Zum Buch
Um 1800 ereignet sich nicht weniger als eine musikalische Revolution: Ludwig van Beethoven erschafft mit der Eroica, dem Fidelio oder der 9. Sinfonie die Welt ein zweites Mal. Martin Geck, »Doyen der Musikwissenschaft« (Frankfurter Allgemeine Zeitung) und einer der besten Kenner des Komponisten, vermisst in seinem Werk das Universum dieses Jahrhundertgenies auf unkonventionelle Weise.
Zum Autor
Martin Geck war Professor für Musikwissenschaft an der Universität Dortmund. Seine Bücher zur Musikgeschichte und seine Biographien großer Komponisten (u.a. über Mozart, Bach und Wagner) wurden von der Kritik hoch gelobt und in ein Dutzend Sprachen übersetzt. Für sein Buch über Johann Sebastian Bach wurde er mit dem Gleim-Literaturpreis ausgezeichnet. Er starb 2019.
MARTIN GECK
BEETHOVEN
Der Schöpfer und sein Universum
Siedler
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Copyright © 2017 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Ludwig van Beethoven, Büste von Hugo Hagen, ca. 1892 © Pictures from History / Bridgeman Images
Lektorat: Fritz Jensch, München
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Notensatz: Georg Allescher, München
Reproduktionen: Aigner, Berlin
ISBN 978-3-641-19436-9
V004
www.siedler-verlag.de
Inhalt
Vorwort
TITANISMUS
Napoleon Bonaparte
Wilhelm Furtwängler
Lydia Goehr
»FESTIGKEIT«
Johann Sebastian Bach
Aldous Huxley
Glenn Gould
NATUR
Jean-Jacques Rousseau
Leonard Bernstein
Tintoretto
TOLLHEITEN IM UMFELD DER EROICA
Fürst Franz Joseph Maximilian von Lobkowitz
Wolfgang Robert Griepenkerl
Hans von Bülow
LEBENSKRISEN, GOTTERGEBENHEIT, KUNSTFRÖMMIGKEIT
Johann Michael Sailer
Karl van Beethoven
Die »unsterbliche Geliebte«
PHANTASTIK
William Shakespeare
Robert Schumann
Jean Paul
TRANSZENDENZ
Friedrich Hölderlin
Caspar David Friedrich
Paul Nizon
STRUKTUR UND GEHALT
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Theodor W. Adorno
Paul Bekker
UTOPIEN
Richard Wagner
Thomas Mann
Hanns Eisler
KOMPONIEREN IM SCHATTEN BEETHOVENS
Franz Schubert
Felix Mendelssohn Bartholdy
Franz Liszt
VIRTUOSES KLAVIERSPIEL IM ZEICHEN BEETHOVENS
Clara Schumann
Artur Schnabel
Elly Ney
BEETHOVEN EN FRANCE
Romain Rolland
Igor Strawinsky
Gilles Deleuze
Epilog: Und wo bleibt Goethe?
ANHANG
Anmerkungen
Bibliographie
Werkregister
Personenregister
Vorwort
Universum – diese Metapher sollte man zwar vor ausuferndem Gebrauch schützen, jedoch einem künstlerischen Werk zubilligen, das im Lauf von zwei Jahrhunderten Weltgeltung erlangt hat und dank neuer Medien inzwischen nahezu erdumspannend präsent ist: Ein Klick am Computer genügt, um mit der Fünften oder der Pathétique in unmittelbaren Kontakt zu treten.
Solche Allgegenwart braucht ernsthafte Musikologen oder Kulturhistoriker freilich nicht zu stromlinienförmigen Darstellungen zu animieren, die noch dem Letzten die Bedeutung des großen Komponisten einzuhämmern versuchen. Vielmehr ist weiterhin ein Blick angesagt, der von Liebe, zugleich aber von Genauigkeit gelenkt ist.
Genauigkeit kann jedoch ganz unterschiedlichen Vorhaben zugutekommen: einer vielbändigen, detailverliebten Lebensbeschreibung, einer Sammlung eingehender Werkanalysen oder einer umfänglichen Darstellung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Doch wer schreibt noch solche »erschöpfenden« Bücher – und wer liest sie? Besser gleich ein ganzes Universum – mit dem Mut zur Lücke. Da kann man sich – trotz planvoller Kapitelanordnung – an beliebiger Stelle einlesen: Weil in einem Universum alles mit allem zusammenhängt, wäre es von vornherein hoffnungslos, die Erscheinung Beethoven entlang eines geradlinigen Zeitstrahls erfassen zu wollen.
Bei aller Ausdehnung hat das Beethoven-Universum ein Zentrum, nämlich die Werke; deren Kernbestand wird auf den folgenden Seiten aus unterschiedlichsten Richtungen angeleuchtet. Die ersichtliche Konzentration auf Kompositionen, die im aktuellen Musikleben präsent sind, ist nicht einer Bequemlichkeit des Autors, sondern der Sache selbst geschuldet: Vor allem die musikalischen Laien unter den nachfolgend auftretenden Künstlern und Denkern haben sich stets mit zentralen Kompositionen Beethovens beschäftigt – also mit Werken, die auch heutige Musikliebhaber vielleicht nicht vollständig im Kopf, jedoch meist in guter Erinnerung haben. Auf musikalisch Bekanntes zu stoßen mag Leserinnen und Leser dafür entschädigen, dass gleich um die Ecke Überraschungsgäste wie Caspar David Friedrich oder Gilles Deleuze lauern.
Was hat mich als Autor zu dieser besonderen Darstellungsform bewogen? Ich wollte dem Prinzip treu bleiben, jeder meiner Komponistenbiographien ein unverwechselbares Profil zu geben. Diesmal schien es mir überfällig, über einen großen Komponisten nicht länger als Fachmann ex cathedra zu schreiben, sondern als ein Sänger im Chor der vielen Stimmen, die sich originell zu Beethoven geäußert haben oder bis in die Gegenwart hinein durch ihr eigenes künstlerisches Werk Licht auf das seine zu werfen vermögen.
Zudem wollte ich die »große Erzählung« verabschieden, der zufolge Beethoven zur Gegenwart hin immer besser verstanden worden ist – eine hybride Vorstellung angesichts der wohl zweifelsfreien Wahrnehmung, dass der Beethoven-Diskurs in allen seinen Phasen und Facetten eine enge Allianz von Aufgewecktheit und geistiger Armut hat ertragen müssen. Beide Momente sind in den folgenden Spiegelungen Beethovenscher Musik gegenwärtig, natürlich vor allem Erstere.
Meine zwölf themenzentrierten Expeditionen ins Beethoven-Universum starte ich nicht mit dem Anspruch, die Musik erklären zu wollen. Vielmehr stehen sie für das Motto »exempla docent« – Beispiele lehren. Was andere „ihrem“ Beethoven abgewonnen haben, muss man nicht als sekundären Diskurs abtun; vielmehr ist hier genuine Kunstkritik mit im Spiel. Diese hat nach Walter Benjamin keineswegs die Aufgabe, ein Werk oder ein Oeuvre auf traditionelle Weise „einzuordnen“. Kunstliebhaber sollen das Kunstwerk vielmehr in romantischer Tradition als ein Werdendes betrachten, es weiterentwickeln und immer neu vollenden.
Das ist nicht im Sinne eines Zeitstrahls gemeint, demzufolge das Ältere kein Recht hätte, das Jüngere zu interpretieren: Sehr wohl darf Beethoven auch von Shakespeare her gesehen werden. Denn in der inneren Wahrnehmung des engagierten Kunstkritikers verschwimmen nicht nur die Gattungen, sondern auch die Zeiten: Eins wirft Licht und Schatten auf das Andere.
Wer sich in diesem Sinne einem umfassenden Beethoven-Diskurs anvertraut, wird zugleich seiner eigenen Gefühls- und Gedankenströme als Beethoven-Hörer inne: Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?
Nach der Lektüre eines astronomischen Buches überraschte Robert Schumann seinen Gesprächspartner Felix Mendelssohn Bartholdy mit der Vorstellung, »höheren Sonnenbewohnern« müssten wir Erdenkinder, durchs Fernrohr betrachtet, »wie Milben auf einem Käse erscheinen«. – »Ja«, erwiderte der Freund, »aber das wohltemperirte Clavier würde jenen doch wohl einigen Respect einflößen.«1 Mir gefällt die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Komponist eine exemplarische musikalische Schöpfung zum Nabel der Welt erklärt. Ich will es ihm nachtun und auf den folgenden Seiten Beethovens Musik zum Nabel der Welt machen – nicht weil man sie gleich derjenigen Bachs als ein Abbild höherer Schöpfungsordnung ansehen könnte. Sondern weil es um eine zutiefst menschliche Schöpfung geht – mit all ihren Höhenflügen und Verzagtheiten, Kampfesgesten und Friedensbotschaften.
Noch sitzt Beethoven entspannt im Café. Doch bald schon werden um die drei Dutzend Größen aus Politik, Kunst und Wissenschaft an seinen Tisch treten … (Skizze von Eduard Klosson aus dem Jahr 1823).
© Beethoven-Haus Bonn: Beethoven im Café, 1823 – Fotografie einer Zeichnung von Eduard Klosson
TITANISMUS
»Malen Sie mich ruhig auf einem wilden Pferde sitzend«, soll Napoleon Bonaparte zu Jacques-Louis David gesagt haben. Der Beethoven-Dirigent Wilhelm Furtwängler konnte mit solchem Titanismus gut umgehen. Lydia Goehr (*1960), Autorin von »The Beethoven Paradigm«, reagierte hingegen eher skeptisch.
© Getty Images: oben (Photo Josse/Lemage); © Lydia Goehr: Mitte; © ullstein bild: unten (Lebrecht Music & Arts)
Napoleon Bonaparte
Drei bedeutende Köpfe des deutschen Idealismus – Hegel, Hölderlin und Beethoven – rücken nicht nur durch ihr Geburtsjahr 1770 an den um nur ein Jahr älteren Napoleon heran, sondern auch als seine entschiedenen Verehrer. Hölderlin preist den Korsen in seiner Hymne Friedensfeier als »Fürst des Fests«, ohne ihn direkt beim Namen zu nennen; Hegel meint der »Weltseele« zu Pferde zu begegnen, als er Napoleon 1807 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt durch die Straßen Jenas reiten sieht. Und Beethoven will seine Sinfonia eroica nach Napoleon benennen oder ihm widmen.
Patrioten und Fachwissenschaftler deutscher Zunge waren über Generationen hinweg von dieser Napoleon-Begeisterung wenig angetan: Ob Philosoph, Dichter oder Komponist – keiner Geistesgröße steht es an, einem französischen Feldherrn und Usurpator zu huldigen! In diesem Sinne hat man sich gelegentlich auf die Position zurückgezogen, Hölderlins »Fürst des Fests« sei eine Phantasiefigur, Hegel habe das napoleonische System bestenfalls als Durchgangsstation auf dem Weg zu seinem »Vernunftstaat« betrachtet und Beethoven das Widmungsblatt der Eroica angesichts der Nachricht, Napoleon habe sich selbstherrlich zum Kaiser gekrönt, alsbald zerrissen. Doch was richtet das gegen den Mythos Napoleon aus: Der Korse ist bei seinem Staatsstreich des 18. Brumaire mit dreißig Jahren ein vergleichsweise junger Mann; und die Generation der Hölderlin, Hegel und Beethoven, viele junge Adelige eingeschlossen, sieht in ihm die große Hoffnung. Napoleon gilt ihnen als Pragmatiker und Heilsbringer in einem. Wie selbstverständlich verschmäht der dreißigjährige Beethoven die Perücke, um das »pechschwarze Haar« stattdessen nach dem Vorbild Napoleons »à la Titus« zu tragen;1 und noch im Januar 1820 wird man in Beethovens Konversationsheften über ihn lesen: Er sei zwar durch seine Hybris gescheitert, hatte aber »Sinn für Kunst und Wissenschaft und haßte die Finsterniß. Er hätte die Deutschen mehr schätzen und ihre Rechte schützen sollen. […] Doch stürzte er überall das Feudal System. und war Beschützer des Rechtes und der Gesetze.«2 Dass sich in Napoleon der Legalismus des Code civil mit schonungsloser Machtausübung verbindet, wird da zwar nicht übersehen, jedoch um des Prinzips Hoffnung willen hintangestellt.
Beethovens Bewunderung für den Korsen beruht nicht zuletzt darauf, dass dieser sich nicht infolge erblicher Privilegien, sondern aufgrund seiner strategischen Fähigkeiten zum Herrscher Europas hat aufschwingen können und sich dabei für grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen eingesetzt hat. Der Schlüsselbegriff ist der des Genies; und was an dem napoleonischen Genie fasziniert, ist weniger in den Kategorien von Ethos und Moral zu fassen als vor dem Horizont dessen, was der Franzose »gloire« nennt und im Deutschen mit »Ruhm und Verdienst« zu übersetzen wäre: Die Bewunderung gilt einem Menschen, der durch sein Genie Taten vollbringt, die der Allgemeinheit zum Muster dienen und zugleich dem Individuum zu bleibendem Ruhm verhelfen.3 Das erinnert an die antiken Helden à la Alexander den Großen, mit denen sich Beethoven identifiziert, und bedeutet ein beständiges Stimulans, sich mit außerordentlichen Taten im Reich der Künste seinerseits ähnlichen Ruhm zu erwerben. Wie weit Beethovens Identifizierung mit Persönlichkeiten der Antike gehen kann, zeigt exemplarisch seine Haltung im Streit um die Vormundschaft über den Neffen Karl: In einer gerichtlichen Eingabe aus dem Jahr 1818 führt er an, auch Philipp von Mazedonien habe die Erziehung seines Sohnes Alexander (des Großen) selbst geleitet; das gleiche Recht nehme er nunmehr hinsichtlich seines Neffen für sich in Anspruch.
Der Topos der »gloire« ist deshalb so wichtig für den Komponisten und speziell für den Sinfoniker Beethoven, weil er weit mehr Sinnlichkeit ausstrahlt als alle ethischen Begriffe zusammen und sich daher zur Umsetzung in klangliche Vorstellungen anbietet: Beethoven kann hier an diverse Traditionen vokal-instrumentaler Staatsmusiken bis hin zur offiziellen Musik der Französischen Revolution anknüpfen und zugleich Neues schaffen.
Am 26. Januar 1793 schreibt Beethovens Freund Bartholomäus Fischenich aus Bonn an Schillers Gattin Charlotte über die künstlerischen Pläne des 22-jährigen Beethoven: »Er wird auch Schillers Freude und zwar jede Strophe bearbeiten. Ich erwarte etwas vollkommenes, denn soviel ich ihn kenne, ist er ganz für das Große und Erhabene.«4
Ob Beethoven ein genuiner Anhänger der Französischen Revolution gewesen ist, wissen wir nicht; man darf jedoch vermuten, dass er mit ihr zumindest von fern sympathisiert hat. Der Wahlspruch seines Bonner Kompositionslehrers Christian Gottlob Neefe lautete: »Die Großen der Erde lieb’ ich sehr, wenn sie gute Menschen sind. […] Schlimme Fürsten hass’ ich mehr als Banditen.«5 Beethoven selbst schreibt 1793 – in seinem ersten Wiener Jahr – der Nürnbergerin Theodora Vocke ins Stammbuch: »Freyheit über alles lieben; Wahrheit nie, (auch sogar am Throne nicht) verläugnen.«6
Noch 1812 findet sich unter den ersten Skizzen zur späteren neunten Sinfonie der Eintrag: »abgerissene sätze wie Fürsten sind Bettler«,7 womit Beethoven die Phrase »Bettler werden Fürstenbrüder« aus der Erstfassung von Schillers Ode an die Freude radikalisiert.8 Das spricht nicht gerade dafür, dass er damals die Ideale der Französischen Revolution – wohlgemerkt: deren Ideale – bereits dem Vergessen anheimgegeben hätte.
Jedenfalls beginnt mit den rasanten Erfolgen Napoleon Bonapartes, der mit dem Staatsstreich von 1799 zum Ersten Konsul und damit auf zehn Jahre zum Alleinherrscher Frankreichs aufsteigt, in Beethovens politischer Biographie ein neues Kapitel. Doch nicht nur ihm erscheint der Korse wie der sprichwörtliche Phönix, der sich aus der Asche der Französischen Revolution erhebt: Als solcher wird Napoleon vielmehr allenthalben bildlich und literarisch dargestellt. In dieser Rolle bewundert ihn selbst Goethe, der im Gegensatz zu Schiller ein Feind der Französischen Revolution gewesen war, in Napoleon aber jenen Prometheus findet, den er schon in dem Prometheus-Gedicht seiner Sturm-und-Drang-Jahre gefeiert hatte. Kein Geringerer als Friedrich Nietzsche schreibt in der Götzendämmerung: »Goethe hatte kein größeres Erlebnis als jenes ens realissimum, das Napoleon heißt.« Weiterhin postuliert er: »Das Ereignis, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem ›Mensch‹ umgedacht hat, war das Erscheinen Napoléons.«9
Es duldet kaum Zweifel, dass noch Beethovens Bekenntnis von 1819, für Erzherzog Rudolph bestimmt, im Geist der napoleonischen Ära geschrieben ist: »allein Freyheit, und weiter gehn ist in der Kunstwelt, wie in der ganzen großen schöpfung, zweck«.10
Offensichtlich ändert die Enttäuschung, die er im Jahrzehnt zuvor gegenüber Napoleons Usurpationsgelüsten empfunden hat, nichts an dem grundsätzlichen Wunsch, mit dem großen Korsen wie Goethe gleichsam auf Augenhöhe zu verkehren. In diesem Sinne charakteristisch ist der Ausspruch, den Beethoven nach Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt gegenüber dem Geiger Krumpholz getan haben soll: »Schade! daß ich die Kriegskunst nicht so verstehe wie die Tonkunst, ich würde ihn doch besiegen!«11
Auf eine einfache Formel gebracht, erblickt Beethoven in der sogenannten heroischen Periode seines Schaffens in Napoleon den Staatskünstler, der gut daran täte, ihn selbst zu seinem Staatskünstler zu machen. Mit solchen Vorstellungen nimmt er – darin Hölderlin nicht unähnlich – das idealisierte Bild einer Antike auf, in der Staatsmänner zugleich Künstler und Philosophen sind oder sich von solchen zu höheren Zielen leiten lassen.
In diesem Sinne betrachtet Beethoven nicht den Tagespolitiker Napoleon als Lichtgestalt, wohl aber den genialen Zeitgenossen, der als Lenker des Volks und der Völker zu prometheischen Taten ermuntert. Im Bereich der Kunst will es Beethoven dem großen Bruder gleichtun. Nicht nur er selbst sieht sich in diesem Sinne als einen Napoleon der Musik. Wäre Ähnliches nicht auch von anderen gesehen worden, so gäbe es wohl kaum die in den Konversationsheften notierte Frage eines Besuchers: »Heißt das nicht Handeln bey Ihnen: Componiren?«12 Beethoven, so sieht es der unbekannte Gast, verwirklicht im Bereich der Musik dasjenige, was in der Zeit angesagt ist, nämlich »Freiheit« und »Weitergehn«.
Für Beethovens Werk, vor allem für seine Sinfonik, bedeutet dies zweierlei. Zum einen ist es voller Momente, welche die Zeitgenossen gar nicht anders hören konnten denn als Widerhall der französischen und napoleonischen Revolutionsmusik, die zu Anfang des 19. Jahrhunderts in Teilmomenten freilich den Zeitgeschmack spiegelte und nicht nur als Beethovens Individualstil verstanden werden musste. Zum anderen spricht, allgemeiner gesehen, aus Teilen der Orchestermusik Beethovens ein »Titanismus«, der zwar ganz und gar ihm selbst – in gewissem Maß sogar nur ihm selbst – eigen ist, der jedoch zugleich als Ausdruck einer Aufbruchstimmung zu verstehen ist, die in der napoleonischen Ära herrscht.
Was das erste Moment, den unmittelbar hörbaren Widerhall der französischen Revolutionsmusik, betrifft, so ist dieser schon in den beiden ersten, zwischen 1799 und 1802 komponierten Sinfonien zu vernehmen. So erinnert das Hauptthema des Kopfsatzes der Ersten deutlich an das Thema einer Ouvertüre, die Rodolphe Kreutzer, Professor am neu gegründeten Pariser Conservatoire, anlässlich des Marathontages komponiert hat, durch dessen Feier die Kampfbegeisterung der Pariser während des Ersten Koalititonskriegs geschürt werden sollte.
Die Überlegung, dass Beethoven damit bloß einer Pariser Mode huldige, relativiert sich schnell, wenn man das zwischen erster und zweiter Sinfonie aufgeführte Ballett Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 ins Auge fasst. Beethoven verantwortet diese Produktion des Wiener Hofburgtheaters, die es auf über 20 Aufführungen bringt, gemeinsam mit dem Ballettmeister Salvatore Viganò. Grundlage der Handlungsskizze des »heroisch-allegorischen Balletts« ist das mythologische Epos Il Prometeo, dessen ersten Gesang der italienische Dichter Vincenzo Monti 1797 unter dem Eindruck der militärischen und politischen Taten Napoleons verfasst hat; und über die Parallele von Prometheus und Napoleon kann schon deshalb kein Zweifel herrschen, weil Monti eine solche in seiner Widmung an Napoleon ausdrücklich herstellt. Zumal Beethovens Musik deutliche Anklänge an die offizielle Hymne des französischen Konsulats, »Veillons au salut de l’Empire«, zeigt, resümiert Peter Schleuning als Kenner der Materie vielleicht nicht zu Unrecht: »Man wird in dem Ballett eine Huldigung an Bonaparte als den zeitgenössischen Vollender mythischer Menschheitserziehung sehen müssen, wahrscheinlich aber auch einen mythologisch formulierten Aufruf an den französischen Konsul, auch die anderen europäischen, immer noch unter feudalistischer Herrschaft schmachtenden Völker zu befreien, eine Hoffnung, die zu jener Zeit alle fortschrittlichern Geister hegten.«13
In seiner Eroica greift Beethoven das zuvor im Ballett behandelte Thema Prometheus/Napoleon im Bereich der Sinfonik auf: Ein Thema aus dem Finale der Ballettmusik ist identisch mit dem satzbeherrschenden Kontretanzthema des Eroica-Finales. Und mehr als das: Indem Beethoven das Eingangsmotiv der Sinfonie als rudimentäre Vorform ebendieses Kontretanzthemas gestaltet, steuert er von Anbeginn auf dieses Finale zu.
Dass die Parallelität nicht inhaltsneutral, vielmehr an das ursprüngliche Prometheus-Sujet geknüpft ist, belegt die Tatsache, dass Beethoven diese seine dritte Sinfonie anfänglich nach Napoleon benennen oder ihm widmen will. Das Titelblatt einer Abschrift des Werks vom August 1804 lässt noch die vom Komponisten ausradierte Zeile »intitolata Bonaparte« und seinen eigenen handschriftlichen Bleistiftvermerk »Geschrieben auf Bonaparte« erkennen.
Auf die Nachricht hin, dass sich der Bewunderte am 2. Dezember 1804 in Paris selbst zum Kaiser gekrönt habe, soll Beethoven – wie erwähnt – das Titelblatt der inzwischen verschollenen Originalpartitur mit entsprechender Widmung zerrissen und ausgerufen haben: »Ist der auch nichts anders, wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeiz fröhnen.«14
Das ist der Sache nach glaubhaft. Vielleicht ist alles jedoch viel prosaischer. Da Beethoven die Eroica für 700 Gulden seinem fürstlichen Gönner Lobkowitz – und damit einem Vertreter des österreichischen Hochadels – verkauft und ihm für weitere 80 Golddukaten gewidmet hat, verbietet sich jeder öffentliche Hinweis auf Napoleon schon von daher. Doch selbst wenn Beethoven die Kaiserkrönung zum Anlass genommen haben sollte, um von Napoleon mit Aplomb abzurücken, würde das nicht unbedingt bedeuten, dass damit das Thema Napoleon für ihn erledigt gewesen wäre.
Denn natürlich entgeht ihm nicht, dass seine Musik damals gerade in Paris hoch geschätzt wird. Und die im Jahr 1804 mehrfach mit Entschiedenheit geäußerten Pläne, dorthin zu ziehen und die später Fidelio genannte Oper Leonore mitzunehmen, liegen weiterhin auf dem Tisch. So fragt er im Jahr 1809 – also nicht lange nach Goethes Zusammentreffen mit Napoleon – seinen französischen Besucher Baron de Trémont, ob der Kaiser ihn wohl empfangen werde, falls er Paris besuche. Damals spielt er außerdem ernsthaft mit dem Gedanken, eine Kapellmeisterstellung am Kasseler Hof von König Jérôme, einem Bruder Napoleons, anzunehmen. Und wenig später überlegt er, ob er Napoleon seine C-Dur-Messe widmen solle. Auch sein weiteres Schaffen zeugt von einer Emphase, die sich gut mit dem herrschenden Napoleonkult verbinden lässt: Sie spricht nicht nur aus den drei ersten Sinfonien, sondern auch aus vielen Partien der Oper Fidelio, aus dem Violinkonzert, aus der Egmont- und aus der Coriolan-Ouvertüre sowie aus der fünften Sinfonie. Deren Finale gleicht einem »éclat triomphal«. Der Ausdruck stammt aus der französischen »Schreckensoper« dieser Jahre und steht, mit den Worten Karl H. Wörners, für den »heroisch-leidenschaftlichen Gestus, die vorwärtsstürmende Intensität, die atemlose Steigerung und den triumphierenden Zug als neue Qualitäten der Musik im ›revolutionären‹ Zeitalter«.15
In der Fünften zerschlägt Beethoven auf eine auch für ihn selbst einzigartige Weise den gordischen Knoten: Gegen die Macht des Schicksals vermag sich das einzelne Subjekt nicht durchzusetzen; es kann sich nur den großen Bewegungen der Zeit anschließen und das Bad in einer jubelnden Menge suchen. Und die besteht in diesem Fall aus dem – in seiner Rolle idealisierten – Volk der Französischen Revolution. Deren Schlachtruf »la liberté«, der sich mühelos der herausgehobenen Tonfolge c-h-c-d (T. 303f.) des Finales unterlegen lässt, könnte Beethoven der Hymne dithyrambique von Rouget de l’Isle, dem Komponisten der Marseillaise, entnommen haben.16 Auch sonst lässt die Französische Revolution grüßen: Eigens für den sieghaften Schlusssatz lässt Beethoven Piccoloflöte, Kontrafagott und drei Posaunen »aufmarschieren«. Es sind also speziell zur Militärmusik zählende Instrumente, deren Klang den sieghaften Gestus grundiert. Kaum bedarf es da noch der Erwähnung, dass sich das c-Moll des Kopfsatzes zu C-Dur aufhellt – mit aller damit verbundenen Metaphorik.
Man kann bezweifeln, dass der Weg von der bündigen motivisch-thematischen Arbeit des ersten Satzes zum Theatercoup des Finales, der Schritt vom Kampf zum Sieg, von der individuellen Bedrängnis zur kollektiven Befreiung mit letzter kompositorischer und philosophischer Stringenz erfolgt – ja dass dergleichen überhaupt möglich sei. Gleichwohl war das damalige Publikum von dem fast märchenhaften Befreiungsschlag ebenso fasziniert, wie es das heutige ist. Das sieghafte Finale soll nach dem Bericht des russischen Beethoven-Biographen Alexander Oulibicheff einen alten Grenadier anlässlich einer Pariser Aufführung kurz nach dem Tode Beethovens so mitgerissen haben, dass er »C’est l’Empereur, vive l’Empereur« rief und mit dieser spontanen Assoziation seinem alten Kaiser huldigte.17
Andere haben das heroische Moment der Fünften jeweils in ihrem Sinne gedeutet. So berichtet Richard Wagner über ein von ihm im Revolutionsjahr 1848 geleitetes Dresdner Hofkonzert: »König und Hof waren trübe gestimmt; auf dem ganzen Publikum lastete der düstere Druck einer Ahnung von nahen Gefahren und Umwälzungen. […] Da raunte mir der Geiger Lipinski zu: ›Warten Sie nur – beim ersten Strich der C-Moll ist alles fort!‹ Und richtig: die Symphonie beginnt, welches Aufjauchzen, welche Begeisterung!«18
Hier genügt schon der aufrüttelnde Beginn des Werks, um das Publikum von seiner depressiven Stimmung zu befreien. Spätestens mit dem Finale – das die Hörer vielleicht bereits am Anfang im Ohr haben – ist es dann so weit: Es reiht eine Siegesgeste an die andere. Den Schlusspunkt setzt die Apotheose des leitenden Finalthemas; sie mündet zum Zeichen höchster und allgemeiner Begeisterung in eine reine C-Dur-Klangfläche. Dass man den Satz gleichwohl als Sonatensatz verstehen könnte, geht darüber unter. Kein Wunder, dass Teile der Beethoven-Forschung von »Gemeinplätzen der Militärmusik« und »bedenklicher Volkstümlichkeit« sprachen.19 Auch für den Beethoven-Verehrer Richard Wagner gab es Anlass, sich über das Werk zu wundern. Seine Gattin notierte unter dem 14. Juli 1880 in ihrem Tagebuch: »Richard spricht beim Frühstück von der c-Moll-Symphonie, sagt, er habe viel über sie nachgedacht, es sei ihm, als ob da Beethoven plötzlich alles vom Musiker hätte ablegen wollen und wie ein großer Volkredner auftreten; in großen Zügen hätte er da gesprochen, gleichsam al fresco gemalt, alles musikalische Detail ausgelassen, was noch z. B. im Finale der Eroica so reich vorhanden wäre.«20
Das Finale der 1813 uraufgeführten Siebten hat Wagner als »Apotheose des Tanzes« bezeichnet21 – eine milde Formulierung angesichts des aufreizend Monomanen, das der Satz an sich hat: Das Hauptmotiv konfrontiert den Hörer mit einem wilden Taumel, der jedoch alsbald von den daraus abgeleiteten Marschrhythmen mit militärischer Straffheit diszipliniert wird. Ein Hinweis darauf, dass diese Marschrhythmen an eine Episode in François Joseph Gossecs Revolutionsmarsch Le triomphe de la République erinnern,22 erscheint zwar nicht überflüssig, da die Konzerte der Jahreswende 1813/14, in denen die umjubelte Siebte erstmals erklang, ganz im Zeichen der jüngsten militärischen Siege standen, die das Ende der napoleonischen Ära einläuteten. Jedoch wäre es nicht angebracht, diese Bezüge überzubetonen, da der Satz Momente von totaler Unterwerfung des Subjekts unter die andringenden Gewalten freisetzt, die aus dem Werk Beethovens generell – also weit über die zeitgeschichtliche Situation hinaus – nicht wegzudiskutieren sind. Wagner meinte im Gespräch mit Engelbert Humperdinck, man könne das Finale zwar lieb haben, müsse aber doch »in einem gewissen Sinne davon sagen: das ist nicht mehr Musik. Aber nur Er konnte es machen!«23
Wagners Hinweis auf die Einmaligkeit Beethovens erweitert den Gedankenhorizont: Pathos und Heldentum, charakteristisch für das europäische Lebensgefühl zwischen 1789 und 1814, zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongress, strahlt Beethovens Sinfonik nicht nur dadurch aus, dass sie Elemente französischer Revolutionsmusik in sich aufsaugt und verarbeitet. Vielmehr geht es um Darstellung von Größe, von Schöpferkraft und Raumeroberung schlechthin. Diese Momente Beethovenscher Sinfonik kommen in traditioneller Musikanalyse oft zu kurz, weil man dort vor allem die Vorstellung eines Beethoven pflegt, der als Erster die Prozesshaftigkeit des Komponierens zu dem großen Thema gemacht habe. Indessen lässt sich auch im Rahmen von Klavier- und Kammermusik oder selbst innerhalb der Gattung Oper prozesshaft komponieren. Im Bereich von Sinfonie und Ouvertüre geht es um mehr, nämlich um den Gestus von Macht.
Dieser Prozess ist eng an ein Neuverständnis von Orchester und Orchesterklang gebunden. Während die Sinfonik vor Beethoven – idealtypyisch gesehen – in der Vorstellung verharrte, dass der Komponist zunächst einen musikalischen Satz schaffe, den er danach instrumentiere, ist dies spätestens seit Eroica und fünfter Sinfonie nur noch eine Wahrheit, der eine andere, komplementäre, gegenübersteht: Der Orchesterapparat treibt bestimmte musikalische Entwicklungen aus sich heraus. Das gilt für Steigerungen, Klangflächen, lapidare Wiederholungen usw., die ohne die Gewalt des Orchesterklanges keinen Sinn und keine Wirkung hätten.
Zwar kennt schon die Orchestermusik des 18. Jahrhunderts Machtgesten; diese finden sich jedoch meistenteils standardisiert in C-Dur- oder D-Dur-Sinfonien, wo die Gruppe der Trompeter und Pauker für festliche Atmosphäre und die Anmutung von Herrscherglanz sorgt. Das ist jedoch nicht mit den Orchesterschlägen zu vergleichen, die Beethoven im wahrsten Sinne des Wortes austeilt. »Zwei Hiebe schwerer Kavallerie, die ein Orchester spalten wie eine Rübe« – so beschreibt Wilhelm von Lenz die beiden Orchesterschläge zu Beginn der Eroica;24 und wenngleich einem angesichts der militaristischen Sprache das Lachen im Halse stecken bleibt, so zeigt die Metapher des um die Mitte des 19. Jahrhunderts durchaus angesehenen Beethoven-Biographen, wie man damals in weiten Kreisen des Bildungsbürgertums Beethovens Sinfonik hörte. In der Tat sind ja innerhalb seines ohnehin vielfach aggressiven Orchesterklangs abgerissene Tuttiakkorde keine Seltenheit; und im Falle des knappen Eroica-Prologs sind sie nicht bloße Geste, haben vielmehr geradezu »motivisch-thematischen Rang«.25 Dasselbe gilt für einzelne Partien der Pauke, deren explosive Kraft besonders in der Siebten, Achten und Neunten zu spüren ist, aber auch in der Gewitter-und-Sturm-Szene der Pastorale: Auf durchaus originelle Weise setzt Beethoven die Pauke um der besonderen Wirkung willen innerhalb der ganzen sechsten Sinfonie nur in dieser charakteristischen Szene ein.
Ganz zu schweigen von dem exzessiven Gebrauch, den Beethoven von dynamischen Vorschriften wie forte oder sforzato (gleich »sehr betont«) macht. Wer einen Blick in die Noten wirft, wird feststellen, dass sich entsprechende Hinweise auch dort befinden, wo sie sich eigentlich von selbst verstehen: Sie sind gleichsam als dreifache Ausrufzeichen für den Dirigenten und die ausführenden Musiker gedacht. Besonders auffällig ist Beethovens Sforzato, wo es innerhalb eines raschen Wechsels von Forte und Piano, in Verbindung mit einer Synkope oder auf unbetontem Taktteil ausgeführt werden soll. Es geht somit bei Beethoven alles andere als konform marschmäßig zu; vielmehr stehen seine spezifischen Akzentsetzungen für Willensäußerungen, die sich einerseits als spontane individuelle Kraftakte deuten lassen, die jedoch andererseits einer jeweils überlegten, weitgefassten Gesamtkonzeption verpflichtet sind. Wenn sich Beethoven in seiner Rolle als Komponist tatsächlich mit dem Feldherrn Napoleon verglichen haben sollte, so gibt es hier in der Tat einleuchtende Parallelen – nämlich im Sinne einer taktischen Unberechenbarkeit, der jedoch eine schlüssige Gesamtstrategie zugrunde liegt.
Man kann darüber streiten, ob Beethoven mit dem Akt der Selbstüberbietung, den die Komposition der Neunten und ihre Uraufführung im Jahr 1824 darstellen, kompositorisch das Nonplusultra gelungen ist; man mag auch fragen, ob hinter all dem Jubel nicht bereits etwas von der Verzweiflung zu ahnen ist, die in den nachfolgenden letzten Quartetten auskomponiert ist. Seinem Selbstverständnis nach sieht er sich jedoch noch einmal als Lichtbringer, auch wenn das Chorfinale deutlich macht, dass es nunmehr – wenige Jahre nach dem Tod Napoleons auf St. Helena – nicht länger darum gehen kann, einem staunenden Publikum mit genialisch erfundener sinfonischer Größe zu imponieren: Das »Große und Erhabene«, von dem schon der junge Beethoven im Kontext von Schillers Ode an die Freude geträumt hatte, lässt sich vielmehr nur durch einen Rundgesang verwirklichen, der – so die dahinterstehende Idee – die Grenzen zwischen Musikern und Hörern aufhebt und alle Beteiligten gemäß Schillers enthusiastischen Versen zu »Freunden« und »Brüdern« macht. Man mag das als Abgesang auf die Verherrlichung des großen Einzelnen deuten; doch zugleich ist es – insofern weiterhin »napoleonisch« – ein letzter Versuch, sich einem politisch dumpfen Zeitgeist entgegenzustemmen, der die hehren Ziele von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zugunsten von Restauration und Reaktion verabschiedet hat.