunge, als sie einatmete. Die Flamme erzitterte, kam aber nicht mit der Zigarettenspitze in Berührung.
Kate hielt sie in dieser Position und zählte bis zehn, dann noch einmal bis zehn. Beim zweiten Mal fiel es ihr leichter. Sie verzog das Gesicht, ließ dann die Flamme verlöschen und die unversehrte Zigarette in den Papierkorb fallen. Die Packung und das Feuerzeug wanderten zurück in ihre Tasche. Sie schob sich ein zuckerfreies Pfefferminzbonbon in den Mund, um den Geschmack zu vertreiben.
Das Zittern hatte sich gelegt, aber die Kopfschmerzen waren wieder da, tasteten buchstäblich ihren Schädel ab. Kate wünschte, sie hätte sich ihr Haar am Morgen nicht so straff zurückgebunden. Sanft knetete sie ihre Schläfen. Ist es das wert?
Als vor sechs Wochen das Angebot auf ihrem Schreibtisch gelandet war, ein Marketingkonzept für den Parker Trust vorzuschlagen, hatte sie sich ohne große Erwartungen darauf eingelassen. Der Trust war Spezialist für unauffällige Investitionen im Auftrag wohlhabender Klienten und verwandte gerade so viele Mittel auf «Förderungswürdige Zwecke» (in der Selbstdarstellung des Trusts waren beide Worte großgeschrieben), wie nötig war, um noch als wohltätige Einrichtung anerkannt zu werden. Kate hatte es überrascht, dass ihre Firma dem Trust überhaupt bekannt war, ganz zu schweigen davon, dass man Powell PR dort für eine langfristige, teure Kampagne in Betracht zu ziehen schien.
Dann war sie erstaunlicherweise in die engere Wahl gekommen. Sie hatte sich noch nicht ganz von diesem Schock erholt, als sie herausfand, welche Firma außerdem im Rennen blieb und gegen wen sie also antreten musste.
Von da an war die Herausforderung zu so gewaltiger Größe angewachsen, dass sie ihren ganzen Horizont ausfüllte. Clive witzelte, sie solle sich doch gleich ein Bett ins Büro stellen lassen, damit sie überhaupt nicht mehr nach Hause gehen müsse. Du bist doch nur glücklich, wenn du arbeitest, hatte er gesagt. Sie hatte gelächelt, aber hinter dem Lächeln war eine dunkle Woge der Panik aufgebrandet. Glücklich? An diesem Abend hatte sie sich im Fitnessstudio gequält, bis ihre Muskeln schrien, hatte versucht, ihre Rastlosigkeit zu verbrennen wie Kalorien.
Jetzt komprimierte sich die Wartezeit wie eine Ziehharmonika auf die allerletzten Stunden. Redwood, der Vorsitzende des Kuratoriums, hatte ihr gesagt, er werde ihr die Entscheidung des Trusts vor Mittag mitteilen. Ein Sieg würde finanzielle Sicherheit bedeuten, vielleicht sogar ein größeres Bürogebäude. Er würde den Ruf der Agentur untermauern und ihr den Weg zu größeren und besseren Aufträgen ebnen.
Kate gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, was eine Niederlage bedeuten würde.
Sie bemerkte, dass sie ziellos auf ihrem Kugelschreiber herumklickte. Sie hielt inne, legte den Kuli weg und griff entschlossen nach der Mappe, die sie einige Minuten zuvor geöffnet hatte. Sie begann, darin zu lesen und sich Notizen zu machen, zuerst stockend, dann flüssiger. Aber alle paar Minuten verirrte sich ihr Blick zur Uhr an der Wand.
Der Morgen verstrich langsam. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, versteifte sie sich, weil sie glaubte, es sei der Trust. Aber Fehlanzeige. Um fünf vor zwölf versuchte Kate nicht einmal mehr, so zu tun, als arbeite sie. Sie saß in der Stille ihres Büros, blickte zur Uhr und wartete auf den entscheidenden Anruf. Der zweite Zeiger kroch über das Zifferblatt und brachte die entscheidende Mittagsstunde immer näher. Kate sah zu, wie er mit den beiden anderen Zeigern zur Deckung kam. Alle drei Zeiger bildeten einen Augenblick lang einen einzigen, aufgerichteten Finger; dann tickte der zweite Zeiger gleichgültig weiter.
Kate spürte, wie die Angst langsam von ihr abfiel und einer schweren Enttäuschung Platz machte. Der Parker Trust war für seine beinahe zwanghafte Pünktlichkeit bekannt. Wenn sie den Wettbewerb für sich entschieden hätte, wäre sie mittlerweile benachrichtigt worden. Reglos saß sie am Schreibtisch, während ihr langsam zur Gewissheit wurde, dass sie gescheitert war. Es war nicht mehr nur eine von zwei Möglichkeiten, sondern eine Realität, der man sich stellen musste. Unvermittelt schüttelte sie sich. Du hast den Auftrag also nicht bekommen. Es war nur eine Ausschreibung. Es wird weitere geben.
Sie setzte sich aufrecht hin und schlug mit verbissener Miene wieder die Mappe auf, an der sie gearbeitet hatte.
Das Telefon klingelte.
Kate zuckte zusammen. Es klingelte noch einmal. Sie nahm den Hörer ab. «Ja?»
Caroline meldete sich. «Da ist ein Anruf von Mr. Redwood vom Parker Trust.»
Obwohl sie wusste, was er sagen würde, spürte Kate das Hämmern ihres Herzens. Sie räusperte sich. «Stell ihn durch.»
Während die Verbindung hergestellt wurde, schien es in der Leitung häufiger zu klicken als gewöhnlich. Ein schwaches Summen drang an Kates Ohr. «Miss Powell?»
«Guten Nachmittag, Mr. Redwood.» Sie nahm sich heraus, die Tageszeit extra zu betonen, immerhin hatte Redwood sein Versprechen, sie vor Mittag anzurufen, nicht eingehalten.
«Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass der Anruf so spät kommt. Mir ist klar, dass Sie erwartet haben, früher von uns zu hören.»
Die Stimme vermittelte ein korrektes Bild von dem Mann. Ein Schotte. Dünn, trocken und humorlos. Clive hatte ihn einen Pedanten genannt, und Kate war nichts zu seiner Verteidigung eingefallen.
«Ja», sagte sie nur.
«Das tut mir leid.» Es klang nicht sehr überzeugend. «Es ist unsere Geschäftspolitik, den erfolglosen Bewerber zuerst zu informieren», fuhr er fort, «sozusagen, um ihn von seinem Elend zu erlösen, und es hat ein wenig länger gedauert, als wir erwartet hatten.»
Es dauerte einen Augenblick, bis Kate klar wurde, was das zu bedeuten hatte. Mit einem Mal war sie vollkommen verwirrt. «Verzeihung … Sie haben also mit CNB-Marketing gesprochen?»
Sie vernahm Redwoods gereizten Seufzer am anderen Ende. «Vielleicht sollte ich nochmal von neuem beginnen. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihre Bewerbung erfolgreich war. Das Kuratorium hat beschlossen, Ihrer Agentur die Betreuung unserer Werbekampagne anzubieten.»
Kate hatte für einen Augenblick das Gefühl, zu schweben, körperlos zu sein. Draußen näherte sich der Klang einer Sirene und entfernte sich wieder.
«Miss Powell? Ist irgendetwas nicht in Ordnung?»
«Nein! Nein, ich …» Sie riss sich zusammen. «Ich freue mich. Vielen Dank.»
«Ich möchte mich noch einmal für die Verzögerung entschuldigen.» Seine Stimme nahm einen missbilligenden Tonfall an. «Ich fürchte, CNB hat unsere Entscheidung leider nur widerstrebend akzeptiert. Die Person, mit der wir es zu tun hatten, erwies sich als ziemlich … hartnäckig.» Er unterbrach sich. «Nun ja. Meinen Glückwunsch, Miss Powell. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihrer Agentur.»
Kate erwiderte irgendetwas – was, das wusste sie selbst nicht so genau. Sie kamen überein, sich einige Tage später zu treffen. Er legte auf. Sie lauschte eine Weile dem Wählton, bevor sie den Hörer wieder auf die Gabel legte. Von unten konnte sie das Summen eines Fotokopierers hören; irgendjemand brach in helles Gelächter aus. Sie starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. Einen Moment lang dachte sie, der dunkle Fleck draußen sei eine Regenwolke. Dann fiel es ihr wieder ein.
Nach einer Weile stand sie auf, um es den anderen zu erzählen.
Der Bus hielt draußen vor den Läden, in der Nähe ihrer Wohnung in Fulham. Als sie ausstieg, kam ihr ein wenig verspätet zu Bewusstsein, dass sie es sich jetzt wahrscheinlich leisten konnte, von der U-Bahn-Station aus ein Taxi zu nehmen. Nun ja, die Macht der Gewohnheit. Sie ging in den asiatischen Supermarkt und kaufte sich eine Tüte Milch und ein Päckchen Reis. Nach einem Augenblick der Unentschlossenheit legte sie noch eine Flasche weißen Rioja in den Einkaufskorb.
Auf dem Weg zu ihrer Wohnung – eine Viertelmeile vom Supermarkt entfernt – lag eine deutliche Kälte in der Luft. Bisher hatte der Frühling nur dem Kalender nach angefangen. Ein leichter Nieselregen setzte ein, und Kate beschleunigte ihre Schritte, hoffte, nach Hause zu kommen, bevor der Regen so heftig war, dass man einen Regenschirm brauchte. Beinahe wäre sie auf den Kinderhandschuh getreten, der am Rand einer Pfütze lag. Er war ein leuchtend roter Fleck auf dem schmutzig braunen Pflaster und konnte noch nicht lange dort gelegen haben, denn er sah immer noch neu und sauber aus.
Kate hob ihn auf und suchte die Straße nach dem Kinderwagen oder Buggy ab, aus dem er herausgefallen sein musste. Es war keiner zu sehen, daher hielt sie nach einer Mauer oder einem Fenstervorsprung Ausschau, um den Handschuh daraufzulegen. Aber es gab nichts dergleichen; sie konnte ihn lediglich wieder auf das schmierige Pflaster legen. Da es ihr widerstrebte, den Handschuh einfach fallen zu lassen, betrachtete sie das verlorene kleine Ding in ihrer Hand. Der Handschuh war nicht größer als ihr Handteller, und plötzlich musste sie wieder an das Feuer im Lagerhaus denken. Mit einem Mal war ihre Kehle wie zugeschnürt, und bevor sie selbst begriff, was sie tat, hatte sie den Handschuh bereits in ihre Jackentasche gesteckt und war weitergegangen.
Als sie zu ihrer Wohnung kam, hatte der Nieselregen aufgehört. Das schmiedeeiserne Tor vor dem viktorianischen Reihenhaus stand offen wie immer – die ausgeleierten Angeln fixierten es in dieser Stellung. Der winzige Garten, nicht größer als ein großer Läufer, war von einem früheren Bewohner gepflastert worden, aber in der Mitte hatte man für ein dorniges Gewirr von Rosenbüschen Platz gelassen. Sie mussten dringend beschnitten werden, bemerkte Kate gedankenverloren. Sie trat auf die kleine offene Terrasse und schloss die Haustür auf.
Auf den Kacheln im engen Flur lagen einige Briefumschläge verstreut. Sie bückte sich und hob sie auf, dann suchte sie die an sie adressierten heraus. Es waren nur zwei, eine Rechnung und ein Kontoauszug. Der Rest war Reklame oder Post an ehemalige Mieter. Es handelte sich eigentlich um ein Zweifamilienhaus, aber die andere Hälfte stand leer, seit die alte Dame, die dort gelebt hatte, im vergangenen Jahr gestorben war. Meist genoss es Kate, das Haus für sich zu haben, aber an manchen Tagen hatte das unbewohnte Apartment etwas Trauriges und Einsames.
Sie lächelte, als sich eine grau getigerte Gestalt lautstark durch die Katzenklappe in der Haustür zwängte.
«Hallo, Dougal», begrüßte sie ihren Kater und hob ihn auf, um ihn zu streicheln. Dougal miaute ungeduldig, während Kate ihre Wohnung aufsperrte. Auch deren Tür hatte eigentlich eine Katzenklappe, aber Dougal sah keinen Sinn darin, sie zu benutzen, wenn Kate da war, um ihn einzulassen. Sie schloss die Tür hinter sich, bevor sie den Kater herunterließ. Nachdem er die mit Teppich ausgelegte Treppe hinaufgesprungen war, verklang sein Miauen in Richtung Küche. Kate folgte ihm, zog ihre Jacke aus und rümpfte die Nase, als sie den Geruch von Rauch daran wahrnahm, der sich noch immer nicht ganz verzogen hatte. Sie hängte die Jacke auf einen Kleiderbügel, um sie demnächst in die Reinigung zu bringen, und erst, als sie die Ausbuchtung in einer der Taschen sah, erinnerte sie sich wieder an den Handschuh.
Der irrationale Impuls, aus dem heraus sie den Handschuh behalten hatte, ärgerte sie. Entschlossen nahm sie ihn aus der Jackentasche und ging zum Mülleimer in der Küche. Als sie auf dessen Fußhebel trat, sprang der Deckel auf und gab einen leichten, süßlichen Fäulnisgeruch frei. Kate betrachtete das Durcheinander aus Eierschalen und Gemüseabfällen und hielt den Handschuh einen Augenblick lang darüber. Aber sie konnte ihn jetzt genauso wenig wegwerfen wie zuvor. Sie nahm den Fuß von dem Hebel, ließ den Deckel zuschlagen und ging wieder in ihr Schlafzimmer. Dort zog sie eine Schublade auf, legte den Handschuh ganz weit nach hinten unter einen Stapel sauberer Handtücher und schob die Schublade entschlossen zu.
Anschließend ging Kate wieder in den Flur und band sich mit einem leisen Seufzer der Erleichterung das Haar auf. Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte, jemand hatte eine Nachricht hinterlassen. Sie ließ das Band zurücklaufen, aber wer es auch gewesen sein mochte, er hatte aufgelegt, ohne etwas zu sagen.
Barfuß ging sie ins Wohnzimmer. Wie in der übrigen Wohnung waren die Wände hier von reinem Weiß, teils weil ihr diese schlichte Farbgebung gefiel, teils weil das Haus nach Norden lag und ziemlich dunkel wirkte. Selbst jetzt, da es draußen noch hell war, vermochten die weißen Wände kaum etwas gegen das düstere Zwielicht auszurichten.
Kate schaltete eine Tischlampe an. Die Möbel in dem Raum waren modern und von klaren Linien geprägt – bis auf eine alte Seemannskiste aus Kiefernholz, die als Couchtisch diente. An der Wand hing ein abstraktes Ölgemälde, das sie auf einer Ausstellung gekauft hatte, der einzige Farbtupfer vor dem ansonsten vollkommen ausdruckslosen Hintergrund. Die Wohnung war im Winter viel gemütlicher, wenn die langen Nächte kamen und Kate die Vorhänge zuziehen und die Ecken mit künstlichem Licht ausfüllen konnte. Aber jetzt schien es ihr trotz der Dunkelheit in der Wohnung nicht angemessen, eine Lampe einzuschalten, solange es draußen noch hell war.
Kate löschte das Licht und machte stattdessen den Fernseher an. Gelangweilt zappte sie sämtliche Kanäle durch. Keine dieser Sendungen hätte sie genauer verfolgen wollen, aber der Fernseher beleuchtete den Raum ein wenig, und der Klang der Stimmen milderte die Leere, die in der Wohnung herrschte.
Mit einem leisen Miau schlang der Kater sich um ihre Beine und stieß mit dem Kopf gegen ihre Knöchel.
«Hast du Hunger, Dougal?» Sie nahm ihn auf die Arme. Er war groß, selbst für einen Kater, und hatte eng nebeneinanderliegende Augen, die ihm einen dümmlichen, stets verblüfften Ausdruck verliehen. Sie hatte ihn mit der Wohnung übernommen, eine Dreingabe, die der Makler beim Verkauf nicht erwähnt hatte. Die Vormieter, ein Paar in den mittleren Jahren, hatten sich nicht die Mühe gemacht, ihr Haustier beim Umzug mitzunehmen. Kate hatte eigentlich keine Katze im Haus gewollt, aber Dougal war entweder zu dumm oder zu entschlossen gewesen, um das zu begreifen.
Er strampelte sich frei und sprang miauend auf den Boden.
«Schon gut, ich weiß, es ist Essenszeit.» Kate ging in die Küche und nahm eine Dose Katzenfutter aus dem Wandschrank. Die Katze sprang auf die Arbeitsfläche und versuchte, das Fleisch schon zu fressen, während Kate es noch mit der Gabel in die Schüssel häufte. Sie schob den Kater wieder runter.
«Warte ab, bis du dran bist, du Gierschlund!»
Kate stellte den Fressnapf auf den Boden und beobachtete, wie der Kater sein Abendessen in sich hineinschlang. Sie überlegte, ob sie sich selbst auch etwas zu essen machen sollte. Sie öffnete den Kühlschrank, schaute hinein und schloss ihn wieder. Ein tosendes falsches Gelächter tönte aus dem Wohnzimmer. Kate ging wieder hinüber. Im Fernsehen lief eine Sitcom, lautstark und bunt. Sie griff nach der Fernbedienung und schaltete ab. Die grellen Bilder entschwanden, und das Gelächter erstarb abrupt.
Eine lähmende Stille legte sich über den Raum. Er schien jetzt dunkler denn je, aber Kate machte keine Anstalten, die Lampe einzuschalten. Aus der Küche hörte sie das leise Geräusch des Fressnapfes, der über den Küchenboden schrammte.
Was ist nur los mit mir?
Der Auftrag vom Parker Trust war der größte Coup ihrer Karriere. Sie hätte euphorisch sein sollen. Stattdessen fühlte sie nichts. Keine Befriedigung, keine Freude darüber, etwas erreicht zu haben. Schließlich hatte sich nichts geändert. Sie sah sich in dem immer dunkler werdenden Wohnzimmer um. War es das? Ist das alles, was es jemals für mich geben wird?
Aus dem Flur kam das Geräusch der Katzenklappe, die zuschlug. Dougal hatte sich satt gefressen und ging wieder auf Streifzug. Sie war allein. Urplötzlich erschienen ihr die Dunkelheit und die Stille erdrückend. Sie schaltete erst die Lampe und dann den CD-Spieler ein, ohne sich darum zu scheren, was drinlag.
Tom Jones schmetterte «It’s not unusual», und die Stimme füllte den Raum. Kate ging in den Flur und griff nach dem Telefonhörer. Sie hatte keine Verabredung für diesen Abend geplant – für den Fall, dass sie den Auftrag nicht erhalten hätte. Aber jetzt erschreckte sie der Gedanke, ganz allein in der Wohnung rumzusitzen. Am anderen Ende der Leitung klingelte das Telefon nur zweimal, bevor sich eine Frauenstimme meldete.
«Hallo?»
«Hallo, Lucy, ich bin’s, Kate.»
«Oh, Kate, hallo! Moment mal.» Es folgte ein dumpfes Klappern, als der Hörer abgelegt wurde. Kate hörte Lucy im Hintergrund die Stimme erheben. Dann ein kindlicher Einwand, den sie beiseitefegte, und Lucy war wieder dran. «Entschuldige. Kleine Meinungsverschiedenheit über das heutige Fernsehprogramm.»
«Wer hat gewonnen?»
«Ich. Ich habe ihr gesagt, sie könne entweder mit mir zusammen EastEnders sehen oder ins Bett gehen. Also ist sie plötzlich ein EastEnders-Fan. Na egal. Wie ist es gelaufen?»
«Wir haben den Auftrag.»
«O Kate, das ist ja phantastisch! Du musst doch überglücklich sein!»
«Na ja, ich glaube, es ist noch nicht so richtig zu mir durchgedrungen.»
«Das kommt schon noch! Dann werdet ihr heute Abend doch sicher feiern, oder?»
Kate nahm den Hörer ans andere Ohr, damit sie ihre Freundin über dem Lärm der CD besser hören konnte. «Nein. Also – ich hab mich gefragt ob du vielleicht Lust hättest, irgendwohin zu gehen? Ich lad dich ein, wenn Jack nichts dagegen hat, auf die Kleinen aufzupassen.»
«Heute Abend? Ach, Kate, ich kann nicht! Jack kommt erst spät nach Hause.»
Kate versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. «Macht nichts. War ja auch ziemlich kurzfristig.»
«Ich weiß, aber wir sind schon eine ganze Ewigkeit nicht mehr zusammen ausgegangen! Ich sag dir was, warum kommst du nicht rüber? Bring ein paar Flaschen Wein mit, und mit etwas Glück sind wir schon herrlich besoffen, bevor Jack nach Hause kommt.»
Kates Laune hob sich sofort. «Wirklich?»
«Natürlich. Solange es dir nichts ausmacht, wieder mal die gute Tante zu spielen, wenn ich die Kinder nicht ins Bett kriege.»
Bei dem Gedanken an Lucys Kinder lächelte Kate. «Ich freu mich drauf.» Sie sagte Lucy, dass sie in einer Stunde bei ihr sein würde, und legte auf; ihre Melancholie war wie weggeblasen. Sie hatte wieder etwas zu tun, hatte ein Ziel und einen Plan. Sie würde mit Emily und Angus lachen und spielen, sich mit Lucy ein wenig betrinken und ihr Selbstmitleid und ihre Depressionen zum Teufel jagen. Während Tom das Letzte aus seiner Stimme herausholte, tanzte sie mit schwingenden Hüften durchs Zimmer.
Dann rief sie sich per Telefon ein Taxi und schenkte sich ein Glas Wein aus dem Kühlschrank ein.
«Cheers», prostete sie sich zu. Sie nahm das Glas mit ins Badezimmer und stellte es, während sie sich auszog, auf den Rand der Badewanne. Während sie darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, warf sie einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild und wünschte sich wie gewöhnlich, sie wäre groß und elegant statt klein und dünn. Aber jetzt in ihrer Hochstimmung konnte sie auch das nicht kratzen.
Sie duschte schnell und summte vor sich hin, während das prickelnde Wasser die Ereignisse des Tages wegspülte. Sie hatte sich abgetrocknet und wollte sich gerade anziehen, als es an der Tür klingelte. Das Taxi kam zu früh. Verdammt. Kate zögerte und überlegte, ob sie noch ein paar Kleider überwerfen sollte, bevor sie die Tür öffnete. Ein zweites, längeres Klingeln gab den Ausschlag. Sie zog sich einen Bademantel über und lief die Treppe hinunter.
Durch die bunten Rhomben der Glasvertäfelung war die verschwommene Silhouette eines Mannes zu sehen. Kate schloss die Tür auf und öffnete sie einen Spalt weit.
«Entschuldigung, Sie sind zu …», begann sie und brach ab.
Paul stand auf der Veranda. Er grinste sie an. «Zu was?»
Sein Anblick ließ sie erstarren. Sie versuchte, sich mit einem Ruck aus ihrem Schockzustand herauszureißen.
«Was willst du hier?»
«Ich bin hergekommen, um dir zu gratulieren.»
Er hob die Champagnerflasche, die er am Hals gefasst hatte. Kate konnte das Bier in seinem Atem riechen, säuerlich und mit einem Hauch Zigarette durchmischt. Etwas an seinem Lächeln gefiel ihr nicht. Sie hielt die Tür fest, versperrte ihm den Weg.
«Ich will ausgehen.»
Sein Grinsen wurde breiter, und er ließ seinen Blick über ihren Körper wandern. Sie widerstand dem Impuls, den Bademantel enger um sich zu ziehen. «Das Taxi muss jeden Augenblick hier sein. Ich muss mich noch anziehen.»
Er wandte den Blick von ihren Brüsten ab. «Kümmer dich nicht um mich. Gibt schließlich nichts, was ich nicht schon mal gesehen hätte, oder?»
Trotz ihrer Proteste trat er vor, und sie wich instinktiv zurück. Das war alles, was er brauchte, um seine Schulter in die Tür zu zwängen und sie gegen ihren Widerstand aufzuhebeln. Er zwang sie einen weiteren Schritt zurück, dann stand er in der Wohnung.
«Paul …!», begann sie, aber er schob sich an ihr vorbei.
«Na komm schon, Kate, ich dachte, du hättest es eilig?» Er stolperte schwerfällig die Treppe hinauf und prallte einmal von der Wand ab, als er dagegentaumelte. Während seine Schritte schon durchs Wohnzimmer dröhnten, stand Kate noch immer in dem kleinen Flur. Geh nicht rauf, halt dich von ihm fern, geh nicht rauf!, schrillte eine dünne Stimme. Aber Kate wusste nicht, was sie sonst hätte tun können. Also schloss sie zwar die Haustür, aber nicht die Wohnungstür am Fuß der Treppe, und lief hinter ihm her.
Paul saß lässig auf dem Sofa, beide Arme über die Rückenlehne gelegt. Sein Gesicht war gerötet. Er hatte sich, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, nicht sehr verändert. Sein dunkelblondes Haar war ein wenig länger, und sie bemerkte, dass das Hemd über dem Bauch ein wenig spannte. Aber die herablassende Arroganz, mit der er die Welt betrachtete, war unverändert.
Er feixte. «Hübsch hast du es hier.»
«Wie hast du rausgefunden, wo ich wohne?»
«Wenn du das geheim halten willst, solltest du dich nicht im Telefonbuch eintragen lassen. Und ich würde meinen Anrufbeantworter neu besprechen, wenn ich du wäre. Du klingst furchtbar gelangweilt.»
Kate blieb an der Tür stehen. «Ich möchte, dass du gehst.»
«Willst du mir nicht mal einen Drink anbieten?» Er schwenkte den Champagner. «Nein?» Er ließ die Flasche aufs Sofa fallen. «So viel zu meinen Glückwünschen.»
«Warum bist du gekommen, Paul?»
Eine Spur von Unsicherheit legte sich über sein Gesicht, als kenne er sich selbst nicht richtig. Dann war der Eindruck verflogen. «Um dich zu sehen. Was ist los, bist du jetzt zu fein geworden, um mit mir zu reden?»
«Es gibt nichts zu sagen. Und ich habe es dir bereits mitgeteilt, ich will ausgehen.»
«Wohin?»
«Zu Lucy.» Der Reflex, die Wahrheit zu sagen, kam, bevor sie etwas dagegen tun konnte. Sie hasste sich für diese automatische Kapitulation.
Wieder legte sich dieses unfreundliche Lächeln um Pauls Mundwinkel. «Du triffst dich also immer noch mit dieser Kuh?»
«Sie ist keine Kuh, und außerdem geht es dich nichts an, mit wem ich mich treffe.»
Sein Lächeln erstarb. «Ich hatte ganz vergessen, wie beschissen eingebildet du doch bist.»
Kate sagte nichts.
«Ach, verschon mich mit deinem gekränkten Blick!» Paul sah sie mürrisch an. «Gott, du hast dich nicht verändert, was? Die heilige Kate, die immer noch so tut, als könne sie kein Wässerchen trüben.»
Plötzlich beugte er sich vor. «Komm schon, tu doch nicht so, als würdest du die Situation nicht genießen! Du hast es geschafft, du hast mich geschlagen! Brüste dich ruhig damit, mir macht es nichts aus.»
«Ich möchte bloß, dass du gehst.»
«Was, einfach so?» Er sah sie mit gespielter Überraschung an. «Das ist deine große Chance! Endlich hast du diesem Mistkerl Paul Sutherland eins übergebraten! Willst du es mir nicht unter die Nase reiben?»
Kate spürte, wie sich die alten Schuldgefühle regten. Der Triumph über ihn hatte zwar nicht den erwarteten Jubel mit sich gebracht, aber sie konnte nicht leugnen, dass es ein Anreiz gewesen war. Ihr starker Drang, sich zu entschuldigen, zu sagen, er habe recht, brachte sie auf die Palme. «Wieso glaubst du eigentlich, du wärst so wichtig für mich, dass mich das überhaupt interessiert?»
Er grinste, weil er sich freute, sie provoziert zu haben. «Weil ich dich kenne. Ich weiß, wie du bist. Himmel, ich sollte es wirklich wissen; ich habe ja lange genug mit dir zusammengelebt.» Die dünne Tünche über seinem Zorn wurde langsam brüchig. «Mein Gott, sieh dich doch an. Fräulein Großkotz. Du glaubst, du bist große Klasse, was? Bist du nicht. Du bist gar nichts. Ohne mich würdest du dich immer noch mit beschissenen kleinen Aufträgen abschinden!»
«Mir ist das etwas anders in Erinnerung.»
«Ja? Wer hat dir denn deine erste Chance gegeben, verdammt nochmal?»
Die Antwort rutschte ihr heraus, bevor sie es verhindern konnte. «Und das war noch nicht alles, was du mir gegeben hast, oder?»
Er starrte sie an. «Was soll das wieder heißen?»
Kate wandte den Blick ab. «Sieh mal, Paul, das ist doch sinnlos. Es tut mir ja leid, dass du enttäuscht bist, aber –»
«Enttäuscht? Scheiße, warum sollte ich enttäuscht sein? Bloß weil irgendeine intrigante Nutte mich aus einem Auftrag rausbumst, für den ich mir die Eier wund gearbeitet habe?»
«Ich habe dich aus überhaupt nichts rausgebumst.»
«Nein? Wen hast du denn dann gebumst? War es das ganze Kuratorium oder nur Redwood?»
Sie hielt ihm die Tür auf. «Ich möchte, dass du gehst. Sofort.»
Er lachte, aber es war ein freudloses, hämisches Lachen. «Komm schon, Kate, mir kannst du es doch erzählen. Hat er die gleiche Stelle gekitzelt wie ich immer?»
«Raus! Sofort!»
Er war vom Sofa aufgesprungen, bevor sie sich bewegen konnte. Er packte sie mit einer Hand an der Kehle. Die andere Hand presste er ihr gegen das Kinn und zwang so ihren Kopf zurück.
«Sag mir ja nicht, was ich tun soll!»
Kate spürte seinen Speichel auf ihrem Gesicht. Sein Atem war von Alkohol getränkt. Sie versuchte, seine Hände wegzudrücken, aber er war zu stark. In seinem Gesicht zuckte es.
«Du Nutte! Du hältst dich für so verdammt klug, nicht wahr?»
Er presste sie mit dem Rücken gegen die Tür. Der Griff bohrte sich schmerzhaft in ihr Rückgrat. Dann sah sie, wie der Ausdruck seiner Augen sich wandelte, und plötzlich wusste sie, was als Nächstes geschehen würde. Als hätte der Gedanke die Tat herausgefordert, ließ Paul eine seiner Hände sinken, riss ihren Bademantel auf und packte, ohne sich um ihre Gegenwehr zu scheren, ihre Brust. Dann bohrte er ihr die Finger ins Fleisch.
«Paul … Nein …!»
Die Hand an ihrer Kehle würgte sie und erstickte ihre Schreie. Sein Bein drängte sich zwischen die ihren und machte sie bewegungsunfähig. Sie hatte nicht genug Platz, um zu treten oder ihm das Knie in den Leib zu rammen. Sie zerrte an seinem Handgelenk. Winzige Lichtpunkte standen ihr vor Augen. Sie spürte seine Hand an ihrer Taille; er riss an dem Gürtel, der den Bademantel noch immer geschlossen hielt.
Nein! Gott, nein!
Mit einem Mal hörte sie auf, sich zu wehren. Paul, der das Schwinden ihres Widerstandes gespürt hatte, blickte auf. Sie zwang sich, ihn über seine Hand hinweg anzulächeln.
«… Schlafzimmer …», krächzte sie.
Einen Augenblick lang rührte er sich nicht von der Stelle, und sie glaubte, er sei zu betrunken, zu berauscht, um noch auf sie zu hören. Dann legte sich ein Grinsen über seine Züge. Er trat zurück, und als der Druck auf ihrer Kehle nachließ und sein Bein zwischen ihren hervorglitt, rammte sie ihm mit aller Kraft ihr Knie in die Weichteile.
Aber sie hatte zu früh angegriffen. Ihr Knie rutschte von seinem Schenkel ab, und noch während er zurücktaumelte, bekam er sie bereits wieder zu fassen. Sie rannte durch die Tür, spürte ihn dicht hinter sich, während sie durch den Flur taumelte. Als sie die oberste Treppenstufe erreicht hatte, bekam er ihren Bademantel zu fassen, hielt ihn fest und zerrte Kate in einem ungleichen Kampf zurück. Sie konnte die Tür unten offen stehen sehen, wirbelte in ihrer Verzweiflung herum und entriss ihm den Bademantel.
Als der Stoff freikam, prallte sie gegen die Wand, und ihre Zähne schlugen schmerzhaft aufeinander. Paul stolperte in die andere Richtung, in das offene Treppenhaus. Er prallte vom Geländer ab und stürzte polternd die Treppe hinunter. Dann krachte er gegen die Tür, die gegen die Wand schlug, und blieb schließlich lang hingestreckt auf dem gefliesten Boden liegen.
Atemlos lief Kate zu ihm hinunter. Seine Augen waren fest geschlossen, der Mund zu einem gequälten «Ah» erstarrt, als sie über seine Beine trat und die Wohnungstür öffnete. In seiner Benommenheit leistete er keinen Widerstand, als sie ihm die Hände unter die Achseln schob und ihn rückwärts aus dem Flur zerrte. Er war schwer, aber sie musste ihn nicht weit ziehen. Erst als seine Hüften die Veranda hinunterpolterten, schien ihm klar zu werden, was da mit ihm geschah.
«Hey», murmelte er und versteifte sich, woraufhin Kate ihn fallen ließ. Sein Kopf krachte auf den Betonweg, aber noch während ihm das «Au!» über die Lippen kam, rannte sie bereits zurück ins Haus. Sie schlug die Haustür zu und lehnte sich keuchend dagegen. Ihr Rücken und ihre Schultern schmerzten, so sehr hatte sie sich anstrengen müssen.
Draußen herrschte einige Sekunden lang Stille, dann hörte sie ihn ächzen und fluchen, während er sich mühsam hochhievte.
«Scheiße!» Noch ein Ächzen. «Nutte!»
Sie hörte, wie er ein paar Schritte auf die Veranda zu machte. «Wenn du immer noch da bist, wenn ich nach oben komme, rufe ich die Polizei!», schrie sie.
Hastig zog sie ihren Bademantel enger und lief hinauf ins Wohnzimmer. Dort trat sie vorsichtig neben das Fenster und schob sich so weit vor, bis sie nach unten auf den Weg schauen konnte. Paul stand am Tor, rieb sich den Hinterkopf und starrte voller Zorn auf die Veranda. Dann blickte er zum Fenster hoch. Kate wich zurück, aber sie wusste nicht, ob er sie bereits gesehen hatte. Schließlich drehte er sich mit einem letzten finsteren Blick um und stapfte langsam davon.
Kate sah ihm nach, bis sie ihn in dem fahlen Abendlicht nicht mehr erkennen konnte. Dann sackte sie in sich zusammen. Ihre Beine waren wie aus Gummi, und sie schaffte es gerade noch bis zu einem Stuhl, bevor sie unter ihr nachgaben. Sie zog sich den Bademantel über der Brust zusammen und legte sich beide Arme um den Leib.
Das plötzliche Schrillen der Türklingel ließ sie auffahren. O Gott, was ist jetzt? Vorsichtig trat sie wieder ans Fenster und spähte hinaus. Wer es auch war, er stand auf der Veranda, wo man ihn nicht sehen konnte. Sie zögerte und schlich sich dann wieder nach unten. Als sie auf halber Höhe der Treppe war, klingelte es abermals, und sie wäre beinahe gestrauchelt. Mit trockenem Mund sperrte sie im Erdgeschoss die Wohnungstür auf. In dem schwindenden Licht wirkte die Gestalt hinter der bunten Verglasung noch undeutlicher als zuvor.
Sie merkte, dass sie den Atem anhielt. «Wer ist da?»
«Taxi für Powell.»
Was ihr da entgegenschlug, war reinstes Cockney-Englisch, keine Ähnlichkeit mit Pauls Stimme. Erleichtert legte Kate den Kopf an die Wand. Beinahe hätte sie dem Taxifahrer gesagt, dass sie ihre Meinung geändert habe. Der Drang, sich in ihrer Wohnung einzuschließen und ins Bett zu kriechen, war schier überwältigend.
«Ich brauche noch zehn Minuten», rief sie stattdessen und lief wieder nach oben, um sich anzuziehen.