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Thomas Medicus

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Über Thomas Medicus

Thomas Medicus, geboren 1953 in Gunzenhausen, studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte. Nach seiner Promotion schrieb er u.a. für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», war Feuilletonredakteur des Berliner «Tagesspiegel» sowie stellvertretender Feuilletonchef der «Frankfurter Rundschau». Thomas Medicus lebt als freier Publizist in Berlin und in Dolgie/Polen. Zuletzt erschien von ihm «Melitta von Stauffenberg. Ein deutsches Leben» (2012).

Über dieses Buch

Eine Kindheit wie aus dem Bilderbuch. Ein Junge wächst in den fünfziger Jahren im idyllischen Städtchen Gunzenhausen in Mittelfranken auf, als Arztsohn in einer vom Krieg scheinbar unberührten, ins Wirtschaftswunder aufbrechenden Welt. Erst Jahrzehnte später – schon als junger Mann hatte er der Provinz den Rücken gekehrt – stößt er auf ein furchtbares Kapitel der Stadtgeschichte: Am Palmsonntag 1934 fand hier das erste große Pogrom Nazi-Deutschlands statt; die SA hetzte unter Beteiligung eines erheblichen Teils der Bevölkerung gegen die jüdischen Bürger, zwei Männer kamen ums Leben. Und unversehens macht er noch eine weitere Entdeckung: Der von ihm bewunderte amerikanische Autor J.D. Salinger, Verfasser des weltberühmten Romans «Der Fänger im Roggen», war nach Kriegsende im Ort stationiert, ein von den Erlebnissen an der Front schwer traumatisierter Mann.

Thomas Medicus wagt eine literarische Spurensuche: Aus Erinnerungen, Gesprächen und Dokumenten zeichnet er das sehr persönliche Porträt seiner Familie und seiner Heimatstadt, er geht dem mörderischen Verbrechen auf den Grund und rekonstruiert Salingers Welt. Geschichte wie unter dem Brennglas – von den Anfängen der Nazizeit über Krieg und Stunde Null bis weit in die junge Bundesrepublik hinein – und eine ebenso aufrichtige wie poetische Annäherung an das, was man Heimat nennt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Frank Ortmann

(Foto: Annie Griffiths Belt/Corbis)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-87134-761-0 (1. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-11681-8

www.rowohlt.de

 

Hinweis: Die Seitenzahlen im Abbildungsnachweis beziehen sich auf die Printausgabe

ISBN 978-3-644-11681-8

D-ZUG MÜNCHEN—FRANKFURT

 

Die Donaubrücke von Ingolstadt,

Das Altmühltal, Schiefer bei Solnhofen,

in Treuchtlingen Anschlußzüge –

 

Dazwischen

Wälder, worin der Herbst verbrannt wird,

Landstraßen in den Schmerz,

Gewölk, das an Gespräche erinnert,

flüchtige Dörfer, von meinem Wunsch erbaut,

in der Nähe deiner Stimme zu altern.

 

Zwischen den Ziffern der Abfahrtszeiten

breiten sich die Besitztümer unserer Liebe aus.

Ungetrennt

bleiben darin die Orte der Welt,

nicht vermessen und unauffindbar.

 

Der Zug aber

treibt an Gunzenhausen und Ansbach

und an Mondlandschaften der Erinnerung

– der sommerlich gewesene Gesang

der Frösche von Ornbau –

vorbei.

 

 

Günter Eich

Aus Botschaften des Regens (1955)

ERSTES KAPITEL

Es war lange her, dass ich da gewesen war. Zwischen meinen früheren, spärlichen Besuchen waren meist Jahre vergangen. Dieses eine Mal, es war kurz vor Ostern, hatte mich mein Sohn überredet. Er wollte sehen, wo sein Vater geboren und aufgewachsen war, wollte das Grab seines Großvaters besuchen, den er nur aus Erzählungen kannte. «Aber lange bleiben wir nicht», hatte ich unwirsch geantwortet, als er unvermutet seinen Wunsch äußerte, «nur ein paar Stunden, dann fahren wir weiter. Über Nacht bleiben wir da auf keinen Fall.»

Wir gingen den sanft ansteigenden, mir seit Kindheitstagen vertrauten Weg des in Terrassen angelegten Friedhofsgeländes hinauf, vorbei an Gräbern mit Namen, die ich kannte, an steinernen, mit Moosflechten bedeckten Brunnen, an Metallgestellen, an deren Haken blaue und grüne Plastikgießkannen baumelten. Die Großmutter verbarg früher das Gartengerät, das sie zum Jäten und Pflanzen brauchte, hinter dem hohen weißen Grabstein, der sich dicht vor einer mit sattem Blattgrün überwucherten Mauer erhebt. Wir Durchreisende hatten nichts als unsere bloßen Hände, um das verwilderte Grab in Ordnung zu bringen. Wir sammelten Laub auf, zupften hie und da Unkraut aus der Taxushecke, die die Grabfläche einhegte, und legten, weil wir keine Vase hatten, unseren Rosenstrauß vor dem kleineren der beiden Grabsteine ab, auf dem nur der Name und die Lebensdaten meines Vaters stehen. Dann bepflanzten wir eine Schale mit Blumen, die wir auf eine dafür vorgesehene, in die Erde eingelassene Steinplatte stellten, und wunderten uns darüber, dass es eine meiner Tanten im Grab gegenüber auf einhundertundeins Lebensjahre gebracht hatte. Mein Vater ist nur neunundvierzig geworden. Betrachte ich Fotos von ihm, die kurz vor seinem Tod aufgenommen wurden, erscheint er mir als junger Mann, und ich, der ich seine Lebensspanne schon um zehn Jahre übertroffen habe, werde zum Vater meines Vaters und er zu meinem Sohn. Es war Ende März, der Himmel klar und blau und die Sonne so warm, wie ich es hier seit meinen Kindermärztagen gewohnt bin. Es war so warm und klar wie an dem Tag, an dem mein Vater beerdigt wurde. Ich war damals siebzehn Jahre alt.

Der Friedhof liegt am Hang eines Höhenzugs, um dessen bewaldeten Keil sich die Stadt zangenförmig herumlagert. Wir ließen die Gräber hinter uns, taten ein paar Schritte bergauf und gelangten in den Wald. Sein von rötlichem Laub bedeckter Grund birgt Reste des römischen Limes, die Fundamente der Mauer, unterbrochen von Gevierten ehemaliger Wachtürme, verlaufen gut sichtbar wie ein steinernes Band durch den Waldboden. Mein Sohn und ich liefen auf der Mauer entlang, die an dieser Stelle kaum einen halben Meter hoch war. Ich erzählte ihm, der unmittelbar vor mir lief, meinen Blick auf seinen zarten Nacken gerichtet, dass ich hier oben meine halbe Kindheit verbracht habe, spazieren gehend an der Hand meiner Großmutter zusammen mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester oder mit dem Volkschullehrer Wieser, der meiner Klasse und mir den Limes erklärt hatte. Wir fragten uns, auf welchem Boden ich aufgewachsen war, Rom, diesseits der Mauer, wäre uns entschieden lieber gewesen. Es war hier oben licht und hell, das blassgrüne Laub an den Bäumen frisch und hoffnungsfroh.

Nachdem wir lange genug mal in Germanien, mal im Römischen Reich Laub aufgewirbelt hatten, liefen wir zurück zum Auto und fuhren dann hinunter zum Marktplatz. Das italienische Eiscafé hatte bereits auf Sommersaison umgestellt und Stühle und Tische über das Kopfsteinpflaster des lang gestreckten, weiten Platzes verteilt, Alte und Junge löffelten Eisbecher, groß wie Mittagessen. Mein Sohn bestellte sich Crêpe. «Einen Grebbes, bidde sehr», sagte der Kellner, rotgesichtig und mit blondierten Strähnen im Haar, als er ihn servierte.

Eine kleine Stadt. Gunzenhausen. Mittelfranken.

 

Es muss Ende der achtziger Jahre gewesen sein, als ich einmal im Zug von Westberlin, wo ich schon seit langem lebte, nach München fuhr. Die Reise dauerte viele Stunden, zunächst die Fahrt im Interzonenzug mit langwierigen Grenzaufenthalten, dann der Nord-Süd-Express von Hannover, ICEs gab es damals noch nicht, erst gegen Abend erreichte der Zug Süddeutschland. München war nicht mehr weit, eineinhalb Stunden vielleicht. Legte sich der Zug in die Kurve, konnte ich von meinem Fensterplatz aus die Lokomotive mit ihren roten Rückleuchten unter der Oberleitung dahingleiten sehen wie ein erwachendes nachtaktives Tier in der Abenddämmerung. Als sich die Waggons plötzlich scharf nach rechts neigten, ging ich hinaus auf den Gang. Es folgte eine lange Gerade, ich ahnte, dass sich eine Linkskurve anschließen würde, und sah angestrengt aus dem Fenster. Wie blaues Glas, an den Rändern schwärzlich sich verfärbend, spannte sich der Himmel über Kegel, Quadrate und Punkte elektrischen Lichts, das Fenstern und Bogenlampen einer kleinen Stadt entströmte, die sich an einen bewaldeten Bergrücken lehnte.

Seit Jahrzehnten war ich diese Strecke nicht mehr mit dem Zug gefahren. Als Kind war ich hier oft entlanggekommen, nördlich Richtung Würzburg, südlich Richtung München. Vielleicht erinnerte sich mein Gleichgewichtssinn, war ein unbewusstes, in vielen Fahrten eingeschliffenes Körpergefühl geweckt worden. Ich presste die Stirn an die kühle Fensterscheibe, um besser nach draußen sehen zu können. Der Kirchturm, die mittelalterlichen Türme, die Brücken, der Fluss. Erst als der Zug den Bahnhof aus rötlichem Sandstein passierte und ich die erste Silbe des mir nie sonderlich wohlklingend erscheinenden Ortsnamens entzifferte, wurde mir bewusst, wie lange ich schon nicht mehr in dem Ort gewesen war, in dem ich geboren wurde und die ersten neunzehn Jahre meines Lebens zugebracht hatte. Außer einigen toten Seelen, die auf dem Friedhof, den ich im Vorbeirauschen unterhalb des dunklen Burgstallwalds auszumachen glaubte, ihren ewigen Schlaf schliefen, kannte ich dort niemanden mehr. Nein, das stimmte nicht, es lebten noch Freunde meiner Eltern da, Klassenkameraden, Leute, von denen ich die meisten seit meinem letzten Schultag nicht mehr gesehen hatte und auch nicht wiedersehen wollte. Als streife mich etwas Unterweltliches, klaffte für die Zeitspanne zweier Eisenbahnkurven und einer quälend langen Geraden die Tiefe vergangener und vergessener Jahre. Erst im Nachhinein wurde mir klar, welchen Schrecken es bedeutet, mitten im Fremden plötzlich auf Vertrautes zu stoßen.

Als ich noch Kind war und das Licht gelöscht und ich im Dämmer alleingelassen wurde, lauschte ich beim Einschlafen, wie sich die Dampfschnellzüge, die damals noch fuhren, unserer kleinen Stadt näherten, in der sie niemals anhielten. Ein aus dem weiten Tal der Altmühl immer mächtiger in mein Ohr dringendes Rauschen und Stampfen, und ich glaubte zu wissen, dass der hell erleuchtete Schnellzug nun an der Stadt in Richtung Norden vorbeischießen, sich dort in die große Eisenbahnkurve nach links legen und davoneilen würde, schnell wie ein Gepard. Oder ich stellte mir vor, wie der Zug den südlichen Bogen verlassen und dann auf kerzengerader Strecke pfeilschnell durch das Altmühltal auf München zurasen würde. War wieder Stille eingekehrt, überfiel mich Wehmut. Zu gern wäre ich einer der Reisenden gewesen, die der nächsten Großstadt entgegeneilten und von ihrem Abteilfenster aus die damals noch so weltferne Provinz schemenhaft vorbeihuschen sahen oder sie, ins Gespräch oder die Zeitung vertieft, gar nicht bemerkten.

Mein Gesicht noch immer an die Scheibe gepresst, verrenkte ich mir am Zugfenster stehend fast den Hals, um die letzten Lichter zu erhaschen, die am dunkelblauen Horizont unaufhaltsam verschwanden. Als der Zug wieder auf freier Strecke war, wich mein Schrecken einem melancholischen Brüten, und die Erinnerungen fielen herab wie dichter Regen.

 

Im Laufe der Zeit haben sich bei mir mehrere Serien von Schwarz-Weiß-Fotografien angesammelt. Eine davon, ein Packen von ungefähr vierzig Fotos, zeigt meinen Großvater mütterlicherseits an verschiedenen Schauplätzen in der Uniform eines Wehrmachtsgenerals. Lange Jahre sah ich mir diese Bilder lieber nicht oder nur selten an, sie verschwanden in einer Schublade meines Schreibtisches. Andere Fotografien betrachte ich etwas häufiger, sie stammen aus dem Nachlass meiner Großmutter väterlicherseits. Zu sehen sind darauf Bekannte und Unbekannte, allein oder in der Gruppe, am Ufer eines Sees oder am Rand eines Waldes, eine Kaffeerunde im Wohnzimmer, eine Gartenszene, meine beiden Großmütter auf einem Sofa sitzend, den Weihnachtsbaum betrachtend. Am liebsten sind mir einige Fotos, die keine Legende haben und ebenso wenig einen menschlichen Urheber zu besitzen scheinen, der irgendwann durch den Sucher geblickt und auf den Auslöser gedrückt hat. Es sind scheinbar mystische Aufnahmen, die sich selbst hervorgebracht und materialisiert haben, mit einer geheimen emblematischen oder auch ganz ohne Bedeutung. Als hätte der Lidschlag eines geistigen Auges in einem rätselhaften Vorgang Zufallsausschnitte gebannt, als hätte ein vergangener Augenblick auf winzigem Papierformat einen Abdruck erzeugt wie ein Ammonit im Stein.

Die für mich wichtigste Fotografie, nur sechs mal vier Zentimeter klein, habe ich auf dem Sockel meiner Schreibtischlampe zwischen Lichtknopf und Lampenbogen postiert. Mit bloßem Auge ist nicht viel zu erkennen. Die fotografische Miniatur zeigt den Ausschnitt eines teilweise mittelalterlichen Stadtbilds. Gedrängt liegen in der aus Südwesten einfallenden Morgensonne ein großes, verschattetes Haus mit Giebel und dahinter versetzt ein kleineres Haus mit weiß umrandeten Fenstern sowie einer ebenfalls weiß umrandeten Eingangstür, die gesamte Szenerie überragt ein mächtiger Torturm. Eine Telegraphenstange aus Holz teilt das Bild fast in der Mitte in zwei Hälften, das dichte Laub eines Baums nimmt fast die gesamte rechte Bildhälfte ein und verdeckt ein weiteres großes Gebäude.

Den Standort zu bestimmen, von dem dieses Foto aufgenommen wurde, fällt nicht schwer. Es ist im ersten Stock des nach Süden liegenden Wohnzimmers eines Hauses entstanden, das meine Großeltern Anfang der dreißiger Jahre gekauft hatten und in dem auch meine Eltern lebten, als ich geboren wurde. Den Turm, Wahrzeichen der Stadt, hatte ich in mein Herz geschlossen, war ich als Kind in den Sommerferien bei meiner Großmutter mütterlicherseits in Wiesbaden, sehnte ich mich nach dem achteckigen Blasturm, auf dem in mittelalterlichen Zeiten ein Türmer Wache gestanden und bei drohender Gefahr mit einer Trompete Signal gegeben hatte. «Mein Blastürmle», soll ich einmal erleichtert geseufzt haben, als ich nach drei langen Wochen vom Rhein zurückkam und das stattliche Bauwerk wiedersah.

Für mich ist die Aufnahme mehr als nur ein technisch durch Silber und Licht erzeugtes Bild. Des Turmes wegen, der mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben ist, verstehe ich es als Urbild, eingebrannt in meine Netzhaut, als ich zum allerersten Mal die Augen öffnete und in diese Welt blickte. So und nicht anders, denke ich immer, wenn ich die Aufnahme betrachte, muss es damals vor unserer Haustür ausgesehen haben, vielleicht auch schon, bevor ich geboren wurde. Die Ansicht besitzt eine seltsame Atmosphäre, anheimelnd, aber auch erfüllt von einer furchtbaren Leere. Kein Mensch ist zu sehen, nicht einmal eine Katze, die träumend über die Kreuzung schleicht, kein Hund, der in der Morgensonne kauert, kein Auto, kein Fuhrwerk, nichts. Als ob bald etwas geschehe oder bereits geschehen sei, das keines Bildes wert oder schlicht nicht abzubilden ist.

 

Die Straße, in der wir wohnten, heißt Burgstallstraße. Sie führt in fast gerader Linie zu einer Anhöhe, in den Burgstallwald. Das Haus ist ein unschöner quaderförmiger Kasten mit zwei Stockwerken und einem Satteldach. Mitte der sechziger Jahre wurden die Sprossenfenster durch sogenannte Verbundfenster ersetzt, das Gebäude, das man Anfang der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eigens für lokale Ärzte, vielleicht um sie in den Ort zu locken, erbaut hatte, wurde modernisiert. Bis dahin holten wir jeden Herbst Winterfenster vom Dachboden, transportable verglaste Rahmen, die mit Hilfe von Haken vor den Sommerfenstern am Außenrand der Laibungen befestigt wurden. Für die Frauen war das viel schmutzige und mühsame Arbeit, die Scheiben und Rahmen mussten gereinigt, die sauberen Fenster die Dachbodentreppe heruntergeschleppt und in die jeweiligen Zimmer gebracht werden. Beim Einhängen mussten alle mitmachen, mein Vater fluchte über die Haken, die sich nicht in die Ösen zwingen ließen, und auch die Kinder halfen, standen den Erwachsenen aber meist nur im Weg. Noch vorher, Anfang der sechziger Jahre, wurden im düsteren Keller, dessen Decken so niedrig waren, dass selbst Erwachsene den Kopf einziehen mussten, Öltanks, in die Kachelöfen Ölbrenner eingebaut. Die während der kalten Jahreszeit in allen Zimmern bereitstehenden Blechschütten für die Steinkohle verschwanden, an den Fußleisten krochen millimeterdünne, kupferrote Leitungen entlang, durch die das Öl, für uns Kinder ein Wunder, vom Keller bis ins zweite Stockwerk floss. Als dann noch der Badezimmerofen ersetzt wurde, hatte die Plackerei des Kohleschleppens und Anschürens ein Ende.

Mit den Kohleträgern, die schwarz gebeugt ihre Last in Jutesäcken auf den Dachboden wuchteten, dem Geruch verbrannter Kohle, den Kohlenstaubpartikeln auf den Fensterbänken und der alles bedeckenden rötlichen Asche, die mit Besen und Lappen täglich beseitigt wurde, verschwand auch das Wort «Eierbrikett» aus unserem Sprachschatz. Gebadet wurde jedoch weiterhin nur am späten Samstagnachmittag, Duschen war nicht in Mode, werktags genügten wie all die Jahre und Jahrzehnte zuvor Waschbecken, heißes Wasser und der seifige Waschlappen, den die Großmutter mit einem lauten, spritzenden Knall auf unsere dünnen nackten Kinderkörper klatschte. Als die Sandsteinfassade hinter Eternit verschwand, hatte das Haus endgültig sein Gesicht und für uns Kinder einen Großteil seines abenteuerlichen, dachsbauähnlichen Innenlebens verloren. Bald sahen auch fast alle anderen Häuser in der Burgstallstraße so trist und abweisend aus wie unseres.

 

Die Großmutter war eine kleine, im Alter immer mehr einschrumpfende Frau. Im protestantischen Glauben erzogen, fasste sie eine Neigung zum Katholizismus, die stärker wurde, je näher der Tod rückte. Sie konvertierte nicht, ließ sich aber zuletzt nicht von der lutherischen, sondern von der katholischen Gemeindeschwester versorgen. Ihr Vater hatte seiner Familie lange vor der Wende zum 20. Jahrhundert als Chefarzt eines kleinen Landkrankenhauses ein gutes Leben ermöglicht. Noch als Schülerin schickte man die Großmutter nach Augsburg, auf das von Stettensche Institut für Mädchen. Oft erzählte sie, wie sie und ihre Mitschülerinnen im «Inschtitut» 1912, als die Nachricht vom Untergang der Titanic Augsburg erreichte, in Tränen ausgebrochen seien und sie allesamt gar nicht wieder hätten aufhören können zu weinen. Die Großmutter war damals sechzehn Jahre alt gewesen. Augsburg war von ihrem Wohnort Heidenheim bei G. im sogenannten Hahnenkamm, einem lang gestreckten, teils bewaldeten, teils kahlen Höhenzug, keine hundert Kilometer entfernt, aber diese Entfernung war für die junge Ottilie riesig und heimweherfüllt.

Gleich nach dem Ersten Weltkrieg heiratete Ottilie ihren Mann Otto. Otto, Sohn eines Landpfarrers, war Landarzt wie Ottilies Vater. Die beiden bekamen einen Sohn, auch er hörte auf den Taufnamen Otto und setzte, durch seinen Vornamen quasi verpflichtet, die landärztliche Familientradition fort. So blieb scheinbar alles beim Alten und im gewohnten Rahmen. Dass der Vater der Großmutter Hand an sich gelegt hatte und ihr Bruder ein notorischer Betrüger war, der einen Großteil seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte, erfuhren wir erst nach ihrem Tod durch eine vor langer Zeit ausgeschnittene und in der Schublade ihres Sekretärs verwahrte Zeitungsnotiz.

Die Großmutter war gütig und warmherzig, ich liebte sie sehr. Meiner Schwester und mir strich sie oft sanft über das Haar oder tätschelte uns die Wangen. Ihre Hände waren weich und trocken und unvergesslich. Ihr widerborstig krauses und früh ergrautes Haar hielt sie mit vielen Kämmen am Hinterkopf im Zaum, auf ihren Brillengläsern schillerten Fettflecken und Schlieren, Spuren fortwährenden Kochens und Backens. In unserem Haus beanspruchte sie die Vorrechte einer Herrin. Ottilie hatte ihren Otto mitten im Zweiten Weltkrieg verloren, seines fortgeschrittenen Alters wegen war er nicht zur kämpfenden Truppe eingezogen worden, sondern hatte als Chefarzt im örtlichen Lazarett gedient. Dort infizierte er sich, 1942 erlag der glatzköpfige Mann mit sechsundfünfzig Jahren einer Sepsis. Da war Otto junior schon im Krieg.

Jung verwitwet, war die Großmutter eigensinnig geworden. Sie hatte die beiden besten, schönsten und größten Räume im Haus, auch ihre Küche war groß und schön. Das Badezimmer teilten wir uns mit ihr, die Großmutter wusch sich aber am liebsten an ihrem Küchenwaschbecken, den Anschluss an die Hygienestandards der neuen Zeit hatte sie verpasst, aber sie wollte es nicht anders, sie war genügsam und Neuerungen gegenüber gleichgültig. Ihre Wohnung lag im oberen Stockwerk, das sie schon mit ihrem Mann bewohnt hatte. Ihrem Sohn Otto und seiner Familie blieben im oberen wie unteren Stockwerk nur je zwei Räume. In den beiden übrigen kleinen Zimmern des Erdgeschosses war die ärztliche Praxis untergebracht. Anfangs warteten die Patienten in demselben Flur, den auch wir durchquerten, wenn wir in das Wohnzimmer, das Esszimmer oder die Küche wollten. Die einzige Toilette lag auf halber Treppe. Ließ der Vater einen Patienten zur Ader, was im Laufe der Jahre immer seltener geschah, strebte die Sprechstundenhilfe, ihrem Nachnamen entsprechend nur «die Fischer» genannt, durch den Flur hindurch der Treppe zu, deren schmiedeeisernes Geländer am Handlauf von einer roten Kunststoffschiene ummantelt war. In der Hand balancierte sie, in einen weißen Schwesternkittel gekleidet, eine silbrig blitzende Nierenschale. Das darin zum Schrecken der Kinder hin- und herschwappende dunkle Blut kippte die Fischer schnell, treffsicher und mit einem einzigen Schwung in die Toilettenschüssel.

Der Vater bat die Großmutter mehrere Male, in das untere Stockwerk zu ziehen, damit seine Familie das obere alleine bewohnen könne. Sie blieb jedoch hartnäckig sesshaft, und wir mussten, was besonders die Mutter ärgerte, weiter treppauf, treppab laufen. Auch als der Vater einen kleinen einstöckigen Anbau für Wartezimmer, ein winziges Labor sowie Behandlungsräume errichten ließ und keine blutgefüllten Nierenschalen mehr an unseren Wohnräumen vorbeigetragen wurden, entspannte sich die Lage kaum. Die Verhältnisse blieben so eng, wie unsere Welt klein war.

In dieser kleinen, engen und überschaubaren Welt lebten wir Kinder voller Zufriedenheit. Dass sich die Eltern häufig mit der Großmutter stritten, die Großmutter deshalb manchmal weinend an ihrem Küchentisch saß, nahmen wir erschrocken zur Kenntnis, vergaßen es aber schnell wieder. Das improvisierte Leben verlangte den unter einem Dach versammelten Generationen viel Kraft ab. Uns Kindern schien es nicht improvisiert, wir fühlten uns wohl. Was klein und eng war, empfanden wir als unermesslich groß und weit und behaglich.

Wir hielten uns oft in den Räumen der Großmutter auf, hier war vieles anders als in den Wohnräumen der Eltern. An zwei gegenüberliegenden Wänden hing je ein großformatiges Ölgemälde in einem wulstigen Goldrahmen. Auf dem einen sah man eine mediterrane Landschaft, im Vordergrund eine Agave, am Ende der Küstenlinie ragte eine weiße Festung ins Meer. Die Großmutter war in den dreißiger Jahren einmal nach Dubrovnik gereist und hatte das Gemälde von dort mitgebracht. Auf dem anderen Bild zog eine Schafherde durch eine blühende Heidelandschaft. Vor diesem Bild fürchtete ich mich, es wirkte auf mich düster und bedrohlich. Warum die Landschaft dunkelrot war, verstand ich nicht, ich wusste nicht, was die Lüneburger Heide war und wie es dort aussah, ich wusste überhaupt nicht, was eine Heide war.

Oft standen wir an den Fenstern des großmütterlichen Wohnzimmers oder der Küche und sahen hinaus. Von mehreren Fenstern aus blickte man auf die Burgstallstraße, von einem weiteren auf den Blasturm. Sonntags aus diesem Fenster schauend, warteten wir oft darauf, dass das Auto um die Ecke biegen würde, in dem die Eltern von ihrem Münchener Wochenendausflug zurückkehrten. Häufig saßen wir auch an einem der Tische, dem Couchtisch im Wohnzimmer mit dem riesigen, dunkel gebeizten Buffet oder dem Esstisch in der Stube, die ich wegen ihrer hölzernen rotbraunen Paneele und der auf einem Bord aufgereihten Zinnteller am liebsten mochte.

Am häufigsten saßen wir am altmodischen Küchenwaschtisch mit der grünen Arbeitsfläche. Einmal kam ein Mann mit einem Sack in der Hand herein, gab der Großmutter zur Begrüßung die Hand und wandte sich dem Küchenwaschbecken zu. Er öffnete den Sack, griff hinein und holte eine lebende Taube heraus. Während er mit der Linken sanft ihren Körper umfasste, drehte er ihr mit der Rechten in einem einzigen Ruck wie beiläufig den Hals um. Das hervorspritzende Blut besudelte das weiße Porzellan des Waschbeckens, den erschlafften Kadaver legte er in eine bereitgestellte Schüssel. Mit einer zweiten Taube machte er ebenso kurzen Prozess. Das Rupfen der Federn und Ausnehmen der Innereien ersparte ich mir, genauso das Täubchenmahl. Die archaisch bäuerliche Welt, die ich in der Küche meiner Großmutter kennenlernte, schreckte mich ab. Vor dem Fleisch ekelte ich mich.

Es kam vor, dass die Großmutter, rohe Kartoffelklöße formend, die sie anschließend schwefelte, damit sie ihre weiße Farbe behielten, plötzlich eigenwillige Reden hielt. «Hier haben», sagte sie dann, «viele Juden gewohnt. Da, da und da, und da auch», wobei ich, der ich vielleicht gerade mein Religionsheft mit dreieckig gerahmten Gottesaugen füllte, nicht recht wusste, ob sie mit mir oder sich selbst sprach. Während sie redete, zeigte sie mit ihren faltigen trockenen Händen hierhin und dorthin, manchmal stand sie sogar auf und deutete auf Nachbarhäuser. «Und der da, der und der», fuhr sie dann fort, mit weiten Armbewegungen wieder irgendwo anders hindeutend und einen Namen nennend, den ich kannte, weil ich ihn über dem Schaufenster des Geschäfts gelesen hatte, in dem ich meine Schulsachen kaufte, «der war bei der SA

Ob die Großmutter mehr erzählte oder es bei ihren Bauchrednereien beließ, daran erinnere ich mich nicht mehr. Damals wusste ich nur, dass schräg gegenüber der Bauer wohnte, der mitten in der Stadt einen Hof mit Kühen und Hühnern ganz allein mit einer alten Magd betrieb, mit ihm fuhr ich manchmal auf dem Traktor hinaus vor die Stadt, um dort den Mais für das Vieh einzuholen. Oder dass die Familie direkt gegenüber ein Busunternehmen führte und der jüngste Sohn Richard mein Freund war. Ich hatte verstanden, dass weder der Bauer noch die Familie gegenüber Juden waren, dass die Großmutter über Vergangenes sprach und die Juden nicht mehr da waren.

Es war seltsam festzustellen, dass es Dinge gab, die verschwunden waren, obwohl man sich noch gut an die Worte erinnern konnte, die diese verschwundenen Dinge einmal bezeichnet hatten. «Eierbrikett» zum Beispiel, «Waschküche» oder «Nierenschale». Oder auch «Dampfmaschine», eine Spielzeugdampfmaschine war, als der Vater noch Kind war, explodiert und hatte ihm fast alle Sehkraft des linken Auges geraubt. Und es gab Worte, von denen ich nicht wusste, was sie bezeichneten. «Juden». Zwei Silben, ein Wort, es bezeichnete nicht Dinge, die niemand mehr brauchte, sondern Menschen, die irgendwann offenbar auch niemand mehr gebraucht hatte. Aber was geschehen war, das erklärte uns Kindern keiner, und aus irgendeinem Grund war uns klar, dass wir besser nicht danach fragten. «Juden», das war ein leeres Wort, das nur die Großmutter verwendete. Es dauerte einige Jahre, dann fiel es gar nicht mehr.

 

«Wenige Bahnfahrtstunden nach Süden: das hügelige Franken, Tal der Altmühl, wo ich in Gunzenhausen bei Ansbach alle Ferien bei der Schwester meiner Mutter verbringen durfte, alle Sommerwochen des Jahres, oft auch herbst- und winterliche. Die Landschaft von zarter Linienführung, mit Wäldern, die gehegtes inneres Bild nicht so beschämten wie jene anderen; Blumengärten, Obstgärten, Weiher, verlassene Schlösser, umsponnene Ruinen, dörfliche Kirmessen, einfache Menschen. Es ergab sich freie Wechselbeziehung zu Tier und Pflanze; Wasser, Gras und Baum wurden mir wesenhaft vertraut; und so der Bauer, der Händler, der Wirt, der Landstreicher, der Jäger, der Förster, der Amtmann, der Türmer, der Soldat. Hier sah ich sie in reinen Verhältnissen zu ihrer Welt, die auch die meine war, wenigstens nie mich ausstieß. Ich konnte ein Entgegenkommen wagen, weil das organisch Gestimmte und Gestufte arglos macht. Ich lebte gewissermaßen in zwei abgetrennten Kontinenten, mit der Gabe, im lichteren zu vergessen, was mich der finstere hatte erfahren lassen.»

Mit tastender Wehmut erinnert sich der Schriftsteller Jakob Wassermann in seiner Autobiographie Mein Weg als Deutscher und Jude an Mittelfranken, damals, wenige Jahre nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs, eine zwiegespalten-manichäische Heimat, ein Land, in der Gut und Böse vermessbar waren und sich klar und eindeutig kartographieren ließen, hier die trostlose Ebene, dort das anmutige Hügelland. Der finstere, der urbane Kontinent, das war Fürth, die Industriestadt, wo der Schriftsteller 1873 als Sohn eines zeitlebens erfolglosen Spielzeugfabrikanten geboren worden war; der lichtere Kontinent, das war das südliche Mittelfranken, war Gunzenhausen, ein harmonischer Kindheitskosmos, in dem Jakob, dessen Mutter starb, als er neun Jahre alt war, glückliche Schulferien bei seiner Tante verbrachte.

Wassermanns Beschreibung mochte für die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts gelten, traf aber die Zeit um 1921, als seine Autobiographie erschien, allenfalls noch oberflächlich. In den zwanziger Jahren verlor das Traumbild der idyllischen Kleinstadt, in der Juden keinen Argwohn zu hegen hatten, jährlich an Gültigkeit. Das Organische war kein Mikrokosmos mehr, der einen göttlich geordneten Makrokosmos widerspiegelte, es fügte sich nicht mehr zum harmonischen Landschaftsgemälde, in dem Mensch und Ding ihren angestammten Platz hatten, das Organische war fortan das gemeinschaftlich organisierte, rassereine Volk. Der lichtere Kontinent verwandelte sich in den finsteren, das romantische Idyll der Blumengärten, Obstgärten, Weiher, verlassenen Schlösser, umsponnenen Ruinen, dörflichen Kirmessen wurde zur Fassade, auch auf die sogenannten einfachen Menschen war kein Verlass mehr. Jakob Wassermann erfuhr von all dem, was sich bald in der Landschaft seiner Kindheit zutragen sollte, nichts mehr. Er starb am 1. Januar 1934 im österreichischen Altaussee an Herzschlag.

 

Hinter unserem Haus lag noch zu Beginn der fünfziger Jahre ein staubiger Hof, aus dem bald ein Garten wurde. Um einen großen alten Pflaumenbaum, dessen Früchte so verharzt waren, dass wir sie nicht essen konnten, legte sich ein halb verfallenes, L-förmiges Nebengebäude. In der ehemaligen Remise stellten wir unsere Fahrräder, Gartenmöbel und Gartenwerkzeuge unter, nebenan lag hinter einer Holztür eine Waschküche mit Holzofen und Metallbottich, in dem noch fast die ganzen fünfziger Jahre hindurch die schmutzige Wäsche aufgekocht und mit einem großen Holzlöffel umgewendet wurde. Im Winter war der Dampf in der Waschküche so dicht, dass wir die Waschfrauen nur nebelhaft erkennen konnten, Trolle mit Schürzen und Kopftüchern und von Wasserdampf und Schweiß benetzten Gesichtern. Die Holzlege und der Hühnerstall waren schon seit längerem unbenutzt, hier spielten wir zwischen alten Hühnerfedern, Vogeldreck, blutgetränkten Sägespänen und Hackstöcken, auf denen den Hühnern früher einmal mit einem Beil der Kopf abgehackt worden war. Versammelten sich Buben und Mädchen, wurde auf dem Dachboden, der von den einfallenden Sonnenstrahlen kaum erhellt wurde, der anatomische Geschlechtsunterschied – Röcke hoch, Hosen runter – in Augenschein genommen. Im Laufe der sechziger Jahre verfielen Remise, Waschküche und Holzlege, niemand kümmerte sich darum, niemand wagte, die Relikte anzutasten.

Der größte Teil des Gartens bestand aus einem Rasenstück, auf dem ich im Sommer frühmorgens nach dem Frühstück in kurzen Hosen zu spielen begann oder in einem Kinderliegestühlchen sitzend vor mich hin träumte. Wurden meine in Socken und Sandalen steckenden Füße vom morgendlichen Tau allmählich feucht, kroch ein wohliges Frösteln meine nackten Kinderbeine hinauf. Die Tautropfen an den Grashalmen, in denen die Sonne glänzte, schienen mir die ganze unabänderliche Herrlichkeit meines gut behüteten Lebens einzufangen.

In einem anderen Teil des Gartens war über die gesamte Breite des Grundstücks Humus aufgeschüttet worden. Dort hatte die Mutter einen kleinen, ein wenig englisch anmutenden cottage garden angelegt, in dem es so dicht und üppig wuchs, dass das Grün im Laufe der Zeit auch die Wand des Nachbarhauses hinaufkroch. Im Herbst wurde, was verblüht und verdorrt war, weggeschnitten, aufgehäuft und verbrannt. Man betrat das Gärtchen über zwei Stufen, gleich daneben erhob sich eine Eibe. Ich kletterte den nah am Nachbarhaus stehenden Baum häufig hinauf, seine Äste waren wie die Tritte einer Wendeltreppe angeordnet, ich konnte fast bis zur Spitze emporsteigen. Von dort oben überblickte ich unseren Garten, aber auch den Nachbargarten, der von unserem nur durch einen an rohen Holzlatten befestigten Maschendrahtzaun getrennt war. Auch vom übernächsten Garten und der Rückfront des dazugehörigen Hauses konnte ich noch ein Stück erhaschen.

 

Die Mutter hatte einen Jungmädchentraum. Sie war im Osten aufgewachsen, jenseits der Oder, wo der Landadel den Ton angegeben hatte. In solche Verhältnisse hätte sie gerne eingeheiratet, Herrin auf Gut Soundso, das hätte ihr, mit oder ohne Adelstitel, gefallen. Aber daraus wurde zunächst nichts. An die Flucht mit ihrer Mutter über die Ostsee konnte sie sich schon bald nicht mehr erinnern. Alles, was sie zuvor erlebt hatte, war wie ausgelöscht. Als sie mit einundzwanzig Jahren Otto, den Landarzt, heiratete, stellte sich wieder Zuversicht ein. Die mittelfränkische Provinz bot der Mutter Gelegenheit, ihren Traum doch noch wirklich werden zu lassen.

Das Haus in der Burgstallstraße mit seinem Garten ersetzte den Gutshof, den sich die Mutter immer ersehnt hatte, die alteingesessene Landarztfamilie, der der Vater entstammte, nahm den Platz einer viele Generationen alten ostelbischen Gutsbesitzerfamilie ein. Immerhin befehligte die Mutter ein stattliches Dienstpersonal. Es gab mehrere Putzfrauen, die eine fegte und wischte die ärztliche Praxis, die andere die Wohnung der Eltern, eine dritte die der Großmutter. Ein Dienstmädchen, das unter dem Dach in einem winzigen Zimmer schlief, half in der Küche und bei der Wäsche. Diese vom Lande stammenden Bauernmädchen hießen erst Rosa, dann Anita, als mit den Vornamen auch die Verhältnisse moderner wurden, verdingten sie sich nicht mehr in den Bürgerhäusern der Kleinstädte, sondern lieber als Arbeiterinnen in einer der neu gegründeten Fabriken, die am Stadtrand aus dem Boden schossen. Zumindest in dieser Beziehung war bald eine neue Zeit angebrochen.

In meiner frühen Kindheit war das noch anders. Schon vor meiner Geburt hatte die Mutter ein Kindermädchen eingestellt, das mich, später auch meine Schwester, weckte, wusch, anzog, fütterte, mit uns spielte und uns vorlas. Anna war arm und heimatlos, ihr Schicksal ähnelte dem unserer Mutter. Auch Anna war ein Flüchtling, mit ihrer Mutter war sie aus Ostpreußen geflohen und in G. gelandet, von einem Vater, einem Ehemann war nie die Rede, es gab keinen, es wurde zumindest nie danach gefragt. Wir wuchsen unter Witwen, Waisen und Ostflüchtlingen auf, Männer und Väter waren rar. Für die Mehrzahl der Frauen im Haus waren sie nur mehr ferne Erinnerungen an eine Zeit, als die Männer noch nicht gefallen waren.

Auch der Vater der Mutter kam nicht aus dem Krieg zurück, als Generalmajor der Wehrmacht in Italien von Partisanen bei einem Überfall erschossen, mehr wussten wir nicht. Irgendwo hing ein Foto von ihm an der Wand. Mit dem Ritterkreuz dekoriert, blickte «Vati» streng in unsere fragenden Kinderaugen. Vati sei hart zu ihr gewesen, entfuhr es manchmal der Mutter, häufig habe es etwas gesetzt, etwa wenn sie sich weigerte, Linsensuppe mit Zucker zu essen. Was auf den Teller kommt, wird. Solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, wirst du. So sprach die Mutter auch zu uns. Eigensinn war der größte Feind, ihrer, unserer, der Nachbarn, der Lehrer, aller. Jeden Samstag um zwölf Uhr mittags, wenn wir am Esstisch saßen, fuhr uns der langgezogene Heulton einer Sirene durch Mark und Bein, der vom Blasturm herübergellte. Die Frauen erschraken, hielten sich die Ohren zu und kniffen die Augen zusammen. Fliegeralarm, sagte immer eine andere von ihnen. Es gab vieles, was noch nicht zu Ende war.

 

Der Vater war ein stiller und in sich gekehrter Mann. In die Erziehung der Kinder mischte er sich nur selten ein. Er nahm uns nicht an der Hand oder auf den Arm, strich uns nicht wie die Großmutter übers Haar, kümmerte sich nicht um unsere Hausaufgaben, spielte nicht mit uns. Manchmal betrachteten wir die Innenflächen seiner Hände. Entlang der Handlinien war die Haut aufgebrochen, aufgeworfen, trocken und hart, bildete sie tiefe Risse, eine Mondlandschaft. Das komme vom vielen Waschen und Desinfizieren der Hände, erklärte er uns.

Der Vater arbeitete wie ein Uhrwerk, ohne Eile, aber auch ohne sichtbare Leidenschaft für seinen Beruf. Jeden Vormittag fuhr er von neun bis ein Uhr über das Land und in die Dörfer, schlug in Bauernhäusern, die von jahrzehntealtem Jauche- und Fettgeruch gesättigt waren, Bettdecken auf, die schon sein Vater aufgedeckt hatte, betastete dieselben Bäuche, hörte dieselben Lungen und Herzen ab, fühlte denselben, vielleicht schon etwas schwächeren Puls. Nach dem Mittagessen fuhr er täglich vor die Stadt, spazierte eine halbe Stunde durch den Wald oder über eine Wiese, kehrte nach Hause zurück, schlief eine halbe Stunde, trank anschließend Kaffee, aß ein paar Kekse und hielt dann von fünfzehn bis achtzehn, neunzehn Uhr oder länger seine Sprechstunde ab.

Membrum virile