Édouard Louis
Wer hat meinen Vater umgebracht
Aus dem Französischen
von Hinrich Schmidt-Henkel
FISCHER E-Books
Édouard Louis wurde 1992 geboren. Sein autobiographischer Debütroman ›Das Ende von Eddy‹, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Sein zweiter Roman ›Im Herzen der Gewalt‹ erschien in über 20 Sprachen und wird verfilmt sowie fürs Theater adaptiert. Édouard Louis lebt in Paris.
Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt seit 1987 Belletristik und Theaterstücke aus dem Französischen, Italienischen und Norwegischen, darunter Werke von Jon Fosse, Henrik Ibsen, Jean Echenoz, Louis-Ferdinand Céline, Stefano Benni und Massimo Carlotto. Er ist u.a. Träger des Jane-Scatcherd-Preises der Ledig-Rowohlt-Stiftung, des Paul-Celan-Preises und des Deutschen Jugendliteraturpreises.
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Édouard Louis ist der interessanteste Intellektuelle unserer Zeit, er ist jung und zornig und erhebt seine Stimme gegen jede soziale Ungerechtigkeit. Sein Credo lautet: »Literatur muss kämpfen, für all jene, die selbst nicht kämpfen können.« Louis weiß, wovon er spricht. Als Kind hat er miterlebt, wie sein Vater nach einem Arbeitsunfall Opfer der Sozialkürzungen wurde und nur noch als Straßenfeger arbeiten konnte. Richtete sich Louis‘ Wut in seinem ersten Buch »Das Ende von Eddy« gegen seine Eltern, ist er in »Wer hat meinen Vater umgebracht« voller Mitgefühl für seinen Vater, Louis versteht nun dessen Wutausbrüche und Verzweiflung. Eine tief bewegende Hommage an den eigenen Vater und dessen gescheiterte Träume.
Erschienen bei S.Fischer
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Qui a tué mon père bei Éditions du Seuil, Paris
© 2018, Édouard Louis. All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe: © 2019S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
ISBN 978-3-10-491031-4
Für Xavier Dolan
Wenn dies ein Theatertext wäre, müsste er mit den folgenden Worten beginnen: Ein Vater und ein Sohn befinden sich in einigen Metern Abstand zueinander in einem großen, weitläufigen und leeren Raum. Dieser Raum könnte ein Weizenfeld sein, eine menschenleere, stillgelegte Fabrik, die mit Kunststoffboden ausgelegte Turnhalle einer Schule. Vielleicht schneit es. Vielleicht bedeckt der Schnee beide nach und nach, bis sie verschwunden sind. Der Vater und der Sohn sehen sich fast nie an. Nur der Sohn spricht, die ersten Sätze liest er von einem Blatt Papier oder einem Bildschirm ab, er versucht, sich an seinen Vater zu wenden, doch man weiß nicht warum, der Vater scheint ihn nicht hören zu können. Sie sind einander räumlich nah, doch sie dringen nicht zueinander durch. Bisweilen geraten ihre Körper in Berührung, doch selbst in diesen Momenten, bei diesem Kontakt bleiben sie voneinander isoliert. Dass nur der Sohn spricht, ausschließlich er, ist für beide brutal: Dem Vater bleibt verwehrt, seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen, und der Sohn ersehnt sich eine Antwort, die er niemals erhalten wird.
Danach befragt, wofür in ihren Augen der Begriff »Rassismus« steht, antwortet die amerikanische Intellektuelle Ruth Gilmore, er bedeute für bestimmte Teile der Bevölkerung das Risiko eines verfrühten Todes.
Diese Definition gilt ebenso für männliche Vorherrschaft, für Homophobie, Transphobie, Herrschaft einer Klasse über eine andere, für alle Phänomene sozialer oder politischer Unterdrückung. Begreift man Politik als die Regierung von Lebewesen über andere Lebewesen, und gehören die Individuen jeweils Gemeinschaften an, denen sie zugewiesen wurden, dann besteht Politik in der Abgrenzung jener Bevölkerungsteile, die ein komfortables, geschütztes, begünstigtes Leben genießen, von solchen, die Tod, Verfolgung, Mord ausgesetzt sind.
Letzten Monat habe ich dich in der kleinen Stadt im Norden besucht, wo du jetzt wohnst. Es ist eine hässliche, graue Stadt. Das Meer ist nur wenige Kilometer entfernt, du fährst aber nie hin. Ich hatte dich einige Monate lang nicht gesehen – es ist lange her. Als du die Tür aufmachtest, erkannte ich dich erst nicht wieder.
Ich sah dich an, versuchte, die Jahre, die ich fern von dir verbracht hatte, aus deinem Gesicht zu lesen.
Später erzählte mir die Frau, mit der du jetzt lebst, dass du fast gar nicht mehr gehen kannst. Und auch, dass du nachts ein Gerät benötigst, um Luft zu bekommen, ohne das dein Herz stehenbleibt, denn es kann ohne Hilfe, ohne die Unterstützung eines Apparates nicht mehr schlagen, will nicht mehr schlagen. Als du aufstandst, um zum Klo zu gehen, und dann wieder zurückkamst, da konnte ich es sehen, da brachten diese zehn Meter dich zum Keuchen, du musstest dich hinsetzen, um wieder Atem zu schöpfen. Du entschuldigtest dich. Von dir Entschuldigungen zu hören, das ist neu, daran muss ich mich erst gewöhnen. Du erklärtest, du littest unter einer schweren Form von Diabetes, dazu noch das erhöhte Cholesterin, du könnest jederzeit einen Herzstillstand erleiden. Allein schon mir all das zu beschreiben brachte dich außer Atem, deine Lungen verloren den Sauerstoff, als hätten sie ein Leck, sogar das Reden war eine zu große, zu umfassende Anstrengung. Ich sah dich gegen deinen Körper kämpfen, aber ich versuchte, so zu tun, als würde ich es nicht bemerken. In der Woche davor hattest du dich wegen etwas operieren lassen müssen, das die Ärzte einen Eingeweidevorfall in der Bauchhöhle nannten – davon hatte ich noch nie gehört. Dein Körper ist für sich selbst zu schwer geworden, dein Bauch hängt zu Boden, er zerrt zu stark, zu heftig an sich selbst, so stark, dass er innerlich zerreißt, dass er unter seinem eigenen Gewicht, der eigenen Masse zerreißt.
Du kannst dich nicht mehr hinters Steuer setzen, ohne dich selbst in Gefahr zu bringen, darfst keinen Alkohol mehr trinken, kannst dich nicht mehr allein duschen, ohne dass das ein enormes Risiko bedeuten würde. Du bist gerade mal über fünfzig. Du gehörst zu jener Kategorie von Menschen, für die die Politik einen verfrühten Tod vorgesehen hat.
Meine ganze Kindheit über hoffte ich, du würdest verschwinden. Wenn ich nachmittags gegen fünf Uhr aus der Schule kam, hielt ich nach deinem Wagen Ausschau, danach, ob er vor unserer Tür stand oder nicht. War er nicht da, so hieß das, dass du in der Kneipe warst oder bei deinem Bruder und erst spät zurückkommen würdest, vielleicht nach Einbruch der Nacht. Wenn ich deinen Wagen nicht auf dem Bürgersteig vor dem Haus sah, wusste ich, dass wir ohne dich essen würden, dass unsere Mutter uns das Essen schulterzuckend hinstellen und ich dich nicht vor dem nächsten Tag zu Gesicht bekommen würde. Wenn ich mich unserer Straße näherte, dachte ich jeden Tag an deinen Wagen, und ich betete in meinem Kopf: Lass ihn nicht da sein, lass ihn nicht da sein, lass ihn nicht da sein.