Anita Albus
Käuze und Kathedralen
Geschichten, Essays und Marginalien
FISCHER E-Books
Anita Albus lebt als Malerin und Schriftstellerin in München und in Burgund. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre augentäuschenden Naturdarstellungen, die vielfach ausgestellt wurden. Zugleich mit der Malerei hat sich Anita Albus der Literatur gewidmet, einen Roman und Erzählungen geschrieben und mehrfach ausgezeichnete Essays verfaßt. Zuletzt erschienen bei S. Fischer »Von seltenen Vögeln« (2005), »Das botanische Schauspiel« (2007), »Das Los der Lust« (2007) und »Im Licht der Finsternis. Über Proust« (2011) .
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Erschienen bei FISCHER E-Book
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: buxdesign, München
Coverabbildung: Anita Albus
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ISBN 978-3-10-402991-7
Das im Temps retrouvé von Françoise erfundene Schachtelwort paperoles – eine Kontamination von papier und paroles – wurde von Eva Rechel-Mertens, aus deren Übersetzung ich im folgenden zitiere, leider nicht übernommen. Sie deutschte stattdessen das französische paperasse, »(alter)Papierkram«, als »Paperassen« ein. Siehe Die wiedergefundene Zeit, Frankfurt am Main 1984, Taschenbuch-Ausgabe, S. 487.
Ebd.
Vgl. Contre Sainte-Beuve, Paris 1971, Pléiade, S. 604f.
Vgl. Im Schatten junger Mädchenblüte, Frankfurt am Main 1960, S. 49. Eine daube de bœuf ist ein Rinderschmorbraten, kein »Rinderfilet«, wie Rechel-Mertens übersetzt; auch soll nicht »die Jus«, wie es in der Wiedergefundenen Zeit heißt, sondern das Gelée nicht nach Gelatine schmecken, weil es ohne künstliche Dickmittel aus Kalbsfüßen etc. hergestellt ist; daß das Rindfleisch nicht »gedämpft« wurde und ein Gelée keine »Gelantine« ist, wäre nicht weiter erwähnenswert, würde Proust nicht die Herstellung dieses Gerichts mit seiner Arbeitsmethode vergleichen. Vgl. a.a.O., S. 489.
Im Schatten junger Mädchenblüte, a.a.O., S. 194f.
Contre Sainte-Beuve, a.a.O., S. 136f.
Ebd., S. 303f.
Correspondance générale de Marcel Proust, herausgegeben von Robert Proust und Paul Brach, Paris 1933, Bd. 4, S. 82 (aus dem Französischen übersetzt von Anita Albus).
Ebd., S. 86.
Ebd., S. 88. Nach dem Besuch im Jeu de Paume sah sich Proust noch die Ingres-Ausstellung an, die zur gleichen Zeit in Paris gezeigt wurde.
vers ce Ver Meer läßt sich leider nicht mit »vermeerwärts« wiedergeben, weil die Häusergiebel im Wege stehen.
Ebd., S. 90f.
Die wiedergefundene Zeit, a.a.O., S. 499.
Ebd.v, S. 52.
Vgl. Philippe Boyer, Le petit pan de mur jaune, Paris 1987, Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk, München 1997, und Willibald Sauerländer, »Marcel Proust und die Malerei« in Jahrbuch 10 der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Schaftlach 1996, S. 3f. Boyer serviert das gelbe Mauerstück als Inzest-Fertiggericht mit viel rosafarbenem Begehren. Belting bedient sich daran und meint, »dieses ›Element reiner Malerei, das gar nichts darstellt‹«, durchziehe als idée fixe Prousts Werk. (Vgl. S. 264) Für Sauerländer symbolisiert Bergottes Tod sogar Prousts Abschied von der Kunst. (Vgl. S. 25) Hat man erst Elstir als impressionistischen Maler verkannt, läßt sich auch Proust zum »Anti-Panofsky« stilisieren. (Vgl. S. 22) Die Behauptung, Bergotte sei Anatole France oder Elstir sei Monet, ist so richtig und so falsch wie die, ein Gelée sei ein Kalbsfuß.
Die wiedergefundene Zeit, a.a.O., S. 279.
Contre Sainte-Beuve, a.a.O., S. 304f. (Übers. A. A.).
Aus dem Französischen übertragen von Anita Albus.
Siehe Anita Albus, Die Kunst der Künste, Frankfurt am Main 1997, S. 301.
»Totfarbe« ist ein Terminus der Schichtentechnik und bezeichnet im 17. Jahrhundert die Anlage der Komposition mit ihren Schatten- und Lichtpartien in einer einzigen Farbe auf dem Kreidegrund mit der Vorzeichnung. In der Ansicht von Delft, die Proust übrigens noch mit dem gelb eingefärbten Firnis des 19. Jahrhunderts sah, konnte keine Vorzeichnung identifiziert werden. Ihre couleur morte setzt sich aus Bleiweiß, Schwarz, rotem Ocker und Umbra zusammen.
Vgl. im folgenden S. 18.
Siehe Claude Lévi-Strauss, Sehen Hören Lesen, München 1995, S. 9f.
Die wiedergefundene Zeit, a.a.O., S. 507. In der ersten Ausgabe von 1957 übersetzt Rechel-Mertens: »neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegenteil unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie in den Jahren wesende Riesen an so weit auseinanderliegende, von ihnen durchlebte Epochen rühren, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT.«
Ebd, S. 315.
Ebd., S. 494.
Zur Austauschbarkeit von Einbildungskraft und Empfindungsfähigkeit als Quellen der Kunst siehe ebd., S. 304f.
Ebd., S. 497.
Siehe A la recherche du temps perdu, Paris 1954, Pléiade, Bd. I, S. 43.
Die eingebildete Urämie hat Proust von sich auf Bergotte übertragen; auch in dieser Akkumulation von Harnstoff im Blut ist das Gelbe präsent.
Die Gefangene, Frankfurt am Main 1962, S. 276f.
D’Arcy Wentworth Thompson der Ältere 1829–1901.
Zit. bei Ruth D’Arcy Thompson, D’Arcy Wentworth Thompson. The Scholar-Naturalist 1860–1948, Oxford University Press 1948, S. 166.
Eunice viridis, ein Ringelwurm, der auf Samoa roh oder gegart verspeist wird.
Zit. bei Ruth D’Arcy Thompson, a.a.O., S. 167.
Essays on Growth and Form presented to D’Arcy Wentworth Thompson, edited by W.E. Le Gross Clark & P.B. Medawar, Oxford 1945.
Hermann Müller, The Fertilisation of Flowers, translated & edited by D’Arcy Wentworth Thompson, with a preface by Charles Darwin, Boston 1883.
Dieser Titel kommt in der Festschriftliste nicht vor. Zit. bei Ruth D’Arcy Thompson, a.a.O., S. 187.
Kursivsetzung von D’Arcy Thompson.
Zit. nach Ruth D’Arcy Thompson, a.a.O., S. 174f.
Mit diesem Satz hat sich Buffon bei seiner Antrittsrede in der Académie Française am 25.8.1753 unsterblich gemacht.
Zur sogenannten Sprache der Bienen und ihrem phantastischen Sinnesapparat siehe Karl von Frisch, Aus dem Leben der Bienen, Berlin 1927, 1993.
Histoire de l’Académie Royale, Paris 1739, S. 35.
Georges-Louis Leclerc de Buffon, Histoire naturelle, Paris 1753, Bd. IV, S. 99.
D’Arcy Wentworth Thompson, Über Wachstum und Form, Neudruck Frankfurt a.M. 1983, S. 142–155.
Jakob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1921, S. 3f.
Ebd.
Iremäus Eibl-Eibesfeldt, Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung, München 1967, 1987, S. 619.
Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie, Berlin 1928, Neudruck Frankfurt a.M. 1973, S. 214.
Erwin Chargaff, Über das Lebendige, Stuttgart 1993, S. 42.
Vgl. Richard David Precht, Noahs Erbe, Hamburg 2000, S. 22.
Johann Gottfried Herder bezeichnete die Tiere als des Menschen ältere Brüder.
Zum hundertsten Geburtstag von Claude Lévi-Strauss
Ein zauberhaftes Bild, von Raymond Lévi-Strauss, dem Vater des Ethnologen, im Sommer 1910 in Öl auf Leinwand gemalt, zeigt den kleinen Claude in spitzengesäumtem Kleid mit Puffärmeln auf dem Schoß seiner Großmutter Lea, die ihm ein Stoffkinderbuch hinhält, das er seit nunmehr achtundneunzig Jahren betrachtet und eben umblättern will. Aus dieser Zeit seiner frühen Kindheit, als er noch im Kinderwägelchen sitzend von seiner Mutter spazierengeführt wurde, stammt eine von ihr überlieferte Anekdote. Sie kam mit ihm an den Ladenschildern von Metzgerei und Bäckerei – boucherie und boulangerie – vorbei, als er ausrief, die ersten drei Buchstaben müßten bou heißen, weil es hier wie dort die gleichen seien. Der Ethnologe hat darin die ihn auszeichnende strukturalistische Intuition erkannt, die tief verwurzelte Freude an der Entdeckung von Invarianten. Ein Romancier, den Lévi-Strauss zu seinen geistigen Ahnen zählt, war mit der gleichen Intuition begabt. In den »Notizen über Literatur und Kritik« beschreibt Marcel Proust den ihm eigenen Spürsinn für Relationen als den Knaben in sich, der selig zwischen Ruinen spielt. Dessen Glück währt so lange, wie sich ihm etwas Allgemeines zwischen zwei unterschiedlichen Erscheinungen offenbart. »Er stirbt unverzüglich im Besonderen« und lebt unmittelbar wieder auf, wenn er »zwischen zwei Ideen, Eindrücken oder Empfindungen, zwischen zwei Büchern eines Autors oder zwei Bildern ein und desselben Malers eine tiefe Verbindung entdeckt.«
So verschieden sie als Personen auch erscheinen, der vor seinem Rückzug aus der mondänen Gesellschaft redselige Charmeur und der schweigsame Verbündete vom Aussterben bedrohter Indianer, ihrer strukturalistischen Intuition entspricht die gleiche Moral. Zum Stichwort »Arbeit« notiert Lévi-Strauss: »Mittel, ein gutes Gewissen zu haben«, während Proust vom »Moralinstinkt« spricht, der zu vollbringen gebiete, was am schwersten fällt, »um unsere Schwächen und Laster aufzuwiegen«. »Nicht vergessen«, mahnt er in den »Notizen«, »Bücher sind das Werk der Einsamkeit und die Kinder des Schweigens. Die Kinder des Schweigens dürfen nichts mit den Kindern des Geredes gemein haben, den Gedanken, die aus dem Wunsch, etwas zu sagen, aus einem Tadel, einer Meinung, d.h. einer unklaren Idee geboren sind.«
Paroles données ist der schöne Titel des Buches von Lévi-Strauss, das einen Überblick der Vorlesungen und Konferenzen gibt, die er von 1951 bis 1982 in freier Rede an der École pratique des hautes études und am Collège de France abgehalten hat. Der Meister, dessen Werk jüngst in die Pléiade aufgenommen wurde, ist auch ein Meister mündlicher Rede. Lang ist die Liste seiner Bücher, Artikel und Vorträge, fast ebenso lang die der Gespräche, die mit der Veröffentlichung einzelner Werke verbunden waren. Die Bibliographie in der Festschrift zu seinem sechsundneunzigsten Geburtstag, die 2004 in den Éditions de l’Herne erschien, führt von 1958 bis 2002 siebzig Interviews auf.
Alles hat seine Zeit und seinen Ort, die gedeihliche Abgeschiedenheit beim Herausschälen von Sinngeflechten aus Hunderten von Mythen Süd- und Nordamerikas und ihren tausend Varianten wie die klaren Erläuterungen zu Leben und Werk in der Öffentlichkeit. Mit der Gelassenheit des Stoikers hat sich Lévi-Strauss den repetitiven Fragen seiner Mitmenschen gestellt. Die denkwürdigste Antwort auf die immer wiederkehrende, was seine jüdische Herkunft ihm bedeute, hat er 1981 den Besuchern des Musée de Cluny im Katalog der jüdischen Sammlung anvertraut. Die Judaica des Musée de Cluny in Paris stammen aus der Sammlung seines Urgroßvaters väterlicherseits. Der Komponist Isaac Strauss, 1806 in Straßburg geboren, war gegen Ende der Regentschaft von Louis-Philippe und während des Zweiten Kaiserreiches Leiter des Ballorchesters bei Hofe. Der ungestüme Dirigent »zerbrach regelmäßig mehrere Violinbögen, und es hieß, man könne an der Lage seiner Krawatte, die im Laufe der Nacht dreimal seinen Hals umwanderte, die Uhrzeit ablesen«. Illustre Gäste verkehrten in der Villa Strauss in Vichy. Lea Strauss, zweitjüngste von fünf Töchtern, erzählte gern, daß sie als Siebenjährige von Rossini auf die Stirn geküßt wurde, woraufhin sie schwor, »sich nie wieder das Gesicht zu waschen, um die Spur der göttlichen Lippen zu erhalten«. Isaac Strauss arbeitete mit Berlioz zusammen, und Offenbach überließ es ihm, einige seiner berühmten Quadrillen zu schreiben. Die Arien der Belle Hélène, des Orphée aux enfers und der Grande-Duchesse de Gerolstein durchtönten die Kindheit von Claude Lévi-Strauss. Für die Wagner-Begeisterung seines Vaters hatte dessen Mutter wenig Sinn. In Leas Ohren klang die Tannhäuser-Ouvertüre »wie das wirre Geräusch von Wasser, das zu kochen beginnt«.
Ein doppeltes Band vereint Lévi-Strauss mit seinem Urgroßvater: die Liebe zur Musik und die zu den bildenden Künsten, denn der Komponist war auch ein leidenschaftlicher Kunstsammler, »in jener verflossenen Zeit, als die verschmähten Schätze, selbst bei den Trödlern, für ihre Ehrenrettung nur auf den Scharfblick eines Vetter Pons warteten«. Die Reste seiner Sammlungen wurden von Lea, ihrer Schwester und den Kindern der Strausstöchter selig in ihren ältlichen Wohnungen gehütet. Dort erwarb der kleine Claude seine ersten Kenntnisse in Kunstgeschichte und seinen Geschmack an Dingen alter Zeit. Seit den Plünderungen der Deutschen sind fast alle gehüteten Schätze der Familie verschollen.
Die Erinnerung an seinen Urgroßvater hält für Lévi-Strauss »die Glieder einer Kette zusammen. Durch jene, die ich kannte und die ihn kannten, dessen Mutter, aber ich weiß nicht warum, anscheinend nur knapp der Guillotine entging, fühle ich mich einem anderen Jahrhundert zugehörig, weniger durch das Vermächtnis zweifelhafter Chromosomen, die für gemeine Leidenschaften verantwortlich sind, als durch die seit der Kindheit aufrechterhaltene Vertrautheit mit Objekten sinnlicher Natur, musikalische, plastische oder dekorative. Zu ihnen gehören die in dieser Ausstellung erneut vereinten, die anzusehen man mich einst mitnahm in den Saal, den das Musée de Cluny ihnen dauerhaft gewidmet hatte, und wo ich durch die Inschrift des Namens Isaac Strauss auf der Türfront von einem Gefühl durchdrungen war, daß sie nicht nur durch ihre ursprüngliche Herkunft, sondern durch die Verknüpfung mit der ganzen Vergangenheit meiner Familie ein Teil meiner selbst sind, oder besser gesagt, in mehr als einem Sinn war ich ein Teil von ihnen.«
Teil der jüdischen, Teil der französischen Geschichte. Seit Generationen assimiliert, war die Familie selbstverständlich patriotisch gesonnen. Der achtjährige Claude ließ es sich nicht nehmen, während des Krieges mit seinen kleinen Ersparnissen begeistert zum Erhalt der französischen Armee beizutragen. Ansonsten wanderte sein Taschengeld seit seiner Schulzeit zu den Trödlern. Sein Vater förderte seine Liebe zu exotischen Raritäten, indem er seine schulischen Leistungen, außer mit gemeinsamen Besuchen des Louvre, mit japanischen Farbholzschnitten belohnte.
Mit dem ersten seiner »Bilder der fließenden Welt«, den ukiyo-e, gestaltet er in einer Schachtel das Modell eines japanischen Interieurs. Er übt sich als Maler, spielt Geige und versucht, eine Oper zu komponieren. Schauen, Lauschen, Lesen – nach wiederholter Lektüre eines gekürzten Don Quichote, den man dem Zehnjährigen schenkt, kann er sein Lieblingsbuch auswendig. Chateaubriand, Rousseau, Balzac, Proust, Autoren, die er ein Leben lang immer wieder lesen wird, beginnt er im Jünglingsalter zu entdecken. Während der Ferien in der Bretagne und Normandie und, ab 1920, in den Cevennen, übt er sein Auge an Werken der Natur, an Steinen und Muscheln, Gräsern, Blumen und Bäumen, an Pilzen und an allem Getier. Wie in Traurige Tropen geschildert, ergreift ihn am Hang einer Hochebene im Languedoc das Wunder der Verschmelzung von Zeit und Raum, als er bei der Betrachtung eines verborgenen Risses im Felsgestein, wo einst zwei Ozeane aufeinander gefolgt sind, zwei Ammonshörner entdeckt, deren unterschiedlich geformte Windungen bezeugen, daß sie im Abstand von einigen zehntausend Jahren entstanden sind.
Wie das Samenkorn eines Baumriesen, in dem das Programm künftiger Entfaltung schlummert, erscheint das in Traurige Tropen eingegangene Fragment eines Romans, das er 1935 während seiner ersten Überfahrt nach Brasilien auf dem menschenleeren Deck des Schiffes »im Zustand der Gnade« verfaßt hat: das mit unüberbietbarer Sinnesschärfe dargestellte Schauspiel eines Sonnenuntergangs, in dem sich die atmosphärischen Ereignisse des verflossenen Tages zusammenballen. »Die Erinnerung ist das Leben selbst, wenn auch ein Leben anderer Art«, sagt uns der »Sonnenuntergang«. Die Poesie dieser Schilderung verdankt sich der vollkommenen Durchdringung des Sinnlichen mit dem Intelligiblen, der Beseelung von Wolken und Gestirn, deren Verwandlungen zugleich die Gesetze der Wolkenbildung und Lichtbrechung spiegeln. Das künstlerische Genie, das sich darin wie im weiteren Werk von Lévi-Strauss offenbart, entspricht dem von Proust beschriebenen, es »wirkt nach Art sehr hoher Temperaturen, welche die Macht besitzen, die Atome aus ihren Verbindungen zu lösen und sie im absolut anderen und einem anderen Typus entsprechenden Ordnungen neu zu gruppieren«.
Die Analyse der Elementaren Strukturen der Verwandtschaft, 1948 der Sorbonne als Dissertation vorgelegt, ist während der Emigration in New York entstanden, wo Lévi-Strauss die Grundlagen seiner ethnologischen Kenntnisse durch das tägliche Studium im »Americana«-Saal der New York Public Library erwarb. Die bedeutsamste Begegnung dieser Jahre als Lehrer an der New School for Social Research, Mitbegründer und Generalsekretär der École libre des hautes études de New York und Freiwilliger der Forces françaises libres, war die durch Alexandre Koyré vermittelte mit Roman Jakobson, durch den er die strukturale Linguistik entdeckte und der ihm bis zum Tode ein brüderlicher Freund bleiben sollte. Auch für die Entfaltung seiner Fähigkeit, aus Werken »primitiver« Kunst das Denken herauszulesen, das sich in ihnen verdichtet hat, war für Lévi-Strauss New York der ideale Ort, der damals ein wahres Paradies für Sammler von Objekten versunkener Welten war. Die Erinnerung an die glückselige Sammlerzeit, als er die Streifzüge zu den Händlern in Gesellschaft seiner Freunde Max Ernst und André Breton unternahm, hat er 1977 für den Katalog der Ausstellung »Paris-New York« im Centre Pompidou in einem glänzenden Prosastück eingefangen: »New York, post- et préfiguratif«.
Die Erinnerung ist das Leben selbst. Fünfunddreißig Jahre nach der Niederschrift des »Sonnenuntergangs« bildet die Erinnerung daran im Nackten Mensch, dem letzten Band der wie ein Opernzyklus komponierten Mythologica, das Ende vom Ende. Die Sonnenoper am Himmel bildet nun das Modell dessen, was sich bei der Mythenanalyse vollzieht: die allmähliche Entfaltung der Sinngeflechte, die in tausend Farben schillernd langsam aufblühen und sich wieder schließen, »um in der Ferne zu versinken, als hätte es sie niemals gegeben«, ein Schauspiel, das, auf das Schicksal der Menschheit, aller Lebensformen und der Erde selbst übertragen, als Sinnbild der Hinfälligkeit erscheint.
Als Claude Lévi-Strauss heute vor hundert Jahren das Licht der Welt erblickte, gab es eineinhalb Milliarden Menschen auf Erden. Demnächst werden es sieben Milliarden sein. Zwischen 1900 und 2000 haben mehr Menschen gelebt als in der ganzen Zeit seit dem Auftauchen von Homo sapiens. Die Verarmung der Natur und der Verlust der »Schätze des Glaubens, der Sitten, Gebräuche und Institutionen, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden waren und sich entwickelt hatten wie seltene tierische und pflanzliche Arten«, ist unserer Übermacht geschuldet. Wie Lévi-Strauss im dritten Band seiner Tetralogie gezeigt hat, liegt der Ursprung guter Sitten in »einer Ehrerbietung gegenüber der Welt«. Es ist eine »Lektion in Bescheidenheit«, die uns die wilden Denker mit ihren Mythen erteilen. Sie lehren uns, »daß eine wohlgeordnete Menschheit nicht mit sich selbst beginnt, sondern die Welt vor das Leben setzt, das Leben vor die Menschen und die Achtung der anderen Wesen vor die Selbstliebe; und daß selbst ein Aufenthalt von ein oder zwei Millionen Jahren auf dieser Erde, da er auf alle Fälle ein Ende haben wird, nicht irgendeinem Volk, und sei es auch das unsere, als Entschuldigung dafür dienen kann, sie sich gleich einem Ding anzueignen und sich darin schamlos und rücksichtslos zu verhalten.«
Als unbestechlicher Zeitzeuge hat Lévi-Strauss immer wieder auf die Verkümmerung der Sinne und die kulturelle Enteignung in unserer Zivilisation aufmerksam gemacht. Auf eine Umfrage von 1965 zur Kunst im Jahre 1985, konstatierte er, daß sich unsere Gesellschaft schon seit vielen Jahren selbst mystifiziere, indem sie eine Kunst hochhalte, die nur die Form einer Kunst sei, »gerade gut genug, ihr die Illusion zu verschaffen, eine zu haben«. Im selben Jahr befragt, welche Tatsachen, Entdeckungen, Bücher, Gemälde der letzten zwanzig Jahre er in die fünfundzwanzig Fächer eines Kastens einschließen würde, wenn dieser für die Archäologen des Jahres 3000