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Übersetzung aus dem Englischen von Paul Baudisch

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96137-0

© 1891 Thomas Hardy, übersetzt von Paul Baudisch

© der deutschen Übersetzung

2012 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere

Umschlagmotiv: Kent Larsson/gettyimages

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

Armer

Verletzter Name!

Wie ein weiches Bett

Soll dich mein Busen hegen.

Shakespeare

1. Phase

Das Mädchen

1

Eines Abends in den letzten Tagen des Mai wanderte ein Mann mittleren Alters heimwärts von Shaston nach dem Dörfchen Marlott im benachbarten Tale von Blakemore oder Blackmoor. Die zwei Beine, die ihn trugen, waren wacklig, und es lag eine Schiefe in seinem Gang, die ihn immer wieder von der geraden Linie nach links hinüberlockte. Ab und zu nickte er scharf mit dem Kopf, als wollte er irgendeine Ansicht bekräftigen, aber er dachte sich nichts Besonderes. Ein leerer Eierkorb hing in seinem Arm, der Stoff seines Hutes war zerknüllt, und an jener Stelle des Randes, wo sein Daumen beim Grüßen hintippte, zeigte sich ein abgeschabter Fleck. Es dauerte nicht lange, und er begegnete einem älteren Pfarrgeistlichen, der auf einer grauen Stute saß und im Reiten ein Wanderlied vor sich hinsummte.

»’n Abend«, sagte der Mann mit dem Korb.

»Guten Abend, Sir John«, erwiderte der Pfarrer.

Nach ein oder zwei Schritten blieb der Fußgänger stehen und drehte sich um.

»Mit Verlaub, Herr: den letzten Markttag haben wir uns um diese Zeit hier auf der Straße getroffen, und ich sagte ›guten Abend‹, und Sie gaben zur Antwort ›guten Abend, Sir John‹, gerade wie jetzt.«

»Ja«, sagte der Pfarrer.

»Und schon früher mal – vor ’nem Monat vielleicht.«

»Kann sein.«

»Nun, was können Sie bloß damit meinen, daß Sie mich immer wieder Sir John nennen, und bin doch bloß der simple Jack Durbeyfield, der Höker?«

Der Pfarrer ritt einen oder zwei Schritte näher.

»Es war nur eine Laune«, sagte er; und nach einem momentanen Zögern: »Es geschah auf Grund einer Entdeckung, die ich vor ganz kurzer Zeit gemacht habe, als ich nach Stammbäumen für die neue Geschichte der Grafschaft stöberte. Ich bin Pfarrer Tringham, der Altertumsforscher, aus Stagfoot Lane. Wissen Sie wirklich nicht, Durbeyfield, daß Sie der direkte rechtmäßige Stammhalter der alten Ritterfamilie D’Urberville sind, die ihre Abstammung von Sir Pagan D’Urberville herleitet, dem berühmten Ritter, der mit Wilhelm dem Eroberer aus der Normandie kam? So liest man es in der Chronik von Battle Abbey.«

»Nie davon gehört.«

»Nun, ’s ist wahr. Halten Sie einen Augenblick Ihr Kinn in die Höhe, damit ich Ihr Profil deutlicher sehe. Ja, das ist die Nase und das Kinn der D’Urbervilles – ein bißchen degeneriert. Ihr Ahnherr war einer von den zwölf Rittern, die den Lord von Estremavilla aus der Normandie bei der Eroberung von Glamorganshire unterstützten. Überall in dieser Gegend von England hatten Zweige Ihrer Familie ihre Güter; ihre Namen erscheinen in den Schatzkammerrollen aus der Zeit König Stephans. Unter der Regierung König Johanns war einer von ihnen so reich, daß er den Maltesern ein Lehngut schenkte; und zu Zeiten Eduards II. wurde Ihr Vorfahr Brian nach Westminster berufen, um an dem großen Staatsrat teilzunehmen. In den Tagen Oliver Cromwells kam die Familie ein wenig herunter, aber nicht in ernstlicherem Maße, und unter der Regierung Karls II. ernannte man euch wegen eurer Königstreue zu Rittern von der Königlichen Eiche. Es hat Generationen von Sir Johns unter euch gegeben, und wenn die Ritterschaft erblich wäre wie eine Baronie – und so war es tatsächlich in alten Zeiten, als die Ritterwürde vom Vater auf den Sohn überging –, nun, so würden Sie heute Sir John sein.«

»Was Sie nicht sagen!« murmelte Durbeyfield.

»Kurz«, schloß der Pfarrer und klatschte entschieden mit seiner Gerte über den Schenkel, »es gibt kaum noch eine zweite solche Familie in ganz England.«

»Schlag doch der Blitz drein, und gibt’s keine zweite?« sagte Durbeyfield. »Und da treib’ ich mich hier herum, Jahr um Jahr, von einem Winkel in den andern, als wär’ ich nichts Beßres als der schäbigste Kerl im Kirchspiel … Und wie lang hat man die Neuigkeit über mich schon ’raus, Pastor Tringham?«

Der Geistliche erklärte, soviel er wisse, sei es ganz aus dem Gedächtnis der Leute entschwunden, und man könne kaum sagen, daß es überhaupt bekannt war. Seine eigenen Nachforschungen begannen eines Tages im vergangenen Frühling, als er sich damit befaßte, den wechselnden Schicksalen der D’Urberville-Familie nachzuspüren, und Durbeyfields Namen auf seinem Wagen bemerkte; dies veranlaßte ihn, Erkundigungen einzuziehen, bis schließlich an der Sache nicht mehr zu zweifeln war.

»Anfangs nahm ich mir vor, Sie nicht durch eine so unnütze Mitteilung zu beunruhigen«, sagte er. »Doch zuweilen sind unsere Impulse stärker als unser Verstand. Ich dachte, Sie könnten vielleicht schon die ganze Zeit her davon wissen.«

»Ja, ’s ist wahr, ich hab’ ein- oder zweimal gehört, daß meine Familie bessere Tage gesehen hat, bevor sie nach Blackmoor gekommen ist. Aber ich scherte mich nicht drum; glaubte, das solle bloß heißen, daß wir früher einmal zwei Rösser im Stall hatten, während wir jetzt nur eines haben. Ich hab’ auch ’nen uralten Silberlöffel zu Hause und ein uraltes Wappensiegel; aber mein Gott, was ist schon ein Wappensiegel? … Und wenn man bloß denkt, daß ich und diese nobligen D’Urbervilles immer und alleweil vom selben Fleisch und Blut waren! ’s hieß, mein Urgroßvater hatte allerlei Geheimnisse, und er wollt’ nicht mit der Sprache heraus, von wo er her ist … Und wo stehen unsere Zelte, Pastor, wenn ich so frei sein darf; ich meine, wo hausen wir D’Urbervilles?«

»Ihr haust nirgends. Ihr seid erloschen – erloschen als Adelsfamilie.«

»Schlimm, schlimm.«

»Ja – die lügnerischen Familienchroniken nennen es ›erloschen in der männlichen Linie‹ – das heißt, untergegangen – verschwunden.«

»Nun dann, wo liegen wir begraben?«

»In Kingsbere-sub-Greenhill: Reihen um Reihen von euch in euren Grüften, mit euren Monumenten unter einem Baldachin von grauem Marmor.«

»Und wo sind unsere Familiengüter und Besitzungen?«

»Ihr habt keine.«

»Oh! Und auch kein Land?«

»Nein; obwohl ihr früher einmal reichlich genug davon hattet, wie ich schon sagte, denn eure Familie bestand aus zahlreichen Linien. In dieser Grafschaft gab’s einen Landsitz von euch zu Kingsbere, einen zweiten zu Sherton, einen dritten zu Millpond, einen vierten zu Lullstead und einen fünften zu Wellbridge.«

»Und werden wir jemals wieder zu dem Unsern kommen?«

»Oh – das kann ich nicht wissen!«

»Und was tu’ ich am besten in dieser Sache, Herr?« fragte Durbeyfield nach einer Pause.

»Oh – nichts, nichts; kasteit euch bloß mit dem Gedanken – ›wie sind die Mächtigen der Erde gestürzt‹! Es ist ein einigermaßen interessanter Fall für den Lokalhistoriker und Genealogen, nichts weiter. Unter den Häuslern dieser Grafschaft gibt es mehrere Familien, die fast ebenso glanzvoll sind. Guten Abend.«

»Aber wollen Sie nicht umkehren und ein Glas Bier mit mir auf den Anlaß genehmigen, Pastor Tringham? Im ›Reinen Tropfen‹ haben sie ein sehr feines Gebräu angezapft – freilich ganz sicher nicht so gut wie bei Rolliver.«

»Nein, danke – nicht heute abend, Durbeyfield. Sie haben bereits genug.« Mit diesen Worten ritt der Pfarrer seines Weges, von Zweifeln erfüllt, ob es klug gewesen, diese kuriose Neuigkeit auszuplaudern.

Als er fort war, ging Durbeyfield einige Schritte in tiefe Träume versunken weiter, setzte sich dann auf einen grasbewachsenen Hügel am Straßenrand und stellte seinen Korb vor sich hin. Nach wenigen Minuten tauchte in der Ferne ein Bursche auf, der dieselbe Richtung einschlug, wie sie Durbeyfield zuvor verfolgt hatte. Als dieser ihn erblickte, hob er die Hand, und der Bursche beschleunigte seinen Schritt und kam näher.

»Junge, nimm den Korb da! Sollst für mich ’nen Auftrag besorgen.«

Das spindeldürre Bürschchen runzelte die Stirn. »Wer sind Sie denn, John Durbeyfield, daß Sie mit mir herumkommandieren und mich Junge nennen? Sie kennen meinen Namen ebensogut wie ich den Ihrigen!«

»Wirklich, wirklich? Da liegt das Geheimnis – da liegt das Geheimnis! Nun, parier mir schön, und hör zu, was ich dir für eine Botschaft aufgeben will. Also, Fred, ich will dir’s rundheraus sagen – das Geheimnis ist, daß ich von adligem Blut stamme – ich hab’ es gerade zuvor an diesem heutigen Nachmittag entdeckt; per Eilpost.« Und als Durbeyfield dies verkündete, sank er aus seiner sitzenden Stellung zurück und streckte sich wollüstig auf der Rasenbank mitten unter den Gänseblümchen aus.

Der Bursche stand vor Durbeyfield und betrachtete nachdenklich seine hingegossene Gestalt vom Scheitel bis zur Sohle.

»Sir John D’Urberville – das bin ich«, fuhr der Mann auf der Erde fort. »Das heißt, wenn Ritter Barone wären – was sie sind. ’s steht alles über mich in der Historie aufgeschrieben. Kennst du ’nen Ort, Junge, wie Kingsbere-sub-Greenhill?«

»Ja. Bin auf dem Jahrmarkt in Greenhill gewesen.«

»Nun, siehst du, unter der Kirche von dieser Stadt, da liegen –«

»’s ist keine Stadt, der Ort, wo ich meine; wenigstens war’s keine, als ich hinkam – ’s war ein kleines einäugiges, schielendes Nest.«

»Kümmere dich nicht um den Ort, Junge, nicht darum handelt es sich jetzt. Unter der Kirche von diesem Dorf liegen meine Vorfahren – Hunderte von ihnen in Panzerhemden und voller Juwelen, in großen Bleisärgen, die Tonnen und Tonnen wiegen. ’s gibt keinen Mann in der Grafschaft Südwessex, der grandiosere oder noblere Gerippe in seiner Familie hat als ich.«

»Oh?«

»So, jetzt nimm diesen Korb da und trab weiter nach Marlott, und wenn du zum Wirt vom ›Reinen Tropfen‹ kommst, so sag ihm, er soll auf der Stelle Pferd und Wagen zu mir schicken, um mich nach Hause zu kutschieren. Und in den Sitzkasten vom Wagen soll er ein Nößel Rum in einer kleinen Flasche verstauen und soll mir’s ankreiden. Und wenn du fertig bist, dann lauf mit dem Korb zu meinem Haus und sag meinem Weib, sie soll mit dem Waschen aufhören, weil sie’s nicht zu Ende zu schaffen braucht, und sie soll warten, bis ich nach Haus komme, denn ich hab’ ihr was Neues zu erzählen.«

Als der Bursche in zweifelnder Haltung stehenblieb, schob Durbeyfield die Hand in die Tasche und zog einen Schilling hervor, einen von den verhältnismäßig wenigen, die er besaß.

»Das ist für deine Mühe, Junge.«

Dies veranlaßte den jungen Mann, den Stand der Dinge anders einzuschätzen.

»Ja, Sir John. Danke sehr. Noch etwas, was ich für Sie tun kann, Sir John?«

»Sag ihnen zu Hause, ich möchte zum Nachtmahl – nun, Lämmerbraten, wenn’s zu haben ist; und wenn sie’s nicht auftreiben können, dann Blutwurst; und wenn auch das nicht, nun, Kutteln werden’s auch tun.«

»Ja, Sir John.«

Der Junge hob den Korb auf, und als er sich in Bewegung setzte, klangen vom Dorfe herüber die Töne eines Blasorchesters.

»Was ist das?« fragte Durbeyfield. »Doch nicht wegen mir?«

»’s ist der Frauenvereinsumzug, Sir John. Ihre Tochter gehört ja zu den Mitgliedern.«

»Richtig – hab’s ganz vergessen, weil mir größere Dinge im Kopf herumgehn! Nun, mach dich auf die Strümpfe nach Marlott, vorwärts, und bestell mir den Wagen, und vielleicht fahr’ ich ’rüber und schau’ mal im Verein nach.«

Der Bursche entfernte sich, und Durbeyfield lag wartend, von der Abendsonne beschienen, in Gras und Gänseblümchen. Lange Zeit hindurch kam keine Menschenseele des Weges vorüber, und die schwachen Klänge des Orchesters waren die einzigen Laute, die im Kranz der blauen Hügel dem Ohr die Gegenwart von Menschen verkündeten.

2

Das Dörfchen Marlott liegt inmitten der nordöstlichen Bodenwellen des schönen Tales von Blakemore oder Blackmoor, von dem schon oben die Rede war, eine von Bergen umringte und abgeschlossene Gegend, die zum größten Teile bisher noch nie der Fuß eines Ausflüglers oder Landschaftsmalers betreten hat, obwohl sie in vier Stunden von London aus zu erreichen ist.

Am besten lernt man dieses Tal kennen, wenn man von den Gipfeln der Hügel, die es umschließen, hinabschaut – außer vielleicht zur Zeit der sommerlichen Dürre. Wenn man aber bei schlechtem Wetter führerlos in seinen Tiefen umherstreift, kann es einem leicht geschehen, daß die schmalen, gewundenen und schmutzigen Pfade eine verdrießliche Enttäuschung bereiten.

Dieser fruchtbare und geschützte Landstrich, wo die Felder niemals braun und die Quellen niemals trocken sind, wird nach Süden durch die steil aufragende Kette von Kreidefelsen begrenzt, welche die Gipfel von Hambledon Hill, Bulbarrow, Nettlecombe-Tout, Dogbury, High Stoy und Dubb Down enthält. Der Wanderer, der sich von der Küste her nordwärts etwa zwanzig Meilen weit durch kalkhaltige Dünen und Getreidefelder hindurchgearbeitet hat und dann plötzlich den Rand einer dieser steilen Böschungen erreicht, ist überrascht und entzückt, wenn er, wie eine Landkarte, zu seinen Füßen ausgebreitet eine Landschaft erblickt, die so völlig verschieden ist von der Gegend, die er eben durchschritten hat. Hinter ihm öffnen sich die Hügel, die Sonne brennt auf Felder herab, die so groß sind, daß sie der Landschaft den Charakter freien Landes geben, die schmalen Wege schimmern weiß; niedrig und dicht verflochten, stehen die Hecken, und die Luft ist durchsichtig klar. Hier in diesem Tal scheint die Welt nach kleineren und zarteren Maßen erschaffen zu sein; die Felder sind bloße Beete und so zusammengeschrumpft, daß von dieser Höhe ihre Rainhecken wie ein Netzwerk von dunkelgrünen Fäden wirken, die das blassere Grün des Grases überspreiten. Die Atmosphäre in den unteren Schichten ist dunstig schwer und so mit azurner Bläue durchtränkt, daß auch die mittleren Partien, wie es die Maler nennen, diese Färbung übernehmen, während jenseits der Horizont in tiefstem Ultramarin leuchtet. Die pflugbaren Äcker sind spärlich und eng begrenzt; mit nur geringen Ausnahmen zeigt sich dem Blick eine einzige mächtige und üppige Masse von Gras und Bäumen, die viele kleinere Hügel und die Schluchten der größeren überzieht. So sieht das Tal von Blackmoor aus.

Der Distrikt bietet topographisches und in nicht geringerem Maße auch historisches Interesse. Das Tal war in früheren Zeiten bekannt als der Forst des Weißen Hirschen, auf Grund einer merkwürdigen Legende aus der Regierungszeit König Heinrichs III.; damals tötete ein gewisser Thomas de la Lynd einen wunderschönen weißen Hirsch, den der König gestellt und verschont hatte, was dem Jäger eine schwere Geldbuße eintrug. In jenen Tagen, und noch bis zu einer verhältnismäßig jüngeren Zeit, war der Landstrich dicht bewaldet. Selbst heute noch findet man Spuren des früheren Zustands in den alten Eichengehölzen, in den unregelmäßigen Waldstreifen, die auf den Abhängen stehenblieben, und in den hohlen Baumstämmen, die so viele von den Weideplätzen überschatten.

Die Wälder sind verschwunden, doch einige alte Bräuche aus ihrem Schattendüster haben sich erhalten. Zahlreiche freilich leben nur noch in verwandelten oder verschleierten Formen weiter. Den Maientanz zum Beispiel konnte man an dem Nachmittag, von dem hier die Rede ist, unter der Marke des Vereinsfestes oder, wie sie es nannten, »Vereinsumgangs« erkennen.

Es war ein bedeutsames Ereignis für die jüngeren Bewohner von Marlott, obgleich die Teilnehmer an der Zeremonie seinen wirklichen Reiz nicht bemerkten. Seine einzigartige Merkwürdigkeit lag weniger in der Beibehaltung des alten Brauches, an jedem Jahrestag in Prozession umherzuziehen und zu tanzen, als in dem Umstand, daß die Teilnehmer ausschließlich aus Frauen bestanden. In Männervereinen waren solche Feierlichkeiten weniger ungewöhnlich, wenn sie auch langsam ausstarben; doch die natürliche Scheu des sanfteren Geschlechts oder aber eine sarkastische Einstellung von seiten der männlichen Verwandten hat derartige Frauenvereine, soweit sie sich (und wenn dies überhaupt noch anderswo der Fall ist) erhielten, ihres Glanzes und ihrer vollen Lebendigkeit beraubt. Nur noch der Verein von Marlott fristete sein Dasein, um die lokale Tradition der ländlichen Feste aufrechtzuerhalten. Er hatte Hunderte von Jahren hindurch seine Umzüge veranstaltet und veranstaltete sie immer noch.

Die Mitglieder des Bundes waren alle in weiße Gewänder gekleidet – ein heiterer Überrest aus alten Zeiten, als Fröhlichkeit und Maienzeit gleichbedeutende Ausdrücke waren und als noch nicht die Gewohnheit, zu grübeln und zu berechnen, alle Regungen des Gemüts auf einen eintönigen Durchschnitt herabgedrückt hatte. Zu allererst zeigten sie sich den Schaulustigen, wenn sie in einer Prozession, je zwei und zwei, rund um das Kirchspiel marschierten. Ideal und Wirklichkeit standen in leisem Widerspruch, als so die Sonne ihre Gestalten gegen die grünen Hecken und efeuumschlungenen Häuserfronten abzeichnete; denn wenn auch die ganze Schar weiße Gewänder trug, waren doch nicht zwei von den Farben einander gleich. Einige näherten sich einem reinen Blütenweiß; andere zeigten ein bläßliches Blau; andere wieder, die von den älteren Jahrgängen getragen wurden (und vielleicht viele Jahre zusammengefaltet im Schrank gelegen hatten), spielten in eine Schattierung von leichenhaftem Grau hinüber und gemahnten an die Mode aus Georgs Zeiten.

Außer dem Abzeichen des weißen Kleides trugen noch jede Frau und jedes Mädchen in der rechten Hand einen geschälten Weidenzweig und in der linken einen Strauß weißer Blumen. Das Schälen des Zweiges und die Auswahl der Blumen war der persönlichen Sorgfalt der Trägerin anvertraut.

In dem Zuge befanden sich ein paar Frauen in mittleren Jahren, ja, auch einige höheren Alters, und ihr von Silberfäden durchzogenes Haar und die verrunzelten, von Zeit und Sorgen mitgenommenen Gesichter boten in diesem lustigen Kreise fast einen grotesken und sicherlich einen rührenden Anblick. Wenn man es recht bedenkt, war vielleicht von jeder der kummervollen und geprüften Frauen, die sich den Jahren näherten, da sie sagen werden: »Es macht mir keine Freude«, mehr zu erfahren als von ihren jugendlichen Gefährtinnen und wohl auch mehr über sie zu sagen. Aber wir wollen die älteren hier beiseite treten lassen zugunsten jener, unter deren Mieder ein rasches und warmes Herz pocht.

Freilich bildeten die jungen Mädchen die Mehrzahl, und das üppige Haar auf ihren Köpfen leuchtete unter dem Sonnenschein in allen Schattierungen von Gold, Schwarz und Braun. Einige hatten schöne Augen, andere eine schöne Nase, einen schönen Mund oder eine schöne Gestalt; nur wenige, oder vielleicht gar keine, besaßen alles. Deutlich sah man, wie schwierig es ihnen wurde – so preisgegeben den neugierigen und forschenden Augen der Menge –, ihren Lippen den richtigen Ausdruck zu verleihen, wie wenig sie imstande waren, den Kopf aufrecht zu tragen und die Befangenheit aus ihren Mienen zu verbannen; das alles zeigte, daß sie echte Landmädchen waren, ungewohnt der vielen gaffenden Blicke.

Und wie sie alle sich der Himmelssonne erfreuten, so besaß auch noch jede einzelne eine geheime kleine Sonne, an der sie ihre Seele wärmte: irgendeinen Traum, eine Neigung, irgendein Steckenpferd, zumindest eine ferne und leise Hoffnung, die vielleicht langsam Hungers sterben mußte und dennoch ihr Dasein fristete, wie die Hoffnung immer und überall. So waren sie denn alle heiter und viele von ihnen lustig.

Sie kamen auf ihrem Rundgang an dem Wirtshaus »Zum Reinen Tropfen« vorüber und bogen eben von der Landstraße ab, um durch ein Lattentor auf die Wiesen hinauszuziehen, als eine von den Frauen sagte:

»Oh, meine Güte! Tess Durbeyfield, da vorn kommt ja wahrhaftig dein Vater in einem Wagen nach Hause gefahren!«

Bei diesem Ausruf wandte ein junges Mitglied des Bundes den Kopf. Sie war ein schlankes und hübsches Mädchen – vielleicht nicht hübscher als einige andere –, doch ihr lebendiger Rosenmund und ihre großen unschuldigen Augen verliehen ihrer Gestalt einen beredten Zauber. Sie trug im Haar ein rotes Band und war die einzige aus der weißen Schar, die sich eines solch auffälligen Schmuckes rühmen konnte. Als sie sich umsah, erblickte sie Durbeyfield, wie er die Straße entlang in einer Kutsche aus dem »Reinen Tropfen« einherrollte, und auf dem Bock saß eine kraushaarige stämmige Dirne, die Blusenärmel bis über die Ellbogen aufgeschlagen. Dies war die muntere Magd jenes Gasthauses, die in ihrer Rolle als Faktotum zuweilen auch den Stallknecht und Kutscher spielte. Durbeyfield, tief zurückgelehnt und mit behaglich geschlossenen Augen, schwenkte die Hand über dem Kopf und sang in langsamem Rezitativ:

»In Kingsbere – hab’ – ich – eine – große – Familiengruft – und – Ritterahnen – in – bleiernen – Särgen.«

Die ganze Schar kicherte, nur das Mädchen nicht, das Tess genannt wurde – und es schien ihr langsam heiß in den Kopf zu steigen, als sie fühlte, daß ihr Vater sich vor aller Augen lächerlich mache.

»Er ist müde, nichts weiter«, sagte sie hastig, »und man hat ihn auf den Wagen genommen, weil unser eigenes Pferd heute rasten muß.«

»Himmlische Einfalt, Tess«, riefen ihre Gefährtinnen. »Er hat seinen Marktdusel. Ha-ha!«

»Paßt auf, ich gehe keinen Zoll weiter mit euch, wenn ihr Scherze über ihn macht!« Tess rief es laut, und die Farbe ihrer Wangen verbreitete sich über ihr ganzes Gesicht und über den Hals. Ihre Augen wurden feucht, und sie senkte den Blick zur Erde. Als die andern bemerkten, daß sie sie wirklich verletzt hatten, sagten sie kein Wort mehr, und wieder herrschte Ordnung. Tess’ Stolz erlaubte ihr nicht, noch einmal den Kopf zu wenden, um zu erfahren, was ihr Vater vorhatte, wenn er sich überhaupt etwas dachte; und so schritt sie mit der ganzen Schar weiter der Umzäunung zu, wo der Tanz auf dem grünen Rasen vor sich gehen sollte. Als dieser Platz erreicht war, hatte sie ihren Gleichmut wieder zurückgewonnen, schlug mit ihrem Stäbchen nach der Nachbarin und plauderte wie früher.

In diesem Abschnitt ihres Lebens stand Tess Durbeyfields Herz noch allen Regungen offen, unberührt von jeder Erfahrung. Beim Sprechen merkte man ihr bis zu einem gewissen Grade den Dialekt an, trotz der Dorfschule: Charakteristisch für den Dialekt dieser Gegend ist ein Laut, der sich annähernd durch die Silbe ur wiedergeben läßt, und sein Klang ist vielleicht nicht weniger reich und ausdrucksvoll als irgendeiner, den man in menschlicher Sprache finden kann. Der aufgeworfene, tiefrote Mund, dem diese Silbe angeboren war, hatte wohl schwerlich schon seine endgültigen Umrisse erhalten, und nach jedem Wort, wenn sich die Lippen wieder schlossen, schob die Unterlippe die obere ein wenig in die Höhe.

Immer noch zeigten sich in ihrer Erscheinung huschend und verstohlen die Phasen ihrer Kindheit. Wie sie so an diesem Tage einherging, konnte man zuweilen – trotz all ihrer gesunden, schönen Weiblichkeit – ihr zwölftes Lebensjahr auf ihren Wangen oder ihr neuntes blitzend in den Augen sehen; und selbst ihr fünftes Jahr huschte hin und wieder über die Krümmung ihres Mundes.

Doch nur wenige wußten dies, und noch weniger Leute machten sich irgendwelche Gedanken darüber. Eine kleine Minderzahl, darunter vor allem Fremde, hefteten wohl einen langen Blick auf sie, wenn sie zufällig vorüberschritt, wurden einen Augenblick lang gefesselt von ihrer Frische und hätten gerne gewußt, ob sie ihr jemals wieder begegnen würden; doch fast für alle war sie nur ein hübsches und malerisches Landmädchen, weiter nichts.

Man hörte und sah nichts weiter von Durbeyfield und seiner Triumphkarosse mit der Stallmagd auf dem Bock, und nachdem die Frauenschar den erwählten Platz betreten hatte, begann der Tanz. Da keine Männer unter der Gesellschaft waren, tanzten die Mädchen anfangs miteinander, doch als die Stunde der Arbeitsruhe heranrückte, versammelten sich die männlichen Bewohner des Dorfes und mit ihnen andere Müßiggänger und vorüberziehende Ausflügler rund um den Rasen und schienen geneigt, Unterhandlungen anzuknüpfen.

Unter diesen Zuschauern befanden sich drei junge Männer von besserem Stande, die kleine Schnappsäcke auf den Rücken geschnallt hatten und feste Stöcke in der Hand trugen. Ihre Ähnlichkeit und die Stufenfolge ihres Alters würde fast jedem die Vermutung aufgedrängt haben, daß sie das sein müßten, was sie wirklich waren, nämlich Brüder. Der älteste trug die weiße Krawatte, die hochgeschlossene Weste und den schmalrandigen Hut des gewöhnlichen Vikars; der zweite war der normale Universitätsstudent; was aus der Erscheinung des dritten und jüngsten sprach, würde kaum ausgereicht haben, um ihn zu charakterisieren. In seinen Blicken und seiner Kleidung lag ein Ausdruck von Ungebundenheit und Unbestimmtheit, der andeutete, daß er sich bisher wohl kaum in die Schablone eines Berufes gefunden hatte. Daß er planlos und flüchtig bald dieses, bald jenes probierte, das hätte man so aufs Geratewohl von ihm behaupten können.

Diese drei Brüder erzählten zufälligen Bekannten, daß sie ihre Pfingstfeiertage auf einer Fußwanderung durch das Tal von Blackmoor verbringen wollten, und ihr Weg führe von der Stadt Shaston nach Nordosten.

Sie lehnten sich über das Gatter an der Straße und erkundigten sich nach der Bedeutung des Tanzes und der weißgekleideten Mädchen. Die zwei älteren Brüder hatten offenbar nicht die Absicht, länger als einen Augenblick zu verweilen, doch der dritte schien an dem Anblick dieses Rudels von Mädchen, die ohne männliche Partner tanzten, Vergnügen zu finden, so daß er keine Eile hatte, weiterzuwandern. Er schnallte seinen Schnappsack ab, legte ihn samt dem Stock auf die Zaunbank und öffnete das Gatter.

»Was hast du vor, Angel?« fragte der älteste.

»Ich habe Lust, einen Tanz mit ihnen zu machen. Warum sollen wir’s nicht alle versuchen? Nur eine oder zwei Minuten – es wird uns nicht lange aufhalten.«

»Nein, nein; Unsinn!« sagte der erste. »Vor allen Leuten mit einer Schar von Bauerndirnen tanzen – wie denn, wenn uns jemand sieht! Vorwärts, oder es wird finster, eh’ wir nach Stourcastle kommen, und das ist der nächste Ort, wo wir schlafen können; außerdem müssen wir noch, bevor wir ins Bett gehen, ein Kapitel aus dem ›Weckruf gegen den Unglauben‹ durcharbeiten, wenn ich mir schon die Mühe gemacht habe, das Buch mitzunehmen.«

»Gut, gut – in fünf Minuten hole ich dich und Cuthbert ein; haltet euch nicht auf; ich gebe dir mein Wort drauf, Felix.«

Die zwei älteren Brüder trennten sich widerstrebend von ihm und schritten weiter; ihres Bruders Schnappsack nahmen sie mit, damit er ihnen schneller folgen könne, und der jüngste betrat den Rasenplatz.

»Das ist ja jammerschade«, sagte er galant zu zwei oder drei von den Mädchen in seiner Nähe, sobald eine Pause in dem Tanz eintrat. »Wo stecken eure Partner, Schönste?«

»Sie sind noch nicht von der Arbeit zurück«, antwortete eine von den Kühnsten. »Mit der Zeit werden sie kommen. Bis dahin – wollen Sie unser Tänzer sein, mein Herr?«

»Gewiß. Aber was ist einer für so viele!«

»Besser als keiner. ’s ist zum Trübseligwerden, immer mit Mädeln trippeln und immer nur Mädel sehn und nichts in den Armen haben. Nun, greifen Sie zu und wählen Sie.«

»Pst – sei nicht so keck!« sagte ein schüchternes Mädchen.

Auf diese Einladung hin musterte der junge Mann die Gruppe mit seinen Blicken und versuchte, eine Auswahl zu treffen; aber da sie ihm alle so fremd waren, gelang es ihm nicht recht. Er nahm fast die erste, die in der Nähe stand, und es war nicht die Sprecherin, obgleich sie darauf gewartet hatte; und es war auch nicht zufällig Tess Durbeyfield. Stammbaum, Gebeine der Ahnherren, das Zeugnis der Monumente, die Züge der D’Urbervilles, das alles hatte Tess bisher noch nicht in ihrem Daseinskampfe geholfen und vermochte nicht einmal, ihr über die Köpfe der gewöhnlichsten Bauerndirnen hinweg einen Tänzer zu verschaffen. So viel über normannisches Blut, dem viktorianischer Reichtum fehlt.

Der Name des Mädchens, das sie in den Schatten stellte, wie immer er auch lauten mochte, wurde nicht überliefert; doch alle beneideten sie als die erste, die an diesem Abend den Luxus eines männlichen Partners genoß. So groß aber war die Macht des Beispiels, daß die jungen Dörfler, die sich, solange noch kein Eindringling im Wege stand, durchaus nicht beeilt hatten, die Pforte zu durchschreiten, jetzt munter hereinströmten; und bald waren die Paare mit Bauernburschen in merklicher Zahl durchsetzt, bis schließlich selbst das unansehnlichste Mädchen des Vereines nicht länger gezwungen war, im Reigen die Rolle des Mannes zu spielen.

Die Kirchenuhr schlug, und plötzlich sagte der Student, er müsse fort – er habe sich vergessen –, er müsse seinen Kameraden nach. Als er die Reihen der Tanzenden verließ, fielen seine Blicke auf Tess Durbeyfield, aus deren großen, runden Augen, um die Wahrheit zu sagen, ein leiser, fast unmerklicher Vorwurf sprach, weil er nicht sie gewählt. Auch ihm tat es jetzt leid, daß er sie ihrer Bescheidenheit wegen übersehen hatte; und diesen Gedanken im Kopf, verließ er den Rasen.

Um seine große Verzögerung wettzumachen, lief er in fliegender Eile den Pfad hinunter nach Westen, und bald lag die Bodenmulde hinter ihm, und er stieg den nächsten Abhang hinan, Noch hatte er seine Brüder nicht eingeholt, aber er blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und blickte zurück. Er konnte in der grünen Umzäunung die weißen Gestalten der Mädchen sehen, wirbelnd im Tanze, wie sie sich gedreht hatten, als er unter ihnen war. Sie schienen ihn bereits ganz vergessen zu haben.

Alle – nur vielleicht eine nicht. Diese weiße Gestalt stand abseits und allein am Zaun. Ihre Stellung sagte ihm, daß sie das hübsche Mädchen sein mußte, mit dem er vorhin nicht getanzt hatte.

So belanglos auch die Sache war, er fühlte instinktiv, daß sein Versehen sie schmerzte. Er wünschte, daß er sie angesprochen hätte; er wünschte, daß er nach ihrem Namen gefragt hätte. Sie war so bescheiden, so seelenvoll und sah so lieblich aus in ihrem dünnen weißen Gewand, daß ihm ein Gefühl sagte, er habe sich dumm benommen.

Aber es ließ sich nicht ändern, und so drehte er sich um, wanderte eiligen Schrittes weiter und ließ den Gedanken fallen.

3

Aber Tess Durbeyfield verbannte den Vorfall nicht so leicht aus ihrem Gedächtnis. Lange Zeit hatte sie keine Lust zum Tanzen, obwohl sie Tänzer die Menge finden konnte; doch ach, sie sprachen nicht so hübsch wie der fremde junge Mann. Erst als auf dem Hügel die Strahlen der Sonne die fernhin ziehende Gestalt des jungen Fremden verschlangen, schüttelte sie ihre zeitweilige Traurigkeit ab und antwortete dem Burschen, der sie zum Tanz aufforderte, mit einem Ja.

Bis zur Dämmerung blieb sie bei ihren Gefährtinnen und beteiligte sich nicht ohne Lust am Tanze; denn obgleich sie bis jetzt die Liebe noch nicht kannte, machte es ihr bloß um der Sache willen Freude, sich im Takt zu schwingen; und wenn sie die »sanften Qualen, die bittere Süße, die lustvollen Schmerzen und den lieblichen Kummer« jener Mädchen sah, die umworben und gewonnen wurden, so ahnte sie kaum, wessen ihr eigenes Herz in solchen Dingen fähig sei. Zankten und rangen die Burschen beim schottischen Ländler um ihre Hand, so war es ein Reiz für sie und weiter nichts; und wurden sie ungestüm, so wies sie sie zurecht.

Sie wäre vielleicht noch länger geblieben, doch ihre Gedanken schweiften zu dem seltsamen Auftreten und Gebaren ihres Vaters zurück, so daß eine leichte Unruhe sie befiel; und neugierig, was mit ihm los sein mochte, stahl sie sich von den Tänzen weg und lenkte ihre Schritte zum anderen Ende des Dorfes, wo die väterliche Hütte lag.

Als sie noch viele Dutzend Meter von ihrem Ziel entfernt war, drangen andere rhythmische Töne, als die sie soeben verlassen hatte, an ihr Ohr, Töne, wohl bekannt – so wohl! Es war eine regelmäßige Folge von dumpfen Stößen im Innern des Hauses, die das heftige Schaukeln einer Wiege auf steinernem Boden hervorrief, und im Takte zu dieser Bewegung sang eine weibliche Stimme mit kräftigem Tempo das beliebte Liedchen von der »gefleckten Kuh«:

»Dort sah ich sie li-iegen im grünen Hai-ain;
Komm, Liebste, ich sage dir, wo!«

Ab und zu hörte für einen Augenblick gleichzeitig das Schaukeln und der Gesang auf, und dann trat ein Ausruf in den höchsten Tönen der menschlichen Stimme an die Stelle der Melodie.

»Gott segne deine Juwelenaugen! Und deine Wangen wie Wachs! Und deinen Kirschenmund! Und deine Götterbeinchen! Und jeden Fleck an deinem gesegneten Körper!«

Und stets nach dieser Anrufung begann das Schaukeln und Singen von neuem, und die »gefleckte Kuh« ging weiter wie zuvor. So standen die Dinge, als Tess die Tür öffnete und drinnen auf der Matte innehielt, um die Szene zu überschauen.

Das Innere der Hütte umfing, trotz der lustigen Melodie, des Mädchens Sinne mit einer unaussprechlichen Düsterkeit. Von der feiertäglichen Fröhlichkeit des Tages, den weißen Gewändern, den Blumensträußen, den Weidenzweigen, dem wirbelnden Reigen auf grünem Rasen, dem blitzschnell vorüberhuschenden zarten Gefühl für den Fremdling – was für ein Schritt zu der grauen Melancholie dieses Anblicks im Schimmer einer einzigen Kerze! Nicht genug an dem Mißton dieses Kontrastes, durchkältete auch der Vorwurf ihr Herz, daß sie nicht früher heimgekehrt war, um der Mutter bei den häuslichen Pflichten zu helfen, statt draußen dem Vergnügen nachzujagen.

Da stand die Mutter inmitten der Kinderschar, wie Tess sie verlassen hatte – über den Waschtrog vom Montag gebeugt, der nun wie immer bis zum Wochenende nicht leer geworden war. Aus diesem Trog war tags zuvor – voll schrecklicher Zerknirschung dachte Tess daran – derselbe weiße Rock gekommen, den sie auf dem Leibe trug und dessen Rand sie so achtlos im feuchten Gras mit grünen Flecken beschmutzt hatte – und ihrer Mutter eigene Hände hatten ihn ausgewunden und geplättet.

Wie gewöhnlich balancierte Mrs. Durbeyfield zur Seite des Troges, auf einem Fuß, da der andere eben damit beschäftigt war, das jüngste Kind zu wiegen. Die Wiegenkufen hatten so viele Jahre hindurch auf diesem Sandsteinboden unter dem Gewicht zahlreicher Kinder harte Arbeit getan, daß sie nahezu platt geschliffen waren und jeden Schwung ein mächtiger Stoß begleitete; wie ein Weberschiffchen wurde das Kindchen hin- und hergeschleudert, wenn so Mrs. Durbeyfield, angefeuert durch ihr Singen, die Kufen trat mit aller Kraft, die ihr noch geblieben war, nachdem sie den ganzen lieben Tag lang im Seifenwasser geplanscht hatte.

Klipp-klapp, klipp-klapp ging die Wiege; die Kerzenflamme züngelte schmal in die Höhe und begann, auf und nieder zu hüpfen; das Wasser tröpfelte von Mrs. Durbeyfields Ellbogen, und in feurigem Tempo erklang das Ende der Strophe, während sie inzwischen ihre Tochter betrachtete. Selbst heute noch war, trotz der Last einer Kinderschar, Joan Durbeyfield eine leidenschaftliche Liebhaberin des Gesanges. Kein Liedchen flatterte aus der Außenwelt ins Tal von Blackmoor, ohne daß nicht Tess’ Mutter nach einer Woche schon Wort und Melodie im Kopf gehabt hätte.

Immer noch strahlte, unmerklich fast, aus den Zügen des Weibes etwas von der Frische und selbst von der Hübschheit ihrer Jugend und ließ keinen Zweifel, daß die persönlichen Reize, deren Tess sich rühmen konnte, zum größten Teile ein Geschenk ihrer Mutter und folglich unadelig und unhistorisch waren.

»Ich werde die Wiege für dich schaukeln, Mutter«, sagte die Tochter sanft. »Oder ich ziehe mein gutes Kleid aus und helfe dir wringen. Dachte, du hättest schon längst Schluß gemacht.«

Die Mutter trug es Tess nicht nach, daß sie die häusliche Arbeit so lange ihren alleinigen Bemühungen überlassen hatte; nur selten machte sie ihr daraus einen Vorwurf, da sie es kaum empfand, wenn ihr die Hilfe der Tochter fehlte. Denn sie besaß ein Hauptmittel, sich die Mühen des Tages zu erleichtern: Sie verschob jede Arbeit von einem Mal auf das andere. Diesen Abend aber war sie sogar in noch vergnügterer Laune als gewöhnlich. Es lag eine Verträumtheit, eine Versonnenheit und Begeisterung in dem mütterlichen Blick, die das Mädchen nicht verstehen konnte.

»Bin froh, daß du ’kommen bist«, sagte ihre Mutter, sobald der letzte Ton des Liedes ihre Lippen verlassen hatte. »Will gehn und deinen Vater holen; aber noch ganz was anderes, Tess – ich muß dir erzählen, was passiert ist. Wirst ziemlich baff sein, mein Täubchen, wennst es erfährst!« (Mrs. Durbeyfield sprach gewohnheitsmäßig Dialekt; ihre Tochter, die unter einer Londoner Lehrerin die sechste Klasse der Volksschule absolviert hatte, verfiel nur dann in ihn, wenn Freude, Überraschung oder Schmerz sie erregten.)

»Während ich weg war?« fragte Tess.

»Ja!«

»Hat es was damit zu tun, daß Vater heute nachmittag in der Kutsche solch einen Pojaz aus sich machte? Warum bloß? Ich war nahe daran, vor Scham in die Erde zu sinken!«

»Das gehört alles zu der feinen Post! Man hat ’rausgekriegt, daß wir die vornehmsten Leute in der ganzen Grafschaft sind – schon seit Urzeiten, lang vor Oliver Cromwell – seit den Tagen der Heidentürken – mit Monumenten und Grüften und Helmbusch und Wappen und Gott weiß, was allem. Unter Karl haben sie uns zu Rittern von der Königlichen Eiche gemacht, und unser richtiger Name heißt D’Urberville! … Wird dir nicht prächtig ums Herz? Das war’s, warum dein Vater im Wagen nach Haus fuhr, nicht, weil er getrunken hatte, wie die Leute glaubten.«

»Das freut mich. Wird es uns etwas nützen, Mutter?«

»O ja! ’s kann wohl was Großes dabei ’rausschaun. Sowie sich’s nur ’rumspricht, wird ’n Haufen Leute, alle so nobel wie wir, in ihren Kutschen gefahren kommen, gar nicht zu zweifeln. Dein Vater hat’s auf dem Nachhauseweg von Stourcastle erfahren und mir die Sache von A bis Z erzählt.«

»Wo ist Vater jetzt?« fragte Tess plötzlich.

Statt zu antworten, teilte ihr die Mutter allerlei andere Dinge mit.

»Er ging heute in Stourcastle zum Doktor; ’s ist scheinbar überhaupt nicht Schwindsucht. Bloß lauter Fett ums Herz, sagt er. Schau, so ist es.« Joan Durbeyfield krümmte im Sprechen ihren naß verschwemmten Daumen und Zeigefinger wie ein großes C und benützte den andern Zeigefinger als Weiser. »›Im gegenwärtigen Augenblick‹, sagt er zu deinem Vater, ›ist Ihr Herz hier um und um eingeschlossen und auch hier um und um eingeschlossen; dieser Zwischenraum ist noch offen‹, sagt er. ›Sobald es so zusammengeht‹ – Mrs. Durbeyfield schloß ihre Finger zu einem Kreis –, ›sind Sie ausgelöscht wie ein Zündholz, Mr. Durbeyfield‹, sagte er, ›’s kann zehn Jahre dauern, ’s kann auch in zehn Monaten passieren, oder in zehn Tagen.‹«

Tess sah erschrocken drein. Sollte ihr Vater vielleicht so bald schon in die dunkle Ewigkeit eingehen, trotz dieser plötzlichen Erhöhung?

»Aber wo ist Vater?« fragte sie wieder.

Abbitte lag in den Augen ihrer Mutter. »Werde nur nicht zornig! Der arme Mann – er hat sich so schwach gefühlt nach der erhebenden Neuigkeit, daß er vor ’ner halben Stunde zu Rolliver ’nüberging. Er hat’s wirklich nötig, sich Kräfte zu holen für seine morgige Fahrt mit dieser Ladung von Bienenstöcken, die er abliefern muß. Adel hin, Adel her, er wird kurz nach Mitternacht losziehn müssen, weil die Entfernung so groß ist.«

»Sich Kräfte holen!« rief Tess heftig, und die Tränen quollen ihr in die Augen. »O mein Gott! In die Kneipe gehen, um sich Kräfte zu holen! Und du, Mutter, bist es genauso zufrieden, wie er!«

Ihr Verweis und ihre zornige Stimmung schienen das ganze Zimmer zu erfüllen, und die Möbel, die Kerze, die spielenden Kinder und das Gesicht ihrer Mutter sahen verschüchtert aus.

»Nein«, sagte die letztere empfindlich, »ich bin’s nicht zufrieden. Hab’ bloß auf dich gewartet, damit du hier bleibst und das Haus hütest, während ich ihn holen geh’.«

»Ich will gehen.«

»Nein, nein, Tess. Weißt du, es würde nichts nützen.«

Tess erhob keine Vorstellungen. Sie wußte, was ihrer Mutter Einwand bedeutete. Mrs. Durbeyfields Jacke und Haube hingen bereits versteckt über einem Stuhl an ihrer Seite, bereit für den geplanten Ausflug, dessen Anlaß die gute Frau stärker beklagte als seine Notwendigkeit.

»Und trag den ›Vollkommenen Traumdeuter‹ in den Schuppen«, fuhr sie fort, trocknete sich eilig die Hände und zog die Kleider an.

Der »Vollkommene Traumdeuter« war ein alter dicker Band, der auf einem Tische dicht neben ihr lag, so abgenützt vom vielen Umhertragen, daß die Kanten schon mit den Rändern der Schrift zusammenfielen. Tess nahm ihn in die Hand, und ihre Mutter brach auf.

Diese abendlichen Ausgänge, um ihren hilflosen Gatten im Wirtshaus aufzustöbern, gehörten zu den wenigen Freuden Mrs. Durbeyfields, die ihr in dem Schmutz und Wirrwarr eines kinderreichen Haushalts noch geblieben waren. Es machte sie glücklich, ihn bei Rolliver zu entdecken, dort eine oder zwei Stunden an seiner Seite zu sitzen und während dieser Zeit alle Gedanken an die Kinder und alle Sorge zu verbannen. Eine Art Heiligenschein, ein abendlicher Schimmer verklärte dann das Leben. Sorgen und andere Wirklichkeiten entschwanden unfühlbar in metaphysische Fernen, mußten nicht mehr in ihrer ganzen drückenden Schwere mit wundem Körper und wunder Seele ertragen werden, sondern sanken zu unwichtigen Phänomenen herab, die das Gehirn durchziehen und beschaulich betrachtet werden. Die Kleinen, den Blicken entrückt, schienen nun eher eine heitere und wünschenswerte Zugabe zum Leben zu sein als eine Last; die Ereignisse des Alltags, wie sie von hier aus sich darstellten, entbehrten nicht des Humors und der Lustigkeit. Ihre Gefühle glichen ein wenig jenen Gefühlen von ehemals, als sie während der Brautzeit auf demselben Fleck neben ihrem jetzigen Ehegatten gesessen hatte, als sie ihre Augen vor den Mängeln seines Charakters verschlossen und in ihm nur den idealen Liebhaber gesehen hatte.

Sobald Tess mit den jüngeren Kindern allein war, ging sie zuerst mit dem Wahrsagebuch in den Schuppen und schob es unter das Strohdach. Zufolge einer merkwürdigen fetischistischen Furcht vor diesem schmutzigen Folianten wollte ihre Mutter nie erlauben, daß das Buch die ganze Nacht über im Hause blieb, und sooft man es zu Rate gezogen hatte, wurde es hierher in den Schuppen zurückgetragen. Zwischen der Mutter, mit ihrem dem Untergang geweihten Ballast von Aberglauben, Volkssprichwörtern, Dialektausdrücken und mündlich überlieferten Balladen, und der Tochter, mit ihrer Staatsschulbildung und ihrem musterhaften Durchschnittswissen, Nutznießerin unendlich oft verbesserter Gesetze, klaffte, wenn man es im üblichen Sinne nimmt, eine Lücke von zweihundert Jahren. Sooft sie beisammen waren, standen das jakobitische und das viktorianische Zeitalter nebeneinander.

Als Tess über den Gartenpfad zurückschritt, sann sie darüber nach, was denn wohl die Mutter an diesem besondern Tage aus dem Buche hatte erfahren wollen. Sie vermutete, es mochte sich auf die jüngste Entdeckung bezogen haben, doch ahnte sie nicht, daß es lediglich sie selbst betroffen hatte. Aber sie ließ diesen Gedanken fallen und machte sich daran, die tagsüber getrocknete Wäsche einzusprengen, unterstützt von ihrem neunjährigen Bruder Abraham und ihrer zwölfjährigen Schwester Elisabeth-Luise, die »Lisa-Lu« gerufen wurde; die Jüngsten waren zu Bett gebracht. Zwischen Tess und dem nächstälteren Mitglied der Familie lagen vier Jahre, da die beiden Sprößlinge, die die Lücke ausgefüllt hatten, in frühester Kindheit gestorben waren, und dies verlieh ihr, wenn sie mit ihren jüngeren Geschwistern allein war, eine gleichsam mütterliche Haltung. Auf Abraham folgten im Alter wieder zwei Mädchen, Hope und Modesty; dann kam ein Junge von drei Jahren, und dann der Säugling, der eben sein erstes Lebensjahr zurückgelegt hatte.

All diese jungen Seelchen waren Passagiere auf dem Schiff der Durbeyfields – in ihren Freuden, ihren Bedürfnissen, ihrer Gesundheit und selbst in ihrem Dasein gänzlich von den Entscheidungen der beiden erwachsenen Durbeyfields abhängig. Wenn es die Häupter des Durbeyfield-Haushalts für gut befanden, in Not, Unheil, Hunger, Krankheit, Schmach oder Tod zu steuern, so war dieses halbe Dutzend kleiner Gefangener unter Deck gezwungen, mit ihnen mitzusegeln – sechs hilflose Geschöpfe, die man nie gefragt hatte, ob sie überhaupt leben wollten, und noch weniger, ob sie unter solch harten Bedingungen zu leben wünschten, wie sie die Zugehörigkeit zu dem allen Stürmen preisgegebenen Hause Durbeyfield mit sich brachte. Mancher würde gerne wissen, woher der Dichter, dessen Philosophie in diesen Tagen für sehr profund und glaubwürdig gilt, da seine Verse rein und hochfliegend sind, woher er die Vollmacht nimmt, von den »heiligen Plänen der Natur« zu sprechen.

Es wurde immer später, und weder Vater noch Mutter erschienen. Tess blickte zur Tür hinaus und wanderte in Gedanken durch Marlott. Das Dorf schloß die Augen. Überall wurden die Kerzen und Lampen ausgelöscht. Ihr inneres Auge sah die müden Bewohner vor sich und die ausgestreckte Hand, die nach der Flamme griff.

Ihrer Mutter Auszug, um den Gatten heimzuholen, bedeutete ganz einfach, daß noch einer mehr zu holen war. Tess begann einzusehen, daß es für einen Mann von schwankender Gesundheit, der vor ein Uhr morgens eine Reise antreten sollte, nicht das richtige sein dürfte, zu dieser späten Stunde im Wirtshaus zu sitzen und sein altadeliges Geblüt zu feiern.

»Abraham«, sagte sie zu ihrem kleinen Bruder, »setz deinen Hut auf – du hast doch keine Angst? – und geh zu Rolliver hinüber und sieh nach, was aus Vater und Mutter geworden ist.«

Der Junge hüpfte bereitwillig von seinem Stuhl, öffnete die Tür, und die Nacht nahm ihn auf. Wieder verstrich eine halbe Stunde; weder Mann noch Weib noch Kind kehrten zurück. Die verführerische Kneipe schien Abraham gleich seinen Eltern geködert und gefangen zu haben.

»Ich muß selber gehen«, sagte Tess.

Lisa-Lu legte sich nun zu Bett, und nachdem Tess die Kinder alle eingeschlossen hatte, machte sie sich auf ihren Weg, die finstere und krumme Gasse entlang, die nicht für Leute bestimmt war, welche es eilig hatten – eine Straße, die zu einer Zeit angelegt worden war, als noch nicht jeder Zollbreit Landes seinen Wert besaß und als noch ein einziger Zeiger der Uhr genügte, um den Tag einzuteilen.