Der dunkle Himmel

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(Inschrift an der Grabkapelle von Königin Katharina auf dem Württemberg bei Stuttgart)

Auf der indonesischen Insel Sumbawa, den 5. April 1815

Ein krachender Donnerschlag kündigte das Unheil an. Doch diesmal war es kein Gewitter, das sich an der Flanke des Vulkans Tambora über Buschland und Reisfeldern zusammenbraute, vielmehr begann die Erde spürbar zu beben. Sie schüttelte sich, als wolle sie alles Böse von sich abwerfen.

Erschrocken rannten die Menschen des Dorfes aus ihren Hütten hinaus in die schwülwarme Abenddämmerung. Sie kannten den Zorn der Berggötter, die in den Feuerbergen ihrer Inselwelt hausten, doch diesmal war es anders. Kein einziger Vogel war zu hören noch zu sehen, Hunde und Katzen hatten sich in irgendwelche Winkel verkrochen, in der Luft lag Schwefelgeruch. Rasch befahl der Dorfälteste, ein Bündel mit dem Nötigsten zu packen und nach Süden zu ziehen.

Obwohl die Menschen unter dem ersten Ascheregen und auf schwankendem Boden fast ununterbrochen fünf Tage und Nächte marschierten, kamen sie nicht weit genug. Am Abend des 10. April schossen Flammensäulen aus dem Krater des himmelhohen Bergmassivs, dann verwandelte sich der Tambora in ein Inferno aus flüssigem Feuer. In einer gewaltigen Explosion, die über Hunderte Meilen hinweg zu hören war, wurden Gesteinsbrocken in der Größe von Schiffen in die Luft gesprengt.

Die Menschen auf der Nordseite der Erdkugel ahnten indessen nicht, was auf sie zukam.

Hohenstetten auf der Rauhen Alb im Königreich Württemberg, am Silvesterabend 1815

Aus der alten Wehrkirche im Herzen des schwäbischen Marktfleckens hallte vielstimmiger Gesang in die sternenklare Winternacht.

«Großer Gott, wir loben dich», ertönte es aus Hunderten von Kehlen. In den drei Bankreihen, die gegen eine gute Spende aufs Jahr gepachtet werden konnten, fand sich kein einziger freier Platz mehr, und auch dahinter standen die Kirchenbesucher dicht an dicht. Alle waren sie gekommen, selbst die Alten und die Verkrüppelten mit ihren Gehstöcken oder Krücken. Alle wollten sie an diesem Abend den Herrn und Schöpfer um Segen für das neue Jahr bitten.

Schon während der zweiten Strophe des schönen Eingangsliedes schweiften Pfarrer Untersehers Gedanken ab. Würde es ihm gelingen, seiner Gemeinde Mut zuzusprechen? Ein gesegnetes, ein gutes Jahr hatten sie bitter nötig, war doch die Ernte nach den eisigen Wintern, zu nassen Saatzeiten und zu kühlen Sommern der letzten Jahre alles andere als üppig gewesen. Man war zwar hier oben auf der Rauhen Alb, wo aus den kargen Böden die Steine hervorwuchsen wie andernorts Blumen, an harte Winter und an die Launen des Wetters gewöhnt. Aber die wiederholten mageren Ernten von Flachs, Feldfrucht und Viehfutter hatten

Sehr, sehr bald schon mussten sich die Dinge zum Besseren wenden, litt doch das ganze Land noch immer unter den Kriegslasten und Folgen der jahrelangen napoleonischen Truppendurchzüge. Wieder und wieder waren damals die Franzosen durch Württemberg marschiert, hatten Vieh und Pferde requiriert, sich an den Vorräten der Bauern schadlos gehalten. Bis heute ächzten die Menschen unter den hohen Abgaben und Kriegssteuern, und nicht wenige Familien hatten einen Vater, Bruder oder Sohn auf den fernen Schlachtfeldern verloren. Allein der Russlandfeldzug vor drei Jahren hatte sechzehntausend Württembergern das Leben gekostet, nur einige hundert waren zurückgekehrt, viele davon kriegsversehrt. Wie etwa die beiden Webergesellen Fritz und Hannes, die sich jetzt an Krücken herumschleppten, weil ihnen ein Bein zerschossen worden war – dem Fritz das linke, dem Hannes das rechte.

Zu dieser Bedrückung kam etwas Merkwürdiges hinzu. Seit Oktober konnte man seltsame Himmelserscheinungen beobachten: Oftmals war der Himmel mit einem durchsichtigen Gewölk überzogen, das abends, wenn die Sonne unterging, in flammenden Farben zu glühen begann. Und als der erste Schnee kam, später als sonst, fiel er in ungewöhnlich dicken, rötlich braunen Flocken vom Himmel. Blutregen, so nannten ihn die Leute, und dass so manche unter den ganz Frommen dies beides als Vorboten des nahenden Weltendes deuteten, machte die Menschen noch unruhiger und sorgenvoller, als sie ohnehin schon waren.

Immerhin herrschte nun seit Juni endlich der ersehnte Frieden, nach zwei Jahrzehnten Krieg. Über viele Monate hinweg hatten die Mächtigen in Wien um ein neues Europa gerungen und schließlich eine revolutionäre Weltordnung geschaffen, mit

Zur selben Zeit in der Kirche von Hohenstetten

Angesichts der sorgenvollen Mienen der Kirchgänger rundum unterdrückte Friedhelm Lindenthaler ein Seufzen. Er liebte sein Heimatdorf und bereute es keinen Tag, dass er vor bald vier Jahren, nach seiner Ausbildung zum Volksschullehrer am Lehrerseminar Esslingen, hierher zurückgekehrt war. Aber manchmal konnte es einem bei all dieser ängstlichen Frömmigkeit unter den hiesigen Pietisten schon recht eng in der Brust werden.

Unwillkürlich ging sein Blick hinüber zur Mutter, die zusammen mit seiner Schwester Auguste gleich rechts vom Mittelgang in der Bankreihe bei den Frauen saß, während er selbst keine zwei Schritte vor ihr entfernt seinen Platz auf der Männerseite hatte. Nur Auguste wegen hatte er für sich selbst einen Sitzplatz gepachtet, nachdem sie ihm unentwegt zugesetzt hatte, dass es für den Schulmeister des Ortes alles andere als schicklich sei, im Gottesdienst mitten unter dem gemeinen Kirchenvolk stehen zu müssen.

Ganz in sich zusammengesunken, schmächtig wie ein Kind, kauerte die Mutter in ihrer Bank, die Hände im Schoß ineinander gekrampft. Sie verlor zusehends an Kraft, wie Friedhelm mit großer Sorge beobachtete, und gerade heute, an diesem letzten Tag des Jahres, war es ihr besonders schwer: An Silvester vor

Plötzlich begannen die mageren Schultern seiner Mutter zu beben. Sie weinte. Eilig stand Friedhelm auf. Seinen Sitzplatz bot er dem einbeinigen Weberhannes an, der sich an der Lehne der Kirchenbank abgestützt hatte, und trat zu seiner Mutter, um ihr tröstend die Hand auf die Schulter zu legen. Da stiegen auch ihm die Tränen in die Augen.

Was den Krieg betraf, hatte er mehr Glück als andere gehabt. Voll freudiger Erwartung hatte er damals, frisch examiniert mit gerade mal 21 Jahren, in Hohenstetten seine erste Stelle als Provisor, als Hilfslehrer, angetreten. Er hatte gewusst, dass es unter den Argusaugen des Pfarrers als Schulaufseher nicht leicht werden würde, erst recht nicht unter seinem gestrengen Vater, dem allseits hochgeschätzten und von den Kindern gefürchteten Schulmeister und Webermeister. Doch nur sechs Wochen später, im Mai des Jahres 1812, war Friedhelm beim Ausbessern des Hausdachs abgerutscht und hatte sich in der Folge einen Knöchel dick wie einen Elefantenfuß zugezogen und den linken Arm gebrochen, zur großen Missbilligung des Vaters und zu seinem eigenen Glück im Unglück: Just an diesem Tag hatten nämlich königliche Werber ihren Flecken aufgesucht, um Rekruten für diesen unseligen Russlandfeldzug auszuheben. Man hatte vor allem ledige Männer zwischen zwanzig und dreißig Jahren im Auge, die das württembergische Kontingent der Grande Armee verstärken sollten. Mit seiner Verletzung kam Friedhelm für

Verstohlen wischte er sich über die Augen. Nicht einmal Augustes Hochzeit und die Geburt seines Enkelsohnes Eduard hatte der Vater miterleben dürfen. Auch wenn Friedhelm oft mit ihm aneinandergeraten war, vermisste er ihn nun umso schmerzlicher. Manchmal hatte er sogar ein schlechtes Gewissen: Nur dem Tod des Vaters verdankte er, dass man ihn trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit vor drei Jahren vom Hilfslehrer zum Schulmeister befördert hatte.

Pfarrersfrau Dorothea Unterseher, die in der Bankreihe vor ihnen saß, drehte sich zu seiner Mutter um: «Verzage nicht, meine liebe Agnes. Deinem Mann geht es gut an der Seite des Herrn», flüsterte sie ihr zu. Nach einem kurzen Zögern dann: «Und dem Adam auch.»

Adam! Mit Friedhelms drei Jahre älteren Bruder hatte das Unglück in der Familie seinen Anfang genommen. Zum Entsetzen der Eltern hatte Adam sich vor nun fast sieben Jahren im April des Jahres 1809 ganz und gar freiwillig für den Kriegsdienst an Napoleons Seite gemeldet, und das, wo der Vater kurz zuvor

Als hätte Pfarrer Unterseher Friedhelms Gedanken erraten, hob der jetzt mit folgenden Worten zu predigen an:

«Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder. Ja, es war wieder ein mageres Jahr – das nächste darf gerne besser kommen, wird sich ein jeder von euch denken. Aber ich will euch sagen: Es gibt keinen Grund, kleinmütig zu sein, denn der Herrgott hat uns in diesem Jahr das allergrößte Geschenk gemacht. Nach mehr als zwanzig Kriegsjahren in unseren europäischen Landen hat er uns endlich Frieden geschenkt. Wir dürfen aufatmen und uns von Herzen freuen. Liebe Schwestern und Brüder, nun danket alle Gott, der Wunderbares schafft an allen Enden, der uns vom Mutterschoß an lebendig erhält und uns alles Gute tut. Er gebe uns ein fröhliches Herz und verleihe uns immerdar Frieden …»

Friedhelm spürte, wie ihn jemand ansah. Kaum merklich wandte er den Kopf nach rechts. Hinter der letzten Bankreihe der Frauen stand Paulina, die Tochter des Postwirts Justus Georg

Friedhelms Herz schlug augenblicklich schneller. Wie er selbst war Paulina hier aufgewachsen, doch da sie um vier Jahre jünger und noch dazu ein Mädchen war, hatte er früher wenig mit ihr zu schaffen gehabt. Als ein reichlich wildes Kind hatte er sie in Erinnerung, das mutig in jede noch so finstere Höhle kroch oder auf Bäume kletterte und sich auch nicht scheute, mit den Dorfbuben zu raufen, wenn es denn sein musste. Nun ja, schließlich war sie auch mit zwei älteren, reichlich großspurigen Brüdern aufgewachsen. Nach seiner Konfirmation hatte Friedhelm sie aus den Augen verloren. Mit bestandenem Landexamen war er sogleich an der altehrwürdigen evangelischen Klosterschule zu Maulbronn angenommen worden und durfte vier Jahre später, mit dem Reifezeugnis in der Tasche, an das neu gegründete Schullehrerseminar Esslingen. Als er im Frühjahr 1812 schließlich in sein Heimatdorf zurückkehrte, war aus dem einstigen Wildfang Paulinchen mit den ewig aufgeschrammten Knien eine anmutige junge Frau geworden.

Wenn er richtig rechnete, musste sie nun zwanzig Jahre zählen. Konnte man sie schön nennen? Ach, was wusste er schon über die Schönheit der Frauen, wo er bislang nie Augen für das andere Geschlecht gehabt hatte. Von seiner ersten großen Verliebtheit als Knabe in Maulbronn vielleicht abgesehen. Da hatte er monatelang heimlich für die kecke, dralle Küchenmagd der Klosterschule geschwärmt, aber zum einen war er damals erst fünfzehn gewesen und die Magd schon mindestens fünfundzwanzig, zum anderen war er nicht der einzige liebestrunkene

Erst mit Paulina war das vor gut drei Jahren plötzlich anders geworden. Nie zuvor hatte der Anblick eines Mädchens ihn so tief berührt, und wenn er ihr begegnete, musste er an sich halten, sie nicht wie ein tumber Ochse anzustarren. Ihr lockiges, kastanienbraunes Haar war von den bunten Bändern, die sie meist trug, kaum zu bändigen. Die dunkelgrünen Augen über den hohen Wangenknochen, die schmale Nase und die vollen Lippen ihres Mundes, der, wenn sie lachte, zwei tiefe Grübchen auf ihre Wangen zauberte, hatten etwas Sanftes und Herausforderndes zugleich. Ja, ganz zweifellos: Für ihn war Paulina die schönste Frau auf Erden!

Ohne es zunächst selbst zu bemerken, hatte er schon bald nach seiner Rückkehr ins Dorf immer häufiger ihre Nähe gesucht – vor oder nach dem Kirchgang, beim Wasserholen am Dorfweiher, der sogenannten Hüle, beim Vieh- und Krämermarkt zu Pfingsten oder bei den Dorffesten. Die fanden bei Schönwetter unter

Insgeheim schüttelte Friedhelm den Kopf über sich selbst, während die Gemeinde wieder ein Lied anstimmte. Was machte er sich da nur für blödsinnige Gedanken? Wusste er doch noch nicht einmal, ob Paulina ihn ebenfalls mochte. Er selbst aber wusste sehr wohl, dass es spätestens seit der Kirchweih vollends um ihn geschehen war, und seither konnte er manchmal vor Aufregung nachts kaum einschlafen. An jenem Nachmittag im Oktober hatte er geschworen, sich Paulina noch vor Jahresende zu offenbaren. Jetzt war Silvester, doch er hatte nie die Gelegenheit gefunden oder vielmehr, wenn er ehrlich zu sich war, sich schlichtweg nicht getraut. Er, der Herr Schulmeister, der seine beiden Klassen – sechsunddreißig kleine Mädchen und vierzig Knaben – fest im Griff hatte, kam sich in Paulinas Gegenwart selbst vor wie ein dummer Schuljunge. Und das wurde mit der Zeit immer schlimmer.

Womöglich hatte sie längst einen Bräutigam. Im Ort, wo viel geschwatzt wurde, war zwar nichts dergleichen zu hören, aber wer weiß, vielleicht hatte sie ja einen heimlichen Verehrer.

In diesem Augenblick geschah ein kleines Wunder. Ohne es zu merken, hatte er wohl während seiner Grübeleien immer

«Vertraut also auf den Herrn und danket ihm, er wird schon alles richten», hörte Friedhelm den Pfarrer wie aus weiter Ferne sagen. «Der Herr segne und behüte euch. Amen.»

Nach dem Loblied «Heil unserm König, Heil» verließen sie die Kirche, diejenigen, die hinter den Bankreihen und damit näher zum Portal standen, zuerst.

«Geht ihr nur schon vor an Vaters Grab», sagte er hastig zu Auguste und seiner Mutter. «Ich komme gleich nach.»

Er hatte es eilig hinauszukommen. Nach dem Silvestergottesdienst würden sich alle rasch zerstreuen: Wer Familie hatte, würde sich daheim zu einer gemeinsamen Andacht in diesen letzten Stunden des Jahres versammeln, wer ledig war, in Conrads Gassenschenke auf eine Maß Bier.

«Der Pfarrer hat recht, wir haben allen Grund, wieder Hoffnung zu schöpfen», hörte er hinter sich im Gedränge den alten Webermeister Leberecht sagen. «Die Wintersaat ist rechtzeitig ausgebracht worden, der Herbst war trockener und der Winter bislang milder als sonst. Was meinen Sie, lieber Schulmeister? Wird es für uns Weber auf der Alb endlich einen Umschwung geben?»

Friedhelm wandte sich um. Er mochte den rechtschaffenen Alten, der ihn, obwohl er Friedhelm von klein auf kannte, inzwischen respektvoll siezte.

«Nun ja», erwiderte er, während er schon weiterging, um Paulina noch zu erreichen. «Die Handelsschranken aus Kriegszeiten werden nun fallen, und es werden wieder freie Märkte für unser Leinen entstehen. Aber ob damit auch die goldenen Zeiten

Bei seinen letzten Worten trat er durch das Kirchenportal in die sternenklare, bitterkalte Nacht und sah sich suchend um. Draußen begannen sich die Menschen in losen Gruppen zu versammeln, als er Paulina auch schon an der Seite ihrer Freundin Luise nahe der Wehrmauer entdeckte. Und sie ihn. Sie winkte ihm wahrhaftig zu!

«Ein gesegnetes neues Jahr, Meister Leberecht», wünschte er dem Weber, um sich dann eilig zu entfernen.

Reichlich verlegen stand er gleich darauf vor den beiden jungen Frauen. Täuschte er sich, oder unterdrückte Luise ein Grinsen?

«Ein gesegnetes neues Jahr, lieber Friedhelm», wünschte ihm die Pfarrerstochter. «Ihr entschuldigt mich, ich muss meiner Mutter den kleinen Gustav abnehmen – die ist von ihrem Enkelsohn gewiss schon völlig enerviert.»

Damit verschwand sie in der Menge der herausströmenden Kirchgänger, und Friedhelm war allein mit Paulina. Mit einem Mal wusste er nicht mehr, was er sagen sollte.

«Nun ja», begann er, «ich sollte dann auch zu meiner Mutter. Sie wartet am Grab meines Vaters auf mich.»

«Drei Jahre ist die Schreckensnachricht nun her, nicht wahr?» Voller Mitgefühl sah sie ihn an. «Das muss immer noch schwer sein für deine Mutter.»

«Ja, das ist es.»

Er biss sich auf die Lippen. Warum nur musste er seinen Vater erwähnen? Eigentlich hatte er die kurze Zeit, die Paulina auf ihre Familie wartete, nutzen wollen. Und zwar um sie zu fragen, ob sie und Luise mit ihm auf dem Weiher Schlittschuh laufen wollten. Gleich morgen Vormittag nach der Predigt zur Jahreslosung, wenn sie denn Zeit hätte.

«Neujahrsnacht still und klar, deutet auf ein gutes Jahr», hörte er in diesem Moment eine tiefe Bassstimme. Jovial legte ihm der Schultes die Hand auf die Schulter. «Wenn die gute alte Bauernregel stimmt, kann nichts schiefgehen, junger Freund. In diesem Sinne: dir und deiner Familie alle guten Wünsche für ein gesundes Jahr!»

Friedhelm hätte sich ohrfeigen mögen. Jetzt war es zu spät. Auch Paulinas Mutter und ihr Bruder Ludwig Georg traten hinzu, Letzterer mit misstrauischem Blick.

«Das wünsche ich Ihnen auch, liebe Familie Gutjahr.» Er rang sich gegenüber Gutjahr und seiner Frau ein freundliches Lächeln ab. «Sie werden ja morgen zum Neujahrstag sicher alle Hände voll zu tun haben mit der Gastwirtschaft. Ich selbst habe zum Glück schulfrei und will einmal erproben, ob das Eis der Hüle gut trägt.»

Ob Paulina diese Andeutung verstand? Sie dabei anzuschauen wagte er nicht.

Gutjahr lachte dröhnend. «Dann brich mir nur nicht ein, Lindenthaler. Bislang haben wir ja leider noch immer keinen Hilfslehrer gefunden, der dich halbwegs ersetzen könnte.»

Gutmütig fiel Friedhelm in sein Lachen ein. Da kam ihm blitzartig ein weiterer Gedanke: «Sie bekommen doch dienstags und freitags immer die neuesten Druckerzeugnisse mit dem Postwagen aus Stuttgart und Ulm, nicht wahr?»

Gutjahr nickte. «Wer sich bei uns einen Krug Bier bestellt, darf auch kostenfrei darin lesen.»

«Das Angebot nehme ich gerne an, Herr Schultes.»

Da verzog Paulinas Bruder spöttisch die Lippen.

«Warum nicht?», erwiderte Friedhelm. «Ein Blick über den Tellerrand hinaus würde auch dir nicht schaden, lieber Ludwig. Eine gesegnete Nachtruhe Ihnen allen und bis bald im neuen Jahr.»

Jetzt war es Paulina, die ganz offensichtlich ein Schmunzeln unterdrückte, und mit einem leisen Glücksgefühl verließ er die Runde, um sich auf den Weg zum Friedhof zu machen. Schmale Wolkenfetzen schimmerten silbern im Licht des Mondes, und der harschig gewordene letzte Schnee knirschte unter seinen Schuhsohlen. Frohlockend, wie ihm schien.

Am Neujahrstag 1816

Obwohl der Neujahrstag ein Montag war, hatten die Kinder schulfrei. Nach altem Brauch zogen sie von Tür zu Tür und trugen ein kleines Lied vor, um dafür mit Nüssen, Apfelschnitzen oder Süßigkeiten entlohnt zu werden. Auch im Hof vor der Hirschenpost, der rechts und links von Stallungen und Remise begrenzt wurde, hatte sich am Vormittag eine große Schar eingefunden. Dick eingemummelt und mit vor Kälte roten Nasen und Wangen hoben die Kleinen erwartungsfroh zu singen an: «Hopp, hopp, hopp, Pferdchen, lauf Galopp …»

Lächelnd stand Paulina mit ihrer Mutter und der jungen Schankmagd Rosina auf den Stufen zum Eingang, ein Säckchen mit Kuchenrändern lag in der Diele für die Kinder bereit. Auch wenn der Gesang einem rechten Schulchor nicht gerade zur Ehre gereichte. Da würde Friedhelm wohl noch ein wenig üben müssen mit den Kleinen, besonders mit den Buben, dachte Paulina belustigt und reckte unwillkürlich den Hals in Richtung Dorfweiher, der sich auf der anderen Seite der Landstraße befand, die als Poststraße Stuttgart mit Ulm verband.

Dort auf der zugefrorenen Hüle trieben sich vor allem ältere Kinder und junge Leute herum, aber auch so einige Erwachsene, die am Schlittschuhlaufen ebenfalls ihren Spaß hatten. Den Schulmeister konnte Paulina unter den vielen dunkel gekleideten

Liebend gerne würde sie mit den anderen jungen Leuten auf der Hüle herumschlittern, und wenn es nur für ein halbes Stündlein wäre. Was gab es Schöneres an solch einem kalten, sonnigen Wintertag? Auch ihre Freundin Luise hatte versprochen, heute Vormittag dort zu sein. Für Paulina würde es indessen nicht so einfach sein, von zu Hause wegzukommen. Zwar hatte sie mit Rosina eigens vereinbart, dass sie ihr beim Eindecken der Tische und beim Auftragen helfen würde, um dann, wenn alle Gäste bei Tisch saßen, bis zu ihrem eigenen Mittagessen noch ein wenig an die frische Luft zu gehen. Aber dazu brauchte sie natürlich die Erlaubnis des Vaters, denn in einer Wirtschaft half die ganze Familie mit.

Nun, einen kleinen Spaziergang an diesem schönen Neujahrstag würde ihr der Vater gewiss nicht verwehren, und dass sie zum Schlittschuhlaufen wollte, musste sie ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben. Hütete er sie doch auffälligerweise in letzter Zeit wie seinen Augapfel. Sie erschrak, als ihre Mutter sie in die Seite knuffte.

«Was starrst du da Löcher in die Luft, Mädchen? So bring den Schülern die Kuchenränder hinaus.»

Paulina hatte gar nicht bemerkt, dass die Kinder zu singen aufgehört hatten und nun unruhig von einem Bein aufs andere traten.

Sie klatschte in die Hände: «Schön habt ihr das gemacht! Dafür bekommt ihr jetzt eure Belohnung.»

Kaum waren die Schulkinder verschwunden, stapften auch

Dass Hohenstetten wie die anderen Flecken in der Gegend ein Weberort war, war für Paulina als Kind das Selbstverständlichste der Welt gewesen – alle Orte mussten Weberorte sein. Bis zu dem Tag, als sie mit den Eltern ihre erste Reise unternommen hatte, in die riesige, uralte Stadt Ulm. Wie hatte sie sich damals gewundert, dass dort in den Gassen auch Schuster und Schneider, Nagelschmiede und Hafner, Seifensieder und Seiler ihre Werkstätten hatten. Da erst hatte sie begriffen, wie klein ihre Welt bis dahin und wie einfältig sie selbst gewesen war: Woher sollten schließlich all diese herrlichen Dinge herkommen, die es in Hermanns Kaufladen oder auch im Gewölbe der beiden Leinwandkaufleute Pinache zu kaufen gab?

Diese drei saßen übrigens – der Krämer und Strumpfstricker Paul Hermann mit Weib und Kindern – drüben am Stammtisch beim Kachelofen, zusammen mit dem Dorfmetzger Lorenz

«Wenn für alle aufgetragen ist, kann ich dann für eine halbe Stunde hinaus?», fragte sie den Vater, der neben der Köchin schwitzend am Herd stand. «Zusammen mit Luise?»

«Wo denkst du hin? Du siehst doch, wir brauchen jede Hand», gab er unwirsch zurück. «Oder willst du deine arme Mutter die schweren Krüge schleppen lassen? Wenn viel gegessen wird, wird auch reichlich getrunken.»

«Das kann doch auch der Ludwig machen.»

«Ludwig Georg muss mir heute beim Bierbrauen helfen. Tut mir leid, mein Liebes.» Unbeholfen tätschelte er ihr mit seiner kräftigen Hand die Wange.

«Kann es sein, dass mein Schwesterlein zur Hüle will?», mischte sich ihr Bruder ein, der eben die Küche betreten hatte. «Ein wenig übers Eis sausen, wie unser braver Schulmeister? Den habe ich dort nämlich grad seine Pirouetten drehen sehen.»

Sie spürte, wie sie über und über rot wurde.

«Das geht dich gar nichts an», fauchte sie mit einem Seitenblick auf den Vater. Der schien die gehässige Bemerkung ihres Bruders zum Glück nicht gehört zu haben, denn er war bereits wieder damit beschäftigt, Speckstreifen in der riesigen Pfanne anzubraten, die immer wieder gewendet werden mussten.

Dann war Friedhelm also tatsächlich beim Eislaufen. Enttäuscht und traurig zugleich, nahm sie die beiden

Fast erschrocken über ihre Gedanken stellte sie die Krüge am Stammtisch ab. War sie etwa verliebt in den Schulmeister? Der eher nachdenkliche, manchmal ein wenig linkisch wirkende Friedhelm war ihr früher nie groß aufgefallen, und wenn, dann, weil er sie in Kinderzeiten manchmal aufgezogen hatte wegen ihrer ungestümen, jungenhaften Art. Wahrscheinlich hielt er sie noch immer für einen reichlichen Kindskopf. Andererseits hatte er an Kirchweih mit ihr getanzt, und sie bekam jetzt noch Herzklopfen, wenn sie daran zurückdachte. Sofort sah sie sein schmales, bartloses Gesicht mit dem ewig verstrubbelten strohblonden Haar wieder vor sich. Mit seinen tiefblauen Augen hatte er sie die ganze Zeit angesehen, und sie hätte den ganzen Abend mit ihm weitertanzen mögen. Zumal er ein sehr guter Tänzer war. Der Vater hatte hinterher eine abfällige Bemerkung über den allzu jungen Schulmeister gemacht, dem das Tanzen wohl leichter fiele, als seinen Kindern lesen und schreiben beizubringen, und hatte ihn wieder einmal einen Reingeschmeckten genannt. Obwohl Friedhelm doch hier geboren war, seine Mutter Agnes vom hinteren Maierhof stammte und nur sein Vater aus Urach zugezogen war, um das Amt des Schulmeisters anzutreten.

«Ach herrje, die arme Paulina», hörte sie mit halbem Ohr den jüngeren der Pinache-Brüder ausrufen. «Jetzt muss die schöne Jungfer für uns so schwer schleppen.»

«Da hast du recht, Robert», pflichtete ihm Lorenz Stumpp bei. «Vor allem was das schön betrifft. Ich wette, liebe Paulina, du hast an jeder Hand zehn Verehrer.»

Als endlich die letzten Gäste die Schankstube verließen – Lorenz mit einem lautstarken Gruß in Richtung Paulina –, schlug es von Sankt Alban ein Uhr, und in der Küche türmten sich Berge von Geschirr, Töpfen und Pfannen. Das wüste Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen, war nun Aufgabe der Frauen, während sich der Vater und der Bruder eine Ruhepause bei einem Pfeifchen Tobak am Kachelofen gönnten, wobei der Vater in den neuesten Zeitungen zu lesen pflegte.

Es war gegen zwei Uhr, als eine große Schüssel mit sauren Kutteln und Pfannenkuchenstreifen auf dem Tisch stand. So spät hatten sie schon lange nicht mehr zu Mittag gegessen.

«Na, wenn das heute kein umsatzträchtiger Neujahrstag war», brummte der Vater zufrieden und legte das Ulmer Intelligenzblatt beiseite.

«Sind das die Zeitungen vom heutigen Postwagen?», fragte die Mutter, während sie Teller und Löffel verteilte.

«Ja, sozusagen postfrisch.»

Der Vater lehnte sich zurück, wobei seine ärmellose Strickweste über dem mächtigen Bauch spannte. «Ach, wieder das übliche Lamento über die unerträgliche Schuldenlast unseres kriegsgebeutelten Staates und die Folgen der abgebrochenen Handelsbeziehungen und der verlorenen Märkte. Aber immerhin auch ein Lob über die neue Friedensordnung. Alle sagen, dass mit Fleiß und Zuversicht die Geschäfte alsbald wieder in Gang kommen werden.» Er erhob seinen Bierkrug. «Das will ich meinen, so gut, wie das neue Jahr heute angefangen hat. Und jetzt kommt endlich alle zu Tisch, ich habe Hunger!», rief er in Richtung Küche, wo Rosina und die alte Köchin Agathe noch immer geräuschvoll hantierten.

«Warte.» Die Mutter deutete auf die abgelegte Zeitung. «Es steht doch bestimmt wieder eine Poesie zum neuen Jahr darin.»

«Ach, ihr Frauen. Euch interessiert wieder mal nur das Schöngeistige.» Er reichte ihr das Blatt.

Sie kniff ein wenig die Augen zusammen, als sie die Zeilen und Spalten überflog. Paulinas Mutter war eine zierliche Frau, die in jüngeren Jahren ausnehmend hübsch gewesen war. Inzwischen aber hatten sich rechts und links ihrer Mundwinkel zwei tiefe Falten eingegraben, und das Haar wirkte schütter und farblos.

«Ah, da ist das Gedicht ja. Ich lese es euch vor.»

Mit ihrer etwas dünnen Stimme begann sie, die Zeilen vorzutragen:

Aufgeheitert durch die Hoffnung froher Zeiten

Lächelt uns ein neues Jahr heut freundlich zu.

Leidensfrei wird endlich es für uns bereiten

Eines dauerhaften Glückes süße Ruh.

«Nicht wahr? Und nun lasst uns das Tischgebet sprechen.»

 

Paulina hatte sich getäuscht – zum Schlittschuhfahren sollte es nicht mehr kommen. Schon am Tag nach Neujahr war ein heftiger Sturm übers Land gebraust, der Tauwetter gebracht hatte. Das Eis auf dem Dorfteich wurde erst sulzig, dann verschwand es ganz.

Viel zu mild zeigte sich der Januar. Stürme wechselten sich mit tagelangen Regengüssen ab, sodass man kaum noch vor die Haustür wollte, wenn es denn nicht sein musste. Frost gab es keinen mehr, dafür drohte nach wochenlangem Regen die Wintersaat auf den Äckern zu ersaufen, die Kutschen und Fuhrwerke blieben im Schlamm stecken, und die Brotpreise wurden zum zweiten Mal binnen eines halben Jahres heraufgesetzt. Doch Paulina hatte ganz andere Sorgen: Mittlerweile erschien der Dorfmetzger jeden Sonntag bei ihnen im Gasthaus zum Mittagessen, wobei er auffallend modisch gekleidet war: Statt des üblichen brauntuchenen Sonntagsrocks der Männer trug er nun einen schicken gelben Gehrock, statt des braunen Kamisols eine neumodische, bunt gestreifte Seidenweste, und das Brusttuch war ebenso schreiend rot wie seine Wollstrümpfe unter der ledernen Kniebundhose. Den Vollbart hatte er neuerdings zu einem akkuraten Backenbart gestutzt, mit dem er sein fleischiges Gesicht wohl schmaler wirken lassen wollte.

Die letzten beiden Male war er so spät gekommen, dass er zusammen mit der Gutjahr-Familie bei Tisch saß und diese Vertraulichkeit sichtlich genoss. Paulina nahm sich vor, mit ihrer Mutter zu reden, ob das denn nicht wieder zu ändern sei. Schließlich gehörte dieser Lorenz weder zur Familie noch zum Gesinde. Was

Erst zum Sankt Valentinstag, nach fast sechs Wochen Regenwetter, hatte der Herrgott ein Erbarmen und bescherte ihnen wieder Sonne. Das ganze Pfarrdorf zog am frühen Nachmittag hinaus auf die Felder, um die Schäden zu besehen, denn ein jeder hier besaß ein Stück Land, und selbst der ärmste Taglöhner bewirtschaftete sein Äckerle, das ihm als sogenanntes Bürgerteil auf der Allmende zur Verfügung stand.

«Was ist? Kommst du nicht mit?», fragte Rosina, während Paulina sich aus dem weit geöffneten Fenster der Gaststube lehnte und das Treiben auf der Straße beobachtete.

«Was soll ich mir die überschwemmten Felder angucken und dabei nasse Füße holen?», gab sie ein wenig unwillig zurück. Andererseits verlockte die ungewöhnlich warme Nachmittagssonne schon dazu, ins Freie zu gehen. Auch wenn ihr das mit den Sonnenflecken zu denken geben hatte, von denen neuerdings die Zeitungen berichteten. Und dem aufdringlichen Metzger wollte sie dort draußen auch nicht begegnen.

Da fiel ihr ein, dass Friedhelm und seine Mutter das kleinere ihrer beiden Feldstücke gleich bei dem großen Gerstenfeld der Gutjahrs hatten.

«Warte auf mich, Rosina», rief sie der Schankmagd zu, die gerade den Hof überquerte. «Ich will nur eben noch Stiefel und Jäckchen anziehen.»

«Hast es dir also doch anders überlegt?», schmunzelte Rosina, als sich Paulina wenig später zu ihr gesellte. Täuschte sie sich,