Juliet Marillier

Die Erben von Sevenwaters

Knaur e-books

Über Juliet Marillier

Juliet Marillier wurde in Neuseeland geboren und wuchs in Dunedin auf. Bereits seit frühester Kindheit begeistert sie sich für keltische Musik und irische Geschichte. Sie lebt heute mit ihrer Familie in Perth, Australien. Zu ihren großen internationalen Erfolgen gehört der Sevenwaters-Romanzyklus (»Die Tochter der Wälder«, »Der Sohn der Schatten«, »Das Kind der Stürme« und »Die Erben von Sevenwaters«).

Über dieses Buch

Irland im 9. Jahrhundert: Clodagh, die dritte Tochter der Herren von Sevenwaters, ist ein ruhiges Leben vorherbestimmt. Doch dann wird ihr kleiner Bruder entführt. In seiner Wiege findet man einen Wechselbalg, ein magisches Geschöpf aus Zweigen und Moos. Dies kann nur eins bedeuten: Das alte Feenvolk, das schon so oft in die Geschicke von Sevenwaters eingegriffen hat, ist zurückgekehrt. Clodagh muss sich auf eine gefahrvolle Reise begeben, um Finbar zu befreien. Dabei trifft sie auf einen mysteriösen Fremden, der ungeahnte Gefühle in ihr weckt – aber kann sie ihm trauen?

Wie keine andere versteht es die australische Bestsellerautorin Juliet Marillier, Historie und Fantasy zu einem packenden Lesevergnügen zu verschmelzen.

Impressum

eBook-Ausgabe 2011

Knaur eBook

Copyright © 2008 by Juliet Marillier

Copyright © 2011 für die deutschsprachige Ausgabe

bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt

Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ralf Reiter

Karte: Bronya Marillier

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: plainpicture / Deepol / Rui Camilo; Gettyimages / Stone / Betsie Van der Meer; FinePic®, München / Gaye Godfrey-Nicholls

ISBN 978-3-426-41402-6

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KARTEN

Meiner Mutter,
Dorothy Scott (Johnston),
Dezember 1911–Juli 2007,
deren Leben von selbstloser Liebe geprägt war.

Kapitel 1

Die Finger taub vor Kälte, befestigte ich ein Stück goldbesticktes Band am Weißdorn und murmelte ein Gebet an alle Geister, die mich hören konnten. »Wenn es Zeit ist, dass das Kind geboren wird, bitte, lasst meine Mutter nicht sterben.« Ein weiteres Band wickelte ich höher oben in die Zweige, an denen sich frisches Frühlingsgrün zeigte. »Und bitte, lasst das Kind gesund sein.« Dann folgte ein drittes, das ich zwischen die Zweige steckte, so dass die Dornen mir die Haut blutig stachen. »Und wenn ihr könnt, macht, dass es ein Junge wird. Mutter wünscht sich nichts sehnlicher als einen Sohn.«

Ich steckte die Hände zurück in meine Schaffellfäustlinge und schloss für einen Moment die Augen, um meine Gedanken zu sammeln. Der einsame Weißdorn, der auf einer Lichtung im großen Wald von Sevenwaters stand, war mit vielen Opfergaben behangen: Bändern, Spitzen, Wollfetzen und Ketten aus Holzperlen. Bei solchen dornigen Bäumen, die ganz für sich standen, kamen nämlich die Feen zusammen, wie jeder wusste. Jeden Tag war meine Mutter mit einer Gabe hergekommen und hatte gebetet, sie möge endlich mit einem gesunden Sohn gesegnet werden. Bis ihr Kindsbauch zu schwer wurde, als dass sie den Weg hierher gefahrlos hätte gehen können. Nun führte ich an ihrer Stelle das Ritual aus.

Es war Zeit, wieder nach Hause zu gehen. Meine Schwester heiratete morgen, und ich hatte viel zu tun. Deirdre und ich waren Zwillinge, und obwohl sie ein klein wenig älter war als ich, war ich diejenige, der man Mutters Haushaltspflichten übertragen hatte, als sie zu müde wurde, ihnen selbst nachzukommen. Was einleuchtend war, denn Deirdre ging fort. Morgen Nachmittag würden sie und ihr Mann Illann zurück zu seinem Zuhause im Süden reiten, wo sie fortan ihren eigenen Haushalt führen sollte. Ich blieb. In nächster Zukunft wäre mein Leben vornehmlich der Aufgabe gewidmet, die Knechte und Mägde zu befehligen, Vorräte zu verwalten, häusliche Unstimmigkeiten beizulegen und über meine beiden jüngsten Schwestern zu wachen, Sibeal und Eilis. Ich hatte diese Pflichten nicht vorausgesehen, weil niemand ahnte, dass Mutter in so späten Jahren noch ein Kind empfangen würde. Wir alle waren aufgeregt. Mutter nannte es ein Geschenk der Götter. Die Übrigen von uns schwiegen aus Furcht, die schreckliche Wahrheit auszusprechen. Frauen ihres Alters gebaren keine gesunden Kinder. Eher mussten wir darauf gefasst sein, dass sie und das Kind zwischen diesem und dem nächsten Vollmond starben.

»Ich danke euch«, sagte ich über meine Schulter, als ich vom Weißdorn fort in den Schatten des Waldes ging. Es war besser, sich mit dem Feenvolk gutzustellen, egal was man von ihnen halten mochte. Der Wald von Sevenwaters war gleichermaßen ihre Heimat wie unsere. Vor langer Zeit war unserer Familie die Aufgabe übertragen worden, diesen Ort für sie zu beschützen. Er war eine der letzten Zufluchtsstätten der alten Arten in ganz Erin, denn überall wurden die großen Wälder gefällt, um Weideflächen zu schaffen, und die christliche Religion, die sich beständig weiter ausbreitete, verdrängte die Druiden und weisen Frauen. Einzig in den geschütztesten und geheimsten Winkeln des Landes wurde der alte Glaube noch gepflegt. Sevenwaters war einer dieser Winkel.

Der Weg nach Hause schlängelte sich durch dichte Eichenwälder, bevor er zum Seeufer hinunterführte. An jedem anderen Tag wäre ich mit Freuden langsamer gegangen, um die unzähligen Schattierungen frischen Grüns zu genießen, den zarten Gesang der Vögel und das gesprenkelte Licht auf dem Waldboden. Heute aber musste ich mich beeilen, denn am Abend würde unser Haus voller Gäste sein, und bis dahin stand mir noch eine lange Liste von Aufgaben bevor. Ich schuldete es meinen Eltern, alle häuslichen Vorkehrungen mit derselben Gründlichkeit zu besorgen, wie es meine Mutter getan hätte. Vater wäre eine spätere Vermählung Deirdres lieber gewesen, im Herbst vielleicht, und das nicht bloß, weil Mutter gerade so zerbrechlich war. Doch kaum hatte Illann ein Auge auf meine Zwillingsschwester geworfen, wollte er sie ohne Aufschub heiraten, und für Vater war die Verbindung zu ihm sehr wertvoll. Er wollte keinen Unfrieden stiften, denn Illann war der Stammesfürst der südlichen Uí Neill und ein naher Verwandter des Königs. Die Vermählung Deirdres mit Illann war das, was die Leute eine segensreiche Partie nannten. Zum Glück schien Deirdre Illann beinahe so sehr zu mögen wie er sie. Seit dem Tag, als sie ihm erstmals begegnet war, plapperte sie immerfort von ihm.

Über mir ragten die Eichen hoch auf, deren moosbewachsene Stämme im gefilterten Sonnenlicht aufschienen. Meine Schritte waren lautlos auf dem weichen Waldboden. Zwischen den Bäumen bewegten sich flüchtige Gestalten, spinnwebfein und schemenhaft, kaum zu sehen. Im dichten Laub und im Reisig an den Wurzeln der großen Eichen regten sich winzige Wesen, huschend, raschelnd, knisternd und flüsternd. Der Wald von Sevenwaters war die Heimat von vielen. Dachs, Hirsch und Hase, Käfer, Waldsänger und Libelle lebten hier Seite an Seite mit den anderweltlichen Waldbewohnern. Es würde seltsam für Deirdre, all dies zu verlassen. Das Haus ihres Bräutigams, Dun na Ri, teilte sich eine Grenze mit dem südwestlichen Landbesitz meines Vaters, aber ich wusste, dass es nirgends so sein konnte wie in Sevenwaters.

Wenn ich beim Haus war, würde ich gleich nachschauen, ob meine kleinen Schwestern ihre Kleider für das abendliche Fest bereit hatten. Und ich würde versuchen, allein mit Vater zu sprechen, damit ich ihn fragen konnte, wie es ihm ging; ich wusste, dass er sich wegen Mutters Müdigkeit sorgte, und wollte ihn beruhigen. Ebenso sollte ich Mutter ihre Sorge nehmen, indem ich ihr sagte, dass alles vorbereitet war. Dann müsste ich mit meinen beiden Druiden-Onkeln sprechen, sobald sie eintrafen. Conor musste gefragt werden, ob die Pläne für das morgendliche Frühlingsritual und die Vermählung in seinem Sinne waren. Und Ciarán bräuchte einen Platz, an den er sich zurückziehen konnte. Er kam häufig zu uns, wo er Sibeal in die Druidenkunde einführte, denn es war fast ausgemacht, dass sie in wenigen Jahren in die Gemeinschaft der Druiden eintreten sollte. Seine junge Schülerin im Garten oder einer abgelegenen Kammer zu unterrichten, war eine Sache, in ein Haus voller Gäste zu kommen hingegen eine gänzlich andere. Ciarán war ungern unter vielen Menschen. Zudem brachte er manchmal seinen Raben mit, den die Leute unheimlich fanden.

Der Weg verengte sich, als er zwischen dichten Holundersträuchern hindurchführte, deren Stämme sich mit der Anmut von Waldnymphen bogen. Wind brachte das Laub zum Zittern, und plötzlich wurde mir kalt. Jemand beobachtete mich, das spürte ich. Ich schaute mich um, konnte jedoch niemanden sehen. »Wer ist da?«, rief ich. Keine Antwort außer dem Säuseln der Blätter und dem Schrei eines Vogels, der über die Baumkronen hinwegflog. Ich bekam eine Gänsehaut. Unser Heim war außerordentlich gut geschützt, denn Vaters Wachen waren meisterlich. Außerdem beschützte der Wald, was sein war. Keiner konnte sich hier einschleichen. Doch wenn es jemand aus unserem Haushalt war, warum antwortete er dann nicht auf mein Rufen?

Etwa hundert Schritte vom Weg bewegte sich etwas unter einer Gruppe hoher Eichen. Ich erstarrte und sah genauer hin. Nun rührte sich nichts mehr. Nachdem ich drei Schritte gegangen war, blieb ich abermals stehen. Meine Haut kribbelte unangenehm. Dort war etwas, und das war kein Reh oder Wildschwein.

Ich verhielt mich sehr still, blickte in die tiefen Schatten unter den Bäumen, konnte aber nichts außer den Mustern von Licht und Schatten erkennen. Unter den breiten Eichenästen taten sich anscheinend weite Fernen auf, als wären sie Tore zu einem Reich von sehr viel größerem Ausmaß, als es der Wald erlauben dürfte. Natürlich sagte man von Sevenwaters, hier gäbe es ganz besondere Portale: Pforten in die Anderwelt. Durch eine solche Pforte zu schreiten, war so erstaunlich wie gefährlich, denn an jenem Ort verging die Zeit anders. Ein Mann oder eine Frau könnte eine Nacht dort verbringen und bei der Rückkehr feststellen, dass in der menschlichen Welt hundert Jahre vergangen waren. Oder man blieb ein halbes Leben unter dem Feenvolk, hatte aber hinterher nicht einmal eine Jahreszeit in der eigenen Welt versäumt. Es war klüger, sich nicht in diese Bereiche des Waldes zu begeben, es sei denn, man schätzte Abenteuer über alles.

Wieder glaubte ich, etwas zu sehen. Keine Bewegung, eher ein … War das ein Mann, der an dem Stamm eines großen Baumes lehnte? Ein Mann in einem schattengrauen Kapuzenumhang?

»Wer bist du?«, rief ich. »Komm heraus und stelle dich!«

Noch während ich es aussprach, kam mir der Gedanke, dass ich schlecht gerüstet war, sollte mir derjenige tatsächlich gehorchen. Ich konnte keinerlei Fertigkeiten im Kampf vorweisen und hatte nicht einmal ein Gemüsemesser bei mir. Also raffte ich meine Röcke und rannte.

Für eine Weile war das einzige Geräusch das meiner Schritte auf dem weichen Weg. Oder waren das zwei Paar Füße, die ich hörte? Ich lief schneller, und wer immer mir folgte, rannte ebenso schnell. Mein Atem wurde keuchend, trotzdem hörte ich, wie hinter mir nicht minder laut geatmet wurde. Mir pochte das Herz wild in der Brust. Meine Haut war klamm vor Angst. Es war, als würden die Bäume wirbeln und hüpfen, während die Abstände zwischen ihnen größer wurden. Ja, sie luden mich ein, den Weg zu verlassen und umherzustreunen. »Das tue ich nicht«, murmelte ich vor mich hin. »Ich tue es einfach nicht.« Leider half es nicht.

Eine Stimme sprach in meinem Kopf. Clodagh! Clodagh, wo bist du? Ich stolperte über einen Stein und fiel bäuchlings auf den Weg, schwindlig vor Furcht. Einen Moment später begriff ich, dass es kein Verfolger gewesen war, sondern meine Zwillingsschwester, die nach mir rief. Ich setzte mich auf, strich mir das Haar aus den Augen und wusste gleich, sollte mir jemand gefolgt sein – ob anderweltlicher Art oder menschlicher –, so war er nun fort. Der Wald um mich herum war friedlich. Vögel zwitscherten, Laub raschelte in der leichten Brise. Der Weg führte geradeaus, und über dem Baldachin aus hohen Eichen schien die Sonne auf einen herrlichen Frühlingstag hinab.

Ich atmete mehrmals tief ein, ehe ich antwortete. Mein Rock war übel eingerissen, und ich hatte eine blutige Schürfwunde auf dem rechten Knie. Verärgert kniff ich die Augen zu und wünschte mir inständig, das eben Geschehene hätte sich bloß in meinen Gedanken zugetragen. Zu viele Aufgaben erwarteten mich, als dass ich mir eine solche Ablenkung leisten konnte.

Deirdre? Ich antwortete dem Rufen meiner Schwester, wobei ich die Fähigkeit nutzte, die alle Zwillinge in unserer Familie besaßen. Wir hatten eine gedankliche Verbindung, die uns gestattete, stumm miteinander zu sprechen, sogar über große Entfernungen. Mein Vater hatte sie auch. Seine Zwillingsschwester, Tante Liadan, lebte übers Meer in Britannien, und doch konnten beide seit ihrer Kindheit in Gedanken alle Neuigkeiten austauschen. Was gibt’s?, fragte ich meine Schwester, während ich mühsam aufstand und weiterhumpelte.

Mein Haar! Ich habe Kamille ins Wasser getan, und jetzt ist es getrocknet und sieht aus wie ein Ginsterbusch! So kann ich nicht heiraten! Wo bist du, Clodagh? Ich brauche dich!

Wieder dachte ich daran, dass meine Zwillingsschwester morgen Sevenwaters verließ. Sie begann ein neues Leben in einem unbekannten Zuhause. Alles wird gut, Deirdre, sagte ich ihr. Ich bin auf dem Weg vom Weißdorn zurück nach Hause. Keine Angst, wir denken uns etwas aus.

Nach anfänglichem Humpeln wurde ich schneller. Bald waren die hohen Dächer unseres Burgfrieds in der Ferne zu sehen, die über dem weichen Wellenrand der Baumkronen aufragten. Unser Heim war eine Festung, die Eindringlinge abschrecken sollte. Der unwirtliche Wald, der sie umgab, sowie der breite See zu dessen Füßen waren für sich genommen schon Hindernisse für jeden bewaffneten Angriff. Mein Vater hatte an ausgewählten Plätzen im Wald zusätzliche Wachposten errichtet, von denen jeder mit einem Freimann und dessen eigenen Mannen besetzt wurde. Diese Vorkehrungen waren notwendig, denn Sevenwaters lag in der Mitte zwischen zwei sich bekriegenden Zweigen des Uí-Neill-Clans.

Meine Gedanken kehrten zu der Gestalt zurück, die ich unter den Bäumen gesehen hatte. Könnte es einem Spion gelungen sein, sich unbemerkt in den Wald zu schleichen? Und wenn ja, was wollte er hier? Ich erschauderte, als ich mir vorstellte, ich würde entführt und der Preis für meine Freiheit wäre, dass mein Vater die Herrschaft über sein Land abtreten sollte – oder Schlimmeres. Leute wurden entführt. Ich erinnerte mich an eine schreckliche Geschichte von einem Mädchen, das verschleppt wurde. Bis ihre Familie beschloss, die Forderungen der Entführer zu erfüllen, war sie bereits ermordet worden. Der Erzählung nach wurde ihr abgetrennter Kopf über die Grenzmauer ihres Elternhauses geworfen.

Mit diesem Gedanken lief ich aus dem Wald und stieß mit einem großen Mann in einem grauen Umhang zusammen. Kräftige Hände packten meine Schultern. Ich schrie aus Leibeskräften.

Rasch ließ er mich los, und ich wich zurück, um an ihm vorbei zur sicheren Burg zu stürmen.

»Autsch«, sagte jemand mit träger Stimme, und ich bemerkte einen zweiten Mann, der hinter dem ersten stand und sich die Finger in die Ohren steckte. »Das war laut. Wie es scheint, hast du dein Talent eingebüßt, die Damen für dich zu gewinnen, Aidan.«

Aidan. Zitternd holte ich Luft und blickte auf. Erst jetzt begriff ich, dass der Mann, der mich gepackt hatte, derselbe war, dessen Ankunft in Sevenwaters ich mit solcher Freude entgegenfieberte, seit Johnny Nachricht geschickt hatte, dass er zur Hochzeit kam. Die Umstände unserer Begrüßung hatte ich mir allerdings anders ausgemalt.

»Aidan!«, sagte ich mit einem beschämten Lächeln. »Willkommen! Ich war in Gedanken und erschrak. Ist Johnny da?« Wie dumm ich war! Alle von Johnnys Mannen trugen graue Umhänge, damit sie im Waldschatten nicht zu sehen waren; sowohl Aidan, den ich kannte, als auch der andere, mir fremde Kämpfer, waren in solche Umhänge gehüllt. Und sie beide hatten das Zeichen im Gesicht: Tätowierungen um Auge und Nase, die eine bestimmte Kreatur darstellten. Bei Aidan war es eine Lerche, bei dem anderen Mann ein Fuchs. Die Symbole standen für bestimmte Züge der Kämpfer, aber auch für ihre Zugehörigkeit zu Johnnys Kriegertruppe.

»Wir sind erst kürzlich eingetroffen«, antwortete Aidan. Er betrachtete mich prüfend, und ich fragte mich, ob er mich seit dem letzten Frühling vergessen haben könnte. Da war er als Teil der Eskorte meines Cousins in Sevenwaters gewesen, und es hatte ausgesehen, als wäre er an mir interessiert. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Alles in Ordnung?«

Er sah genauso gut aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß und breitschultrig, mit einem kantigen Gesicht, gekämmtem braunen Haar und freundlichen Augen. Für mich war er der schönste von Johnnys Männern – von denen zumindest, die ich kannte. Mein Cousin führte einen Trupp von herausragenden Kriegern an. Er bildete sie selbst in allen Kampfkünsten aus, und in seine Leibgarde kamen nur die Besten der Besten. Als Erbe meines Vaters verbrachte Johnny jedes Jahr einige Zeit bei uns in Sevenwaters, und stets hatte er eine Garde von fünf oder sechs Männern bei sich. Der andere Mann starrte mich an. Ich hatte Aidans Frage noch nicht beantwortet. Als ich eben den Mund öffnete, kam mir jedoch der dunklere von den beiden zuvor.

»Das muss eine von Johnnys zahlreichen Cousinen sein. Ihr leuchtend rotes Haar verrät es. Nun, welche ist es? Nicht die Jüngste, nicht die Seherin und auch nicht die Älteste, die wir schon getroffen haben. Und die Verkrüppelte ist in Harrowfield. Auch kann sie unmöglich die junge Dame sein, die morgen heiratet. Ich schätze also, dass sie die ist, die du häufiger erwähnt hast, als es angemessen wäre, Aidan. Was sagtest du noch gleich, welches Talent sie besitzt? Ah, ja, richtig, sie ist geschickt in der Hausarbeit, beim Waschen, Kochen und derlei.« Er gähnte übertrieben. »Verzeiht, aber ich könnte mir nichts Faderes vorstellen.«

Ebenso gut hätte er mich ohrfeigen können. Ich war sprachlos.

»Cathal!« Aidan wurde rot. »Bitte achte nicht auf meinen Freund«, fügte er an mich gerichtet hinzu. »Ich bemühe mich redlich, ihn gute Manieren zu lehren, aber bisher vergebens.«

»Wir sind Krieger, keine Höflinge«, entgegnete Cathal verdrossen. »Auf dem Schlachtfeld braucht es keine Nettigkeiten.«

»Ihr seid aber nicht auf dem Schlachtfeld, sondern zu Gast im Hause eines angesehenen Stammesführers«, erklärte ich spitz, denn ich konnte meinen Ärger nicht verbergen. »Und wir legen Wert auf anständiges Benehmen. Anscheinend war mein Cousin zu sehr damit beschäftigt, euch über unsere besonderen Begabungen aufzuklären, dass er diesen Punkt zu erwähnen vergaß.«

Cathal sah einfach durch mich hindurch.

»Clodagh, ich bin entsetzt, wie ungehobelt mein Freund ist«, sagte Aidan, der mir seinen Arm anbot. »Sein Name ist Cathal, und wie ich kommt er aus Whiteshore. Johnny ließ ihn letztes Jahr auf der Insel, und dort hätte er wohl auch diesmal bleiben sollen. Es tut uns leid, falls wir dich verärgert haben.«

»Dir vielleicht«, murmelte Cathal.

Ich war nicht sicher, ob ich mich einem derart unangenehmen Menschen vorstellen wollte; andererseits war ich die Tochter des Hauses, und wenn er Aidans Freund war – was mir unverständlich erschien –, sollte ich zumindest die Form wahren. »Ich bin Clodagh, die dritte Tochter von Fürst Sean und Aisling«, sagte ich wenig herzlich. »Willkommen in Sevenwaters. Ich bin überrascht, euch hier unten zu sehen.« Das Seeufer war recht weit von der Burg entfernt, am Fuße eines grasbewachsenen Hügels, der zu beiden Seiten von Wald eingerahmt war. Und wenn sie eben erst eingetroffen waren, sollten sie doch eigentlich noch auspacken und sich einrichten.

»Cathal wollte einen Spaziergang am Wasser machen«, erklärte Aidan. »Du siehst immer noch verärgert aus, Clodagh. Ich versichere dir, dass Johnny nur gut von dir und deinen Schwestern spricht und dass uns die Regeln in Fürst Seans Haushalt bekannt sind. Ich entschuldige mich in Cathals Namen für seine unbedachten Worte. Bei ihm ist übrigens alles nur Lärm und nichts dahinter.«

»Eine solche Bemerkung aus dem Mund eines Barden scheint mir seltsam«, raunte Cathal, der über den See blickte, als hätte er nicht das geringste Interesse an der Unterhaltung.

Im letzten Frühling und Sommer hatte Aidan sich ein- oder zweimal von seinen Gefährten überreden lassen, nach dem Abendessen für uns die Harfe zu spielen. Er war ein begabter Musiker, was mich überraschte. Johnnys Mannen waren Krieger aus Berufung. Die Kunst des Barden war die Schöpfung, die des Kriegers die Zerstörung. Ich hielt es für schwierig, beides zusammenzubringen, ohne sich in Widersprüchen zu verfangen.

»Ich hoffe, du spielst auch dieses Jahr wieder für uns«, sagte ich.

Aidan lächelte, wobei sich Grübchen in seinen Mundwinkeln bildeten. »Nur wenn du auch spielst«, antwortete er mit einem Funkeln in seinen braunen Augen.

»Mag sein.« Mir gingen all die Gründe durch den Kopf, aus denen ich mich so auf seinen Besuch gefreut hatte, und ich entschied, dass seine Gegenwart in Sevenwaters die des verdrießlichen Cathal allemal aufwog. »Der Verlobte meiner Schwester, Illann, schickt Musiker aus seinem Haushalt zum Fest. Aber ich denke, ihr werdet eine Weile bleiben, also ergibt sich gewiss reichlich Gelegenheit.«

»Wenn du Aidan so anschaust, spielt er ganz sicher für dich«, mischte Cathal sich wieder ein. »Er umwirbt die Frauen gern mit einem hübschen Liebeslied. Aber nimm es nicht zu ernst, rate ich dir.«

»Sollte ich deines Rats bedürfen, werde ich darum bitten«, entgegnete ich in einem Tonfall, der hoffentlich einschüchternd wirkte. »Und behalte bitte künftig deine Ansichten zu meinen Schwestern für dich. Sollte ich je wieder solche Bemerkungen von dir hören, werde ich …«

»Wirst du was?« Er zog die Brauen hoch. »Es deinem Vater sagen? Mir eine Ohrfeige geben? Heulend weglaufen?«

»Sei still, Cathal!«, rief Aidan entsetzt. »Er meint kein Wort von dem ernst, Clodagh. Dürfen wir dich zurück zum Haus begleiten?«

»Gleich«, antwortete ich und wandte mich an Cathal. »Ich werde Johnny bitten, dich sofort wegzuschicken«, sagte ich, obgleich ich wusste, dass ich kaum von meinem Cousin erwarten durfte, einer solchen Bitte zu entsprechen. Schließlich hatte er stets taktische Gründe für den Einsatz seiner Männer, selbst wenn sie ihn zu einem Familienfest begleiteten. »Ich weiß, welche hohen Ansprüche er an seine persönliche Garde stellt, und die betreffen nicht bloß die Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen, in der Fährtensuche oder dem Wachdienst. Ihm ist das gesamte Betragen wichtig. Falls du also zu allen so unerhört bist, wundert mich, dass er dich in seinen Diensten behält. Du musst Qualitäten besitzen, die sich Außenstehenden wie mir verschließen.«

Ich rechnete mit einer bissigen Erwiderung, doch Cathal zuckte einfach nur mit den Schultern. Auf dem Weg zurück zum Burgfried verwickelte Aidan mich in ein Gespräch über Musik, während sein Freund sich in tiefes Schweigen hüllte.

 

Deirdre war in der Kammer, die wir uns seit früher Kindheit teilten. Zwar war unser Heim ein Burgfried, innen jedoch recht bequem ausgebaut, mit vielen einzelnen Kammern. Sibeal und Eilis teilten sich ein Zimmer neben unserem. Und ab morgen würde ich dieses ganz für mich haben.

Meine Zwillingsschwester saß auf ihrem Bett, den Kopf in die Hände gestützt, und weinte. Was ihr Haar betraf, hatte sie vollkommen recht gehabt: Sie und ich hatten die flammend roten Locken unserer Mutter geerbt, die sehr hübsch aussehen konnten, wenn man sie richtig pflegte. Leider aber neigten sie dazu, bei dem kleinsten Fehler völlig wild und wirr zu werden. Offensichtlich war die Kamille kein guter Einfall gewesen.

Deirdre schluchzte etwas davon, dass Illann sie hässlich finden und beschließen würde, sie doch nicht zu heiraten, was, wie ich annahm, ihre schlimmste Sorge war.

»Unsinn«, sagte ich, setzte mich zu ihr und legte einen Arm um sie. »Uns bleibt noch fast ein ganzer Tag bis zur Zeremonie, also reichlich Zeit, um dein Haar wieder zu richten.« Mir fiel die lange Liste an Dingen ein, die ich noch zu tun hatte, aber an die durfte ich im Moment nicht denken. »Ein Spritzer Lavendelwasser und vorsichtiges Flechten, mehr braucht es nicht.«

»Wir haben keinen ganzen Tag mehr«, widersprach Deirdre. »Heute Abend ist das Fest und der Tanz. Und jetzt ist Johnny hier …«

Vielleicht waren die Tränen nicht bloß ihrem Aussehen geschuldet. Deirdre machte rasch aus allem ein Drama, aber sie war diesmal wirklich traurig.

»Deirdre«, sagte ich streng, »komm und setz dich vor den Spiegel. Wir kümmern uns sofort um dein Haar, damit du beim Fest heute Abend schön bist.«

»Ich kann unmöglich zum Fest erscheinen«, murmelte Deirdre, als sie sich vor den Spiegel hockte. Sie kniff sich in die Wangen, um sie zu röten. »Ich sehe furchtbar aus. Niemals hätte ich Grün für mein Hochzeitskleid wählen dürfen. Ob es wohl schon zu spät ist …«

»Morrigans Fluch!«, rief ich entsetzt aus, sobald ich mein Spiegelbild in dem Bronzerahmen erblickte. Erst jetzt ergab Cathals Bemerkung, ich wäre eindeutig nicht die Braut, einen Sinn. Mein Haar war noch krauser als Deirdres und voller kleiner Zweige und Blätter. Nach meinem panischen Lauf durch den Wald waren meine Wangen so rosig, wie Deirdre sich ihre wünschte. Auch meine Augen waren rot, ebenso meine Nasenspitze. Zudem entblößte der Riss in meinem Kleid nicht nur mein aufgescheuertes Knie, sondern überdies einen beträchtlichen Teil meines Beins. Kein Wunder, dass Aidan mich so seltsam angesehen hatte, als ich aus dem Wald kam.

»Was?«, fragte Deirdre, die mein Fluchen von ihrem Kummer ablenkte. »Was ist?«

»Nichts«, sagte ich, während ich das Haar meiner Schwester mit dem Kamm in drei Stränge teilte. Es würde reichlich Arbeit sein, ihren Haarwust zu bändigen, aber ich hatte genügend Übung darin. »Allerdings bin ich Aidan eben in diesem Aufzug in die Arme gelaufen.« Gewiss lachten er und Cathal gerade über mich.

»Ah, dann hat Johnny ihn wieder mitgebracht? Das sind wunderbare Neuigkeiten, Clodagh! Ich weiß doch, wie sehr du ihn magst. Und ich bin sicher, dass Aidan darum bat, hierher mitkommen zu dürfen. Er schien mir letztes Jahr ein Auge auf dich geworfen zu haben. Und er wäre eine gute Partie. Ich meine, Aidan ist nicht ganz von dem hohen Stand wie Illann, aber er ist der Sohn eines Stammesfürsten, und ich weiß, dass Vater eine Allianz mit dem Westen gutheißen würde. Denk nur, Clodagh, wir könnten beide im selben Jahr verheiratet sein!«

»Aidan mag einen guten Ehemann abgeben«, entgegnete ich und steckte eine Strähne von Deirdres Haar auf, »doch ich werde ihn sicher nicht so bald heiraten. Noch sonst jemanden.« Für einen Moment hatte ich mich den Erinnerungen an letztes Jahr hingegeben, als Aidan mit mir im Garten spazieren ging, Harfe spielte und überhaupt einiges anstellte, um mit mir reden zu können. Aber das war, bevor Mutter ein Kind empfing. Nun war alles anders, und es war gleich, ob ich Aidan mochte oder er mich. »Ich muss hierbleiben, Deirdre, wie du sehr wohl weißt. Auch wenn alles gut ausgeht, wird Mutter noch eine ganze Weile sehr schwach und erschöpft sein. Dann braucht sie mich. Und sollte es nicht …« Das musste ich nicht aussprechen. »Ach was«, sagte ich betont munter, »ich habe so oder so die Gelegenheit versäumt, einen guten Eindruck auf Aidan zu machen. Er hatte übrigens einen ausgesprochen schrecklichen Freund bei sich. Der ungehobeltste Mann, dem zu begegnen ich jemals das Pech hatte. Ich habe keine Ahnung, wo Johnny ihn entdeckt haben mag. Er hat offensichtlich sein Gespür für die richtigen Krieger verloren.«

Etwas an Deirdres Miene hatte sich verändert. Ich sah sie im Spiegel an. »Du hast nicht bloß wegen deines Haars geweint. Was ist wirklich mit dir? Ist es wegen Johnny?« Das war eines der wenigen Themen, bei dem sogar ich behutsam sein musste.

»Warum sollte es?«, kam Deirdres Antwort etwas zu rasch.

»Du weißt, warum, Deirdre. Lange Jahre gab es nur einen Mann, der dir gefiel, und der war nicht Illann. Und dass Cousin und Cousine ersten Grades nicht heiraten dürfen, lassen wir einmal außer Acht. Es wäre unfair Illann gegenüber, wenn er für dich nur die zweite Wahl ist.«

»Ach, das ist ewige Zeiten her! Da war ich noch ein Kind. Denkst du etwa, ich hätte all die Jahre eine geheime Leidenschaft für Johnny gehegt?«

Ich dachte es nicht bloß, ich wusste es. Aber ich würde sie nicht noch mehr aufregen, indem ich es aussprach. Ich steckte den letzten Strang ihres Haars auf und begann, es zu kämmen und zu flechten. »Dann bist du beunruhigt? Wegen … nun wegen der Hochzeitsnacht und so?«

»Ein bisschen«, sagte Deirdre. »Aua, das tut weh, Clodagh! Aber ich bin nicht so beunruhigt, dass ich deshalb weine. Es ist ja nicht so, dass Illann und ich noch nicht … Also, da waren bestimmte Dinge … Ich bin ziemlich sicher, dass es mir gefallen wird, wenn ich mich erst einmal daran gewöhnt habe.«

»Ein Glück für dich«, sagte ich, während ich sie weiter kämmte. »Die vorteilhafteste Heirat, die Vater sich für eine seiner Töchter erträumen konnte, und du magst Illann sogar genug, um das Bett mit ihm teilen zu wollen.«

»Deine Zeit wird auch noch kommen.«

»Ich vermute, dass Vater irgendeinen furchtbar alten Mann für mich aussuchen wird, der zufällig als Verbündeter von Nutzen ist.« Mein angestrengter Versuch, einen Scherz zu machen, klang nicht einmal in meinen eigenen Ohren glaubhaft.

»Das würde er nie tun, Clodagh«, sagte Deirdre ernst. »Du weißt, dass er auch nicht auf meine Heirat mit Illann bestanden hätte, wenn ich ihn nicht mögen würde. Und bedenkt man, welche wertvollen Beziehungen Illann hat, ist das ausgesprochen rücksichtsvoll von Vater.«

»Stimmt.« Und gegenwärtig würde Vater sich wohl ohnehin nicht mit möglichen Verehrern von mir herumplagen wollen. Wie Mutters Niederkunft auch ausgehen würde, sie würde ihre Pflichten vorerst nicht wieder aufnehmen können. Und sollte das Schlimmste geschehen, musste ich darauf vorbereitet sein, den Haushalt von Sevenwaters zu führen, solange Vater lebte. Obwohl ich eine von sechs Töchtern war, bestand kein Zweifel, dass diese Aufgabe mir zufiel.

Meine älteste Schwester Muirrin war verheiratet und lebte auf Inis Eala, dem Hauptquartier von Johnnys Kriegertrupp. Deirdre würde morgen verheiratet und danach fortgehen. Unsere nächste Schwester, Maeve, hatte in einem Feuer vor vier Jahren schwere Verletzungen davongetragen und lebte nun im Haus meiner Tante in Britannien. Tante Liadan, Johnnys Mutter, war eine Heilerin von unvergleichlicher Begabung. Wenn jemand Maeve helfen konnte, ihre armen verdrehten Hände wieder bewegen zu können und ihr von Narben entstelltes Gesicht hinnehmen zu lernen, dann war es Liadan. Cathal hatte recht gehabt: Meine Schwester war ein Krüppel. Nur gebrauchte niemand in unserer Familie dieses hässliche Wort.

Was meine beiden jüngsten Schwestern betraf: Sibeal war eine Gelehrte und Seherin, die zu Höherem bestimmt war, und Eilis war erst neun. Mutter hatte Deirdre und mir über die Jahre alles beigebracht, was wir wissen mussten, wenn wir eines Tages heiraten und den Haushalt unserer Männer führen sollten.

»Was ist mit dir, Clodagh?«, fragte Deirdre, die mich sorgenvoll ansah. »Du wirkst auf einmal traurig.«

»Du wirst mir fehlen«, antwortete ich. »Wie gut, dass wir weiter miteinander sprechen können, wenn du fort bist. Ich wüsste nicht, wie ich es sonst aushalten könnte. Schließlich warst du immer hier. Mir kommt es vor, als ginge ein Teil meiner selbst.«

Deirdre schwieg.

»Du wirst erfahren wollen, was geschieht, wenn Mutter das Baby bekommt«, fuhr ich fort. »Und ich kann es dir gleich erzählen.« Was nicht einfach würde, sollten Mutter und das Kind sterben. Die geistige Verbindung zwischen uns konnte Nachrichten nur direkt mitteilen, nicht fragen, ob die andere allein war, sich hinsetzen konnte oder ungestört war.

»Sie wird sterben, nicht wahr?« Deirdres Stimme klang außergewöhnlich matt. »Nach morgen sehe ich sie nicht mehr wieder.«

Meine Augen brannten vor Mitgefühl. Bisher hatten wir nicht darüber gesprochen, höchstens beiläufig, nie jedoch voreinander zugegeben, was wahrscheinlich passieren würde. »Sie könnte es überstehen«, sagte ich. »Auch das Baby überlebt vielleicht. Mutter jedenfalls glaubt es fest.«

Deirdre neigte den Kopf. Ihre Hände waren im Schoß gefaltet.

»Illann könnte dich vor der Niederkunft herbringen«, schlug ich vor und legte den Kamm beiseite. Wie furchtbar wäre es für meine Zwillingsschwester, wenn eintrat, was sie sagte, und sie sich nicht von unserer Mutter verabschieden konnte.

»Ich will nicht einmal daran denken!«, sagte Deirdre scharf. Meine Schwester war immer schon die Aufbrausendere von uns gewesen, ungestüm wie ein Herbstgewitter. Ich war die Ruhigere. Für gewöhnlich tat ich schlicht, was getan werden musste. »Ich hasse den Gedanken, hier zu sein, wenn es geschieht. Mir vorzustellen, dass sie vor unseren Augen stirbt und wir nichts ausrichten können. Falls sie einen Jungen bekommt und er lebt, sie aber nicht, werde ich das Kind mehr als alles andere auf der Welt verabscheuen.« Sie weinte wieder, das Gesicht verzerrt vor ohnmächtiger Wut.

Ich musste mehrmals blinzeln, als ich sie in die Arme nahm. »Das ist doch Unfug«, tröstete ich sie, obwohl ich bei ihren Worten etwas Dunkles, Kaltes gespürt hatte. »Keiner hasst Babys. Die Menschen brauchen sie nur anzusehen und lieben sie. Und Mutter stirbt vielleicht nicht. Sie könnte recht haben, dass dieses Kind ein Sohn und ein besonderes Geschenk der Götter ist. Wer weiß, die vielen Opfergaben könnten am Ende helfen.«

»Das glaubst du doch selbst nicht, Clodagh.« Deirdre sah auf, so dass sich unsere Blicke im Spiegel begegneten. Ich war schockiert, denn sie sah mich beinahe feindselig an. »Ich meinte, was ich sagte. Falls Mutter stirbt, will ich nie wieder hierher zurückkommen. Dann lasse ich Sevenwaters hinter mir und konzentriere mich darauf, Illann die beste Frau zu sein, die ich kann.«

Ich hatte geglaubt, Deirdre besser als jeden anderen zu kennen, und dennoch erschreckte sie mich. Der Gedanke, dass sie Sevenwaters und ihrer Familie den Rücken zukehren wollte, tat mir weh. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch mir war plötzlich, als wäre ich binnen eines Moments sehr viel älter geworden. Ich nahm den Kamm auf und machte mich wieder an die Arbeit. Keine von uns konnte sich erlauben, dass ihr der Rest des Haushalts die Tränen ansah. Deirdre musste bei dem heutigen Fest strahlen, und ich sollte zumindest vorgeben, glücklich zu sein, allein schon um meines Vaters willen.

Als Stammesfürst von Sevenwaters hatte er weit schwierigere Herausforderungen zu bestehen als ich, nicht nur Mutters ungewisse Zukunft und die ihres ungeborenen Kindes. Zudem würde Deirdres Vermählung bei einigen Anführern der nördlichen Uí Neill auf Ablehnung stoßen oder zumindest Misstrauen erregen, wurde mit ihr doch ein neues Band zwischen Sevenwaters und dem südlichen Zweig der herrschenden Clans geknüpft. Obendrein verbreiteten sich unerfreuliche Gerüchte in unserer Gegend. Die Leute fingen an, dem Feenvolk die Schuld für verendetes Vieh, zufällige Brände, Ernteausfälle und Gewitter zu geben, als hätte sich diese weise und edle Art praktisch über Nacht in eine hinterhältige, verschlagene verwandelt. Solches Gerede bereitete Vater Sorge, denn unser Land bot den Túatha Dé eine Zufluchtsstätte. Nein, mich wunderte nicht, dass Vater dieser Tage so müde aussah. Deshalb müssten Deirdre und ich heute Abend lächeln und fröhlich sein. Wir mussten die morgige Hochzeit voller Freude und Zuversicht feiern.

»Clodagh, da ist etwas, das ich dir sagen muss. Es wird dir nicht gefallen.«

»Ach nein?«

»Es tut mir ehrlich sehr leid, Clodagh, denn ich weiß, dass es dich unglücklich machen wird, aber ich muss es tun.«

Verwundert legte ich den Kamm beiseite. »Nun, dann heraus mit der Sprache. Was immer es ist, allzu schlimm kann es nicht sein.«

Sie senkte den Blick. »Clodagh, wir dürfen das nicht mehr tun. Wenn ich fort bin, meine ich, bei Illann. Es wäre nicht anständig.«

»Was nicht tun?« Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte.

»Reden, wie wir es tun. Es tut mir leid, und ich werde dich schrecklich vermissen, aber … wenn ich verheiratet bin, wäre es … es würde sich nicht richtig anfühlen, Clodagh. Sieh mich nicht so an! Das ist doch nicht das Ende der Welt. Denk einmal nach. Was ist, wenn Illann und ich beieinanderliegen, und plötzlich bist du zwischen uns? Nicht richtig dort, natürlich, aber es wäre dasselbe. Wir dürfen es einfach nicht mehr.«

Mir wurde das Herz kalt und hart in der Brust. »Das ist nicht dein Ernst«, hauchte ich, auch wenn ich wusste, dass es ihr sehr wohl ernst war, weil sie es sonst nicht gesagt hätte.

»Ich werde ein neues Heim, eine neue Familie haben.« Deirdres Stimme kippte, und sie setzte eine besonders strenge Miene auf. »Ich muss mein ganzes Augenmerk darauf richten. Es tut mir leid, dir weh zu tun, Clodagh, doch ich kann nicht anders. Ich werde dich nicht mehr in meine Gedanken lassen. Und, bitte, streite nicht mit mir. Mein Entschluss steht fest. Nicht nur wegen Illann und mir. Ich muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, mich meinen eigenen Problemen zu stellen. Bisher war ich viel zu sehr daran gewöhnt, dass du mir hilfst, dass du immer alles richtest, und … Gib mir den Kamm.« Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Du solltest dir ein anderes Kleid anziehen. Dieses ist ganz zerrissen. Was hast du da draußen gemacht? Bist du auf Bäume geklettert?«

 

Gewöhnlich verbrachte ich jeden Abend Zeit mit meinem Vater in seinem kleinen Ratszimmer, wo wir über die Geschehnisse des Tages redeten. Ich erzählte ihm die neuesten Dinge aus dem Haushalt, er mir von seinen Beratungen mit den benachbarten Stammeshäuptern sowie seinen Entscheidungen bezüglich unserer Ländereien und ihren freien Bauern, seinen Viehkäufen oder seinen Plänen, zu Ratsversammlungen und sonstigen Zusammenkünften zu reisen. Manchmal sprachen wir über die Konflikte in unserer Region, zumeist über die sich bekriegenden Zweige des Uí-Neill-Clans. So hielten wir es schon lange bevor Mutter guter Hoffnung war, nur war sie früher oft dabei gewesen. Nun ging es ihr zu schlecht, als dass sie die Energie oder die Lust hätte, über solche Dinge zu reden. Also waren wir zu zweit. Deirdre hatte sich noch nie für die Familienangelegenheiten interessiert.

Vater sagte mir oft, ich hätte den Verstand eines Strategen. Gemeinhin war es nicht üblich, dass Stammesführer sich in wichtigen Fragen mit ihren Töchtern berieten, doch Vater war nicht wie die anderen Clanführer. Vielmehr schien mir oft, dass er sich mir selbst dann noch anvertrauen würde, wenn ich Brüder hätte. So wie er auch mit Mutter über alles sprach. Vielleicht lag es daran, dass Vater mit einer Zwillingsschwester aufgewachsen war, die sich nicht scheute, auch kühne Entscheidungen für sich selbst zu fällen. Ein weiterer Grund mochte sein, dass er im Alter von sechzehn Jahren zum Anführer geworden war und sich von Anfang an auf Mutters Hilfe verlassen hatte. Sie beide waren seit Kindertagen sehr gute Freunde und hatten früh geheiratet.

Da unsere abendliche Unterhaltung wegen des feierlichen Essens und anschließenden Tanzes ausfallen würde, ging ich spätnachmittags zu Vaters Ratszimmer, wartete auf dem Flur, bis die beiden südlichen Stammesfürsten fort waren, mit denen er gesprochen hatte, und ging hinein.

Vater saß an seinem Tisch, sein Kinn auf die Hand gestützt und ein Dokument vor sich. Er blickte gedankenverloren in die Ferne. Neuerdings zeigten sich graue Fäden in seinem dunklen Haar und Falten auf seinem Gesicht, die vor Mutters Empfängnis nicht dort gewesen waren. Vater war als starker, weiser Anführer bekannt, als ein entschlossener Mann, der es verstand, hart zu sein, aber stets fair zu bleiben. Im Moment wirkte er nur erschöpft und mutlos. Seine beiden Wolfshunde leisteten ihm schweigend Gesellschaft, einer mit seiner Schnauze auf Vaters Knie, der andere quer über seinen Füßen liegend. Als ich hereinkam, hoben sie ihre Köpfe, senkten sie aber gleich wieder.

»Vater«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir, um die plappernden Stimmen aus der Halle auszusperren, »ich wollte nachsehen, ob ich noch irgendetwas für dich tun kann. Alle Vorbereitungen für das Fest heute Abend und das Ritual morgen sind getroffen. Die meisten Leute sind inzwischen hier. Muirrin und ihre kleine Eskorte werden morgen früh kommen, wie Johnny sagt. Anscheinend wurde sie zu einem kranken Kind in unserer nördlichen Siedlung gerufen, als sie dort vorbeiritten, deshalb ließ Johnny drei Männer bei ihr und reiste mit den übrigen voraus. Die Gäste haben ihre Unterkünfte bezogen, die Pferde sind versorgt, und Doran hat Platz für die Stallknechte und Diener gefunden. Es gibt allerdings noch keine Nachricht, dass sich die beiden nördlichen Stammesführer nähern, die du eingeladen hast, Naithi von Davagh und sein Cousin Colman.«

»Hmm«, murmelte Vater mit zusammengekniffenen Lippen.

»Denkst du, sie kommen nicht? Dass sie nicht einmal Gesandte schicken? Das wäre sehr unhöflich.«

»Ich hatte gehofft, dass sie kommen, Clodagh. Ich lud sie ein, weil sie von allen Anführern des nördlichen Uí-Neill-Clans die vernünftigsten und fairsten sind. Und da ihr einflussreicher Nachbar, Eoin von Lough Gall, fort von zu Hause ist, glaubte ich, Naithi und Colman könnten bereit sein, sich für zwei Tage mit Illann an einen Tisch zu setzen. Offenbar habe ich mich geirrt. Sie sind nicht froh über diese Heirat. Verärgert wohl eher.«

Ich konnte ihm ansehen, welche Sorgen ihn plagten, und beschloss, nichts von der Schattenpräsenz zu erwähnen, die mir durch den Wald gefolgt war, oder von dem ungehobelten jungen Mann, der mich beleidigt hatte. Nicht solange Vater diesen Blick hatte. »Vater, es ist sehr ernst, nicht wahr, dieser Zwist mit den nördlichen Stammesfürsten?«

Er wies auf die Bank neben sich, und ich setzte mich, denn erst jetzt merkte ich, dass ich den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war.

»Darum werde ich mich nach der Hochzeit kümmern«, sagte er. »Ja, es ist ernst, doch nun ist Johnny hier, und wir werden uns eine Strategie überlegen. Du siehst ein bisschen müde aus, Clodagh. Dies ist eine geschäftige Zeit für dich, und deine Gefühle sind gewiss widersprüchlich, was Deirdres Fortgang betrifft.«

»Mir geht es gut, Vater.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich gewöhne mich schon noch daran. Es bedeutet eine Last weniger für Mutter, wenn ich dafür sorge, dass alles so ist, wie sie es sich wünscht.«

Ein kurzes Schweigen trat ein, während der unausgesprochene Gedanke zwischen uns schwebte: dass Mutter vielleicht nie wieder den Haushalt leiten würde; dass sie womöglich nicht mehr lange unter uns weilte.

»Ich wünschte, die Vermählung hätte später stattfinden können«, sagte ich, als ich daran dachte, wie blass und ermattet Mutter ausgesehen hatte, als ich vorhin bei ihr gewesen war. »Sie ermüdet so rasch. Ich habe ihr geraten, die Tafel abends etwas früher zu verlassen.«

»Ich bin froh, dass Muirrin bald hier sein wird und uns ihre weise Meinung zur Verfassung deiner Mutter sagen kann.« Vater rieb sich die Augen. »Ich muss sagen, Clodagh, obwohl es eine wundervolle Heirat für Deirdre ist, wäre mir eine andere Zeit ebenfalls lieber gewesen. Im Moment ist es zu viel für Aisling, auch wenn du alles bestens ausgerichtet hast. Sie scheint …« Er verstummte, nicht willens, es in Worte zu fassen.

Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, und er bedeckte sie mit seiner.

»Ich weiß, Vater«, sagte ich leise. »Aber die Feierlichkeiten werden morgen Nachmittag vorüber sein. Und Muirrin sollte bis nach der Niederkunft bleiben.« Meine älteste Schwester war eine Heilerin und als solche mit ihrem Ehemann bei Johnny auf Inis Eala tätig, wo die Krieger während ihrer Ausbildung häufig Kampfverletzungen davontrugen. Wir schätzten uns glücklich, dass sie nach Sevenwaters kommen konnte.

»Es stimmt mich traurig, dass Maeve nicht hier sein kann«, sagte Vater. »Ich weiß, dass sie vor solchen Zusammenkünften zurückscheut, doch sie würde gewiss gern erleben, wie ihre Schwester sich vermählt. Sie fehlt mir, Clodagh. Ihr Mädchen seid mir alle auf eure Weise kostbar, wie du hoffentlich weißt.«

»Ja, tue ich, Vater.« Ich hörte, was er nicht sagte: dass Mutters sehnsüchtiger Wunsch nach einem Sohn – und sie war unerschütterlich der Überzeugung, einen Sohn unter ihrem Herzen zu tragen – allzu leicht so ausgelegt werden könnte, dass ihre sechs Töchter ihr nicht sonderlich wichtig waren. Ich hatte gehört, wie meine jüngste Schwester Eilis sagte, dass Mutter sie weniger liebte als das Kind, das unterwegs war. Sibeal hatte sie getröstet und beteuert, Mutter würde all ihre Kinder gleich lieben, immer. »Und wir lieben dich. Du bist der beste Vater, den man sich wünschen kann. Es wird sich seltsam anfühlen, wenn Deirdre fort ist, nicht? Und wenn Muirrin wieder abreist, wirst du nur noch drei deiner Mädchen hier haben. Und Coll natürlich.«

Vater lächelte. »Du hast mich gefragt, ob ich sonst noch etwas brauche. Ich sollte vermutlich fragen, ob ich mich darauf verlassen kann, dass sich mein Neffe heute Abend vor den Gästen benimmt.«

»Was Coll nicht für dich tun würde, tut er gewiss für Johnny«, erwiderte ich. »Er verehrt seinen großen Bruder. Ich denke, wir werden von ihm nur sein bestmögliches Betragen und vorbildliche Manieren erleben – zumindest für eine kleine Weile.«

»Manieren? Bei diesem Kind? Das bezweifle ich.« Vater sprach voller Zuneigung. Coll war kein aufsässiger Junge, lediglich abenteuerlustig. Regelmäßig brachten Eilis und er sich in Schwierigkeiten, was den Haushalt belebte, und das wiederum hielt ich für gut.

Jemand klopfte an die Tür. Als ich sie einen Spalt weit öffnete, stand dort ein Stammesführer, der Vater zu sprechen wünschte. Ich könnte nun einige Momente Ruhe in meiner Kammer genießen, dachte ich. Für Vater hingegen hatte das Tagesgeschäft mit Sonnenaufgang begonnen und würde nicht enden, ehe das Fest vorbei und alle Gäste sicher im Bett waren.

 

An der abendlichen Tafel hätte niemand geahnt, welche Sorge Fürst Sean von Sevenwaters niederdrückte. Die kräftigen Züge meines Vaters waren ruhig und sein Lächeln glaubwürdig, als er an der Spitze der festlichen Tafel saß. Um sämtliche Gäste unterzubringen, hatten wir vier Tische aufgestellt, einen für die Familie auf dem Podest seitlich, die anderen drei kreuzförmig im Hauptteil der größten und schönsten Halle des Burgfrieds. Wandbehänge mit aufwendigen Stickereien verhüllten die kargen Mauern, und Schalenlampen warfen warmes Licht auf die leuchtenden Farben. Ein Feuer knisterte im Kamin, weil die Frühlingsabende hier kühl sein konnten.

Wenn Johnny bei uns war, saß er gewöhnlich zu Vaters Linken, Mutter wie immer zu seiner Rechten. So erkannte jeder, dass Johnny Vaters Erbe war und eines Tages der Herr über Sevenwaters. Heute Abend hatte er seinen Platz an Illann abgetreten, den neuen Schwiegersohn, und saß neben Deirdre, mir gegenüber. Johnny zu mögen, war leicht. Er war ein kräftig gebauter junger Mann mit kurzgeschnittenem braunen Haar, ruhigen grauen Augen und einer Gesichtstätowierung, die auf raffinierte Weise an das Gefieder eines Raben erinnerte. Zu uns Mädchen war er immer freundlich gewesen, auch wenn wir ein bisschen Ehrfurcht vor ihm hatten. Johnny war natürlich älter: ein oder zwei Jahre älter als unsere große Schwester Muirrin. Er war ein erfahrener Anführer in Schlachten und hochgeachtet unter den Kämpfern.