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Ein Reiskorn
»Warum bringst du dein Schwert mit?«, fragte Sensei Hosokawa barsch. Er war ein streng aussehender Samurai mit einem einschüchternden Blick und einem Bart, der wie ein Stachel geformt war.
Jack sah auf das Langschwert in seiner Hand hinunter. Die lackierte schwarze Scheide, in der die messerscharfe Klinge steckte, blitzte im Morgenlicht. Durch die unerwartet feindseligen Worte des Schwertlehrers aus der Fassung gebracht, strich er nervös mit dem Daumen über das goldene Phönix-Wappen, das in der Nähe des Griffs eingearbeitet war.
»Weil … weil wir jetzt Unterricht in kenjutsu haben, Sensei«, antwortete er schulterzuckend, weil ihm keine bessere Antwort einfiel.
»Haben die anderen Schüler ihre Schwerter dabei?«
Jack warf einen Blick auf die anderen Schüler, die entlang einer Wand des Butokuden knieten. Die Halle der Kriegstugenden, in der sie im Schwertkampf und im waffenlosen Kampf unterrichtet wurden, ähnelte einer riesigen Höhle. Hoch über den Köpfen der Samuraischüler schwebte die holzgetäfelte Decke, die auf gewaltigen Pfeilern aus dunkelbraunem Zypressenholz ruhte.
Jack fühlte sich wieder einmal daran erinnert, wie sehr er sich von den anderen Schülern unterschied. Obwohl noch keine vierzehn wie die meisten, war er trotzdem der Größte. Außerdem hatte er himmelblaue Augen und einen blonden Haarschopf, der wie eine Goldmünze aus dem einheitlichen Schwarz seiner Mitschüler herausstach. Für die Japaner mit ihrer olivenfarbenen Haut und den mandelförmigen Augen mochte er ein Samuraischüler sein, aber er blieb doch immer ein Fremder – ein Gaijin, wie seine Feinde ihn verächtlich nannten.
Er sah sich um. Kein einziger Schüler hatte ein richtiges Schwert dabei. Sie hielten alle nur den bokken, das hölzerne Übungsschwert.
»Nein, Sensei«, antwortete er verlegen.
Am Ende der Reihe grinste ein gut aussehender, doch herrisch wirkender Junge mit kahl rasiertem Schädel und schweren Augenlidern hämisch. Jack schenkte Kazuki keine Beachtung. Er wusste, dass sein Rivale sich über seine Demütigung vor der ganzen Klasse freute.
Er kam inzwischen mit den meisten japanischen Bräuchen zurecht, trug statt Hemd und Hose einen Kimono, verbeugte sich, sobald er jemandem begegnete, und entschuldigte sich bei jeder Gelegenheit. Trotzdem hatte er mit der strengen Disziplin des japanischen Lebens nach wie vor seine Schwierigkeiten.
Wegen seiner Albträume hatte er schlecht geschlafen und war am Morgen zu spät zum Frühstück gekommen. Er hatte deshalb bereits zwei Lehrer um Verzeihung bitten müssen. Wahrscheinlich musste er sich als Nächstes bei Sensei Hosokawa entschuldigen.
Er kannte ihn als gerechten, aber strengen Lehrer, der hohe Anforderungen stellte. Sensei Hosokawa erwartete von seinen Schülern, dass sie pünktlich kamen, ordentlich gekleidet waren und hart übten. Fehler ließ er ihnen nicht durchgehen.
Jetzt stand er in der Mitte der Übungsfläche der Halle, einem breiten, mit honigfarbenem Holz gepflasterten Rechteck, und sah Jack böse an. »Warum glaubst du dann, dass du im Unterschied zu den anderen ein Langschwert tragen solltest?«
Jack wusste, dass er diese Frage nur falsch beantworten konnte, egal was er sagte. Ein japanisches Sprichwort lautete: »Der vorstehende Nagel wird eingehämmert.« Jack begriff allmählich, dass in Japan zu leben bedeutete, sich den Regeln zu fügen. Kein anderer Schüler trug ein Schwert, Jack stand deshalb vor und musste eingehämmert werden.
Yamato, der neben ihm kniete, holte Luft, als wollte er ihn verteidigen, doch auf Sensei Hosokawas warnenden Blick hin überlegte er es sich anders.
Stille kehrte in der Halle ein und legte sich schwer auf die Schüler. Jack hörte das Blut in seinen Ohren sausen, während er angestrengt nach einer angemessenen Antwort suchte.
Die einzige Erklärung, die ihm einfiel, entsprach der Wahrheit. Masamoto hatte ihm eines seiner Schwertpaare geschenkt, um damit Jacks Beitrag zum Sieg der Schule im Taryu-Jiai zu belohnen und weil Jack Drachenauge mutig daran gehindert hatte, Daimyo Takatomi zu ermorden. Die beiden Schwerter symbolisierten die Macht des Samurai und Jack fand, er habe sich auch das Recht verdient, sie zu tragen. Deshalb hatte er sie in Sensei Hosokawas Unterricht mitgebracht.
Er holte tief Luft. »Ich dachte, weil ich im Taryu-Jiai gewonnen habe, hätte ich auch das Recht, die Schwerter zu tragen.«
»Das Recht? Der Schwertkampf ist kein Spiel, Jack-kun. Der Sieg in einem kleinen Wettkampf macht noch keinen fertigen Schwertkämpfer aus dir.«
Jack schwieg unter Sensei Hosokawas zornigem Blick.
»Ich sage es dir, wenn du dein Schwert in den Unterricht mitbringen kannst. Bis dahin wirst du nur das Übungsschwert benützen, verstanden, Jack-kun?«
Jack nickte gehorsam. »Hai, Sensei. Ich hatte nur gehofft, ich könnte einmal mit einem richtigen Schwert kämpfen.«
»Mit einem richtigen?« Der Sensei schnaubte. »Glaubst du wirklich, dass du schon so weit bist?«
Jack zuckte unsicher mit den Schultern. »Schon. Masamoto-sama hat mir seine Schwerter geschenkt, er glaubt es also.«
»Noch bist du kein Schüler von Masamoto-sama«, sagte Sensei Hosokawa und umklammerte den Griff seines Schwertes, bis die Knöchel seiner Hand weiß hervortraten. »Du hältst die Macht über Leben und Tod in den Händen, Jack-kun. Kannst du damit verantwortlich umgehen?«
Bevor Jack antworten konnte, winkte der Sensei ihn zu sich.
»Komm her! Du auch, Yamato-kun.«
Jack trat aus der Reihe und stellte sich vor Sensei Hosokawa, Yamato folgte ihm erschrocken.
»Seiza«, befahl der Sensei. Die beiden knieten sich hin. »Du nicht, Jack-kun. Du wirst jetzt lernen, was es heißt, ein Schwert zu tragen. Zieh dein Schwert.«
Jack zog sein Schwert aus der Scheide. Die Klinge schimmerte. Sie war so scharf, dass sie sogar Luft zu zerschneiden schien.
Da er nicht wusste, worauf Sensei Hosokawa hinauswollte, ging er in die Grundstellung. Er hielt das Schwert mit beiden Händen und ausgestreckten Armen vor sich. Die Füße hatte er weit auseinander gestellt, die Schwertspitze befand sich auf der Höhe der Kehle des gedachten Gegners.
Das Schwert lag ungewohnt schwer in seinen Händen. In dem Jahr, in dem sie den Schwertkampf schon übten, war das Übungsschwert zu einer Verlängerung seines Arms geworden. Er wusste genau, wie viel es wog, wie es in der Hand lag und wie es durch die Luft schnitt.
Dieses Schwert dagegen fühlte sich anders an, gewichtiger und weniger harmlos. Es hatte Menschen getötet, sie in zwei Teile geschnitten. Jack spürte seine blutige Geschichte an den Händen.
Allmählich bereute er, dass er es mitgebracht hatte. Er hatte voreilig gehandelt.
Das Schwert in seinen Händen zitterte sichtlich. Der Sensei bemerkte es mit grimmiger Befriedigung. Er nahm ein einzelnes Reiskorn aus seinem inro, dem kleinen hölzernen Kästchen, das er an seinem obi trug, und legte es Yamato auf den Kopf.
»Spalte das in zwei Hälften«, befahl er.
»Wa…was?«, stammelte Yamato mit entsetzt aufgerissenen Augen.
»Doch nicht auf Yamatos Kopf«, protestierte Jack.
»Los!«, befahl Hosokawa und zeigte auf das winzige Korn.
»Aber … aber … ich kann doch nicht …«
»Du glaubst, du könntest verantwortlich mit einem Schwert umgehen – jetzt hast du die Gelegenheit, es zu beweisen.«
»Und wenn ich Yamato verletze?«, rief Jack.
»Genau das heißt es, ein Schwert zu tragen. Ein Schwert verletzt. Und tötet. Spalte das Korn.«
»Ich kann nicht.« Jack senkte das Schwert.
»Du kannst das nicht?«, rief Hosokawa. »Ich als dein Sensei befehle dir, das Reiskorn auf Yamatos Kopf mit einem Schwerthieb zu spalten.«
Er packte Jack an den Händen und zog das Schwert über Yamatos ungeschützten Kopf. Dort lag das winzige Reiskorn, ein kleiner weißer Fleck inmitten des schwarzen Haarschopfs.
Jack wusste, dass die Klinge durch Yamatos Kopf schneiden würde wie durch eine Wassermelone. Seine Arme zitterten unbeherrscht. Yamato sah ihn verzweifelt und kreidebleich im Gesicht an.
»Los!«, befahl Hosokawa. Er hob Jacks Arme, um ihn zum Zuschlagen zu zwingen.
Die anderen Schüler verfolgten das Geschehen schreckensstarr und zugleich fasziniert.
Akiko war die Angst deutlich anzumerken und ihre beste Freundin, Kiku, ein zierliches Mädchen mit schwarzen, schulterlangen Haaren und haselnussbraunen Augen, schien den Tränen nahe.
Kazuki dagegen konnte seine Schadenfreude nicht verbergen. Er stieß seinen Freund Nobu an, einen Jungen mit der Leibesfülle eines kleinen Sumoringers, und flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber so laut, dass Jack es hören konnte.
»Ich wette, der Gaijin haut Yamato das Ohr ab!«
»Oder vielleicht die Nase!«, kicherte Nobu. Auf seinem feisten Gesicht breitete sich ein hämisches Grinsen aus.
Zitternd hing das Schwert in der Luft. Jack konnte es kaum noch halten.
»Ich … ich … ich kann nicht«, stotterte er. »Ich würde ihn töten.« Er gab auf und senkte das Schwert.
»Dann tue ich es für dich«, sagte Sensei Hosokawa.
Yamato, der schon aufgeatmet hatte, erschrak.
Blitzschnell zog der Sensei sein Schwert und ließ es auf Yamatos Kopf niederfahren. Die Klinge verschwand in den Haaren und Kiku schrie auf. Ihr Schrei hallte durch den Butokuden.
Yamato fiel nach vorn und schlug mit dem Kopf auf.
Das Reiskorn löste sich aus seinen Haaren und fiel in zwei Hälften auf den Boden.
Yamato verharrte in seiner vornübergebeugten Haltung. Er zitterte unkontrolliert und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Ansonsten war er vollkommen unverletzt. Das Schwert hatte seine Kopfhaut nicht einmal geritzt.
Jack stand bewegungslos da, überwältigt von Sensei Hosokawas Geschick. Was für ein Narr war er gewesen, das Urteil des Lehrers infrage zu stellen! Jetzt wusste er, was für eine Verantwortung der Umgang mit einem Schwert mit sich brachte. Die Entscheidung über Leben und Tod lag buchstäblich in seinen Händen. Ein Schwert war kein Spielzeug.
Sensei Hosokawa musterte ihn streng. »Solange du das Schwert nicht vollkommen beherrschst«, sagte er und steckte sein Schwert wieder ein, »bist du nicht befähigt, ein richtiges Schwert zu tragen. Für den Weg des Schwertes bist du noch nicht bereit.«