Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © 1993 by Stephen Hawking
Published by Arrangement with THE UNIVERSITY OF CAMBRIDGE / UK,
Centre for Mathematical Sciences (DATMP), CAMBRIDGE, ENGLAND
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-60132-3
ISBN E-Book 978-3-688-11117-6
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11117-6
Dieser und der folgende Aufsatz beruhen auf einem Vortrag, den ich im September 1987 bei einer Tagung der Internationalen Gesellschaft für Motoneuronen-Erkrankungen in Zürich hielt; diese ursprüngliche Fassung wurde mit Texten kombiniert, die ich im August 1991 schrieb.
Vortrag bei einer Konferenz der British Motor Neurone Disease Association in Birmingham, Oktober 1987.
Rede, gehalten in Oviedo, Spanien, anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Prinzen von Asturien im Oktober 1989. Für das Buch aktualisiert.
Dieser Aufsatz erschien im Dezember 1988 in The Independent. ‹Eine kurze Geschichte der Zeit› hielt sich dreiundfünfzig Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times und im Februar 1993 seit zweihundertfünf Wochen auf der der Londoner Sunday Times. (In der hundertvierundachtzigsten Woche wurde das Buch ins ‹Guinness Book of Records› aufgenommen, weil es die höchste Zahl von Plazierungen in der Sunday-Times-Liste erreicht hatte.) Bislang sind dreiunddreißig verschiedene Übersetzungen veröffentlicht worden.
Im April 1993 lag es in den USA in der vierzigsten Hardcover- und der neunzehnten Taschenbuchauflage vor, in England in der neununddreißigsten Hardcoverauflage.
Vortrag, gehalten beim «Paradigmen-Workshop» der NTT Data Communications Systems Corporation in Tokio, Juli 1991.
Vortrag, gehalten im Juni 1987 bei der Tagung «Dreihundert Jahre Gravitation» in Cambridge anläßlich des dreihundertsten Jahrestages der Veröffentlichung von Newtons ‹Principia›.
Veröffentlicht in der Zeitschrift Scientific American, Januar 1977.
Hitchcock-Vortrag, gehalten im April 1988 an der University of California, Berkeley.
Vortrag im Rahmen eines Seminars des Sigma Club an der Universität Cambridge, April 1990.
Darwin-Lecture, Universität Cambridge, Januar 1991.
In diesem Band sind Arbeiten gesammelt, die ich zwischen 1976 und 1992 geschrieben habe – autobiographische Skizzen, wissenschaftsphilosophische Überlegungen und Versuche zu erklären, warum mich die Physik und das Universum so faszinieren. Das Buch endet mit der Abschrift der «Desert-Island-Discs»-Sendung, zu der ich eingeladen war. Diese Radiosendung ist eine typisch britische Institution, bei der jeweils ein Gast gebeten wird, sich vorzustellen, es würde ihn auf eine einsame Insel verschlagen und er dürfe sich acht Schallplatten aussuchen, um sich mit ihnen die Zeit bis zu seiner Rettung zu vertreiben. Glücklicherweise mußte ich nicht allzu lange warten, bis ich wieder in die Zivilisation zurückkehren durfte.
Da diese Arbeiten über einen Zeitraum von sechzehn Jahren entstanden, geben sie den jeweiligen Stand meines Wissens wieder, das sich, wie ich hoffe, im Laufe der Jahre erweitert hat. Ich nenne deshalb die Daten und die Anlässe, für die die Texte geschrieben wurden. Da jeder als in sich abgeschlossene Einheit konzipiert war, kommt es unweigerlich zu einem gewissen Maß an Wiederholungen. Ganz ist mir der Versuch, sie zu beseitigen, nicht gelungen.
Einige Beiträge in diesem Buch waren in ihrer ursprünglichen Fassung Vortragsmanuskripte. Schon in den siebziger Jahren war meine Stimme so verzerrt, daß ich meine Vorlesungen und Vorträge von anderen halten lassen mußte, gewöhnlich von einem meiner Doktoranden, der mich verstehen konnte oder einen Text vorlas, den ich geschrieben hatte. Doch 1985 mußte ich mich einer Operation unterziehen, die mir meine Stimme völlig raubte. Eine Zeitlang hatte ich überhaupt keine Verständigungsmöglichkeit mehr. Schließlich bekam ich ein Computersystem mit einem hervorragenden Sprachsynthesizer. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, daß ich bei öffentlichen Vorträgen gute Resonanz fand und in der Lage war, ein großes Publikum anzusprechen. Es macht mir Freude, wissenschaftliche Sachverhalte zu erklären und Fragen zu beantworten. Sicherlich muß ich noch viel lernen, um mich darin zu verbessern, aber ich hoffe, daß ich Fortschritte mache. Sie können sich selbst ein Urteil darüber bilden, ob mir das gelingt, indem Sie die folgenden Seiten lesen.
Ich gehöre nicht zu denen, die glauben, das Universum sei und bleibe ein Geheimnis, etwas, das man intuitiv erfassen, aber niemals ganz analysieren und verstehen kann. Meiner Meinung nach wird eine solche Sicht der wissenschaftlichen Revolution nicht gerecht, die vor fast vierhundert Jahren von Galilei ausgelöst und von Newton fortgeführt wurde. Diese beiden Männer zeigten, daß sich zumindest einige Teile des Universums nicht willkürlich verhalten, sondern von exakten mathematischen Gesetzen bestimmt werden. Seither haben wir die Erkenntnisse von Galilei und Newton fast auf jeden Bereich des Universums angewandt. Heute verfügen wir über mathematische Gesetze, die alles beschreiben, was unserer normalen Erfahrung zugänglich ist. Ein Maß für unseren Erfolg ist die Tatsache, daß wir Milliarden Dollar für den Bau riesiger Maschinen ausgeben müssen, um Teilchen zu so hoher Energie zu beschleunigen, daß wir nicht im voraus wissen, was bei ihrer Kollision geschehen wird. Diese hochenergetischen Teilchen treten in gewöhnlichen Situationen auf der Erde nicht auf, so daß es reichlich akademisch und überflüssig erscheinen mag, soviel Geld in ihre Untersuchung zu investieren. Doch es hat sie im frühen Universum gegeben, und deshalb müssen wir herausfinden, was bei solchen Energien geschieht, wenn wir verstehen wollen, wie wir und das Universum begonnen haben.
Das Weltall gibt uns immer noch viele Rätsel auf, aber die großen Fortschritte, die wir besonders in den letzten hundert Jahren erzielt haben, sollten uns in der Überzeugung bestärken, daß ein vollständiges Verständnis im Bereich unserer Möglichkeiten liegt. Vieles spricht dafür, daß wir nicht dazu verurteilt sind, auf ewig im dunklen zu tappen. Es ist möglich, daß uns eines Tages der Durchbruch zu einer vollständigen Theorie des Universums gelingt. Dann wären wir wirklich die «Masters of the Universe».
Die wissenschaftlichen Artikel in diesem Buch sind in der Überzeugung geschrieben worden, daß das Universum von einer Ordnung bestimmt wird, die wir heute nur teilweise erkennen, die wir aber in einer nicht allzu fernen Zukunft möglicherweise vollständig verstehen werden. Es mag sein, daß diese Hoffnung ein Luftschloß ist; vielleicht gibt es keine endgültige Theorie, und selbst wenn, so bleibt sie uns unter Umständen verschlossen. Aber es ist auf jeden Fall besser, nach umfassendem Verständnis zu streben, als am menschlichen Geist zu verzweifeln.
Stephen Hawking
31. März 1993
Ich wurde am 8. Januar 1942 geboren, genau dreihundert Jahre nach Galileis Tod. Aber ich schätze, daß noch ungefähr zweihunderttausend andere Kinder an diesem Tag geboren worden sind. Ob sich eines von ihnen später für Astronomie interessierte, weiß ich nicht. Ich kam in Oxford zur Welt, obwohl meine Eltern in London wohnten. Der Grund: Oxford war während des Krieges ein guter Ort für eine Geburt. Die Deutschen hatten versprochen, Oxford und Cambridge mit ihren Bomben zu verschonen. Im Gegenzug hatten sich die Engländer bereit erklärt, Heidelberg und Göttingen nicht zu bombardieren. Es ist sehr schade, daß man derart zivilisierte Vereinbarungen nicht für mehr Städte hat treffen können.
Mein Vater stammte aus Yorkshire. Sein Großvater, mein Urgroßvater, war ein wohlhabender Landwirt. Doch er hatte zu viele Höfe gekauft und verlor sein ganzes Vermögen in einer landwirtschaftlichen Depression zu Beginn unseres Jahrhunderts. So blieben die Eltern meines Vaters mittellos zurück. Dennoch ermöglichten sie es ihm, in Oxford Medizin zu studieren. Er wandte sich der Tropenmedizin zu und ging 1935 nach Ostafrika. Bei Kriegsbeginn reiste er auf dem Landweg quer durch Afrika, gelangte per Schiff nach England und meldete sich freiwillig. Man teilte ihm jedoch mit, er werde dringender in der medizinischen Forschung gebraucht.
Meine Mutter stammte aus Glasgow und war das zweite von sieben Kindern eines praktischen Arztes. Als ich zwölf war, zog die Familie in das weiter südlich gelegene Devon. Wie die Familie meines Vaters war auch die meiner Mutter nicht sehr begütert. Aber auch sie ließ meine Mutter in Oxford studieren. Nach dem Studium arbeitete sie in verschiedenen Berufen, unter anderem als Finanzinspektorin, was ihr nicht gefiel. Sie gab diese Stellung auf und wurde Sekretärin. In dieser Funktion lernte sie meinen Vater Anfang des Krieges kennen.
Wir lebten in Highgate, im Norden Londons. Achtzehn Monate nach mir wurde meine Schwester Mary geboren. Es heißt, ich sei über diesen Zuwachs nicht sehr erfreut gewesen. Unsere ganze Kindheit hindurch lag eine gewisse Spannung zwischen uns, die durch den geringen Altersunterschied genährt wurde. Später, als wir erwachsen wurden und verschiedene Wege gingen, hat sich unser Verhältnis gebessert. Sehr zur Freude meines Vaters wurde sie Ärztin. Meine Schwester Philippa wurde geboren, als ich fast fünf war und begreifen konnte, was vor sich ging. Ich weiß noch, daß ich mich auf ihre Geburt freute, wegen der Aussicht, zu dritt spielen zu können. Sie war ein sehr aufgewecktes Kind. Ich habe immer viel auf ihr Urteil und ihre Meinung gegeben. Wesentlich später kam mein Bruder Edward zur Welt. Ich war damals vierzehn, so daß er kaum noch eine Rolle in meiner Kindheit gespielt hat. Er entwickelte sich ganz anders als wir anderen drei: Seine Interessen waren nicht im geringsten akademischer und intellektueller Natur. Wahrscheinlich war das gut für uns. Er war ein recht schwieriges Kind, aber man mußte ihn einfach gern haben.
In meiner frühesten Erinnerung stehe ich im Kindergarten Byron House in Highgate und schreie mir die Lunge aus dem Hals. Um mich herum spielten Kinder mit, wie mir schien, herrlichem Spielzeug. Ich wollte mitspielen, aber ich war erst zweieinhalb Jahre alt und zum erstenmal allein bei Menschen, die ich nicht kannte. Ich glaube, meine Eltern hat meine Reaktion ziemlich überrascht. Da ich ihr erstes Kind war, hatten sie gelehrte Bücher über frühkindliche Entwicklung gelesen, in denen stand, daß Kinder ihre ersten sozialen Kontakte mit zwei Jahren knüpfen. Dennoch nahmen sie mich nach jenem schrecklichen Morgen aus dem Tagesheim und schickten mich erst anderthalb Jahre später wieder hin.
Damals, während des Krieges und kurz danach, war Highgate ein Gebiet, in dem viele Wissenschaftler und Akademiker lebten. In einem anderen Land hätte man sie als Intellektuelle bezeichnet, aber die Engländer haben niemals zugegeben, daß es bei ihnen Intellektuelle gibt. Alle diese Eltern schickten ihre Kinder in die Byron House School, die für damalige Verhältnisse sehr fortschrittlich war. Ich weiß noch, daß ich mich bei meinen Eltern beklagte, man bringe mir dort nichts bei. Die Lehrer dieser Schule glaubten nicht an die damals üblichen Methoden, Kindern den Stoff einzutrichtern. Statt dessen sollten sie lesen lernen, ohne zu merken, daß es ihnen beigebracht wurde. Schließlich lernte ich doch lesen, aber erst, als ich bereits mein achtes Lebensjahr erreicht hatte. Meine Schwester Philippa lernte nach eher herkömmlichen Methoden lesen, mit dem Ergebnis, daß sie es mit vier Jahren konnte. Aber sie war damals sowieso eindeutig klüger als ich.
Wir wohnten in einem hohen, schmalen Haus aus Viktorianischer Zeit, das meine Eltern während des Krieges billig erworben hatten, als alle Welt glaubte, London würde unter dem Bombenhagel dem Erdboden gleichgemacht. Tatsächlich schlug nur wenige Häuser weiter eine V2-Rakete ein. Ich war zu diesem Zeitpunkt mit meiner Mutter und meiner Schwester unterwegs, aber mein Vater war zu Hause. Glücklicherweise wurde er nicht verletzt und das Haus nicht sonderlich beschädigt. Jahrelang klaffte ein großes Ruinengrundstück in unserer Straße, auf dem ich mit meinem Freund Howard spielte, der drei Häuser weiter wohnte. Howard war für mich eine Offenbarung, weil seine Eltern keine Intellektuellen waren wie die Eltern aller anderen Kinder, die ich kannte. Er besuchte die staatliche Grundschule, nicht Byron House, und kannte sich in Fußball und Boxen aus, Sportarten, für die sich meine Eltern nicht im Traum interessiert hätten.
Ich erinnere mich auch noch, wie ich meine erste Spielzeugeisenbahn bekam. Während des Krieges wurde kein Spielzeug hergestellt, zumindest nicht für den Binnenmarkt. Aber ich hatte eine Leidenschaft für Modelleisenbahnen entwickelt. Mein Vater versuchte, mir einen Holzzug zu basteln, aber damit war ich nicht zufrieden, denn ich wollte etwas, das sich in Bewegung setzte. Also kaufte mein Vater eine gebrauchte Eisenbahn zum Aufziehen, reparierte sie mit einem Lötkolben und schenkte sie mir zu Weihnachten, als ich fast drei war. Die Eisenbahn fuhr nicht besonders gut. Aber dann, unmittelbar nach dem Krieg, unternahm mein Vater eine Reise nach Amerika. Als er mit der «Queen Mary» zurückkehrte, brachte er meiner Mutter Nylonstrümpfe mit, die damals in England nicht zu bekommen waren. Für meine Schwester Mary hatte er eine Puppe, die die Augen schloß, wenn man sie hinlegte, und für mich einen amerikanischen Zug mit Cowcatcher und einem Gleis in Form einer Acht. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als ich die Schachtel öffnete.
Mit einer Eisenbahn zum Aufziehen ließ sich schon etwas anfangen, aber was ich mir wirklich wünschte, war eine elektrische. Stundenlang betrachtete ich die Auslage eines Modelleisenbahnklubs in Crouch End, in der Nähe von Highgate. Ich träumte von elektrischen Eisenbahnen. Eines Tages schließlich, als meine Eltern beide unterwegs waren, nutzte ich die Gelegenheit und hob von meinem Postbankkonto den bescheidenen Betrag ab, der sich dort – zusammengespart von Geldgeschenken zu besonderen Anlässen, etwa zur Taufe – angesammelt hatte. Davon kaufte ich mir eine elektrische Eisenbahn, die aber zu meiner großen Enttäuschung ständig stehenblieb. Heute wissen wir besser über unsere Rechte als Verbraucher Bescheid. Ich hätte die Eisenbahn zurückbringen und vom Geschäft oder vom Hersteller Ersatz verlangen müssen. Doch damals hielt man es für ein Privileg, etwas kaufen zu dürfen, und es war eben Schicksal, wenn es sich als mangelhaft erwies. Also ließ ich den Elektromotor der Lokomotive für teures Geld reparieren, und trotzdem hat er nie richtig funktioniert.
Als Jugendlicher baute ich dann Modellflugzeuge und -schiffe. Mit den Händen war ich nie sehr geschickt, aber ich tat mich mit meinem Schulkameraden John McClenahan zusammen, der ein guter Bastler war und dessen Vater sich im Haus eine Werkstatt eingerichtet hatte. Mein Ziel war es immer, Modelle zu bauen, die ich steuern konnte. Mir war es egal, wie sie aussahen. Ich glaube, der gleiche Wunsch trieb mich, eine Reihe sehr komplizierter Spiele mit einem anderen Schulkameraden, Roger Ferneyhough, zu erfinden. Da gab es ein Produktionsspiel mit Fabriken, die verschiedenfarbige Produkte herstellten, Straßen und Schienenstränge, auf denen sie befördert wurden, und einen Aktienmarkt. Es gab ein Kriegsspiel, das auf einem Brett mit viertausend Quadraten gespielt wurde, und sogar ein Ritterspiel, bei dem jeder Spieler eine ganze Dynastie mit eigenem Stammbaum repräsentierte. Ich glaube, diese Spiele entsprangen, genau wie die Eisenbahnen, Schiffe und Flugzeuge, meinem Drang herauszufinden, wie die Dinge funktionieren, und sie zu beherrschen. Seit ich mit meiner Promotion begann, konnte ich dieses Bedürfnis in der kosmologischen Forschung stillen. Wenn man weiß, wie das Universum funktioniert, beherrscht man es in gewisser Weise.
1950 wurde der Arbeitsplatz meines Vaters von Hampstead in der Nähe von Highgate in das neuerbaute National Institute for Medical Research in Mill Hill am Nordrand Londons verlegt. Statt von Highgate dorthin zu fahren, erschien es vernünftiger, aus London hinauszuziehen. Deshalb kauften meine Eltern ein Haus in St. Albans, einem Bischofssitz mit alter Kathedrale, ungefähr fünfzehn Kilometer nördlich von Mill Hill und dreißig Kilometer von London entfernt. Es war ein großes viktorianisches Haus mit einer gewissen Eleganz und ganz eigenem Charakter. Meine Eltern waren nicht sehr wohlhabend, als sie es kauften, und es mußte viel renoviert werden, bevor wir einziehen konnten. Danach weigerte sich mein Vater, ein sparsamer Yorkshireman, Geld für weitere Reparaturarbeiten am Haus auszugeben. Er tat sein Bestes, um es instand zu halten und zu streichen, aber es war groß und er nicht sehr geschickt in solchen Dingen. Doch das Haus war so solide gebaut, daß ihm die Vernachlässigung kaum schadete. 1985, als mein Vater schwer erkrankte (er starb 1986), verkauften es meine Eltern. Vor kurzem habe ich es wiedergesehen. Es sah nicht so aus, als seien in der Zwischenzeit viele Renovierungsarbeiten vorgenommen worden, aber es hatte sich kaum verändert.
Das Gebäude war ursprünglich für einen Haushalt mit Dienstboten bestimmt; deshalb gab es in der Anrichte eine Tafel, die anzeigte, in welchem Zimmer geläutet worden war. Natürlich hatten wir keine Dienstboten, aber mein erstes Zimmer war ein kleiner L-förmiger Raum, der einmal ein Mädchenzimmer gewesen sein muß. Ich hatte ihn mir auf Vorschlag meiner Cousine Sarah reserviert, die etwas älter war als ich und die ich sehr bewunderte. Sie meinte, dort könnten wir viel Spaß haben. Ein besonderer Vorzug des Zimmers war, daß man aus dem Fenster aufs Dach des Fahrradschuppens und von dort auf den Boden klettern konnte.
Sarah war die Tochter von Janet, der älteren Schwester meiner Mutter, einer Ärztin, die einen Psychoanalytiker geheiratet hatte. Sie lebten in einem ziemlich ähnlichen Haus in Harpenden, einem acht Kilometer nördlich von St. Albans gelegenen Dorf. Daß sie dort wohnten, war einer der Gründe, die uns bewogen hatten, nach St. Albans zu ziehen. Ich freute mich sehr, nun in der Nähe von Sarah zu sein, und bin häufig mit dem Bus nach Harpenden gefahren. In der Nähe von St. Albans befinden sich die Überreste der altrömischen Stadt Verulamium, der nach London wichtigsten römischen Siedlung in England. Im Mittelalter hatte St. Albans das reichste Kloster Englands. Es wurde um den Schrein des heiligen Alban erbaut, eines römischen Zenturios, der als erster Mensch in England wegen seines christlichen Glaubens hingerichtet worden war. Von dem Kloster sind nur die große, ziemlich häßliche Klosterkirche und das alte Klostertorgebäude erhalten. Dieses gehört heute zur St. Albans School, die ich später besuchte.
Im Vergleich zu Highgate oder Harpenden war St. Albans ein langweiliger, konservativer Ort. Freunde fanden meine Eltern dort kaum. Zum Teil war das ihre eigene Schuld, denn sie waren von Natur aus Eigenbrötler, vor allem mein Vater, aber es lag auch daran, daß wir von einer anderen Art Leuten umgeben waren. Von den Eltern meiner Schulkameraden in St. Albans war wohl schwerlich jemand als Intellektueller zu bezeichnen.
Während unsere Familie in Highgate als recht gewöhnlich angesehen worden war, galten wir in St. Albans als exzentrisch. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch meinen Vater, dem es vollkommen gleichgültig war, wie sein Verhalten auf andere wirkte, solange es ihm nur half, Geld zu sparen. Seine Familie war in seiner Jugend sehr arm gewesen, und das hatte ihn geprägt. Er konnte sich nicht dazu durchringen, Geld für die eigene Bequemlichkeit auszugeben, selbst als er es sich später hätte leisten können. Obwohl er schrecklich fror, weigerte er sich, eine Zentralheizung einbauen zu lassen. Statt dessen zog er sich mehrere Pullover und einen Morgenrock über seine normale Kleidung. Anderen Menschen gegenüber war er jedoch sehr großzügig.
In den fünfziger Jahren glaubte er, wir könnten uns kein neues Auto leisten; deshalb kaufte er sich ein Londoner Vorkriegstaxi und baute mit meiner Hilfe eine Wellblechbaracke, die er als Garage benutzte. Die Nachbarn waren schockiert, konnten aber nichts dagegen tun. Wie die meisten Jugendlichen hatte ich ein großes Konformitätsbedürfnis und fand das Verhalten meiner Eltern peinlich. Das hat sie aber nie gestört.
Als wir nach St. Albans zogen, wurde ich zunächst auf die High School for Girls geschickt, die ungeachtet ihres Namens Jungen im Alter bis zu zehn Jahren aufnahm. Doch nach einem halben Jahr begab sich mein Vater auf eine seiner fast jährlichen Afrikareisen, diesmal für einen längeren Zeitraum von vier Monaten. Um der Einsamkeit zu entgehen, nahm meine Mutter meine beiden Schwestern und mich und besuchte ihre Schulfreundin Beryl, die mit dem Dichter Robert Graves verheiratet war. Sie lebten in dem Dorf Deya auf der spanischen Insel Mallorca. Das war 1950, und der spanische Diktator Francisco Franco, im Krieg Verbündeter von Hitler und Mussolini, war noch immer an der Macht. (Das blieb er auch noch weitere zwanzig Jahre.) Trotzdem reiste meine Mutter, die vor dem Krieg der Young Communist League angehört hatte, mit ihren drei Kindern per Schiff und Bahn nach Mallorca. Wir mieteten uns ein Haus in Deya und verlebten eine wunderbare Zeit. Ich wurde zusammen mit Graves’ Sohn William von dessen Hauslehrer unterrichtet. Dieser war ein Schützling des Schriftstellers und mehr daran interessiert, ein Stück für die Edinburgh-Festspiele zu schreiben als uns zu unterrichten. Deshalb ließ er uns jeden Tag ein Kapitel aus der Bibel lesen und darüber einen Aufsatz schreiben. Damit wollte er uns die Schönheit der englischen Sprache vor Augen führen. Wir brachten die gesamte Schöpfungsgeschichte und einen Teil des Auszugs aus Ägypten hinter uns, bevor wir wieder abreisten. Zu den wichtigsten Dingen, die ich dort gelernt habe, gehörte, daß man einen Satz nicht mit «Und» beginnen soll. Ich wies darauf hin, daß die meisten Sätze in der Bibel mit «Und» begännen, und erfuhr, daß sich die englische Sprache seit den Zeiten von King James gewandelt habe. Warum man uns dann in der Bibel lesen lasse, wollte ich wissen. Aber das half uns nichts. Robert Graves schwärmte damals für die Symbolik und den Mystizismus der Bibel.
Als wir von Mallorca zurückkehrten, besuchte ich ein Jahr lang eine andere Schule und nahm dann an der sogenannten eleven-plus examination teil, einem staatlichen Intelligenztest, dem sich alle Kinder unterziehen mußten, die weiterführende Schulen besuchen wollten. Er ist später abgeschafft worden, vor allem weil zahlreiche Mittelschichtkinder durchfielen und dann keine Chance mehr hatten, einen Schulabschluß zu machen, der zum Studium berechtigte. Ich war in Tests und Prüfungen meist besser als in meinen Schulleistungen, deshalb bestand ich die Eleven-plus und bekam einen Platz an der St. Albans School.
Als ich dreizehn war, drängte mein Vater darauf, daß ich mich an der Westminster School bewarb, einer der angesehensten «Public Schools», also Privatschulen, Englands. Damals war das Schulsystem noch von einem rigiden Klassendenken geprägt. Mein Vater fühlte sich durch den Umstand, daß er keine der Oberschichtschulen hatte besuchen können und es ihm dadurch immer an Selbstsicherheit und Beziehungen gemangelt hatte, in seinem beruflichen Fortkommen behindert. Diese Erfahrung wollte er mir ersparen.
Meine Eltern waren nicht sehr wohlhabend, deshalb brauchte ich ein Stipendium. Doch zur Zeit der Stipendienprüfungen war ich krank, so daß ich nicht an die Westminster School kam. Statt dessen blieb ich an der St. Albans School, wo ich eine ebenso gute, wenn nicht sogar bessere Ausbildung erhielt, als sie mir die Westminster School hätte bieten können. Meines Wissens ist mir mein Mangel an gesellschaftlichem Ansehen nie zum Nachteil ausgelegt worden.
Das englische Schulsystem war damals streng hierarchisch gegliedert. Man unterschied nicht nur zwischen höheren und einfachen Schulen, sondern richtete an den höheren Schulen auch noch A-, B- und C-Kurse ein. Das war kein Problem für die Kinder im A-Kurs, wohl aber für die im B-Kurs und ganz besonders im C-Kurs, die man dadurch entmutigte. Auf Grund der Eleven-plus-Ergebnisse kam ich in den A-Kurs. Doch nach dem ersten Jahr wurden alle, die nicht zu den ersten zwanzig gehörten, dem B-Kurs zugeteilt. Das war ein schwerer Schlag für das Selbstbewußtsein der Betroffenen, von dem sich manche nie erholten. In den ersten beiden Trimestern an der St. Albans School wurde ich Vierundzwanzigster und Dreiundzwanzigster; im letzten Drittel des Jahres schaffte ich den achtzehnten Platz, so daß ich gerade noch einmal davonkam.
Ich bin nie über einen mittleren Platz in der Klasse hinausgekommen. (Es war eine sehr intelligente Klasse.) Meine Arbeiten machte ich sehr unordentlich, und mit meiner Handschrift brachte ich die Lehrer zur Verzweiflung. Doch meine Klassenkameraden gaben mir den Spitznamen «Einstein», also sahen sie offenbar irgendwo Anlaß zur Hoffnung. Als ich zwölf war, wettete einer meiner Freunde mit einem anderen, daß aus mir nie etwas werden würde. Ich weiß nicht, ob die Wette je entschieden wurde, und wenn, wer sie gewonnen hat.
Ich hatte sechs oder sieben gute Freunde, und mit den meisten von ihnen stehe ich noch heute in Verbindung. Wir führten lange Diskussionen und Streitgespräche über Gott und die Welt – von Radar bis Religion, von Parapsychologie bis Physik. Unter anderem unterhielten wir uns auch darüber, wie das Universum entstanden sein könnte und ob Gott zu seiner Erschaffung notwendig gewesen sei. Mir war zu Ohren gekommen, daß das Licht ferner Galaxien zum roten Ende des Spektrums hin verschoben wird und daß dies auf eine Expansion des Universums schließen lasse. (Eine Blauverschiebung würde bedeuten, daß es sich zusammenzieht.) Aber ich war mir sicher, es müsse irgendeinen anderen Grund für die Rotverschiebung geben. Vielleicht ermüdete das Licht auf dem Weg zu uns und wurde dadurch röter. Ein im wesentlichen statisches Weltall von ewiger Dauer erschien mir viel natürlicher. Erst nach zwei Jahren Promotionsforschung sah ich ein, daß ich unrecht gehabt hatte.
In den letzten beiden Schuljahren wollte ich mich auf Mathematik und Physik spezialisieren. Wir hatten einen sehr interessanten Mathematiklehrer, Mr. Tahta, und in der Schule war gerade ein spezieller Raum eingerichtet worden, der dem Mathematikkurs als Klassenzimmer dienen sollte. Aber mein Vater war entschieden dagegen. Nach seiner Ansicht gab es, vom Lehrberuf abgesehen, keine beruflichen Aussichten für Mathematiker. Er wollte, daß ich Medizin studiere, aber ich zeigte nicht das geringste Interesse an der Biologie, die mir zu deskriptiv und nicht fundamental genug erschien. Außerdem stand sie an der Schule nur in geringem Ansehen. Die intelligentesten Jungen wählten Mathematik und Physik, die weniger intelligenten Biologie. Da mein Vater wußte, daß ich nicht zur Biologie zu bewegen war, brachte er mich dazu, mich für Chemie zu entscheiden, mit Mathematik im Nebenfach. Heute bin ich Mathematikprofessor, habe aber, seit ich die St. Albans School mit siebzehn Jahren verließ, praktisch keine systematische mathematische Ausbildung mehr genossen. Alles, was ich heute an mathematischen Kenntnissen besitze, mußte ich mir selbst zusammensuchen. In Cambridge hatte ich Studenten im Grundstudium zu betreuen und war ihnen im Kurs immer nur um eine Woche voraus.
Das Forschungsgebiet meines Vaters waren Tropenkrankheiten, und oft durfte ich ihn in sein Labor in Mill Hill begleiten. Das hat mir viel Spaß gemacht, vor allem wenn ich durch die Mikroskope blicken durfte. Häufig ging ich mit ihm ins Insektenhaus, wo er Moskitos hielt, die mit Tropenkrankheiten infiziert waren. Das beunruhigte mich, weil immer einige Moskitos frei herumflogen. Er hat viel gearbeitet und ging in seiner Forschung auf. Allerdings war er immer ein wenig verbittert, denn er meinte, Leute, die ihm nicht das Wasser reichen könnten, seien ihm bei Beförderungen vorgezogen worden, weil sie die richtige Herkunft und die richtigen Verbindungen gehabt hatten. Vor solchen Leuten warnte er mich häufig, aber ich glaube, die Physik unterscheidet sich da ein bißchen von der Medizin. Es spielt keine Rolle, welche Schule man besucht hat oder wen man kennt – entscheidend ist, was man macht.