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Als Ravensburger E-Book erschienen 2016

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

Originalausgabe
© 2016 Ravensburger Verlag GmbH
Vermittelt durch die Literaturagentur connACT, Köln

Lektorat: Linda Borchert
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München, unter Verwendung von Bildern von © Aleshyn_Andrei / Shutterstock; © Bruce Rolff / Shutterstock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47711-1

www.ravensburger.de

Für Hannah und Lore

Die blaue Blume

Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.
Ich wandre mit meiner Harfe
Durch Länder, Städt und Au’n,
Ob nirgends in der Runde
Die blaue Blume zu schaun.
Ich wandre schon seit lange,
Hab lang gehofft, vertraut,
Doch ach, noch nirgends hab ich
Die blaue Blum geschaut.

Joseph von Eichendorff
(1818)

ERSTER
TEIL

Annas Blog

13. Oktober – Zurück auf dem Dach

Seit ein paar Tagen funktioniert mein NetBoard wieder. In einem Trümmerhaus, grad die Straße runter, hab ich einen alten Festplattenchip gefunden und ausgetauscht.

Wir waren schon mal in dem Haus – Luki, Santje und ich. Damals haben wir ein altes Radio entdeckt, in dem noch funktionierende Batterien waren. Diesmal sind wir bis ganz nach oben geklettert. Und in einem Zimmer voller Schutt von der Decke, mit umgekippten Regalen und einem zertrümmerten Schreibtisch, schiebe ich Steine zur Seite, und, bloß von einem Brett geschützt, liegt da ein ziemlich altes, aber noch richtig gutes Board, als hätte es nur auf mich gewartet. Zu Hause hab ich’s auseinandergebaut, und da ist er, der Chip.

Ewig hab ich nach so was gesucht. Platinsolar! Ich musste noch warten, bis wir wieder Strom hatten, damit ich mein Board aufladen konnte. Der Akku ist noch ziemlich gut. Wie riesig die früher waren!

Dann bin ich sofort rauf aufs Dach und hab ausprobiert, ob der Chip funktioniert und man nicht doch noch irgendwie online kommt.

Eigentlich ist es das Uralt-Board meines Vaters, aber es interessiert ihn nicht mehr. Er denkt ja, es sei kaputt. Und er weiß, dass ich dauernd an irgendwas rumbastle. Deswegen fragt er auch nicht nach.

Bei meinem Roll-Up hat sich die Bildschirmfolie gelöst, das kann man nicht mehr reparieren. Das Board ist alt, es ist sogar noch so eins zum Aufklappen. Noch nicht mal den Bildschirm kann man abnehmen. Ist nichts mit einfach aufrollen und in die Tasche stecken. Aber unter den Pullover bekomm ich’s locker geschoben, ohne dass jemand was sieht.

Zwei Jahre lang konnte ich nicht schreiben und nicht ins Netz. Fühlt sich ein bisschen an wie nach Hause kommen. Ich kenn niemanden, der noch reinkommt. Würde allerdings auch niemand zugeben.

In der Wohnung kann ich’s nicht tun. Meine Eltern dürfen auf keinen Fall erfahren, was ich mache. Die drehen durch, weil Ich Uns Noch Alle In Gefahr Bringe. Und außerdem würden sie dann wissen wollen, was in der Welt los ist. Alle wollen immer Infos. Wollen wissen, was vor sich geht.

Das Netz für unsere Smart-Eyes gibt es nicht mehr und damit sind sie eigentlich Schrott. Aber die Soldaten benutzen ihre Smart-Eyes, jedenfalls manche. Es heißt, sie haben ein eigenes Netz.

Das All-Net funktioniert noch. Nicht besonders stabil, aber es geht, bis jetzt jedenfalls. Es ist fast ein bisschen unheimlich. Ich hab’s mir so gewünscht, aber auch gedacht, dass die Web-Polizei es einfach abgestellt hat. Oder nutzen die das auch? Ich hab keine Ahnung. Viele Seiten sind nicht mehr zu erreichen oder gesperrt, und ich soll mich anmelden. Wie früher eben. Aber immerhin ist meine Lieblingsmangaseite noch da, auch wenn es dort nichts Neues gibt. Und mein Blog ist nicht beschlagnahmt! Die WePo kann eben doch nicht alles kontrollieren.

Ich hab den Blog von Anfang an auf einem ziemlich abseitigen Offshore-Server versteckt, und ich frage mich, wieso haben die wohl noch Strom? Aber es gibt ihn tatsächlich immer noch. Ich habe ein paar ZPL-Channels gekoppelt und benutze elite-proxy. So entwische ich dem WePo-Radar. Hoffe ich jedenfalls. Das Board ist manchmal ganz schön langsam dadurch. Aber ich kann schreiben (stellt euch vor: Ich tippe! Die Voice-Box ist kaputt), und vielleicht ist ja doch irgendwo irgendjemand, der das lesen kann. Und manchmal denke ich, wie es wohl wäre, wenn das hier jemand in hundert Jahren oder so liest. Und ich hoffe, dass dieser Jemand glücklich ist und satt und sagt: »Da bin ich aber froh, dass die dunkle Zeit vorbei ist und alle Menschen frei sind und genug zu essen haben.« Aber vielleicht ist in hundert Jahren auch überhaupt niemand mehr auf dieser Welt. Wenn Das So Weiter Geht …, wie Frau Weber von unten immer sagt.

Wirklich niemandem hab ich erzählt, dass das Board repariert ist und ich wieder im Netz bin. Nicht mal Luki, meiner besten Freundin. Sind schon Menschen für weniger getötet worden. Viel weniger.

Von hier oben kann ich über ganz Berlin sehen. Es ist ruhig in der Stadt und es fallen nur noch selten Schüsse. Bis gestern dauerten die Aufstände. Vor einer Woche oder so ging es auf einmal wieder los. Wie ein Vulkan unter Druck, der plötzlich ausbricht. Aber nie ändert sich was. Alles wird immer nur schlimmer. Wir rennen von Ecke zu Ecke. Springen, so schnell es geht, über die Schuttberge. Immer wieder wird geschossen, auch wenn es gerade eine ruhige Zeit ist. Und meine Mutter Kommt Fast Um Vor Sorge, wenn ich aus dem Haus gehe.

Aber immerhin ist es auf dem Dach sicherer geworden. Als ich klein war, flogen jeden Tag Drohnen über die Stadt und Hubschrauber donnerten ganz dicht über die Häuser. Dann kamen die Luftangriffe. Das alles hat fast ganz aufgehört. Ob die keinen Treibstoff mehr haben? Für die Jeeps und Panzer gibt’s jedenfalls noch genug.

Mein Vater ist nie mit auf der Straße, wenn gekämpft wird, weil er zu viel Angst hat.

Ich Weiß Nicht Ob Es Gut Ist Die Hand Zu Schlagen Die Uns Ernährt.

Ernährt? Meine Mutter ist nur noch ein Strich.

Wir Brauchen Nicht Noch Mehr Tote.

Wenn er nicht will, dass wir sterben, sollte er besser kämpfen, und nicht darauf hoffen, dass Stillhalten was ändert. Aber wir können froh sein, dass er bei uns ist. Sein rechtes Bein ist etwas kürzer als sein linkes und deswegen ist er als Soldat nicht zu gebrauchen.

Wir haben jetzt wohl so was wie eine Militärregierung, nur falls es jemand wissen möchte.

Es heißt, es würden Aufständische in den U-Bahn-Tunneln unter der Stadt leben und sich von Ratten und Asseln ernähren. Kann ich mir aber nicht vorstellen. Ratten. Ekelhaft. Asseln gehen ja noch. Ich möchte jedenfalls nicht nachschauen, ob da jemand ist.

Wie immer zum Ende des Sommers gibt es nur noch ganz wenig Wasser. Die Rationen werden immer kleiner. Aus den Leitungen kommt fast gar nichts mehr, und wenn, dann ist es eine warme braune Brühe, mit der man sich nicht mal waschen mag. Die Soldaten fahren Wasser mit Tanklastern heran und wir füllen unsere Kanister. Die Transporte sind schwer bewacht. Am Abend schreiben sie mit Lasern die Zeit an den Himmel und welche Sektion an der Reihe ist und natürlich die Versorgungsstelle. Und als Letztes AUSGANGSSPERRE BIS SONNENAUFGANG. Damit sich niemand mehr sofort anstellt. Meine Mutter ist zu schwach, um die Kanister zu tragen, also gehe ich mit meinem Vater, sobald es hell wird.

Wenn wir rausgehen, schauen wir als Erstes nach oben, wie früher, als die Drohnen noch flogen. Als ob sie jeden Moment wieder auftauchen könnten. Und andererseits natürlich, um zu schauen, ob etwas in den Himmel gelasert wird. Aber davor heulen eigentlich immer die Sirenen. Jedenfalls fast immer. Ein paarmal war es nicht so. Beinahe hätten wir da nicht mitbekommen, dass die Versorgungsstationen offen hatten. Mein Vater meinte dann, Das Machen Die Mit Absicht. Die Hungern Uns Aus.

Wenn er neben mir läuft, spüre ich, dass er Angst hat. Angst um mich. Ich weiß, dass er am liebsten seinen Arm um mich legen und mich dicht an sich ziehen möchte, aber er lässt es dann doch, weil er weiß, dass ich nicht mehr wie ein Kleinkind behandelt werden will.

Erst letztens gab’s wieder einen Tumult, als das Wasser ausging, bevor alle in der Schlange was bekommen hatten. Plötzlich wurde gedrängelt und geschubst. Neben mir stolperte ein alter Mann und fiel hin. Ich wollte ihm helfen, aber mein Vater zog mich weg. Dann hörten wir auch schon die ersten Schüsse. Und ich schrie und schrie und schrie die ganze Zeit: »Wir müssen ihm helfen!«, doch mein Vater packte mich an den Schultern und schüttelte mich, bis ich still war.

Wir schleppten die Kanister nach Hause. Schweigend. Ich hatte Watte in den Ohren und im Kopf. Am liebsten hätte ich auch noch die Augen geschlossen und mich ins Vergessen hinabsinken lassen, auf den weichen Sandboden eines tiefen, tiefen Meeres. Aber ich musste auf den Weg achten.

Es ist heiß, mein Hals ist staubtrocken, aber gleich geht die Sonne unter, dann wird es endlich kühler. Glutrot. Es sieht aus, als würden die zerbombten Häuser bluten. Zickzackig ragen Spitzen und Ecken in den Himmel. Wie ein Gebirge. Es gibt nicht mehr viele Häuser mit heilen Dächern. Wir haben eins. Früher konnte ich von hier aus den Fernsehturm sehen. Schade, dass der nicht mehr steht. Ich habe ihn irgendwie gemocht.

Eigentlich bin ich froh, wenn der Sommer vorbei ist. Ich sehe schon aus wie ein roter, vertrockneter Einzeller. Aber nach dem Durst kommt meistens das Frieren. Was ist besser? Wird es ein milder oder ein eisiger Winter?

Eben hat mein Vater meine Mutter an den Schultern gepackt und gesagt: »Wir werden auch diesen Winter überleben, verstehst du? Wir werden nicht sterben. Keiner von uns.«

Sie hat nur dagestanden und nichts gesagt.

Alle fürchten sich vor der Kälte. Die Angst trippelt herum wie eine panische Maus, die weiß, dass überall Katzen lauern.

Das Board hat sich auf den 13. Oktober 2039 eingestellt. Ob das stimmt? Samstag. Da fällt mir meine Mutter ein. Immer redet sie von früher. Früher hat sie sich immer gefreut, wenn Wochenende war. Jetzt weiß man nicht mal mehr, was für ein Tag ist. Sie haben BRÖTCHEN geholt bei einem BÄCKER und ROSINENSCHNECKEN und überlegt, wohin sie einen AUSFLUG machen. Heute freut sie sich über nichts mehr. Früher, als es noch Arbeit gab, früher, als es noch grasgrünen Frühling gab und blätterbunten Herbst, früher, als es noch Frieden gab. Früher ist tot. Genauso wie morgen schon heute tot ist.

Ben (14. Oktober, 06:23)

du bist NICHT die einzige online. hast du keinen schiss, dass die wepo dich schnappt? einen meiner brüder haben sie abgeholt. der hat auch geschrieben, was er wollte. über den krieg und die soldaten und den hunger. du kannst deinen blog sonstwo verstecken, du musst trotzdem höllisch aufpassen. irgendwann finden sie dich doch. und bis dahin benutz lieber die ARS-leitungen statt ZPL.

in hamburg haben wir auch einen fernsehturm. den hat mein bruder jeden tag angestarrt, als wär er eine rakete, die ihn wegbringen würde von diesem planeten. wir können ihn vom küchenfenster aus sehen. ich wünschte, unser fernsehturm wäre auch nicht mehr da.

anna klingt ziemlich altmodisch. heißt du wirklich so?

Anna (16. Oktober, 08:40)

Bist du finalbescheuert, oder was? Willst du mir Angst machen? Ich bin keine Maus! Ich schreib, was ich will.Außerdem ist Ben ja wohl auch nicht gerade modern.

Wie hast du mich überhaupt gefunden? Sag’s einfach, wenn du von der WePo bist!

Ben (18. Oktober, 12:01)

anna, hast du schöne haare?

Anna (18. Oktober, 12:07)

WePo oder nicht?

Ben (18. Oktober, 12:09)

wäre ich von der wepo, hätte ich dich schon längst verhaftet.

Anna (18. Oktober, 12:10)

Du müsstest erst mal rauskriegen, wo ich bin.

Ben (18. Oktober, 12:11)

hast du nun schöne haare?

Anna (18. Oktober, 12:12)

Flirtest du?

Ben (18. Oktober, 12:13)

so wie du schreibst, musst du einzigartig sein. natürlich flirte ich.

Anna (18. Oktober, 12:14)

Lass den Quatsch!

Ben (18. Oktober, 12:14)

niemals, anna! ich mag deinen namen.

Anna (18. Oktober, 12:15)

Du bist ganz schön frech.

Ben (18. Oktober, 12:15)

nur hier. eigentlich bin ich schüchtern.

Anna (18. Oktober, 12:16)

Glaub ich dir nicht. Wollen wir aufhören?

Ben (18. Oktober, 12:16)

warum?

Anna (18. Oktober, 12:17)

Mir ist kalt. Und es fängt an zu regnen.

Anna (20. Oktober, 10:40)

Ich würde auch gern wegfliegen. In ein anderes Universum. Ich stelle mir eine grüne Wiese vor, mit bunten Blumen und einem Baum in der Mitte. Ich lasse mich ins hohe, weiche Gras fallen. Die Sonne scheint mir ins Gesicht und kitzelt meine Sommersprossen. Es ist nie zu warm oder zu kalt. Ich greife in den Himmel und pflücke mir einen Apfel.

20. Oktober – Alltag

Ich hab versucht rauszukriegen, ob es irgendwo friedlicher ist als bei uns. Aber ich komme nirgendwo rein ohne Registrierung, und das mache ich natürlich nicht. Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich auch nicht mehr erfahren würde, wenn ich mich irgendwo anmelde. Sie würden bloß sehen, wer ich bin und wo ich bin. Ich glaube, dass wir nicht wissen sollen, was wirklich in der Welt los ist. Damit wir uns nicht vernetzen, damit wir uns weiter gegenseitig misstrauen. Im All-Net genauso wie in der Stadt. Mein Vater sagt, die Militärregierung lenkt das alles mit der WePo zusammen. Ich weiß nicht, ob das stimmt.Jedenfalls bekommt niemand die Informationen, nach denen alle so gierig sind wie nach einem Stück echtem Brot.

Wenn ich nicht gerade meine schwarzen Gedanken habe, weiß ich, dass es uns eigentlich gut geht. Schließlich sind wir alle drei noch am Leben und wir sind nicht verletzt oder schlimm krank. Wir leben immer noch in unserer Wohnung – im vierten Stock. Oben ist es sicherer. Jedenfalls heutzutage. Früher, als es die ganzen Luftangriffe gab, haben wir uns im Keller versteckt.

Fragt mich nicht, wer wen zuerst angegriffen hat. Es fing mit der Europakrise an, glaube ich. Und dann war da die Sache mit Russland. Jedenfalls war es irgendwann zu gefährlich in den Wohnungen. Gegenüber wurde eine ganze Häuserzeile zerbombt, und ab da sind wir in den Keller gegangen, wenn es Fliegeralarm gab. Einschusslöcher haben wir natürlich überall in der Fassade, wie alle eben. Und ein paar in den Zimmern. Aber unser Haus steht zum Glück noch.

So richtig erinnern kann ich mich nicht mehr an die Zeit mit den Bomben. Nur daran, dass es meistens dunkel war im Keller und mein Roll-up noch funktioniert hat. Das hat geholfen gegen die Angst. Ich hab stundenlang online gespielt.

Ich war noch klein, als Europa zurück angegriffen wurde. Mein Vater sagt Die Schlimmen Ressourcenkriege dazu. Jetzt haben wir Die Schlimmen Bürgerkriege und Die Schlimme Militärregierung.

Und meine Mutter sagt immer: Wenn Wir Uns Nur Rechtzeitig Besonnen Hätten. Wir Hätten Verzichten Und Füreinander Einstehen Müssen. Wir Hätten Wir Hätten …

Tja, für hätten ist es zu spät. Jetzt haben wir den Salat.

Am Anfang funktionierte unser Fernseher noch. Er lief die ganze Zeit. Meine Eltern saßen oft davor. Daran kann ich mich noch genau erinnern. In den ersten Tagen haben sie sich alle Nachrichtensendungen angeschaut, ALLE. Meine Mutter mit den Händen vorm Mund. Mein Vater schüttelte den Kopf und legte seine Arme um mich und meine Mutter. Sie saß ganz steif da, sah nur den gelben und grauen Flecken zu, die über den Schirm sausten. Dazu krachte es schrecklich. Ich versteckte mich unter der warmen Strickjacke meines Vaters und hielt mir die Ohren zu.

Nachts wurde ich manchmal wach und schlich zur Wohnzimmertür. Wenn mein Vater mich entdeckte, sagte er: »Geh wieder ins Bett, bitte. Das ist nichts für dich.« Aber er machte nichts, er ließ mich in der Tür stehen und hatte mich im nächsten Moment schon vergessen.

Meine Eltern waren wie hypnotisiert von dem, was auf dem Bildschirm passierte. Beim Frühstück redeten sie nur vom Krieg. Immer wieder dasselbe. Sollen Wir Das Land Verlassen? Ja Aber Wohin? Und Womit? Vielleicht Wird Es Ja Gar Nicht So Schlimm. Die Nachbarn kamen rüber und sie redeten noch mehr.

Viele Sendungen gab es als Hologramm. Dann hingen Panzer und Flugzeuge mitten in unserem Wohnzimmer. Meine Eltern waren weiß wie die Wände und ich hab mir wie immer die Ohren zugehalten. Wenn es zu schlimm wurde, habe ich auf meinen Vater gehört und bin ins Bett gegangen.

Und dann passierte es. Ich erinnere mich noch an den Schmerz. Danach habe ich mich für ein Jahr unter vier Bettdecken verkrochen – sagt mein Vater. Ich weiß noch, wie es sich anfühlte, aber nicht, wie lange ich einfach nur dagelegen habe. Bestimmt bin ich zwischendurch aufgestanden. Ich erinnere mich, dass ich im Krankenhaus war. Alles weiß, alle in Hektik. Und ich weiß noch, dass es da auch mit der Schule aufhörte.

Ich war wie eine Raupe im Kokon, und als ich wieder aus dem Bett gekrochen bin, war ich erwachsen – sagt mein Vater. Aber das stimmt so nicht. Nur etwas in mir war anders.

Ich glaube, meine Mutter ist auch ins Bett gekrochen damals, im übertragenen Sinn. Aber sie ist nie mehr rausgekommen. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass ich wirklich eine Mutter habe.

Bis auf die große Balkontür sind alle Fenster im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer und in meinem Zimmer kaputt. Im Sommer ist das gar nicht schlecht, so haben wir viel frische Luft. Die Fenster im Schlafzimmer sind okay. Die verbarrikadieren wir, wenn die Kälte kommt. Das ist unser Winterzimmer. Die Wände haben wir gepolstert – mit allem, was wir finden konnten. Decken, Lumpen, Zeitungen, Dämmmaterial aus anderen Wohnungen. Als Letztes hat mein Vater Holzlatten davorgenagelt.

Alle, die ich kenne, haben so ein Zimmer, das ausgestopft ist. Weil so viele gestorben sind oder geflohen, ist genug Zeug da. Matratzen, Bettwäsche, alles. Früher gab es auch noch genug Kerzen und Batterien. Wir haben sogar einen kleinen Ofen, in dem wir Holz verbrennen können, wenn wir mal welches auftreiben können. Türen aus verlassenen Häusern, Schränke, Regale. Aber davon ist kaum noch was da.

Luki hat es nicht so gut. In ihrem Zimmer ist ein Loch in der Decke und sie haben nur eine Plane druntergehängt. Ihre Eltern wollen nicht umziehen, weil sie schon immer dort gewohnt haben. Ich bin froh, dass sie bleiben, sie leben nur eine Straße weiter. Luki und ich treffen uns jeden Tag, außer wenn es Ausgangssperre gibt.

In eisigen Wintern sehe ich immer aus wie eine Mumie, in tausend Schichten eingewickelt. Und wir schlafen zu dritt im großen Bett, damit es wärmer ist, aber wir wachen meistens trotzdem ganz früh auf, weil wir aneinanderklappern wie Eiswürfel.

Manchmal machen wir es uns gemütlich. Wir haben eine letzte dicke Kerze und noch zwei Päckchen Streichhölzer. Meine Mutter macht Feuer, wenn wir was zum Heizen finden. Und dann liest mein Vater uns vor. Das sind meine schönsten Abende. Wir haben auch eine Taschenlampe, die ich gefunden habe. Sie lädt sich auf, wenn man an einer Kurbel dreht, aber das kann man nur ungefähr 500 Mal machen – stand auf der Verpackung. Wir führen eine Strichliste. 459 Mal sind schon verkurbelt. Am Anfang haben wir sie ständig benutzt – wir konnten schließlich nicht wissen, wie lange die Kämpfe andauern würden. Jetzt fühlt es sich an, als würden sie ewig weitergehen.

Zuerst War Es Ein Krieg Von Staaten Gegen Staaten, sagt mein Vater. Jetzt Ist Es Ein Bürgerkrieg. Und es klingt so bitter wie Seifenlauge schmeckt.

Für mich ist Krieg Krieg. Wo ist der Unterschied?

Wenn es Strom gibt, haben wir in zwei Räumen sogar Licht. Der alte Elektroherd funktioniert dann auch – den haben wir von den Degenhardts unter uns hochgeschleppt, nachdem sie monatelang nicht mehr nach Hause gekommen sind. Nach all den Gehen-Oder-Bleiben-Diskussionen in unserer Küche sind sie wirklich gegangen. Zu Fuß. Gut für uns, dass sie noch so ein Uralt-Teil hatten. Unsere Geräte funktionierten nämlich alle nur über Smart-Eye.

Wir haben seitdem nichts mehr von den Degenhardts gehört. Von niemandem, der gegangen ist. Das fand ich früher so unheimlich – Menschen, die wir kannten, verschwanden einfach. Jetzt habe ich mich daran gewöhnt. Ich war froh, dass wir geblieben sind, weil ich dachte, wir würden sonst auch verschwinden. Aufgesaugt werden von einem großen Nichts, das für mich direkt hinter der Stadt begann.

Wenn es Strom gibt, funktioniert auch die Wandheizung, weil das Wasser in den Leitungen voll Frostschutzmittel ist. Man darf es nicht trinken, egal wie durstig man ist. Sind schon Leute dran gestorben.

Wenn es Strom gibt, ist alles irgendwie friedlicher. Nachts sieht es vom Dach so aus, als wären die Sterne vom Himmel in die Stadt gefallen. Überall leuchten helle Punkte im Häusermeer.

Und dann ist da die Fabrik. Mein Vater sagt, da sitzt das ganze Übel. Die Schornsteine rauchen. Von dort kommt auch das Militär. Es ist das Hauptquartier.

Meine Eltern sind den ganzen Tag damit beschäftigt, die Wohnung instand zu halten, damit nicht alles noch weiter verfällt. Mein Vater versucht, Sachen zu organisieren, die wir für die Wohnung brauchen können, und welche zum Tauschen. Aber ich bin darin viel besser als er.

Meine Mutter geht fast gar nicht mehr raus. Sie kann die Stadt nicht aushalten, all die Soldaten und die Kämpfe. Für sie ist das alles fremd. Sie sieht nicht den ganzen Spaß, den man haben kann. Wir müssen natürlich vorsichtig sein. Aber Luki und ich gehen überall rein, kennen Verstecke und Keller und Nischen, den Tauschring an der Oranienburger. Man muss aber aufpassen, der ist illegal. Mein Vater geht nie dahin. Ich überlege, ob ich einfach die Taschenlampe eintauschen soll. Es gibt dort neuerdings manchmal Fleisch. Echtes Fleisch. Und Brühwürfel. Wenn wir wieder Gas für den kleinen Kocher haben, könnten wir eine echte Suppe kochen. Nicht nur heißes Wasser trinken.

Für das Wasser bin ich zuständig. Auf dem Dach haben wir Wassertonnen. Mit zwei Eimern trage ich es in die Wohnung. Meine Eltern sind fast nie hier oben. Das Dach gehört mir allein. Mit dem gesammelten Regenwasser waschen wir uns oder spülen die Toilette. Wenn lange kein Wasser mehr ausgegeben wurde, trinken wir es auch. Aber meine Mutter hat Angst, dass wir davon krank werden, obwohl wir Tabletten reinwerfen, die die Bakterien im Wasser abtöten.

Ben (22. Oktober, 13:22)

ich habe einen alten armeemantel, den wollte ich gegen 1 kilo gebackene heuschrecken tauschen. aber ich hatte so ein gefühl, das mir gesagt hat: tu es nicht. jetzt bin ich froh, dass ich den mantel noch habe, die heuschrecken wären längst aufgegessen. man kann auch mit dem dauerbrot überleben. ich hatte nur solche lust auf einen anderen geschmack. es ist jetzt schon so verdammt kalt. ich glaube, es wird ein schlimmer winter.

astronaut wär übrigens ein übelst genialer beruf. mit überlichtgeschwindigkeit durchs all fliegen, galaxien durchstreifen, sterne antippen und zwischendurch mal einen planeten vorm untergang bewahren, und dann ab durch ein wurmloch in ein anderes universum. meinen bruder wiederfinden. ich möchte ein held sein und am besten gleich die ganze welt retten.

anna, soll ich dich retten?

Ben (27. Oktober, 12:00)

anna?

Anna (28. Oktober, 00:01)

Ich hatte so Schiss die letzten Tage. Die ganze Zeit gab’s Strom. Aber als ich schreiben wollte, war alles irgendwie verlangsamt. Jeder Buchstabe war schwer, als hinge ein dickes Stück Blei am Cursor. Ich war auch noch mal auf meiner Mangaseite, da genauso. Als ob mir jemand folgt, an mir dran klebt wie die Fliegen an den Leichen. Ich hatte so ein Kribbeln in den Fingern. Nachts habe ich wach gelegen, und bei jedem Pieps dachte ich, sie kommen – die WePo kommt.

Ich mag nicht mehr darüber nachdenken. Erzähl mir lieber was aus Hamburg.

Ben (30. Oktober, 23:00)

ich kenn die wepo. es ist zu gefährlich zu bloggen. die kriegen dich, wenn du so weitermachst. du bist viel zu lange online. ich würde dir alles erzählen, wenn wir uns sehen könnten. aber nicht so.

vielleicht treffen wir uns ja mal.

Anna (2. November, 08:00)

Klar, du steigst in ein Air-Shuttle und fliegst nach Berlin. Oder hast du vielleicht ein Auto und eine Wasserstofftankstelle?

Woher soll ich wissen, dass du nicht doch von der WePo bist?

Ben (8. November, 23:01)

dafür bin ich viel zu nett.

13. November – Die Kälte ist da

Die WePo ist nicht gekommen. Aber der Winter. Meine Finger sind ganz steif. Ich glaube nicht, dass es jemals so kalt war. Letzten Winter gab es viel Schnee. Dieses Jahr gefriert bald die Luft, so kalt ist es. Selbst den Schneeflocken ist es hier unten zu eisig.

Ich hocke in einer Ecke auf dem Dach auf meinem dicken Kissen. Es ist ausgeblichen von der Sonne und grau vom Staub, nur noch die Nähte sind blau. Im Sommer ist das hier mein Lieblingsplatz, unter den Solarmodulen. Die funktionieren natürlich schon lange nicht mehr, aber sie spenden Schatten.

Das Kissen ist steinhart gefroren, und mein Hintern wird kalt, obwohl ich eine Strumpfhose, zwei lange Hosen, zwei Wollröcke und den grauen Wollmantel anhabe und darunter einen dünnen und zwei dicke Pullover. Ich habe Handschuhe mit abgeschnittenen Kuppen – ist besser, um Dinge zu packen, und zum Tippen. Auf dem Kopf trage ich eine Mütze mit echtem Fell, mit Ohrenklappen und vielen kleinen Mottenlöchern. Ich kann mich kaum bewegen. Meine Füße hab ich mit Zeitungspapier und Stoff umwickelt. Sie stecken in Schuhen Größe 43, auch mit echtem Fell. Trotzdem fühlen sich meine beiden kleinen Zehen an, als steckten Tausende kleine Nadeln drin. Ich geh gleich zurück in die Wohnung und wärme sie auf. Die Heizung funktioniert gerade. Trotzdem komme ich hier hoch zum Schreiben. In der Wohnung geh ich immer noch nicht ins Netz. Meine Eltern sind Mäuse.

Wollte ich wirklich, dass der Sommer endlich vorbei ist? Ich hatte solchen Durst. Warum gibt es nur noch eiskalt und glühend heiß? Obwohl, das stimmt ja nicht ganz. Es gibt auch die warmen Winter. Aber die sind auch schlimm, wenn es wochenlang nicht regnet und die Stadt von einem grauen Himmel zugedeckt wird, der ausgetrocknet aussieht wie Dauerbrot.

16. November – Schnee

Gestern Nacht hat es geschneit, dicke weiße Flocken, aber nun ist all der schöne Schnee in unserer Straße von den Panzern zerdrückt worden und an den Straßenrändern zu hässlichen grauschwarzen Haufen gefroren. Die passen perfekt zu den hässlichen grauschwarzen Häusern. Die Soldaten haben Gaskartuschen ausgegeben. Jetzt können wir Eis schmelzen.

Ich habe unsere Wassertonnen umgekippt, als sie ganz voll waren und das Wasser noch flüssig, denn wenn sie durchfrieren, haben wir bis zum Sommer nichts davon. Nun ist das Dach eine einzige eisige Fläche und ich kann leicht mit einem Spaten Stücke rausbrechen. Es gibt nichts Besseres als eine Tasse heißes Wasser im Winter. Und darin ein paar Tropfen Kondensmilch.

Ich gehe fast jeden Tag Eis ernten und schaue, ob ich ins Netz komme. Wenn ich das Board nicht benutze, wickle ich es in ein dickes Stück Filz und schiebe es in die Polsterung der Winterzimmerwände, damit es nicht einfriert. Es ist leicht, das Versteck vor meinen Eltern geheim zu halten. Sie sind meistens so mit sich selbst beschäftigt, dass sie mich gar nicht beachten. Nur wenn ich in die Stadt will, ist meine Mutter auf einmal hellwach und gibt mir alle möglichen unsinnigen Anweisungen. Pass Auf Die Soldaten Auf. Halte Abstand. Tu Nichts Unrechtes.

Ich weiß, dass sie sich Sorgen macht, wenn ich unterwegs bin. Noch schlimmer ist es für sie, wenn ich mit meinem Vater zusammen weggehe. Ich glaube, sie macht dann nichts, außer sich aufs Bett zu setzen und auf uns zu warten.

Die Menschen streifen durch die Straßen und suchen etwas Brennbares, etwas Warmes zum Anziehen, etwas Essbares. Alle sehen grau aus. Die ganze Stadt sieht grau aus. Als wäre das Leben ein Schwarz-Weiß-Film.

Luki und ich haben schon den ersten Kältetoten des Winters gesehen. Zusammengekrümmt an der Gedächtniskirche hat er gelegen. »Guck nicht hin, das bringt Unglück«, hat Luki gesagt und mich weitergezogen. Was totaler Unsinn ist, bei der Menge an Toten, die wir schon gesehen haben. So viel Unglück würde in ein einzelnes Menschenleben überhaupt nicht reinpassen. Wenn uns nicht eine Kugel oder eine Granate umbringt, dann der Hunger oder irgendeine Krankheit. Ich weiß, dass ich nicht lange leben werde. Aber obwohl ich schon viele gesehen habe, die gestorben sind, kann ich mir nicht vorstellen, wie es ist.

Die Soldaten sind ruhig, die Panzer rollen langsam durch die Straßen. Wie behäbige Tiere kriechen sie über die Schuttberge. Wir hatten immer genug Zeit auszuweichen. Luki, Santje und ich waren nämlich mal wieder auf einem Streifzug. Eine Dose Erbsen haben wir ausgegraben nach fünftausend Stunden. Es wird immer schwerer, gute Sachen zu finden. Die Stimmung in der Stadt ist angespannt. Die Luft fühlt sich dick an wie Schlamm.

Die dünnste Mutter sollte die Dose bekommen. Also meine. Aber dann hat Luki gesagt: »Komm schon, wir tun’s einfach. Weiß doch niemand, dass wir sie haben.«

Ich hasse sie dafür. Ich hasse mich dafür. Es hat so elendig gut geschmeckt.

Wenn die Welt voller Lügen und Misstrauen ist, was kann dann noch wahr sein?

Ben (16. November, 23:12)

ich komm zu dir. ich möchte dein held sein.

Anna (16. November, 23:14)

Du bist finalbescheuert!

Anna (17. November, 08:12)

Das ist doch Schwachsinn, wir kennen uns nicht. Was willst du denn hier? Und wie weit ist es eigentlich von Hamburg nach Berlin? Ich finde es total seltsam, dass du nichts von dir erzählst und dann einfach kommen willst. Wie ist es in Hamburg?

Ben (20. November, 17:00)

300 kilometer. vier bis fünf tagesmärsche, denke ich. und wie es hier ist, erzähle ich, wenn wir uns sehen. ich habe keine angst, aber wegen der wepo bin ich eben vorsichtig. ich bring dir auch was mit. ich weiß, wie sterne schmecken.

Anna (20. November, 19:11)

Ich will nicht immer aufpassen müssen, was ich sage. Meinen Mäuse-Eltern kann ich gar nichts erzählen. Nur Luki vertrau ich alles an. Na ja, bis auf die Sache mit dem Board.

Ben (20. November, 20:00)

und die sache mit dem blog und mir.

Anna (24. November, 20:10)

Es ist doch gar nichts mit dir.

Wieso treffen wir uns nicht woanders? Was ist denn mit Teenspirit? Da kommt man rein.

Ben (25. November, 19:30)

teenspirit wird mitgelesen, das weiß doch jeder. da kann ich gleich bei der wepo anklopfen und guten tag sagen, nehmen sie mich doch bitte fest.

Anna (25. November, 19:45)

Das ist doch Quatsch.

Ben (25. November, 19:46)

du bist online! heute ist mein glückstag!

Anna (25. November, 19:46)

Ich find’s auch schön, dass du da bist.

Ben (25. November, 19:47)

flirtest du etwa?

Anna (25. November, 19:48)

Nein.

Ben (25. November, 19:48)

ich glaub doch.

Anna (25. November, 19:49)

Mach ich nicht!

Und was ist mit Chatty?

Oder Speeches?

Wir könnten bubbeln.

Ben (25. November, 19:50)

vergiss es. ich habe keine lust, von der wepo aufgespürt zu werden. die sind eh schon scharf auf mich. ein scan und die stehen bei mir vor der tür. du kannst deinen blog vielleicht verstecken, aber den rest sicher nicht. und wer weiß, wie lange noch. aber anna? ich möchte dich unbedingt sehen.

Anna (25. November, 19:53)

Hör auf, mir immer Angst zu machen!

Ich muss los. Mein Vater ruft.

Anna (26. November, 09:02)

Warum ist die WePo scharf auf dich?

Ben (27. November, 02:13)

weil ich gut bin. die würden mich sofort nehmen.

Anna (28. November, 10:23)

Angeber. Du warst aber lange wach gestern. Was machst du nachts?

Anna (28. November, 17:21)

Warum findet niemand anders meinen Blog? Warum nur du?

Ben (29. November, 00:34)

ich gebe nicht an. ich bin einfach gut darin, alles mögliche zu finden. im netz und in der stadt. meine mutter hat immer gesagt, ich hätte einen guten instinkt. ich treibe auch noch die letzte dose mit essen auf der welt auf. und ich kenne mich ziemlich gut mit computern aus. die wepo würde mich wirklich sofort nehmen. ich bin besser als die meisten da.

mein instinkt sagt mir jetzt, dass es gut wäre, dich zu sehen. du bist bestimmt wunderschön.

31. Dezember 2039 – Silvester

Ich bin froh, dass ich die Taschenlampe nicht eingetauscht habe. Licht ist unendlich viel wichtiger als Fleisch. Einmal Fleisch essen würde meine Mutter auch nicht kräftiger machen, oder? Das sage ich jetzt, denn gestern gab es zu essen. Dauerbrot, natürlich.

Es wird gar nicht mehr richtig hell. Ich mag die Dunkelheit nicht. An schlechten Tagen denke ich, sie kriecht in mich hinein.

Und die Drohnen kann ich auch nicht mehr ertragen. In den letzten Tagen sind sie immer wieder über die Stadt geflogen – wie früher. Und Hubschrauber sind über uns hinweggedonnert. Das Ganze macht mir Angst. Fängt jetzt wieder alles von vorn an?

Meine Eltern meinen, die wollen uns einschüchtern. Die wollen nicht schon wieder einen Aufstand. Es gab nämlich lange nicht genug zu essen. Also, genug ist es nie, aber drei Stück Dauerbrot müssen es schon sein am Tag für jeden. Wir hatten zum Schluss nur noch einen Haufen Krümel in der Tüte. Die musste alle meine Mutter essen. Wir haben sie fast gezwungen. Mein Vater und ich sind im Vergleich zu ihr noch richtig dick. Jeden Abend haben wir zum Himmel geschaut. Aber dort stand nie ESSENSAUSGABE, sondern immer nur AUSGANGSSPERRE.

Meiner Mutter wachsen viele kleine Haare auf dem Kinn und über den Lippen. Ein ganz dichter, dunkler Flaum. Ich wollte wissen, ob alle Frauen irgendwann einen Bart bekommen. Ich hab mir gar nicht groß was dabei gedacht. Lukis Mutter hat schließlich auch einen. Meine Mutter hat mich zuerst völlig verständnislos angesehen und sich dann die Hand vor den Mund geschlagen. Aber mein Vater sagte: »Das ist der Hunger.« Mit seiner Seifenlaugenstimme.

Wir haben hin und her überlegt. Ob wir nicht doch die Taschenlampe eintauschen sollen. Oder die Holzbretter, die mein Vater aufgetrieben hat. Wir wollten sie eigentlich aufbewahren, für einen extrakalten Tag.

Wir hatten kaum noch genug Gas, um ein bisschen Wasser heiß zu machen. Also haben wir ein paar Eiszapfen abgebrochen und an ihnen geleckt. Das stillt ein wenig den Durst. Doch dann, vorgestern Abend, heulten die Sirenen, und am Himmel stand, dass es in allen Sektionen am nächsten Tag Suppe, Brot und Gas geben würde. Und Wasser.

Mein Vater und ich waren im Morgengrauen draußen, wie alle anderen auch. Manchmal frage ich mich, was passieren würde, wenn die Soldaten jetzt schießen würden. Komische, dunkle Gedanken.

Die Suppe für meine Mutter haben wir in einen Topf füllen lassen. Wir haben einen Berechtigungschip für drei Personen. Es gab Maikäferbouillon und dazu ein ECHTES STÜCK WEISSBROT!

Am Nachmittag hatten wir deswegen mal wieder die Hunger-Diskussion. Wir saßen im Bett und spielten Rommé.

Mein Vater sagte wie aus dem Nichts: »Die Soldaten hungern uns aus. Es gibt genug zu essen, sie geben es uns bloß nicht.«

»Versteh ich nicht«, sagte ich. »Warum sollten sie das tun? Wenn wir alle sterben, ist niemand mehr da, über den sie bestimmen können.«

Meine Mutter meinte, dass es darum nicht ginge. Aber sie sagte auch nicht, worum es denn sonst ginge. Dafür fing sie wieder mit der alten Leier an: Es Ist Alles Nur Ein Verteilungsproblem.

Und mein Vater stimmte ein: »Als wir jung waren, gab es 900 Millionen Menschen, die gehungert haben. Dabei hätte es leicht für alle gereicht. Es war nur ein Verteilungsproblem.«

»Dann ist ja alles optimal gelaufen«, sagte ich. »Es hungern mittlerweile sicher viel weniger Menschen. Gut, die anderen sind halt tot.«

Wenn ich dann noch sage: »Vielen Dank für diese tolle Welt. Da habt ihr wirklich ganze Arbeit geleistet!«, eskaliert die Diskussion immer.

Gestern hab ich aber den Mund gehalten. Irgendwie hatte ich keine Lust auf Streit.

Es war kalt, wir legten uns hin und wickelten uns fest in unsere Decken ein. Aber anstatt zu schlafen, vielleicht weil sie doch ein schlechtes Gewissen hatten, dass wir wegen ihnen in der Scheiße sitzen, erzählten meine Eltern in die Dunkelheit hinein vom Alten Ägypten, von Karthago und dem Heiligen Römischen Reich.

»Kulturen kommen und gehen«, sagte mein Vater. »Vielleicht ist die Zeit für den Untergang der westlichen Zivilisation gekommen.«

Na, vielen Dank für die aufbauende Ansprache.

Es gab so lange keinen Strom. Mittlerweile habe ich mich wieder an den Winter gewöhnt und daran, dass wir alle anfangen zu müffeln. Wenn es so kalt ist, mag ich mich nicht ganz ausziehen und waschen, obwohl wir noch Dutzende Seifenstücke haben. Schade, dass man Seife nicht essen kann.

Mit den Klamotten müssen wir erst gar nicht anfangen, die würden sowieso nie wieder trocken. Vor dem Winter versuchen wir immer, all unsere Sachen zu waschen und in Ordnung zu bringen. Aber irgendwann riechen wir eben doch.

Schüsse knattern wie Feuerwerk zum Neuen Jahr direkt in unserer Straße. Ich wünsche mir, dass es mehr zu essen gibt, dass es regelmäßig etwas zu essen gibt. Der Hunger kneift in meinen Bauch. Die Suppe hat nicht lange vorgehalten.

Luki, Santje und ich sind jeden Tag unterwegs, um etwas zu essen aufzutreiben. Meine Eltern sind seit Neuestem wieder oft bei den Nachbarn im Haus nebenan, oder die Nachbarn kommen zu uns und besprechen, was zu tun ist. Wie sie die Lage verbessern können. Aber bis jetzt ist ihnen nichts eingefallen. Immer mal wieder reden sie von einer Widerstandsbewegung. Doch sie wissen nicht mal genau, wo sie die Leute dafür finden sollen. Außerdem, sagt mein Vater, würde er meine Mutter und mich damit gefährden. Wer erwischt wird, wird erschossen. Und zwei Frauen allein, das sei schlecht.

Vielleicht hat er Recht. Aber manchmal denke ich, er redet sich nur raus. Er müsste mehr tun. Wir müssten mehr tun. Nicht nur reden.

Ben (3. Januar, 22:00)

wenn du willst, bring ich von meinem dauerbrot was mit, wenn ich komme. ich habe ein paar vorräte, sogar eine große tüte getrocknete maikäfer. pass auf, was du schreibst. wirklich. bitte, anna. ich will nicht, dass sie dich kriegen. ich möchte deine haare sehen. glänzen die, wenn die sonne scheint? morgen um 12 online … wenn es strom gibt?

Anna (4. Januar, 12:01)

Ich kann selbst für mich sorgen.

Ben (4. Januar, 12:02)

na gut, anna-ich-brauch-niemanden. und übrigens: wahr sind sehnsucht und freundschaft.

Anna (4. Januar, 12:03)

Sehnsucht nach Haaren? Wer bist du überhaupt, Ben Breitmaulfrosch?

Ben (4. Januar, 12:03)

das kompliment geb ich zurück, anna skorpion. ich höre jemanden im treppenhaus. ich gehe besser offline.

Ben (10. Januar, 00:05)

wo bist du, anna?

Ben (20. Januar, 14:08)

ist was passiert? antworte bitte! hoffentlich bist du nicht erfroren. es ist so kalt.

Anna (1. Februar, 08:50)

Ja, es ist kalt. Bin immer noch hier.