Ursula Isbel
Die Magie des Elbensteins
Jugendroman
FISCHER Digital
Ursula Isbel, in München geboren, war nach einem Modegrafik-Studium und dem Besuch einer Sprachenschule zunächst als Lektorin tätig. Heute lebt sie als freie Autorin und Übersetzerin in Staufen bei Freiburg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht.
Kristin hält ihre Schwester für eine Hexe – und tatsächlich werden Kendras magische Fähigkeiten bald gebraucht. Als die Eltern verreisen, verbringen die Mädchen mehrere Tage und Nächte allein in einem Turm, den ihr Vater gerade gekauft hat. Ein geheimnisvoller Junge und ein Kobold namens MacHobgoblin warnen sie vor drohendem Unheil. Denn die dunklen Kräfte eines Elbensteins beherrschen den Turm und nachts belagern dämonische Wesen das alte Gemäuer. Die Schwestern sind in höchster Gefahr ...
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei FISCHER Digital
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: buxdesign, München
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe:978-3-10-561752-6
Die Kugel traf ihn an der Stirn, genau zwischen den Augenbrauen.
Er vergaß, dass er Rambo der Schreckliche war, vor dem die ganze Mittelstufe des Gymnasiums zitterte, und schrie auf. Diese braunen Tonkugeln, so klein und harmlos sie auch aussahen, konnten verdammt wehtun, wenn sie einen mit voller Wucht trafen. Ich wusste das aus Erfahrung.
Ich wusste auch, wer sie geschleudert hatte. Oder besser gesagt, ich ahnte es. Beweise gab es natürlich nicht. Kendra stand auf der anderen Seite des Schulhofs. Es wäre unmöglich für sie gewesen, die Kugel quer über den ganzen Hof zu schleudern, noch dazu um zwei Ecken.
Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Sie wirkte ganz gelassen, wickelte eine ihrer kurzen roten Haarsträhnen um den Zeigefinger und machte ein gelangweiltes Gesicht.
»Wer war das?«, brüllte Rambo, der eigentlich Kevin Böckelmann hieß.
Klar, dass sich keiner meldete. Rambo rieb sich die Stirn. Die Tonkugel hatte einen feuerroten Fleck hinterlassen. Jetzt rollte sie über das Pflaster und verschwand zwischen einer Ansammlung von großen Füßen in Sneakers. Rambo bekam seinen stieren Blick. Er musste den Angreifer finden und bestrafen, es ging um seine Ehre, das war klar.
»Hat einer gesehen, wer geschossen hat?«
Schweigen. Jeder verdächtigte Kendra, doch keiner sagte ein Wort. Sie hatten alle Angst vor ihr, mehr noch als vor Kevin, obwohl sie klein und dünn war und nie zuschlug.
Ich hätte schwören können, dass sie nicht einmal den Arm gehoben hatte. Sie hatte andere Möglichkeiten, Gegenstände von einem Ort zum anderen zu bewegen. Keiner wusste das besser als ich.
Sie war schließlich meine Schwester.
Meine Schwester ist eine Hexe.
Natürlich hätte das keiner laut ausgesprochen. In der Schule nannte man sie heimlich »Hexken«, doch niemand hätte es gewagt, sie so anzureden. Unsere Eltern taten, als wäre alles total harmlos.
»Kendra hat bestimmte Fähigkeiten«, sagte Paps immer. »Fähigkeiten« war das Wort, das er für alles benutzte, was an Kendra anders und verrückt und unheimlich war.
»Es wird sich auswachsen!«, versicherte Mama. »Wenn sie erst die Pubertät hinter sich hat, wird nichts davon zurückbleiben.«
Ich weiß nicht, wie lange die Zeit der Pubertät dauert. Kendra war fünfzehneinhalb und eigentlich wurde es immer schlimmer mit ihr und ihren »Fähigkeiten«. Im Grund mag ich sie gern, aber es ist anstrengend, eine Schwester zu haben, die eine Hexe ist. Es ist auch nicht immer ungefährlich. Und wer denkt, es würde Spaß machen, hat sich getäuscht!
Eigentlich ist es ein Wunder, dass ich noch lebe. Als ich ganz klein war und im Kinderwagen lag, rollte der Buggy eines Tages ganz von allein einen Abhang hinunter. Zum Glück kam ein alter Herr mit einem Spazierstock angerannt und stoppte den Buggy mitsamt meiner Person, indem er den Griff seines Spazierstocks in die Lenkstange einhakte.
Mama hat immer geschworen, dass Kendra, die damals gerade zweieinhalb Jahre alt war, den Buggy nicht angefasst hatte, nicht einmal in seine Nähe gekommen war.
Sie hätte auch den schweren, dicken Steinbrocken nicht anheben können, der ungefähr ein Jahr später vom Himmel fiel. Er landete im Sandkasten, wo ich gerade friedlich mit einer Schaufel Löcher buddelte. Der Stein verfehlte mich nur um Haaresbreite.
Zweimal ertrank ich beinahe, einmal in einem Tümpel und einmal in einem Bach. An meinem dritten Geburtstag fiel ich aus einem Fenster im oberen Stockwerk und hatte das Glück, dass mein Vater gerade vor dem Haus stand und mich auffing.
Ich denke auch nicht besonders gern an den Bienenschwarm zurück, der mich im gleichen Sommer verfolgte und für Tage ein abartig verschwollenes kleines Monster aus mir machte. Solche Beinahe-Katastrophen begleiteten meine Kindheit, bis Kendra endlich nicht mehr auf ihre jüngere Schwester eifersüchtig war.
Inzwischen vertrugen wir uns gut, aber ich musste ständig aufpassen, sie nicht zu reizen. Wenn sie wütend war, konnte sie unberechenbar sein. Auch an Tagen, an denen sie besonders witzig sein wollte, ging ich ihr lieber aus dem Weg.
Der Tag, an dem das mit Kevin passierte, war ein Freitag Mitte Juni. Daran erinnere ich mich, denn an diesem Abend kam unser Vater nach Hause und verkündete, er hätte einen Turm gekauft.
Einen Turm! Wir starrten ihn an. «Du nimmst uns auf den Arm!«, sagte Mama mit schwacher Stimme.
Nein, das tat er nicht, ich sah es an seinen Augen. Er strahlte wie ein kleiner Junge, der seinen ersten Fisch gefangen hat.
Sofort erhob sich ein großes Palaver. Mama schimpfte und beklagte sich darüber, dass Paps ständig »Alleingänge« machte, also Entscheidungen traf, ohne vorher mit ihr zu reden.
»Du kannst doch nicht einfach ein Anwesen kaufen, ohne mich zu fragen! Und Kendra und Kristin! Wir sind doch auch noch da, wir sind deine Familie! Du benimmst dich, als wärst du ein Single ohne jeden Anhang …«
Paps verteidigte sich. Er sagte, er hätte sofort zugreifen müssen, weil schon ein anderer Käufer »dicht an dem Objekt drangewesen« sei. »Es ist ein absolutes Schnäppchen, verstehst du? Und wenn ich dir davon erzählt hätte, hättest du dich garantiert mit Händen und Füßen dagegen gesträubt. Du willst ja nicht aufs Land und magst keine alten Gemäuer.«
»Und obwohl du das genau weißt, hast du diesen Turm gekauft, hinter meinem Rücken, über meinen Kopf hinweg!«
Unser Vater schwieg eine Weile. Dann sagte er leise: »Ich hab mir einen alten Traum erfüllt, Inger, mit dem Geld, das Onkel Alfred mir hinterlassen hat. Kannst du mir das nicht gönnen?«
Jetzt liefen Mama die Tränen über die Wangen. »Was erwartest du von uns? Dass wir künftig dort wohnen, in einem vermoderten alten Turm irgendwo in der Pampa, nur weil das dein Lebenstraum ist?«
Er versuchte sie in den Arm zu nehmen, aber sie stieß ihn weg.
»Unsinn, natürlich nicht! Es soll nur fürs Wochenende sein und für die Ferien. Sieh ihn dir doch erst mal an! Es ist total romantisch. Ein Turm wie im Märchen von Rapunzel.«
Mama schniefte. »Rapunzel! Wie alt bist du eigentlich? Wir hätten das Geld dringend fürs Haus gebraucht. Du weißt, wie sehr ich mir schon immer einen Wintergarten wünsche. Aber das zählt ja nicht. Und das Dach müsste repariert werden!«
Ich sah Kendra an. Sie saß am Tisch und hatte das Kinn auf die Hände gestützt. Ihre graugrünen Augen funkelten. Die Vorstellung, in einem Turm zu wohnen, gefiel ihr. Sie hatte eine Vorliebe für Spukhäuser und gruselige alte Gemäuer. Ich selbst mochte es lieber ruhig und gemütlich, aber mich fragte natürlich keiner.
»Wie alt ist er?«
Unsere Eltern unterbrachen ihr Wortgefecht. »Der Schwarze Turm ist mindestens fünfhundert Jahre alt«, erwiderte Paps eifrig. »Er ist der Überrest einer mittelalterlichen Burg. Der örtliche Denkmalpfleger …«
Ich unterbrach ihn. »Und wo steht er?«, fragte ich, ehe er sich in einen seiner langweiligen geschichtlichen Vorträge flüchten konnte.
»Auf einem Hügel. Drumherum ist Wald, der sogenannte Mispelwald. Mit dem Auto fährt man von hier ungefähr zwei Stunden. Es ist also nicht allzu weit entfernt.«
»Mitten im Wald!« Mama begann vor Aufregung in ihrer Muttersprache Schwedisch zu reden. »Herregud! Det kan väl inte vara sant … Gibt es Nachbarn? Wie weit ist es bis zur nächsten Ortschaft?«
Paps zögerte. »Nachbarn … hm … Na ja; es gibt welche. Sie wohnen ungefähr zwei oder drei Kilometer entfernt, höchstens vier. Und dann ist da ein kleines Dorf mit ein paar Bauernhöfen … sehr hübsch und malerisch.«
»Wie weit fährt man bis zu einem vernünftigen Ort mit Läden und Restaurants?« Mamas Stimme klang jetzt laut und drohend.
»Also … knapp elf Kilometer, schätze ich mal.«
Mama stampfte zur Wohnzimmertür. Die Hand auf der Klinke, drehte sie sich um und sagte: »Jag sätter aldrig min fot i din förbaskade torn!« Dann ging sie türenknallend hinaus. Paps ließ sich in einen Sessel fallen.
»Was hat sie gesagt?«, fragte ich, obwohl ich es mir ungefähr denken konnte.
»Dass sie nie einen Fuß in meinen verdammten Turm setzen wird«, übersetzte er und stöhnte. »Ich hab’s gewusst!« Und er raufte sich die Haare, bis sie wie bei einem Punk in die Höhe standen.
Kendra hatte bis jetzt zu allem geschwiegen. Plötzlich fing sie zu kichern an. Das Kichern kam allerdings nicht aus ihrem Mund oder ihrer Kehle, sondern von einer Stelle zwischen ihren Füßen. Dann war es irgendwo hinter ihrem Rücken oder über ihrem Kopf und dicht beim linken Ohr, als würde ein unsichtbarer Schlumpf kichernd um sie herum fliegen.
Paps merkte es nicht, so vertieft war er in seine trübsinnigen Gedanken. Ich zischte: »Hör auf damit!«, doch sie beachtete mich nicht. Sie stand auf, setzte sich zu unserem Vater auf die Sessellehne und tätschelte seinen Kopf, als wäre er ein großer, gutmütiger Bernhardiner.
»Das hast du prima gemacht!«, sagte sie. »Ich bin echt stolz auf dich.«
Wir fuhren unter einem grauen, düsteren Himmel, aus dem ab und zu Regenschauer über die Felder zogen, hin und her getrieben vom Wind. Die Täler waren voller Dunstschleier. Ich dachte, wie gut es war, dass Mama sich geweigert hatte, mitzukommen. Sie hätte bestimmt die ganze Zeit darüber gejammert und geschimpft, in welch scheußliche Pampa uns Paps entführte.
Es war ein Julitag, der besser in den November gepasst hätte. Unser Vater versicherte mehrmals, wie schön die Gegend sei. »Bei gutem Wetter ist das hier ein Paradies! Wunderbare Luft, alte Eichen, seltene Vögel, jede Menge Pilze. Es gibt sogar noch Hirschkäfer …«
Kendra spähte aus dem Fenster.
»Was ist eigentlich aus der Burg geworden?«, fragte sie.
Paps überlegte. »Manche behaupten, Burg Elbenstein wäre von feindlichen Truppen niedergebrannt worden. Offenbar weiß es keiner mehr so genau. Aber Steinbrocken können nicht verbrennen. Vermutlich haben sich die Bauern der Umgebung im Laufe der Jahrhunderte die Steine geholt und ihre Häuser und Ställe damit gebaut.«
»Aber den Turm haben sie stehen lassen?«
»Er war wohl unversehrt. Man hätte ihn nicht so leicht abtragen können, nehme ich an.«
Kendra schüttelte den Kopf, als wüsste sie es besser, schwieg aber für den Rest der Fahrt. Wir kamen zu einer Straße, die von Eichen gesäumt war. Die alten Bäume verrieten, dass hier einst die Zufahrt zu einem Herrensit gewesen sein musste. Jetzt war der Weg holprig, voller Schlaglöcher und Gestrüpp.
»Der alte Herr von Elbenstein, der zuletzt im Turm gewohnt hat, konnte sich um nichts mehr kümmern«, erklärte Paps und wich einem Baumstamm aus, der einen Teil der Straße blockierte. »Er war krank und wohl auch verarmt. Der Turm war alles, was er noch besaß.«
Er stand auf einem Hügel. Mein erster Gedanke war, dass sein Name nicht passte, denn er war nicht schwarz. Er war sehr hoch und aus dicken, unregelmäßig behauenen grauen Natursteinen gebaut. Obenauf saß ein kegelförmiges Schindeldach. Es war grün bemoost, und das Wasser tropfte wie lauter Kristallschnüre rundherum in die Tiefe, denn es gab keine Regenrinne.
Erst später sollte ich begreifen, dass nicht die Farbe der Steine für den Namen des Turms verantwortlich war. Kendra wusste das sicher lange vor mir, vielleicht sogar schon in diesen Minuten, als wir am Fuß des Hügels parkten, aus dem Wagen stiegen und im Gänsemarsch durchs Gras den Hang hinaufwanderten.
»Was sagt ihr?« Paps’ Stimme zitterte vor Glück und Erregung.
»Sehr hübsch«, erwiderte ich höflich.
»Fantastisch!«, sagte Kendra, und sie meinte es auch so, das sah ich ihr an, als ich mich nach ihr umdrehte.
Bis auf den Turm war von der ehemaligen Burganlage wirklich nichts mehr zu sehen. Doch es gab grasbewachsene Mulden und Buckel, Erdspalten und seltsam geformte Bodenerhebungen, unter denen sich wohl Mauerreste und Fundamente ehemaliger Gebäude verbargen.
Eine rundbogige, eisenbeschlagene Tür führte in den Turm. Kendra deutete auf ein Zeichen, das ins Holz geritzt war. Halblaut sagte sie: »Drudenfuß.«
Das Zeichen hatte die Form eines fünfzackigen Sterns. Paps warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ach, tatsächlich? Ich hab mich schon gefragt, was es wohl zu bedeuten hat. Die Leute haben ihre Hauseingänge früher oft mit allerhand magischen Zeichen verziert, wahrscheinlich zur Abwehr von bösen Geistern.«
»Und Hexen«, sagte Kendra. »Aber es wirkt nicht, wenn man weiß, wie man sich verhalten muss. Man denkt an etwas Bestimmtes, und man darf die Türschwelle nicht mit dem rechten Fuß betreten, dann funktioniert der Abwehrzauber nicht.«
Unser Vater tat, als hätte er nichts gehört.
»Woran muss man denken?«, fragte ich, obwohl ich ahnte, dass sie es mir nicht sagen würde. Sie gab keine Antwort. Paps schloss die Tür mit einem riesigen Schlüssel auf.
Ich beobachtete Kendra. Natürlich sah ich nicht, was sie dachte, aber sie trat mit dem linken Fuß auf die Türschwelle, hob den rechten hoch und stellte ihn auf einer der Steinplatten ab, mit denen der kreisrunde Eingangsraum gepflastert war.
Dämmerlicht empfing uns, denn es gab nur ein Fenster und einen schmalen Fensterschlitz. Ich sah eine mächtige geschnitzte Truhe, auf der ein Leuchter aus Silber stand, einen mannshohen Spiegel und daneben die ersten fünf Stufen einer Wendeltreppe. Sie drehte sich wie eine große Spirale um eine Stützmauer in der Mitte des Raumes.
Paps drückte auf den Lichtschalter. Von der Decke baumelte ein Kabel mit einer nackten Glühbirne. Sie flackerte kurz auf und verlöschte dann gleich wieder.
Er nahm sein Feuerzeug, zündete die weißen Kerzen im Leuchter an und ging damit zur Treppe. Wir folgten ihm; und weil Kendra vor mir ging, bemerkte ich, dass sie mit einem komischen, tänzerischen Hopser über die erste Steinstufe hinwegsetzte.
Ich musterte die Stufe mit scharfem Blick. Sie sah genauso aus wie die anderen auch, grau und in der Mitte durchgetreten. Als ich besonders fest darauftrat, passierte nichts; ich fiel weder tot um noch tat sich der Boden unter mir auf.
Im Turm gab es fünf Stockwerke. In jedem Stockwerk waren ein Raum und ein Teil der Wendeltreppe, die mitten durch die Zimmer führte. So konnte man von einem Raum in den anderen sehen, von unten nach oben und von oben nach unten.
In der ersten Etage befand sich eine hässliche Einbauküche aus grünem Kunstholz mit Ausblick auf den Mispelwald, dazu ein kleines Badezimmer mit Dusche und WC.
»Ich dachte, in Burgen wären Plumpsklos«, sagte ich beim Anblick der Toilette, die ganz modern und sauber aussah.
»Nein.« Kendra wusste es besser. »Früher haben sie durch ein Loch im Boden in die Tiefe gekackt, und unten war eine Grube, in die alles reinfiel.«
Im zweiten Stockwerk befand sich das Wohnzimmer mit Steinfußboden und fünf kleinen, viereckigen Fenstern, die tief in den dicken Mauern saßen. Natürlich war es wieder ein Raum so rund wie ein Topfdeckel. Im offenen Kamin lag ein Haufen Asche.
Das Wohnzimmer war noch voller Möbel – große, behäbige Sessel, mehrere Tischchen, Stehlampen, Ahnenbilder an den Wänden, abgetretene Teppiche und ein Klavier, von dem sich das schwarze Holzfurnier löste.
Die Bilder und Spiegel hingen komisch schief an den Wänden, wahrscheinlich, weil der Turm rund war und keine flachen Mauern hatte. Unter der Treppe entdeckten wir eine Standuhr. Von dem bemalten Zifferblatt starrte uns ein pausbäckiges Gesicht mit dunklen Augen entgegen.
Paps erklärte, es wäre eine Augenwender-Uhr. »Wenn man sie aufzieht, bewegen sich die Augen im Minutentakt nach rechts und links. Sie ist sicher sehr wertvoll.« Und er öffnete die Uhrentür und wollte das Pendel anstoßen, doch Kendra griff nach seinem Arm und hinderte ihn daran.
»Lass sie!«, sagte sie leise, aber heftig. »Lass das lieber bleiben!«
So einen Befehlston hätte er von mir nie geduldet. Mit Kendra war das etwas anderes. Er blinzelte verwirrt, ließ dann aber die Hand sinken und griff wieder nach dem Leuchter, ohne eine Frage zu stellen. Wieder einmal dachte ich, dass unser Vater offenbar nicht wissen wollte, was in Kendras Kopf vorging.
Die nächsten drei Etagen hatte Paps bereits aufgeteilt. Der Raum über dem Wohnzimmer sollte sein und Mamas Schlafzimmer werden. Darüber sollte ich wohnen und der Raum unter dem Dachboden war für Kendra vorgesehen.
»Ihr könnt auch tauschen, wenn euch das so nicht passt«, sagte er.
Mir war es egal, welches Zimmer ich bekam. Sie sahen beide gleich aus, jedes mit einem kleinen schwarzen Marmorkamin und fünf Fenstern. Es gab keine Möbel bis auf einen breiten Schrank in meinem und ein Himmelbett in Kendras Zimmer, in das ich mich sofort verliebte.
»Du kannst es haben«, sagte meine Schwester großzügig. »Falls man es abbauen und nach unten bugsieren kann. Ich bleibe jedenfalls hier oben.«
Paps sah sich das Bett an. »Man muss es zerlegen können«, meinte er. »Wie hätten sie es sonst hier heraufbefördert? Die Treppe ist verdammt schmal.« Und er begann das Bett zu untersuchen. Vier gedrechselte Säulen trugen einen Betthimmel, dessen Samtbespannung in violetten Fetzen herunterhing.
»Dann müsste der Schrank in meinem Zimmer auch zerlegbar sein«, sagte ich.
»Es ist ein Truhenschrank«, belehrte mich Paps. »Er besteht aus drei Teilen mit Eisengriffen links und rechts. Man kann ihn auseinandernehmen und die einzelnen Teile ganz bequem tragen. Aber du brauchst ein Bett, Kendra.«
Sie stand am Fenster und drückte die Nase gegen die Scheibe. »Mir reichen eine Matratze und ein paar Sitzkissen. Und für meine Klamotten nehme ich die Korbtruhe, die zu Hause auf dem Flur steht.«
Sie stockte, drehte sich um und schien zu lauschen. Ich beobachtete sie. Ihre Nasenspitze zuckte, was immer ein Alarmzeichen bei ihr war.
»Der Turm wackelt!«, sagte sie.
Paps starrte sie an. »Dummes Zeug! Tut er nicht! Ich merke nichts. Du, Kristin?«
Ich schüttelte den Kopf. Mir war plötzlich unbehaglich, aber ich hätte schwören können, dass der Turm sich nicht bewegte, obwohl es draußen so windig war.
Kendra verbesserte sich. »Er vibriert! Ich spür’s unter meinen Fußsohlen und im ganzen Körper. Echt, ohne Witz!«
Paps war erschrocken. Er legte sich auf den Boden und presste sein linkes Ohr und seine Handflächen gegen eine Steinplatte. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf und klopfte den Staub von seiner Hose.
»Nichts zu spüren«, sagte er erleichtert. »Das bildest du dir nur ein. Wahrscheinlich rüttelt der Wind am Dach. Es ist ganz normal bei einem Turm, dass man an stürmischen Tagen das Gefühl kriegt, er würde schwanken.«
Kendra schnitt eine Grimasse. »Schon recht. Aber sag später nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Es hat jetzt auch aufgehört. Wahrscheinlich passt es irgendjemandem nicht, dass wir hier sind.«
Unser Vater hörte nicht mehr zu, aber mir gab ihre Antwort zu denken. »Wie meinst du das?«, flüsterte ich, während wir die Treppe weiter nach oben stiegen. »Hier lebt doch keiner mehr! Der Turm ist unbewohnt.«
»Das werden wir schon noch sehen«, sagte sie und zwinkerte mir geheimnisvoll zu.
Über Kendras künftigem Zimmer befand sich eine Art Speicher. Hier gab es keinen Kamin; der Boden und die Wände waren mit grünlich grauem Schimmel überzogen. Spinnweben hingen wie silberne Bärte von der Decke. Überall standen vergammelte Möbelstücke herum – Sessel, aus denen die Rosshaarfüllung quoll, zusammengerollte Teppiche, Truhen mit rostigen Beschlägen und ein großer Spiegel mit zersplittertem Glas.
Das letzte Stück Treppe war schadhaft. Die Stufen bröckelten und schienen nur noch locker mit der Mauer verbunden zu sein. Sie führten unters Dach, hinauf zur Plattform mit den Schießscharten.
»Das Dach ist erst vor sechzig oder siebzig Jahren aufgesetzt worden«, erklärte Paps. »Ursprünglich war es ein flaches Dach und dort oben standen wohl die Wachen und hielten Ausschau nach herannahenden Feinden.«
Durch eine Art Falltür, die nach außen aufgeklappt werden konnte, kam man aufs Dach, doch die Tür war mit einem Hängeschloss versperrt. Paps behauptete, er hätte den Schlüssel verlegt.
»Ihr sollt da auch nicht hinauf«, sagte er. »Die Treppe ist zu unsicher. Nächste Woche nehme ich Urlaub und kümmere mich darum, dass die nötigen Reparaturen durchgeführt werden. Vielleicht muss ein Teil des Daches erneuert werden. Und hier oben ist alles total vermodert.«
»Mir gefällt es so«, erwiderte Kendra. »Es sieht aus wie in einem Gruselfilm. Ich möchte, dass es so bleibt.«
Wir stiegen die vielen Stufen wieder hinunter. In der Küche zog Paps einen Zettel aus seiner Tasche und machte sich Notizen.
»Glühbirnen«, murmelte er. »Feuerholz bestellen. Zerlegbare Bettgestelle. Lebensmittelvorräte, Decken. Die Elektrik muss überprüft werden. Wahrscheinlich muss der Schornsteinfeger kommen und die Kamine reinigen. Geschirr, Töpfe …«
Ich ging zum Herd und drehte an den Knöpfen. Von den vier Platten wurde eine warm. Das Wasser kam braun aus der Leitung.
Unser Vater wanderte herum, redete laut vor sich hin, verschwand im Bad, betätigte die Klospülung, untersuchte, ob das Wasser im Waschbecken abfloss. Kendra war verschwunden. Ich folgte ihr die Treppe hinunter und sah sie vor der großen Truhe stehen.
»Es muss eine unterirdische Kammer geben«, sagte sie, als sie mich kommen hörte. Eine Falte hatte sich zwischen ihren sandfarbenen Augenbrauen gebildet. »Und etwas, was darin verborgen ist.«
»Verborgen?«, wiederholte ich. »In einer unterirdischen Kammer? Was soll das sein?«
Sie schwieg so lange, dass ich dachte, sie würde wieder einmal gar nicht antworten. Dann erwiderte sie leise:
»Das Rätsel.«
»Wenn die Mädchen nicht mit nach Schweden fahren, brauchen sie jemanden, der sich um sie kümmert«, verkündete Mama.
Kendra stöhnte. »Brauchen wir nicht! Wir können für uns selbst sorgen.«
»Kommt nicht infrage!« Am Gesichtsausdruck unseres Vaters erkannte ich, dass er in dieser Sache nicht nachgeben würde. »Ihr könnt eine Woche bei meinen Eltern verbringen. Falls ihr aber lieber im Turm wohnen wollt, müsst ihr euch damit abfinden, dass ein Erwachsener nach euch schaut.«
Mamas Halbbruder in Schweden war gestorben. Sie wollten an der Beerdigung teilnehmen und dann noch ein paar Tage bleiben, denn Mama war lange nicht mehr in ihrer Heimat gewesen.
Kendra hatte bereits beschlossen, in dieser Ferienwoche mit mir zusammen im Schwarzen Turm zu hausen. Eigentlich war ich nicht sicher, ob ich das wirklich wollte, aber sie hatte mich dazu überredet. Es war schwierig, Kendra etwas abzuschlagen. Meistens rächte sie sich dann irgendwie und das konnte unangenehm werden.
»Der Makler, der mir den Turm verkauft hat, wohnt in dieser Gegend. Vielleicht kennt er jemanden, der sich um euch kümmert. Eine nette Frau, die kochen kann«, sagte Paps.
Unsere Eltern waren wieder einmal verschiedener Meinung. Mama fand, dass wir bei unseren Großeltern am besten aufgehoben wären. Paps versicherte, mit einer verantwortungsbewussten Person im Hintergrund müsste es durchaus möglich sein, uns mal für ein paar Tage allein zu lassen.
»Wollt ihr nicht doch mit nach Schweden fahren?«, fragte Mama irgendwann.
Wir schüttelten beide heftig die Köpfe. Weder Kendra noch ich waren besonders wild auf Familientreffen und Beerdigungen, ganz egal, wo sie stattfanden. Vielleicht war Mama insgeheim froh über unsere Entscheidung. Kendra hatte sie und Paps schon oft genug in Verlegenheit gebracht. Es hätte sie bestimmt gereizt, den einen oder anderen ihrer abgefahrenen Zaubertricks auszuprobieren, wenn die Leute in schwarzen Anzügen und Kostümen andächtig herumstanden und tief betrübte Gesichter machten.
Paps telefonierte den ganzen Abend. Am folgenden Morgen verkündete er beim Frühstück, er hätte eine Frau gefunden, eine Hauswirtschaftslehrerin, die seit Kurzem in Rente war. Sie hatte sich bereit erklärt, täglich für zwei bis drei Stunden zu uns in den Schwarzen Turm zu kommen, zu kochen und für Sauberkeit und Ordnung zu sorgen.
»Frau Kümelkäs ist bestimmt eine großartige Köchin«, behauptete er.
Kümelkäs! Ich prustete los. Kendra schnitt wilde Grimassen. Sie sprang auf, tanzte wie ein Kobold in der Küche herum und sang: »Kümelkäs! Kümelkäs! Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Kümelkäse heiß …«
Vor Lachen verschluckte ich mich an einem Brotkrümel. Mein Vater klopfte mir heftig auf den Rücken. Ich sah, dass auch Mama sich das Lachen verbiss.
»Kümelkäs mit einem m«, sagte Paps. »Für ihren Namen kann sie nichts. Aber sie klang am Telefon sehr freundlich und zuverlässig. Morgen muss ich sowieso zum Turm fahren und mit dem Elektriker reden, dann treffe ich mich mit ihr. Sie ist sicher eine reizende Person.«
Kendra hörte auf zu tanzen. Sie blieb mitten in der Küche stehen und begann leicht zu schielen, so, als wollte sie ihre Nasenspitze betrachten. Da fing unser Vater plötzlich an sich im Kreis zu drehen. Dabei murmelte er wie ein Automat: »Frau Kümelkäs ist eine reizende Person, Frau Kümelkäs ist eine reizende …« Und so weiter, bis Kendra zu schielen aufhörte und sich wieder auf ihren Stuhl setzte.
»Was soll der Unsinn?« Mamas Stimme klang nachsichtig.
Paps war rot im Gesicht und atmete heftig. »Ich bin ehrlich froh, wenn ich euch mal eine Woche lang nicht sehe!«, grollte er.
Das fand ich ungerecht. Schließlich hatte ich nichts getan, wurde aber wieder einmal mit meiner Schwester in einen Topf geworfen.
Später tauchte Kendra in meinem Zimmer auf, natürlich ohne vorher anzuklopfen.
»Wir brauchen diese Kümelkäs-Tussi nicht!«, sagte sie.