Gilly Macmillan
BAD FRIENDS – Was habt ihr getan?
Thriller
Aus dem Englischen von Maria Hochsieder
Knaur e-books
Gilly Macmillan studierte Kunst und Kunstgeschichte in Bristol und London, arbeitete für verschiedene Kunstgalerien sowie als Dozentin für Fotografie. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Bristol. Toter Himmel, ihr Debüt, hat in nicht weniger als 16 Ländern die Leser begeistert und war für den Edgar-Award nominiert, Perfect Girl landete in Großbritannien, USA und Deutschland auf den Bestsellerlisten.
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
»Odd Child Out« bei Piatkus.
© 2018 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 by Gilly Macmillan
© 2018 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Kerstin Kubitz
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Mark Owen / Trevillion Images
ISBN 978-3-426-45182-3
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Wir freuen uns auf Sie!
Für meinen Dad.
Du fehlst.
Der Roman Bad Friends spielt in meiner Heimatstadt Bristol. Manche Schauplätze wurden so exakt wie möglich abgebildet, andere wurden zugunsten der Handlung verändert. Die Figuren und Ereignisse in diesem Roman sind fiktiv, und jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen oder tatsächlichen Ereignissen ist reiner Zufall.
du musst wissen
niemand setzt seine kinder in ein boot
es sei denn das meer ist sicherer als das land
Warsan Shire, Home (Heimat)
Ein schwarzes Wasserband durchschneidet die Stadt Bristol unter dem kalten, mitternächtlichen Himmel. Auf der Oberfläche krümmen sich die Spiegelungen der Straßenbeleuchtung und treiben dahin.
Auf der einen Seite des Kanals befindet sich ein Schrottplatz, auf dem Berge zerknautschten Metalls vom Frost glitzern. Gegenüber ist ein leer stehendes Lagerhaus aus Backstein. In den Fenstern fehlen die Scheiben, und auf den Simsen nisten Tauben.
Die samtene Wasseroberfläche auf dem Kanal verschleiert, dass die Strömung darunter heftiger, schneller und stärker ist, als man vermuten würde.
Auf dem Schrottplatz schaltet sich das Licht eines Bewegungsmelders ein, und der Maschendrahtzaun scheppert. Ein fünfzehnjähriger Junge springt herab und landet schwer neben einem Autowrack. Er steht auf und rennt keuchend über den Hof, den Kopf zurückgelegt und mit rudernden Armen. Sein Weg verläuft im Zickzack, und ein oder zwei Mal strauchelt er, doch er rennt weiter.
Hinter ihm scheppert der Drahtzaun ein zweites Mal, wieder hört man jemanden auf dem Boden aufkommen und das Stampfen von Füßen. Noch ein Junge, er kommt schneller voran, mit kräftigen, fließenden Schritten, und er strauchelt nicht. Der Abstand zwischen ihnen wird kleiner, als der erste Junge das nicht eingezäunte Kanalufer erreicht und ihm klar wird, dass er hier nicht weiterkommt.
Sie stehen am Wasser, nur wenige Meter voneinander entfernt. Schwer hebt und senkt sich die Brust von Noah Sadler, und er wendet sich seinem Verfolger zu.
»Abdi«, sagt er. Es klingt flehentlich.
Niemand, dem diese beiden etwas bedeuten, weiß, dass sie hier sind.
Am Ende meiner letzten Sitzung mit der Polizeipsychologin Dr. Manelli küssen wir uns unbeholfen.
Es ist mein Fehler.
Vermutlich liegt es an meiner Euphorie, weil die unfreiwilligen Sitzungen mit Dr. Manelli endlich vorüber sind. Das hat nichts mit ihr zu tun, ich mag es nur nicht, mit Fremden mein Leben zu erörtern.
Zum Abschied hatte sie mir einen professionellen Händedruck angeboten – ihre langfingrige Eleganz mit einem einzelnen silbernen Armband um das schwarze Bündchen am schmalen Handgelenk. Ich aber hatte mich nicht im Griff und wollte sie auf die Wange küssen, sodass wir uns in einer peinlichen, hölzernen Umklammerung wiederfanden.
»Entschuldigen Sie«, sage ich. »Wie dem auch sei. Danke.«
»Gerne.« Sie wendet sich ab und rückt ein paar Unterlagen auf dem Schreibtisch gerade, während sich auf ihren Wangenknochen zwei farbige Punkte abzeichnen. »Ich bin auch in Zukunft immer für Sie da, wenn Sie mich brauchen sollten«, meint sie. »Meine Tür steht Ihnen immer offen.«
»Und Ihr Bericht?«
»Wird wie besprochen Ihre sofortige Rückkehr ins Kriminalkommissariat empfehlen.«
»Wann, meinen Sie, werden Sie ihn einreichen? Ich will Sie nicht drängen, aber ich habe auch keine Lust auf weitere Verzögerungen.«
»Sobald Sie das Zimmer verlassen haben, Detective Inspector Clemo.«
Sie lächelt, kann sich eine letzte Belehrung allerdings nicht verkneifen. »Vergessen Sie nicht, dass es lange dauern kann, bis man sich von einer depressiven Phase erholt. Erwarten Sie nicht, dass Ihre Empfindungen – die Wut und die Schlaflosigkeit – völlig verschwinden. Sie müssen sich darauf gefasst machen, dass sie wiederkommen. Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie davon überwältigt werden, ist das der richtige Zeitpunkt, sich bei mir zu melden, nicht erst, wenn es zu spät ist.«
Damit meint sie, bevor ich im Büro wieder einmal mit der Faust gegen die Wand schlage.
Ich nicke und blicke mich ein letztes Mal im Behandlungszimmer um. Hier drin ist es gedämpft und still, es ist ein Raum für intime Gespräche und quälende Bekenntnisse.
Meine Therapie hatte sechs Monate zuvor begonnen. Es ging darum, mir eine Rettungsleine zuzuwerfen und mich davor zu bewahren, in den Schuldgefühlen und der Reue unterzugehen, die mich nach dem Fall um Ben Finch heimsuchten; ich sollte lernen, das, was geschehen war, anzunehmen und weiterzumachen.
Ben Finch war acht Jahre alt, als er verschwand; der Fall war im Fokus der Öffentlichkeit, und es stand viel auf dem Spiel; wochenlang überschlugen sich die Medien mit sämtlichen Details. Ich quälte mich wegen des Jungen und fühlte mich persönlich für sein Schicksal verantwortlich, doch das hätte nicht sein dürfen. Man muss ein gewisses Maß an professioneller Distanz wahren, andernfalls hat keiner was davon.
Ich glaube, mittlerweile habe ich akzeptiert, was passiert ist, zumindest einigermaßen. Jedenfalls habe ich Dr. Manelli davon überzeugt, dass es so ist.
Während ich die Treppe in Manellis Haus hinunterlaufe, rufe ich meine Chefin im Kommissariat an, den Blick fest auf die Glasscheibe über dem Eingang geheftet. Das Tageslicht dahinter bedeutet meine Freiheit.
Fraser geht nicht ans Telefon, also hinterlasse ich eine Nachricht, in der ich ihr mitteile, dass ich bereit bin, an meinen Arbeitsplatz zurückzukehren, und frage, ob ich morgen anfangen kann. »Ich übernehme jeden Fall, egal was«, sage ich. Und das meine ich so. Alles ist mir recht, solange ich wieder im Rennen bin.
Während ich die baumbestandene Straße, in der Manellis Praxis liegt, auf dem Fahrrad entlangfahre, denke ich darüber nach, wie viel harte Arbeit es mich kosten wird, mir nach allem, was passiert ist, wieder einen Namen zu machen. Es gibt eine Menge Leute, die ich beeindrucken muss.
Doch ich bin in Aufbruchsstimmung, und es scheint nicht unmöglich.
Ich bin voller Zuversicht, sodass ich sogar die ersten Blüten bemerke, und mich überschwemmt eine Welle der Zuneigung für die schöne, quicklebendige Stadt, in der ich lebe.
Aus der Galerie fällt Licht auf die Straße und erhellt den schmutzigen Gehsteig.
Große weiße Buchstaben wurden mit Schablonen auf das Fenster gemalt und kündigen unübersehbar die Ausstellung an:
EDWARD SADLER:
MIT FLÜCHTLINGEN UNTERWEGS
Darunter folgt in Kursivschrift eine nähere Beschreibung des ausgestellten Werks.
Vertriebene Leben und zerstörte Orte:
Bilder vom Rande des Seins
Das riesige Foto, das im Schaufenster hängt, wird von einem Scheinwerfer angestrahlt.
Darauf ist ein Junge zu sehen. Vor dem Hintergrund eines tiefblauen Himmels, eines azurnen, mit Schaumkronen gesprenkelten Ozeans und einem Panorama zerbombter Gebäude geht der Junge auf die Kamera zu. Er mag dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Er trägt lange Shorts, Flipflops und ein Fußballtrikot mit abgeschnittenen Ärmeln. Seine Kleider sind schmutzig. Sein Blick richtet sich auf einen Punkt hinter der Kamera, Gesicht und Haltung zeugen von Anstrengung, denn auf seinen Schultern trägt er einen Hammerhai. Dessen blutiges Maul ragt in Richtung der Kamera. Das Maul und eine blutrote Schnittwunde am muskulösen weißen Rumpf wirken erschreckend plastisch gegen die zerstörte Architektur im Hintergrund: Zeichen von Leben, Tod und Gewalt.
Auf dem Weg zum Fischmarkt, Mogadischu 2012, lautet der Untertitel.
Es ist nicht das Bild, das Ed Sadlers Ruf begründete und ihm seine fünf und ein paar Minuten Ruhm einbrachte, nichtsdestotrotz wurde es an einige renommierte Medien verkauft.
Die Galerie ist gesteckt voll. Alle halten Gläser in den Händen und scharen sich um einen Mann. Er steht an der Rückwand des Raums auf einem Stuhl. Er trägt eine kakifarbene Hose, abgestoßene braune Schnürschuhe, einen ausgebleichten Ledergürtel und ein hellblaues Hemd, dessen Falten verraten, dass er es eben erst gekauft hat. Sein sandfarbenes Haar ist am Ansatz etwas dunkler als an den Spitzen, und es ist dichter, als man bei einem Mann in den frühen Vierzigern erwarten würde. Er sieht gut aus – hat breite Schultern und ein kantiges Kinn –, auch wenn seine Frau der Meinung ist, dass seine Ohren ein bisschen zu weit abstehen, um ganz perfekt zu sein.
Er wischt sich über die sonnengebräunte Stirn. Er ist leicht beschwipst, vom guten Bier, dem erstaunlich großen Interesse und der Tatsache, dass diese Nacht den Höhepunkt seiner beruflichen Karriere darstellt, gleichzeitig aber auch ein verheerendes privates Tief.
Es ist gerade mal vier Tage her, dass Ed Sadler und seine Frau Fiona sich mit ihrem Sohn Noah und dessen Onkologin zusammengesetzt und die denkbar schlimmste Prognose bekommen haben. Sie stehen ganz unter dem Eindruck dieses Schocks und haben es bislang für sich behalten.
Jemand klimpert mit einem Löffel an sein Glas, und die Anwesenden verstummen.
Ed Sadlers Kopf und Schulter erheben sich über die Menge, und er zieht ein Blatt aus der Tasche und setzt sich die Lesebrille auf, nimmt sie jedoch gleich wieder ab.
»Ich glaube, das brauche ich nicht«, sagt er und zerknüllt das Papier. »Ich weiß auch so, was ich sagen will.«
Er sieht sich im Raum um und sucht den Blickkontakt mit Freunden und Kollegen.
»Abende wie diese sind etwas ganz Besonderes, denn es passiert nicht oft, dass ich so viele Menschen, die mir wichtig sind, um mich versammeln kann. Es macht mich sehr stolz, dass ich euch mein Werk hier zeigen kann. Es ist die Arbeit eines ganzen Lebens, und es gibt eine Reihe von Menschen, die ich nennen muss, weil es dieses Werk ohne sie nicht gäbe. Zunächst ist da mein guter Freund Dan Winstanley, genau genommen sollte ich jetzt sagen, Professor Winstanley. Wo bist du, Dan?«
Ein Mann im blauen Hemd hebt mit einem verlegenen Lächeln die Hand; sein Haar könnte einen Friseurbesuch vertragen.
»Zuallererst möchte ich dir dafür danken, dass du mich in der Schule jede Woche die Mathehausaufgaben hast abschreiben lassen. Ich denke, es ist lange genug her, damit ich es gefahrlos sagen kann!« Damit erntet er ein Lachen.
»Viel wichtiger aber ist, dass du mir Zugang zu so vielen verschiedenen Orten in Somalia verschafft hast, insbesondere zu Hartisheik, dem Flüchtlingslager, in dem die Fotos entstanden sind, die meine Karriere begründet haben. Dieser Mann hier, Dan, hat mich das erste Mal dorthin mitgenommen, als er SomaliaLink aufgebaut hat. Für diejenigen, die SomaliaLink nicht kennen: Das sollten Sie ändern. Allein durch Dans Sturheit und Geschick ist es zu einer preisgekrönten Organisation geworden, die Unglaubliches für Bildungs- und Aufbauprojekte in ganz Somalia leistet. Sie wurde vor knapp zwanzig Jahren mit dem bescheideneren Ziel gegründet, die Beziehungen zwischen unserer Stadt und der somalischen Flüchtlingsgemeinde zu fördern, aus der viele über Hartisheik und benachbarte Camps nach Bristol kamen. Ich bin sehr stolz darauf dazuzugehören. Dan, solange ich zurückdenken kann, hast du die Dinge für mich gerichtet, doch du warst immer auch meine Inspiration. Was meine geistigen Fähigkeiten angeht, konnte ich nie allzu viel beitragen, aber ich hoffe, dass diese Bilder dabei helfen, deine Arbeit bekannt zu machen. Oft ist es gefährlich, solche Fotos aufzunehmen, und manchmal macht es Angst, aber von der Notwendigkeit bin ich zutiefst überzeugt.«
Spontan wird geklatscht, und einer von Eds Rugbyfreunden ruft etwas dazwischen und bringt ihn zum Lächeln.
»Es gibt noch einen weiteren Grund, warum ich das hier mache, und das ist es, was ich heute Abend vor allem sagen möchte …« Seine Stimme versagt, doch er fängt sich. »Entschuldigt. Was ich sagen will, ist, wie stolz ich auf meine Familie bin und dass ich es ohne sie nicht geschafft hätte. Auf euch, Fi und Noah; ich weiß, es war nicht immer leicht – kleine Untertreibung –, danke; ohne euch bin ich nichts. Ich tu das alles für euch, ich liebe euch.«
Neben ihm verzieht Fiona kurz das Gesicht, und sie ringt schwer um Fassung.
Ed blickt im Raum umher und sucht seinen Sohn. Er ist leicht auszumachen, weil sein Freund Abdi neben ihm steht, einer von nur vier Schwarzen, die sich im Raum befinden, wenn man von jenen auf den Fotos absieht.
Ed hebt die Bierflasche, prostet seinem Sohn damit zu und genießt es, als sich die Wangen des Jungen vor Freude röten. Noah erwidert den Gruß mit seinem Colaglas.
Die Hälfte der Anwesenden murmelt »Aaahh«, bis jemand ruft: »Auf Fiona und Noah!«, und alle die Gläser heben. Der darauffolgende Applaus ist lautstark und steigert sich zu einem Dröhnen, durchsetzt von ein paar Pfiffen.
Ed gibt der Band den Einsatz zu spielen.
Dann steigt er vom Stuhl herunter und küsst seine Frau. Beiden stehen jetzt die Tränen in den Augen.
Um sie herum schwillt der Partylärm an.
Während Abdi Mahad mit seinem Freund Noah der Ausstellungseröffnung beiwohnt, verbringt der Rest seiner Familie den Abend zu Hause.
Seine Mutter Maryam sieht sich eine somalische Castingshow auf Universal TV an. Sie findet die Darbietungen plump und albern, aber zugleich faszinieren sie sie auch, genug jedenfalls, um sie bei der Stange zu halten.
Die Sendung ist ihr heimliches Laster. Sie lacht über eine Frau, die so schlecht singt, dass es wehtut, und runzelt die Stirn beim Anblick zweier Männer, die eine haarsträubende akrobatische Nummer vorführen.
Abdis Vater Nur schläft mit zurückgelegtem Kopf und offen stehendem Mund auf dem Sofa neben seiner Frau. Hin und wieder blickt Maryam zu ihm. Sie hat festgestellt, dass er in jüngster Zeit an den Schläfen ein wenig grauer geworden ist, und bewundert sein Profil. Allerdings fehlt ihm die übliche würdevolle Ausstrahlung, da er laut genug schnarcht, um mit den schrillen Stimmen der Moderatoren im Fernsehen mitzuhalten. Eine neunstündige Taxischicht, gefolgt von einem Gruppentreffen der Gemeinde und einem anschließenden schweren Abendessen mit Freunden, hat ihn ebenso wirkungsvoll außer Gefecht gesetzt wie ein Knüppel.
Als der Moderator eine Rap-Darbietung rühmt, die Maryam für bestenfalls mittelmäßig hält, schnarcht Nur so laut, dass er davon wach wird. Lachend sagt Maryam: »Zeit, ins Bett zu gehen, mein Lieber?«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nicht sehr lange.«
»Hat Abdi gesimst?«
»Nein.«
Die Tatsache, dass Abdi zur Fotoausstellung gegangen ist, hat beide beunruhigt. Sie wissen, dass es dabei um Fluchten geht und dass manche der Fotos, die Edward Sadler berühmt gemacht haben, in den Flüchtlingslagern aufgenommen wurden, in denen sie selbst gelebt haben. Ihnen ist ein wenig unwohl dabei.
Abdi hat nie in einem Camp gelebt. Nur und Maryam setzten ihr Leben aufs Spiel, um nach England zu kommen. Abdi sollte nicht erleben, was sie erlitten hatten, nachdem der Bürgerkrieg in Somalia alles, was ihr Leben bislang ausgemacht hatte, unwiederbringlich und gewaltsam ausgelöscht hatte. Sie beide stammten aus wohlhabenden, gebildeten Elternhäusern, in denen sich an manchen Abenden James Brown auf dem Plattenteller drehte und auf den Bücherregalen zwischen italienischer Literatur auch Ernest Hemingway zu finden war, Familien, in denen die Töchter nicht beschnitten und die Kinder nicht dazu erzogen wurden, jene das Land spaltende Stammespolitik fortzusetzen, die schon so bald todbringend sein sollte.
Nur und Maryam hatten sich sehr bemüht, Abdi davon abzubringen, zur Ausstellung zu gehen, doch er wollte nichts davon hören.
»Ihr sollt mich nicht in Watte packen«, sagte er, und dagegen ließ sich nur schwer etwas einwenden. Er ist fünfzehn, selbstbewusst, schlau und wortgewandt. Sie wissen, dass sie ihn nicht ewig behüten können.
Schließlich sahen sie ein, dass sie womöglich glimpflich davonkämen, wenn sich sein Interesse an ihrer Flucht darauf beschränkte, eine Ausstellung zu besuchen; also ließen sie ihn ziehen und wünschten ihm einen schönen Abend.
Maryam schaltet den Fernseher aus, der Bildschirm wird schwarz und offenbart ein paar schmutzige Fingertapser, und sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. Morgen früh wird sie sich darum kümmern.
»Machst du dir Sorgen?«, fragt sie ihren Mann.
»Nein, ich hab sowieso nicht damit gerechnet, dass er sich meldet. Lass uns schlafen gehen.«
Während die Eltern mit den üblichen Handgriffen das Sofa zum Bett umrüsten, sitzt Abdis Schwester Sofia Mahad im Zimmer nebenan an ihrem Schreibtisch.
Eben hat sie eine E-Mail ihrer ehemaligen Schulleiterin bekommen, mit der Frage, ob sie bereit wäre, auf dem Berufsinformationstag an ihrer früheren Schule einen Vortrag für die Oberstufe zu halten.
Sofia ist zwanzig Jahre alt und im zweiten Ausbildungsjahr zur Hebamme. Nie zuvor hat sie einen öffentlichen Vortrag gehalten. Sie ist schüchtern und hat solche Situationen wie den Teufel gemieden. Doch die Einladung schmeichelt ihr, insbesondere der Satz, in dem sie als »eine unserer herausragendsten Schülerinnen« bezeichnet wird.
»Stellt euch nur vor«, ruft sie zu ihren Eltern hinüber. »Ich soll einen Vortrag halten!«
Sie nimmt einen der Kopfhörer aus dem Ohr, um die Antwort nicht zu verpassen, aber es kommt keine. Offensichtlich haben sie sie nicht gehört. Später will sie es ihnen von Angesicht zu Angesicht erzählen, beschließt sie, dann kann sie sich auch über das stolze Lächeln auf ihren Gesichtern freuen.
Sie liest die E-Mail ein zweites Mal. »Unsere Zwölftklässler wird bestimmt interessieren«, schreibt die Schulleiterin, »was Sie dazu bewogen hat, Hebamme zu werden.«
Sofia macht, was sie immer macht, wenn sie überlegen muss. Sie steht auf und blickt aus dem Fenster. Draußen sieht sie einen kleinen Park, der menschenleer und still ist, und auf der anderen Seite des Parks einen großen Wohnblock. Die vorhanglosen Fenster geben den Blick frei auf das Leben anderer Menschen, das in allen Schattierungen von warm bis neongrell, manchmal begleitet vom Flimmern eines Fernsehers, erleuchtet wird.
Sie weiß genau, was ihr Ansporn war: Es war die Geburt von Abdi. Ihr Problem ist, dass sie nicht sicher ist, ob sie darüber eine Rede halten kann, zumal keiner in der Familie je offen über die Ereignisse in jener Nacht gesprochen hat. Die Version, die ihre Mutter von Abdis Geburt erzählt, ist äußerst kurz: »Abdi wurde unter dem Sternenhimmel geboren.«
Sofia weiß, dass es nicht die ganze Geschichte ist, denn sie erinnert sich bis ins Detail an jene Nacht. Wie alle Erinnerungen an Afrika ist auch diese intensiv und plastisch. Manchmal wirkt dieser Teil ihres Lebens – der Teil vor England – geradezu hyperrealistisch.
Abdi kam in der Wüste zur Welt, und Sofia hat die Sterne vor Augen. Wie große Wolken wanderten sie über den Himmel. Sie sahen aus wie Zellen, die sich unter dem Mikroskop vervielfältigen. Als der Lastwagen endlich stehen blieb und die Scheinwerfer ausgeschaltet waren, warfen sie ihr milchig helles Licht herunter.
Die Männer ließen Maryam erst vom Lastwagen absteigen, als die Geburt ganz kurz bevorstand. Seit Stunden hatte sie Wehen, zwischen den anderen auf der Pritsche eingequetscht, und in der leeren Weite der Sahara ging es weiter mit den Wehen. Es waren keine anderen Frauen da, die ihr helfen konnten, also war es Sofia, die sich hinkniete und den Kopf ihrer Mutter hielt, den Schweiß auf Maryams Wangen unter den Fingerspitzen, und spürte, wie sich ihr Kiefer verkrampfte. Neben ihnen kauerte Nur und half mit zitternden Händen, den Jungen zu entbinden.
Sofia erinnert sich an die Steine, die sich in Schienbeine, Knie und Fußrücken bohrten. Sie erinnert sich daran, wie das Licht der Sterne und der Mondsichel die unbeständigen Oberflächen der Dünen zum Schimmern brachte. Sie hatte das Gefühl, dass es ihr heller Glanz war, der Maryams Schreie hinauf in den Himmel steigen ließ und ihrem Körper das Baby entlockte.
Barsch erklärten die Schlepper Maryam, dass sie leise sein und sich beeilen solle. Die Silhouette eines jeden von ihnen war mit einem dritten Bein versehen, bestehend aus einem langen Stock oder einem Gewehr. Ungeduldig stützten sie sich darauf, von Gewalttätigkeit durchdrungen und auf Schnelligkeit bedacht, um den maximalen Profit aus ihrer menschlichen Fracht zu schlagen.
Sofia erinnert sich daran, wie die Schneide des Messers im Licht der Taschenlampe aufblitze, als die Männer Abdis Nabelschnur durchtrennten. »Beeil dich! Los, zurück auf den Lastwagen!«, sagten sie, und in ihren Augen lauerte die Drohung, Maryam zurückzulassen, sollte sie sich nicht fügen. Minuten später gebar sie gehorsam die nasse, blutige Plazenta auf dem ausgedörrten Boden, wo der Wind sie mit Sand besprenkelte.
Zurück auf dem Lastwagen, hatten die anderen Passagiere ihre Gesichter gegen den Sand und den Wind in Tücher gewickelt. Maryam verlor das Bewusstsein, ihr schwerer Körper schweißgetränkt und dunkles, blutiges Gewebe zwischen die Beine gepresst. Nur hielt sie im Arm, und sein Atem zitterte, als der Motor aufheulte. Sofia wiegte ihren neugeborenen Bruder. Sie hielt ihn warm. Dicht schob sie ihr Gesicht an das Gesicht des Babys und betrachtete es. Im Sternenlicht musterte sie die verklebten Augen, seinen feucht-weichen Körper und sein Haar und wusste, dass sie ihn liebte.
Während der Lastwagen über die Wüstenpiste schaukelte und schlitterte, schenkte ihr dieser Gedanke trotz aller Angst ein Gefühl von Wärme.
Plötzlich atmet Sofia scharf ein – es ist beinahe ein Keuchen – und wird aus ihren Gedanken gerissen. Sie schreibt eine E-Mail an die Schulleiterin, in der sie sich für die Einladung bedankt und erklärt, dass sie darüber nachdenken wolle.
Als das erledigt ist, gibt sie sich wieder den Gedanken über Abdi hin und darüber, wie merkwürdig es ist, zwischen den Orten geboren zu werden, so wie er, unter den Augen von Schleppern und Schlägern. Wohin gehörte man dann tatsächlich? Wie beeinflusste einen das im tiefsten Innern? Wusste man, dass es Drohungen waren, die einen aus dem verschwitzten, verängstigten Körper der Mutter gezerrt hatten?
Doch sie hält sich nicht allzu lange mit diesen Überlegungen auf, weil sie bald abgelenkt wird vom Brummen, das anzeigt, dass neue Nachrichten in den sozialen Netzwerken eingegangen sind, und von all den anderen Zerstreuungen der Gegenwart.
In dieser Nacht denkt Sofia nicht mehr an Abdi. Ebenso wenig tun es ihre Eltern, wenn man von einer kurzen, schläfrigen Diskussion darüber absieht, ob Abdi sich aus dem Schachklub abmelden sollte, um mehr Zeit für die Vorbereitung auf die Prüfungen in diesem Sommer zu haben, als sie schon unter der Decke liegen. Sie hegen große Hoffnungen, dass er die nötigen Zensuren haben wird, um sich für eine der Eliteuniversitäten zu bewerben.
Nachts bleibt es ganz ruhig in der Wohnung. Erst in den kühlen Morgenstunden klingelt es wiederholt laut und lang an der Tür, bevor die Glocke verstummt wie ein Röcheln auf dem Totenbett, als die Batterie versagt. Nur steigt aus dem Bett und geht an die Tür. Er ist so verschlafen, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann.
»Hallo?«, sagt er. Er kann seinen Atem sehen.
Als Antwort kommt ein Wort, das er schon in jungen Jahren zu fürchten gelernt hat. »Polizei.«