Heike Eva Schmidt

Die Spionin des Königs

Roman

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Inhaltsübersicht

Über Heike Eva Schmidt

Heike Eva Schmidt wurde in Bamberg geboren und lebt heute im Süden Münchens. Nach ihrem Studium wurde sie zunächst Journalistin und schrieb unter anderem für Radio, Fernsehen und Zeitschriften. Inzwischen arbeitet sie als freie Drehbuchautorin. 2010 verwirklichte sie schließlich ihren Kindheitstraum: Romane zu schreiben.

Impressum

© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook

© 2015 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Momo Evers, Haus der Sprache

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42834-4

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Selbst wenn ich jeden Tag eine andere Maske trüge und jemand alle diese Masken zeichnen würde, hätte er mich noch lange nicht porträtiert.

 

Antoine Comte de Rivaról (1753 – 1801),
eigentlich Antoine Rivaroli,
französischer Moralist und Übersetzer

Prolog

Florentin von Rosenberg war ein achtjähriger Junge, und seine Welt war klar umrissen: Männer trugen Hosen, zogen in den Krieg, sie ritten und fochten und verteidigten ihr Vaterland. Frauen kleideten sich in Röcke und Kleider, sie blieben zu Hause und bekamen Kinder. So war es, und so würde es immer sein.

Doch eines Sommertages zerbarst Florentins Welt in tausend Scherben.

Er ging mit dem Nachbarsjungen Hans zum Fluss. Unterwegs duellierten die beiden sich spielerisch mit zwei Haselgerten, die sie von den Zweigen schnitten.

»Du bist ein Angeber, Florentin«, beschwerte sich Hans, nur weil dieser mit der Gerte gewandter war als der Freund.

»Wenn ich einmal groß bin, trete ich in die Dienste des Preußenkönigs«, prahlte Florentin.

Es war der Sommer des Jahres 1744, und gerade hatte Friedrich II. Böhmen überfallen und sich damit erneut gegen Österreich gewandt. Florentin sah sich schon als bester Fechter an der Seite des Herrschers in die Schlacht ziehen.

»Ich könnte mitkommen«, sagte Hans. »Als Kutscher oder Stallbursche«, fügte er hinzu, weil er wusste, dass er – als Sohn eines einfachen Verwalters von niederer Abstammung – am Königshof wohl niemals aufsteigen würde.

»Wir können ja zusammen nach Preußen gehen«, schlug Florentin großmütig vor, als die zwei das Ufer erreichten.

Obwohl es Florentin von seinem Vater, dem Freiherrn von Rosenberg, streng verboten worden war, zogen sich die beiden Kinder nackt aus, um zu baden.

Auf einmal deutete Hans auf seinen Freund und sagte lachend: »Florentin! Du kannst ja gar nicht in die Dienste des Königs treten! Du bist ja ein Mädchen!«

Natürlich glaubte Florentin ihm kein Wort, doch Hans lieferte den eindeutigen Beweis: Er konnte im Gegensatz zu Florentin seinen Namen in den staubigen Sand des Flussufers pinkeln, während Florentin selbst danebenstand – mit Tränen der Wut und Scham in den Augen, weil Florentin etwas nicht hatte, das der Freund besaß und was ihn zum Manne machte.

Mit bebenden Händen zog das Kind sich wieder an und rannte nach Hause, zur Mutter. »Bin ich wirklich ein Mädchen?«, fragte es mit zitternden Lippen und bemühte sich, die Tränen herunterzuschlucken.

Das Gesicht der Freifrau von Rosenberg wurde so weiß wie die frische Milch von Kühen, die Hans’ Vater jeden Morgen auf das Gut brachte. »Es musste ja einmal so weit kommen«, murmelte sie mit Lippen, die plötzlich so schmal waren, als würde sie einen widerspenstigen Faden in das Öhr ihrer Nähnadel einfädeln.

An diesem Tag erhielt Florentin keine Antwort, aber am Abend, nach dem Schlafengehen, hörte Florentin die Mutter unten in der Stube mit dem Vater zanken. Obwohl die einzelnen Worte unverständlich waren, drang die hohe, aufgebrachte Stimme der Freifrau durch die Zimmerdecke, und dazwischen vernahm man des Vaters zornigen Bass.

Irgendwann verstummten beide, aber das Schweigen war beinahe noch schlimmer. Es kroch durch die Risse der Wand in die Kammer und umhüllte das Kind wie eine erstickende, dunkle Wolldecke, während es mit angstvoll geweiteten Augen in die Nacht starrte und sich fragte, warum es sich plötzlich von einem Jungen in ein Mädchen verwandelt hatte. War sie etwa ein Wechselbalg – etwas, das der Teufel hervorgebracht hatte? Das Kind hatte die Haushälterin manchmal über kleine Kinder, die der Satan gegen einen seiner Sprösslinge vertauschte, wispern hören. Oder hatte Florentin etwas falsch gemacht, war sie böse gewesen, und nun strafte Gott sie für alle Sünden? Würde sie als Mädchen ab morgen nicht mehr reiten und fechten dürfen, sondern müsste wie ihre Schwester Terese lange Kleider und eng geschnürte Mieder tragen? Bei diesem Gedanken rannen heiße Tränen der Verzweiflung aus Florentins Augen.

 

Das Kind wünschte, es hätte nicht gegen das Gebot des Vaters verstoßen und wäre nicht mit Hans zum Fluss gegangen. Dann hätte es nicht erkannt, dass es nicht war, was es acht Jahre zu sein schien. Beinahe die ganze Nacht lag Florentin wach, und als sie am Morgen in die gewohnten Beinkleider des Jungen schlüpfte, der sie bis gestern überzeugt war zu sein, hatte das Mädchen einen Entschluss gefasst: Florentin würde auch weiterhin wie ein Junge reiten und fechten. Niemand sollte das Geheimnis je erfahren.

Und so wurde aus Florentin eine Meisterin der Verkleidung, und sie begann sogar, die Rollenwechsel zu genießen. Bis sie eines Tages nicht nur ihr Herz aufs Spiel setzte, sondern auch ihr Leben.

Doch da war aus dem Spiel bereits längst Ernst geworden.

Tödlicher Ernst.

Erster Teil:
Schicksal

Kapitel 1

25. Oktober 1736, Gut Heinrich von Rosenberg, nahe der Freien Reichsstadt Nürnberg

Ich bringe es um! Wenn das Balg erneut ein Mädchen wird, bringe ich es um, bei meiner Seel’!«

Das Gebrüll ihres Mannes, des Freiherrn von Rosenberg, drang bis in Marias Gemach. Seit drei Stunden lag sie nun schon in den Wehen, und obwohl die Schmerzen, die in immer heftiger ansteigenden Wellen kamen, sie fast zerrissen, ängstigten sie Maria nicht annähernd so sehr wie die Drohung ihres Gemahls. An seiner Stimme konnte sie hören, dass Heinrich dem Wein bereits am Nachmittag mehr zugesprochen hatte, als ihm wohltat. Wie gut, dass Terese, ihrer beider dreijährige Tochter, im Häuschen des Gutsverwalters einen Wurf junger Hunde bestaunte. Das Geschrei ihres Vaters hätte das Kind zu Tode geängstigt. Stand das blondgelockte Mädchen ohnedies für die gescheiterte Hoffnung Heinrichs, sein Erstgeborenes möge ein Junge und damit ein würdiger Erbe für das fränkische Gut am Rande der Freien Reichsstadt Nürnberg sein und das Geschlecht der Rosenbergs erhalten.

Maria hatte wirklich versucht, ihrem Mann seinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Obwohl sie damals erschöpft und wundgerieben gewesen war von Tereses schwerer Geburt, deren Wehen sie einen ganzen Tag und die halbe Nacht gemartert hatten, hatte sie bereits eine Woche später Heinrichs Drängen nachgegeben und sich erneut von ihm beschlafen lassen. Auch wenn es geschmerzt hatte, als wäre er mit einem rauen, splitternden Holzknüppel in sie eingedrungen. Doch sie hatte sich schuldig gefühlt, weil sie nicht in der Lage gewesen war, ihm den ersehnten Sohn zu gebären. Daher hatte sie sich auf die Lippen gebissen, bis sie bluteten, und keinen Ton von sich gegeben. Und so hatte sie es auch in den folgenden Wochen gehalten, wenn sich ihr Mann beinahe jede Nacht auf sie gelegt und sich zwischen ihre Schenkel gedrängt hatte. Während sie seinen heißen, oft vom Wein süßlich riechenden Atem an ihrem Ohr fühlte, hatte sie fest die Augen geschlossen und gehofft, es möge rasch vorüber sein. Wälzte er sich endlich mit einem Stöhnen von ihr herunter, hatte Maria mit geballten Fäusten gewartet, bis sie sein Schnarchen hörte. Erst dann hatte sie sich entspannt und war trotz brennender Schmerzen schließlich selbst eingeschlafen.

Tatsächlich war sie vier Monate nach Tereses Geburt erneut guter Hoffnung gewesen. Doch dann hatten qualvolle Krämpfe im Unterleib und ein blutgetränktes Laken Heinrichs Erwartung auf einen männlichen Nachkommen innerhalb einer Nacht zunichtegemacht. Wie glücklich war Maria deshalb gewesen, dass sich ihr Bauch ein gutes Jahr später erneut gerundet hatte. Doch sie verlor auch dieses Kind, und so hatte sie vor neun Monaten zuerst gar nicht gewagt, ihrem Gemahl zu erzählen, dass sie noch einmal schwanger war. Erst als ihre schwellenden Brüste und der hervorspringende Bauch auch mit dem engsten Mieder nicht mehr zu schnüren waren, war auch Heinrich der veränderte Zustand seiner Frau aufgefallen. Doch statt sich zu freuen, hatte er nur etwas Unverständliches in seinen vor enttäuschter Hoffnung grau gewordenen Bart geknurrt und sich abgewandt. Er traute dem Schicksal nicht mehr, und auch Maria hatte jeden Tag angespannt auf den vertrauten Schmerz und das Blut gewartet, die ihr erneut zeigen würden, was für eine unfähige Ehefrau sie war.

Doch dieses Kind hatte leben wollen. Bald konnte Maria fühlen, wie es sich in ihr regte, und oft genug krümmte sie sich mit einem Wehlaut, weil das Ungeborene unvermittelt von innen gegen ihren Leib trat.

Die Laune des Freiherrn wurde von Tag zu Tag heller, so wie die Sonne, die zunehmend heißer vom Hochsommerhimmel schien. Er nahm die heftigen Tritte des Ungeborenen als Zeichen, dass sein zweites Kind ein Junge sein müsse. Nachts im Schlafgemach konnte er nicht genug davon bekommen, Marias Bauch unter dem Linnenhemd zu betrachten und sich an den Beulen und Auswüchsen zu erfreuen, die durch die Stöße des Kindes wie Blasen auf dem Wasser kamen und gingen. »Aus dem wird später einmal ein Kämpfer werden«, hatte Heinrich von Rosenberg stolz jedem prophezeit, der es hören konnte.

Auch Maria hatte gerne glauben wollen, dass sie bald einen Jungen im Arm halten würde. Doch dann war der Blick der alten Sophie, eines kleinen, verhutzelten Weibes, das den Rosenbergs frische Eier von seinen Hühnern brachte, auf Marias Bauch gefallen. »Ah, die Hüften sind ausladend, und der Leib ist hochgewölbt. Es wird also bald eine zweite Tochter auf Eurem Gut herumspringen«, hatte die Alte freundlich gesagt und sich abgewandt, ohne zu ahnen, dass sie soeben die heile Welt des Freiherrn von Rosenberg zum Einsturz gebracht hatte.

»Sophie findet kaum mehr die Eier von ihren Hennen, so blind ist sie. Sie kann es doch gar nicht wissen«, versuchte Maria ihren Gatten zu besänftigen, doch vergeblich. Ängstlich sah sie, wie sich die Miene des Freiherrn verfinsterte und er wortlos ins Haus stapfte. Spät in der Nacht war sie vom Klirren einer Flasche unten auf dem Steinboden und unverständlich gebrüllten Flüchen wach geworden. Die Bettseite neben ihr war kalt und leer gewesen.

Seit den Worten der verhutzelten Alten hatte der Freiherr sie keines Blickes mehr gewürdigt. Vorbei die Zeiten, in denen ihn ihr dicker Bauch entzückt hatte. Und als die Wehen schließlich einsetzten, hatte Maria ihren Ehemann förmlich zwingen müssen, nach der Hebamme zu schicken. Fast schien es, als wolle der Freiherr seinem Kind den Weg in die Welt verweigern. Und nun drohte er also, das Neugeborene zu töten, wenn es nicht der ersehnte Junge wäre.

Eine neue Woge des Schmerzes spülte über Maria hinweg, und sie biss stöhnend und mit aufgesprungenen, vom Keuchen trockenen Lippen in eines der Kissen, das bereits dunkel getränkt war von ihrem Schweiß. Das kastanienfarbene Haar klebte ihr in nassen, verschwitzten Strähnen am Kopf.

Lass es einen Buben werden, gütiger Herrgott, flehte sie stumm.

Die Wehen folgten nun immer dichter aufeinander, jede ein Stich mit einem glühenden Messer, und Maria wand sich ächzend und wimmernd in den Laken. Hatte Heinrich wirklich nach der Hebamme gesandt, oder wollte er sie hier alleine lassen, blutend, schweißnass und am Ende ihrer Kräfte?

Eine gewaltige Angst kroch ihr ins Herz, und gleichzeitig schien ein ungeheurer Schmerz sie in der Mitte entzweizuspalten. Mit einem lauten Schrei presste Maria all ihre Pein und Marter aus sich heraus.

Da flog die Tür auf, und Lisbeth, die Hebamme, trat just in diesem Augenblick keuchend und schwitzend vom langen Fußmarsch aus dem Dorf ins Zimmer, als schon das rote Köpfchen des Kindes zwischen Marias Beinen zu sehen war.

»Bei allen Heiligen!«, schrie sie. Mit ihren rauen Händen, die noch kalt von der Herbstluft waren, griff sie das Kleine im Nacken, und Maria spürte, wie sie es ihr aus dem Leib zog.

Wie schon bei der Geburt ihres ersten Kindes fiel in diesem Augenblick aller Schmerz von ihr ab. Getragen von einer Welle des Glücks rappelte Maria sich auf und beobachtete, wie Lisbeth sich anschickte, die Nabelschnur zu durchtrennen, als das Neugeborene schon zu brüllen begann, als wolle es seine Ankunft bis in die nahe gelegene Reichsstadt verkünden.

Die Hebamme lächelte zufrieden und steckte sich einige vorwitzige, sandfarbene Haarsträhnen zurück unter die einfache Haube: »Ein Mädchen. Und ein lautes noch dazu«, stellte sie fest.

Maria schloss die Augen und ließ sich in die Kissen zurücksinken. Das Glücksgefühl versiegte, und heiße Tränen der Verzweiflung drängten gegen ihre Lider. Also doch eine Tochter. Sie hatte versagt. Zum zweiten Mal. Was würde ihr Mann nun mit ihr tun? Und was mit dem Kind?

Die dralle Lisbeth, die nichts von ihren Ängsten ahnte, hüllte das Neugeborene mit geübten Handgriffen in saubere Tücher und legte es ihr auf die Brust. Maria blinzelte die Tränen fort und blickte staunend auf die kleine Stupsnase, die aufgeworfenen Lippen und den erstaunlich dichten, dunklen Haarschopf. Ein immerwährendes Wunder, das bis vor wenigen Stunden noch in ihrem Inneren geschlummert hatte. Und in dieser Sekunde beschloss Maria von Rosenberg, ihre zweite Tochter zu beschützen, koste es, was es wolle.

 

»Ist es ein Sohn, habe ich einen Sohn?« Angelockt von dem Gebrüll des Säuglings stürzte der Freiherr ins Zimmer. Sein hageres Gesicht mit den hervorspringenden Wangenknochen war gerötet, die blauen Augen huschten unruhig zu dem Säugling, der inmitten der Tücher kaum zu erkennen war. Maria versuchte, ihre Angst hinunterzuschlucken, als die Hebamme, die gerade die bereits winterlich kalte Oktoberluft ins Zimmer ließ, beflissen antwortete: »Nein, Herr, eine Tochter.«

Heinrich von Rosenberg schnappte nach Luft. »Hinaus!«, fuhr er Lisbeth an. »Möge sie sich am gewürzten Wein auf dem Tisch bedienen, aber ich will mit meiner Gemahlin alleine sein.«

Während Lisbeth mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem teigigen Gesicht hinaushuschte, drückte Maria das kleine, hilflose Bündel schützend an sich. Der Freiherr hingegen beugte sich über sie, um seine Tochter in Augenschein zu nehmen.

»Ihr werdet ihr nichts tun!«, sagte Maria und staunte über sich selbst. Obwohl sie von der Geburt geschwächt war und ihre Stimme zitterte, fühlte sie sich wie eine Wolfsmutter, die ihr Kleines mit Zähnen und Klauen zu verteidigen trachtete.

Der Freiherr schnaubte geringschätzig. »Ein unnützer Esser mehr am Tisch. Und wer soll später einmal das Gut verwalten, eh?«, fragte er missmutig.

Maria senkte den Blick, hinab auf ihre Tochter, und da öffnete die Kleine ihre Lider. Und obwohl ihr Blick noch blind war und nichts erfassen konnte, schien sie ihrem Vater direkt in die Augen zu sehen – und traf ihn damit mitten ins Herz. Überrascht zuckte Heinrich von Rosenberg zurück, ehe er sich in widerwilliger Neugierde erneut über seine Tochter beugte, um sie in Augenschein zu nehmen.

»Ziemlich mickrig«, brummte er und stupste gegen ihre winzige Hand. Wie eine Falle, die der Jäger gegen allzu vorwitzige Füchse aufstellte, schnappten die Finger des kleinen Wesens zu und klammerten sich mit erstaunlicher Kraft an den riesig erscheinenden Zeigefinger des Vaters. Immer noch sah das Kind ihn unverwandt an, und Maria, die ihren Mann nicht aus den Augen ließ, bemerkte voller Staunen, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte. Aller Missmut wich aus seinen Zügen, und an seine Stelle trat ein Lächeln, ungläubig zunächst, doch dann voller Stolz. Maria wurde warm ums Herz. Sacht drückte sie ihre Lippen auf das flaumige Köpfchen ihrer Tochter, die, kaum auf der Welt, schon den Mut besaß, dem Vater entgegenzutreten.

»Eine Kämpfernatur, so wie ich es vorhergesagt habe«, murmelte ihr Mann, wie zu sich selbst, und Maria sah förmlich, wie ein Gedankenfunke in ihm zu glimmen begann. Doch noch ehe sie den Mut fand, das Wort an Heinrich zu richten, löste dieser seine Hand aus der seines Kindes, sprang auf und eilte hinaus, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes gewürdigt zu haben.

Zwischen Bangen und Hoffen lauschte sie, wie seine festen Schritte sich entfernten, dann wandte sie sich wieder ihrer Tochter zu: »Nun ja, zumindest wollte er dich nicht mehr umbringen, meine Kleine«, flüsterte sie zärtlich, ehe sie den Säugling an ihre Brust legte und beglückt spürte, wie ihre Tochter zu trinken begann.

*

Mit festen Schritten hielt Heinrich von Rosenberg auf die Küche zu, in der die Hebamme zufrieden über einem Becher warmen, gewürzten Weines saß. Der Gedankenfunke, der sich in seinem Kopf entzündet hatte, als er vorhin die Hand seiner Tochter in seiner gespürt hatte, war zu einer lichterloh brennenden Idee geworden. »Geh hinunter ins Dorf und berichte, Heinrich von Rosenberg hat einen Stammhalter bekommen«, befahl der Freiherr.

Erstaunt blickte die Hebamme von der dampfenden, aromatisch duftenden Flüssigkeit in ihrem Tongefäß auf. »Aber … es ist doch ein Mädchen«, erwiderte sie begriffsstutzig.

»Du irrst«, sagte der Freiherr und starrte sie unbewegt an, während er einen ledernen Beutel hinter dem Rücken hervorzog und ihn schüttelte, sodass die Münzen darin aneinanderklimperten. »Ich habe einen Sohn. Hast du verstanden?«

Als er sah, wie Lisbeth daraufstarrte und eilfertig nickte, warf er ihr den schweren Beutel zu. Mit unverhohlener Gier öffnete die Hebamme ihn und zählte die Münzen in das vom vielen Tragen fadenscheinige Tuch ihres Rockes. Heinrich schnaubte leise. Gewiss malte das einfältige Ding sich bereits aus, was es sich von dem Geld alles kaufen konnte.

Ihr Geplappere gab ihm recht: »Oh, ich danke Euch! Das langt zuoberst noch für einen neuen wollenen Rock für den nahenden Winter! Gott allein weiß, wie hart er im Fränkischen diesmal sein wird. Im vergangenen Jahr erst hab ich mich noch zu einer Aprilgeburt durch den knöchelhohen Schnee kämpfen müssen …«

Doch Heinrich interessierte sich nicht für die Röcke der Frau. Er packte sie grob am Handgelenk, und die Hebamme schrie erschrocken auf. Der Freiherr verengte seine stechend blauen Augen zu schmalen Schlitzen: »Wenn du auch nur ein Wort verlauten lässt, dass es ein Mädchen ist, wird es dir schlecht ergehen«, zischte er.

Lisbeth nickte eingeschüchtert. Dann aber schlich sich ein trotziger Ausdruck in ihr pausbäckiges Gesicht mit den schmalen Lippen und den blassen Augen, und sie streckte auffordernd die Hand aus. »Mein Schweigen sollte Euch noch etwas mehr wert sein«, forderte sie keck.

Heinrich von Rosenberg beobachtete das einfältig-verschlagene Grinsen und den berechnenden Zug um den Mund und fasste einen Entschluss. Murrend kramte er in seinen Taschen und legte noch ein paar Heller drauf. »Lass dir in der Küche etwas Brot und Speck geben«, brummte er, »und dann mach dich auf den Weg. Über die Brücke geht man besser noch vor der Dunkelheit.«

»Zu einem Krug von Eurem Bier würde ich auch nicht nein sagen«, lächelte die Hebamme.

Heinrich kniff kurz die Lippen zusammen, dann nickte er. Mit einer Handbewegung entließ er die Hebamme, und während sie in der Küche einen Schwatz mit der soeben hereinkommenden Magd über die diesjährige Apfelernte begann, verließ er das Gut, ohne dass ihn jemand sah.

*

»Ihr wollt – was?« Maria blickte ihren Ehemann sprachlos an.

»Ich werde unsere Tochter als Jungen großziehen«, wiederholte Heinrich geduldig, aber seine vibrierende Stimme verriet ihr seine Anspannung. Maria, noch geschwächt von der Geburt, versuchte, sich in den Kissen aufzurichten, aber sie war zu benommen. Heinrich trat nah an ihr Bett und nahm ihre klammen Hände in seine. Sie schauderte. Seine Finger waren noch kälter als die ihrigen. Ganz so, als habe er noch kurz zuvor längere Zeit im Freien gestanden.

»Das Gut braucht einen männlichen Erben«, sagte er beschwörend. »Einen, der selbst darüber bestimmt! Was nützen mir zwei Töchter, von denen eine am Ende irgendeinen Grobian heiratet, dem das Gut nichts bedeutet und der es zugrunde wirtschaftet?«

Dieser Gedanke war Maria ebenfalls ein Graus, trotzdem schüttelte sie immer noch den Kopf. Aber Heinrich hatte sich in seine Idee verbissen und beschwor sie: »Wenn wir unsere Jüngste wie einen Mann erziehen, wird sie wissen, wie ein Gut zu bewirtschaften ist. Sie wird nicht heiraten müssen, um Sie, unsere Älteste und sich selbst durchzubringen, wenn ich einmal nicht mehr bin! Und wir wissen nicht, ob wir noch einen Sohn bekommen können. Denken Sie an die zwei toten Kinder, Maria!«

Unwillkürlich schossen ihr bei seinen Worten die Tränen in die Augen. Heinrich hatte recht. Sie war nicht mehr die Jüngste, und die zwei Fehlgeburten, die Erziehung von Terese sowie die Sorge um das Gut forderten ihren Tribut. Ihr Körper war ausgelaugt, und tief in ihrem Herzen wusste sie, dass sie nach diesem Kind kein drittes mehr zur Welt bringen konnte und wollte. Heinrich musste das in ihren Augen gelesen haben, denn er nickte, als hätte er soeben die Bestätigung aus ihrem Mund gehört.

»Ich sehe, wir verstehen uns. Dieses Kind ist etwas Besonderes, das habe ich sogleich gespürt. Wenn wir ihr nicht sagen, dass sie ein Mädchen ist, wird sie auch nicht mit ihrem Schicksal hadern!«

Maria starrte ihn ungläubig an. »Es ihr nicht sagen …? Das ist unmöglich!«, brauste sie auf.

»Warum? Gewiss sind Frauen das schwächere Geschlecht, ich bin jedoch überzeugt, dass ich es durchaus vermag, unsere Tochter mit der entsprechenden Erziehung zum Manne zu formen.«

Maria atmete schwer. »Es ist gegen die Natur! Und gegen Gott!«

»Ach, ich bitte Sie! Die Welt ist doch nichts anderes als die Wechselwirkung zwischen Geist und Materie. Gott hat für mich dort keinen Platz, das wissen Sie. Wie Descartes in seinen Schriften formuliert …«

Maria unterbrach ihn aufgebracht. »Die lästerlichen Lehren dieses Franzosen werden uns noch alle in die Hölle bringen!«

Die Zähne des Freiherrn blitzten in einem ebenso seltenen wie kurzen Lächeln auf. »Unsinn. Sie sollten anfangen, etwas revolutionärer zu denken, meine Teuerste.«

»Was Sie als revolutionär bezeichnen, nenne ich abartig. Heinrich, ich bitte Sie – unsere Tochter als Jungen aufzuziehen ist völlig undenkbar!«

»Dass sich die Planeten um die Sonne bewegen, war ebenfalls lange undenkbar. Bis Galilei kam.«

»Diese verqueren Ideen bringen nur Unglück über unsere Familie!«, jammerte die Freifrau. »Wie soll das überhaupt vonstattengehen? Eine Frau wird niemals in der Lage sein, so zu handeln wie ein Mann!«

»Es wäre einen Versuch wert! Schließlich kommt auch nicht jeder Junge als Herkules auf die Welt. Mit körperlicher Ertüchtigung und dem entsprechenden Unterricht könnte man eine Menge erreichen.«

»Sie verrennen sich in ein Hirngespinst, Heinrich! Irgendwann wird unsere Tochter zur Frau, und dann müssen wir ihr die Wahrheit sagen!«

»Aber dann wird sie bereits die Vorzüge ihres Daseins als Mann erkannt haben. Allen voran das Erbe des Gutes.«

Maria schluckte und betrachtete ihren Gatten seit langem erstmals wieder mit den Augen einer Ehefrau. Sie hatte nicht die Wahl gehabt, wie sie leben wollte. War denn ihre Heirat aus Liebe geschehen? Nein, das nicht. Aber war das denn wirklich so schlimm? In ihren Kreisen zählten andere Dinge. Natürlich wäre es schön, wenn zum Beispiel ihre ältere Tochter Terese eines Tages einen Mann heiraten könnte, den sie liebte.

Den sie liebte …, echote es in ihrem Kopf. Hatte sie, Maria selbst, denn überhaupt eine Vorstellung davon, was es mit dieser Liebe genau auf sich hatte?

Energisch schüttelte sie den Gedanken ab. All ihre Überlegungen waren müßig; ihre Erstgeborene würde kaum eine Wahl haben. Die von Rosenbergs waren nicht gut genug gestellt, denn Heinrich interessierte sich mehr für die Philosophie als für das Gut und las lieber in Schriften verfemter Männer wie Descartes oder Newton, als die Nase in Listen mit aufgestellten Wirtschaftsposten zu stecken. Im Grunde war ihre Familie nichts weiter als ein allmählich verarmendes Adelsgeschlecht. Und dies, so erkannte Maria schließlich, war der eigentliche Punkt, auf dessen Basis sie das Ansinnen ihres Mannes zu beurteilen hatte. Wollte sie wirklich, dass ihre beiden Töchter darunter leiden mussten, dass sich ihre Familie im kargen fränkischen Land mehr schlecht als recht behauptete? Terese war lernbegierig und alles andere als dumm. Wenn ihre kleine Schwester sich genauso entwickeln würde, hätte das Gut vielleicht doch noch eine Zukunft. Vorausgesetzt, Maria würde der Scharade zustimmen.

Der Freiherr spürte, dass seine Frau schwankte, und drückte ihre Hände so fest, dass sie aufschrie. »Sagen Sie ja, Madame«, bat er drängend.

Da flog die Tür auf, und Terese, ihre Älteste, stürmte durch die Tür. »Mama, habe ich ein Geschwisterchen?«, wollte die Dreijährige begierig wissen und schielte zu dem weißen Bündel in Marias Arm. Die spürte den Blick ihres Mannes auf ihrem Gesicht brennen. Heinrichs Anspannung schien im Raum zu vibrieren wie ein tiefer, hallender Ton.

Einen Wimpernschlag lang zögerte Maria, dann blickte sie ihre älteste Tochter an. »Ja, mein Schatz. Ab heute hast du einen Bruder. Er heißt Florentin. Florentin von Rosenberg.«

*

»Die Lisbeth ist tot! An der alten Brücke ist sie ins Wasser gestürzt und jämmerlich ersoffen!«

Das Flüstern und Raunen drang schließlich bis in Marias Gemach, wo sie mit dem Neugeborenen an ihrer Brust eingeschlafen war. Noch halb im Traum öffnete sie die Augen und sah ihre Kammerzofe mit einer Magd zusammenstehen, die einen Stapel frisch gebleichter Laken auf dem Arm trug.

»Die Hebamme?«, fragte Maria leicht schlaftrunken, und die beiden Frauen fuhren zusammen und drehten sich nach ihr um. Ihre Zofe streckte auffordernd die Arme nach dem Säugling aus, doch Maria schüttelte den Kopf zum Zeichen, dass sie alleine zurechtkäme. Sie würde sich noch etwas einfallen lassen müssen, warum sie selbst ihrer ersten Zofe nicht erlauben würde, das Kind zu wickeln oder zu säubern, aber vorerst gab sich die Frau zufrieden, denn sie platzte beinahe vor Mitteilungsdrang.

»Es heißt, zwei Holzplanken wären morsch gewesen und unter ihrem Gewicht gebrochen«, gab sie zur Auskunft.

»Nun ja, der Müller hat erst vor zwei Tagen gesagt, er lässt seinen Gaul lieber nicht mehr über die marode Brücke laufen. Die Lisbeth wird kaum weniger gewogen haben als die alte Schindmähre«, antwortete die Waschfrau, und unwillkürlich kicherte die Zofe schrill, ehe sie sich besann und die Hand vor den Mund schlug.

»Versündige dich nicht«, mahnte Maria pflichtschuldig, aber ihre Gedanken waren bei der Hebamme. Ihr wurde bewusst, wie nahe beieinander doch Sein und Sterben waren. Gerade hatte Lisbeth noch einem neuen Leben auf die Welt geholfen, da wartete hinter der nächsten Biegung bereits der Schnitter, um ihres zu beenden.

»Ich habe noch gesehen, wie sie den Lohn des Freiherrn eingesteckt hat. All das schöne Geld – nun ist es hin«, sagte die Kammerzofe betrübt zu Maria, nachdem die Waschfrau das Zimmer verlassen hatte.

Dabei fraß der Unterhalt für das Gut und alle Bediensteten ihnen sowieso schon die Haare vom Kopf, dachte Maria bedrückt und schämte sich gleich darauf für diesen Gedanken. Die arme Lisbeth war tot, und sie dachte nur an die verlorenen Münzen.

»Möge der Herr ihrer Seele gnädig sein«, murmelte sie daher rasch, und ihre Zofe nickte gehorsam und schlug ein nachlässiges Kreuz über ihrem üppigen Busen.

*

Niemand zweifelte daran, dass die Hebamme einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen war, am allerwenigsten Maria. Und selbst als sie am Tag darauf das erste Mal von ihrem Wöchnerinnenlager aufstand und neben dem Küchenherd einen verlumpten, feuchtfleckigen Lederbeutel fand, der offenbar für das Feuer gedacht war, dachte sie sich nichts dabei. Denn sie hatte ja nicht gesehen, wie der Freiherr von Rosenberg der Hebamme genau solch einen Beutel mit einer Handvoll Münzen darin überreicht hatte. Daher konnte Maria auch nicht wissen, dass kurz nach dem Aufbruch der Hebamme sein Geldsäckel wieder um 60 Kreuzer schwerer gewesen war – und mit Lisbeths Tod sein Geheimnis gut gehütet bleiben würde.

Kapitel 2

19. März 1752, Gottesacker im Fürstentum Ansbach

Aus der Erde bist du gekommen, zu Erde sollst du werden. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der Herr schenke dieser Seele die ewige Ruhe.«

Florentins Blick glitt von den Trauernden, die sich auf dem Kirchhof bei eisigem Wind in ihrer dunklen Kleidung wie eine Schar frierender Krähen zusammendrängten, zu dem Pastor, der die Augen bislang himmelwärts gerichtet hatte, nun aber auffordernd zur Trauergemeinde blickte.

»Amen«, raunte es aus den Kehlen jener, die um Otto von Rosenbergs Grab standen. Auch Florentin gab dem Bruder ihres Vaters, der nach einigen Tagen qualvoller Unterleibskrämpfe begleitet von stetig steigendem Fieber gestorben war, diesen letzten Gruß mit auf den Weg. Ottos Frau Wilhelmine, die ihren Gatten morgens tot im Bett gefunden hatte, klammerte sich schluchzend an ihre Kinder. Die knapp vierzehnjährige Louise und ihr älterer Bruder Wilhelm wirkten auf Florentin nicht, als ob sie die Trauer ihrer Mutter teilten. Wilhelm war vom pummeligen Kind zum grobschlächtigen jungen Mann mit kurzem Hals geworden. Seine Arme waren so dick wie die Schenkel seiner Schwester, und er starrte mit kleinen Schweinsäuglein teilnahmslos auf den Sarg seines Vaters. Louise, die bereits gut entwickelt war, hatte sich die glänzenden, hellbraunen Haare kunstvoll geflochten und zupfte affektiert an ihrem schwarzen Wollumhang. Florentin musste sich eingestehen, dass sie mit ihrer schlanken Taille und dem langen Schwanenhals um einiges ansehnlicher war als ihr plumper Bruder.

Soeben verdrehte Louise gelangweilt die Augen und reckte ihre von ihrer Mutter geerbte Stupsnase in den Himmel, weil der Stadtschulmeister seinen Schulkindern, welche die Lieder bei den Beerdigungen singen mussten, den Einsatz für das Sterbelied »Nun lasst uns den Leib begraben« gab. Unter den Augen des Totengräbers, eines dürren, unheimlichen Mannes mit schiefem Mund und gleichgültigem Blick, der für den Aushub des Grabes gesorgt hatte, zogen Verwandte und Nachbarn unter dem steten Läuten der Glocken zur Kirche, in der die anschließende Totenmesse für den Verstorbenen stattfinden sollte. Das laute Gebimmel schallte Florentin noch immer in den Ohren, als sie kurz darauf beim Totenschmaus im Haus ihrer Tante saß und deren zudringliches Geplapper ertragen musste. Obwohl frisch verwitwet, konnte die Tante es nicht lassen, ihre Verwandten mit impertinenten Fragen zu quälen. Und da Heinrich von Rosenberg der Beerdigung seines Bruders wegen einer starken Erkältung hatte fernbleiben müssen, hatte die Tante sich auf Florentins Schwester Terese und ihre Mutter gestürzt: Soeben bedachte sie ihre älteste Nichte mit einem falschen Lächeln und säuselte: »Nun, meine Liebe, mich wundert, dass du noch nicht verheiratet bist.«

»Terese ist verlobt«, sagte ihre Mutter schnell und fügte hinzu: »Mit einem Grafen.«

»Oh, wie schön«, trällerte Wilhelmine mit aufgesetzter Fröhlichkeit. Ihre Miene aber blieb so bitter, als hätte sie in eine der Zitronen gebissen, die sie – als Hinterbliebene einer adligen Familie – den Sargträgern am Ende der Beerdigung überreicht hatte, um so symbolisch den Leichengeruch von deren Händen zu tilgen.

»Ja, wir freuen uns auch«, erwiderte Maria von Rosenberg, und Terese nickte wohlerzogen. Nur Florentin wusste, dass ihre Schwester nicht glücklich über das Arrangement war. Sie liebte ihren Verlobten nicht, und das beruhte wohl auf Gegenseitigkeit. Die künftige Ehe war ein Geschäft: Terese erhielt den Titel, und der Graf bekam dafür eine hübsche und wohlerzogene Frau, mit der er sich in der adligen Gesellschaft zeigen konnte. Außerdem strahlte Terese mit ihren roten Wangen und den dichten, langen Haaren, die im Gegensatz zu Florentins dunklen, schulterlangen Locken hell und glatt waren, Gesundheit und Frische aus. Es war kein Geheimnis, dass der Graf, der acht Jahre älter als Terese war, sich möglichst rasch einen Sohn wünschte. Oder zwei. Oder drei.

»Du bist für ihn nichts weiter als ein Leib, der ihm Kinder gebären soll? Hat er denn überhaupt kein Interesse daran, welche Dinge du liebst? Hat er deine schönen Stickereien nicht bewundert?«, hatte Florentin fassungslos gefragt, als die Ältere von dem ersten Treffen mit ihrem künftigen Gatten berichtete. Terese hatte den Kopf geschüttelt und sich um ein Lächeln bemüht, was ihr aber nicht recht gelungen war.

»Er ist vermögend, Florentin«, hatte sie leise gesagt. »Du weißt, wie es um Vaters Gut steht. Als älteste Tochter ist es meine Pflicht, in seinem Sinne zu handeln. Und so kann ich vielleicht gutmachen, dass ich nicht das Kind bin, das er sich gewünscht hat …«

Ihre Worte versetzten Florentin einen unsichtbaren Degenstich. »Das bin ich auch nicht«, antwortete sie flüsternd.

»Aber niemand außer mir und den Eltern weiß das. Vater hat dich stets wie einen Jungen erzogen, und er würde dich nie in eine Ehe zwingen, sonst käme die Wahrheit ans Tageslicht«, sagte Terese wehmütig, und Florentin glaubte in ihren blauen Augen für einen kurzen Augenblick zu erkennen, wie sehr ihre ältere Schwester sie beneidete. Stumm umarmte sie Terese. Die legte ihre Wange an Florentins, und diesmal war ihr Lächeln echt.

»Schwesterchen, du kleiner Wechselbalg«, neckte sie die Jüngere und drückte sie kurz an sich. »Ich werde es gut haben bei ihm«, versicherte sie und sah Florentin eindringlich an. Aber diese ahnte, dass sie das nicht ihretwegen gesagt hatte, sondern um sich selbst zu beruhigen.

Florentin schluckte. »Schick deine Kinder zu mir. Ich werde sie reiten und den Umgang mit Degen und Florett lehren – auch die Mädchen«, sagte sie mit einer Stimme, die über einen Mühlstein zu schleifen schien. Doch Tereses helles Lachen war ein Trost gewesen und hatte die Tränen des Mitleids und der Schuld verdrängt, die sich in Florentins Augen gesammelt hatten.

Florentin schüttelte den Gedanken ab. Von alldem durfte ihre Tante Wilhelmine natürlich nichts wissen. Sie hätte das dunkle Geheimnis ihres Schwagers schneller in allen Dörfern des Umkreises verteilt, als die Kirchturmuhr zwölf schlagen konnte, dachte Florentin. Ottos Witwe war eine jener Personen, die sich am Ungemach der Leute ergötzten. Sie verglich sich ständig mit anderen, und wehe, jemand erschien ihr bessergestellt oder vom Schicksal gnädiger bedacht als sie! Dann kam ihre Zunge zum Einsatz, die so scharf war, dass man sich an ihr hätte schneiden können. »Schwertgosche« nannte Heinrich von Rosenberg seine Schwägerin im Geheimen.

Ihre Tochter Louise kam mit ihren gerade einmal vierzehn Lenzen bereits ganz nach ihrer Mutter. Sie war ein ausgekochtes Biest, das an Türen lauschte, heimlich in fremden Taschen und Laden wühlte und Kalamitäten förmlich witterte. Dabei war sie gnadenlos eitel und putzte sich vor jedem Spiegel, auch wenn seine Fläche noch so blind war. Für den Blick oder gar ein Kompliment eines Mannes tat sie alles. Auch Florentin hatte sie anfangs kokette Blicke zugeworfen und sich kichernd hinter ihrem Fächer versteckt. Kein Wunder, hielt Louise ihre Cousine doch für einen jungen Mann, so wie alle Übrigen in der Familie ihres verstorbenen Onkels auch.

»Es ist nicht recht, an einem Grab ein solches Maskenspiel zu treiben. Hoffentlich wird Gott uns nicht dafür strafen«, hatte Maria von Rosenberg gemurrt, weil ihre Jüngste zur Beerdigung des Onkels in Männerkleidern ging. Doch alles andere wäre unmöglich gewesen. Die wenige Verwandtschaft kannte nur Florentin von Rosenberg, Sohn und künftigen Erben des fränkischen Gutes. Der Freiherr hatte die ganzen Jahre peinlich genau darauf geachtet, niemanden in sein Geheimnis einzuweihen. Das glaubte er jedenfalls, und Florentin hatte sich gehütet, ihrem Vater von Hans und dem Bad im Fluss zu erzählen.

Sie seufzte. Ihr Magen gab Geräusche von sich wie ein unzufriedener Hund, und ebendieses Bauchgrimmen nahm sie nun zum Vorwand, sich früh von dem reichhaltigen Totenschmaus und der enervierenden Wilhelmine zurückzuziehen. Erleichtert, dass alles vorbei war, schleppte sie sich die Treppe in den ersten Stock des Hauses ihrer Tante hinauf.

In Gegenwart ihrer eitlen Cousine war es Florentin zum ersten Mal schwergefallen, ihre Rolle als sechzehnjähriger Knabe perfekt zu spielen. Sie hatte sich wirklich bemüht, ihre Verachtung für Louises albernes Getue nicht zu zeigen, doch ihre Base musste ihre Abneigung gespürt haben – ganz so wie eine Katze mit den Spitzen ihrer Schnurrhaare fühlte, wenn ein Spalt zu klein war, um hindurchzuhuschen. Louises Augen hatten sich verengt, und den Rest des Tages hatte sie Florentin mit eisiger Verachtung gestraft. Der war das nur recht gewesen, denn sie fühlte sich entschieden wohler, wenn Louise ihre Gegenwart mied. Das lag an Louises enervierender Art und nicht daran, dass Florentin befürchtete, das junge Ding könne hinter das Geheimnis ihres Cousins kommen. Sie musste nur höllisch aufpassen, dass niemand sie je beim Umkleiden sah.

Nur einmal hatte sie sich vor einem anderen Menschen ausgezogen, damals mit acht Jahren – und das war das Ende der heilen Kinderwelt gewesen, in der Florentin von Rosenberg ein ganz normaler Junge gewesen war.

Daher verstopfte sie nun sorgfältig das Schlüsselloch der Gästekammer im Haus ihrer Tante. Angesichts ihrer neugierigen Cousine war diese Vorsichtsmaßnahme mehr als angebracht, denn dieser Familie traute sie alles zu.

Glücklicherweise hatte Florentin nichts im Gepäck, was auf ihr wahres Wesen schließen ließ. Den Wickel, mit dem sie ihre knospenden Brüste flach zu binden pflegte, würde sie beim Schlafen einfach weiter tragen. Das musste reichen; so wäre sie sicher.

Mit diesem Vorsatz schlich sie sich am frühen Abend aus der familiären Enge und der Beklemmung der vorangegangenen Totenfeier und ging hinauf in das Gemach, das man ihr bereitet hatte. In der zweiten Gästekammer sollten Mutter und Schwester schlafen. Zum Glück verfügte das Stadthaus des verstorbenen Onkels über genügend Räumlichkeiten, und Florentin musste sich nicht mit ihrem Vetter Wilhelm eine Kammer teilen. Dies war ihre größte Sorge gewesen. Sie hatte sich bereits überlegt, schrecklich zu husten und in kurzen Abständen auszuspucken, damit alle glauben sollten, sie hätte sich bei ihrem Vater mit dem Katarrh angesteckt. So hätte man ihr sicherlich ihre eigene Kammer gegeben. Doch die Tante hatte den von Rosenbergs gleich nach der Ankunft ihre Betten zugewiesen, und auch wenn dieses in Florentins Kemenate beinahe den gesamten Platz einnahm und sie sich dort kaum umdrehen konnte, war sie froh, nicht mit ihrem ekelhaften Vetter zu schlafen, der ihr gegenüber in all den Jahren keinen Deut freundlicher oder höflicher geworden war.

Dagegen hatte Wilhelm ihre Schwester Terese mit Blicken fast verschlungen und versucht, ihre Aufmerksamkeit mit allerlei plumpen Komplimenten zu erlangen. Die Schwester hatte keine Miene verzogen, sich sogar weggedreht. Doch der Vetter ließ sie erst in Ruhe, nachdem Florentin sich zwischen ihn und seine Schwester gestellt und mit eisiger Höflichkeit gefragt hatte, ob er denn nicht seine Mutter bei seines Vaters Beisetzung unterstützen wolle. Zuerst hatte es ausgesehen, als wolle Wilhelm den schmächtigen Vetter einfach beiseitedrängen, doch dann hatte er sich nur mit einem Schulterzucken abgewandt und war durch die angelehnte Tür zur Küche verschwunden, hinter der man Wilhelmine schluchzen hörte, während sie der Köchin Anweisungen für den Leichenschmaus gab.