Daniel Hope

mit Susanne Schädlich

Familienstücke

Eine Spurensuche

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorspiel

Der Ire

Treffpunkt Johannesburg

Die Fabrik

Zwischenspiel 1

Der Generalkonsul

«Der Irrtum der Stammesrolle»

«Glückes genug!»

Zwischenspiel 2

Die Private Waldschule Kaliski

Es lag in der Luft

«Der alte Fiedler»

Zwischenspiel 3

Lauter Legenden

Die Villa

Finale

Quellen

Discographie

Personenregister

Danksagung

 

Für Jasper

VORSPIEL

«Verschwinden Sie!» Zwei Worte, die mir nicht aus dem Sinn gehen, seit ich das letzte Mal in Berlin war. Ich weiß noch, wie erschreckt ich war – und zornig. Seither sind sie wie ein Stachel in meiner Seele, eine Mahnung, zurückzukommen. Auch darum sitze ich jetzt in diesem Flugzeug.

In etwa zwanzig Minuten wird die Maschine in Tegel landen. Scheinbar ruhig sehe ich aus dem Fenster neben mir in die Nacht hinaus, die sternenklar ist. Unter uns liegen die ersten Ortschaften vor Berlin, ich kann die Lichter erkennen. Als ob sich der Himmel auf der Erde spiegelt.

Je näher wir dem Flughafen kommen, desto unruhiger werde ich. Ich denke an die morgigen Proben zu dem Schumann-Violinkonzert, das ich bald im Konzerthaus spielen werde – ein selten gespieltes und kompliziertes Stück. Doch nicht deshalb werde ich unruhig. Immer wenn ich nach Berlin komme, habe ich dieses sonderbare Gefühl. Schon als Kind, als ich das erste Mal in die Stadt kam, wusste ich es plötzlich: Hier sind meine Wurzeln.

Ich werde unruhig, weil ich dieses Mal nicht nur herkomme. Diesmal komme ich zurück. Darin liegt für mich ein wesentlicher Unterschied, denn im Zurückkommen liegt eine Absicht. Die Absicht, meiner Geschichte endlich auf den Grund zu gehen. Und der Sache mit dem Haus.

Ich ziehe das Foto aus der Tasche, das ich mir noch in Amsterdam eingesteckt habe, und betrachte es. Normalerweise steht es neben meinem Schreibtisch auf der Fensterbank. Ich weiß nicht, wie oft ich es mir schon angesehen und wie oft ich die Zeile gelesen habe, die jemand, vielleicht mein deutscher Urgroßvater Wilhelm Valentin selber, in Sütterlinschrift daraufgeschrieben hat: Zur Erinnerung an den 11. Mai 1928. Es muss ein schöner Tag gewesen sein, ein sonniger und warmer Tag, das lassen die Schatten auf dem Rasen vor dem Haus vermuten.

Auch als ich das letzte Mal in Berlin war, hatte ich dieses Foto dabei. Ich wollte das Haus meiner Urgroßeltern Wilhelm und Margarete Valentin einmal mit eigenen Augen sehen und hatte die U-Bahn genommen. Plötzlich hörte ich die Klänge einer Violine im Waggon. Ich drehte mich um und sah einen Mann durch den Gang gehen, der dabei das Lied «Otschi Tschornyje» spielte. Es ist ein russisches Zigeunerlied, das mich an meine Kindheit erinnerte, weil es bei uns zu Hause immer wieder gesungen wurde. Ein zweiter Mann folgte ihm mit einem Hut in der Hand. Vor mir blieb der Geigenspieler stehen, vielleicht, weil ich ihn anlächelte. Er nickte mir zu, spielte jedoch weiter. Ich nickte zurück, dann setzte er seinen Weg fort. In den Hut des Mannes, der ihm folgte, legte ich ein paar Münzen, der Mann bedankte sich auf Russisch.

In Dahlem-Dorf war ich ausgestiegen und glaubte kaum, noch in Berlin zu sein. Alles wirkte auf mich wie aus einem anderen Jahrhundert, als ich vom engen Bahnsteig die schmalen Treppen zur Vorhalle hinaufstieg; die gedrechselten Holzgeländer, die zwei Schwingtüren, die bemalte Holzdecke unter dem reetgedeckten Dach.

Vor der prachtvollen Villa zog ich das Foto aus der Tasche und hielt es in Augenhöhe. Es hat sich nicht viel verändert, dachte ich. Noch immer waren da die Terrasse, der Garten, der Rasen, auf den die Schatten der Bäume fielen, die heimisch anmutende Stille. Plötzlich wurde die Scharzweißfotografie lebendig. Mit einem Mal konnte ich meinen Urgroßvater Wilhelm sehen, wie er auf der Terrasse saß und eine Zigarre rauchte und hinunterschaute in den Garten, in dem seine Kinder, meine Großmutter und meine Großonkel, spielten. Meine Urgroßmutter Margarete stand neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Es war ein friedliches Bild.

Ich nahm gerade meine Kamera, als sich ein Fenster öffnete. Eine ältere Dame blickte heraus, und bevor ich auch nur freundlich lächeln konnte, schrie sie schon: «Was wollen Sie hier?»

Ich versuchte sie zu beruhigen, ihr zu erklären, dass ich nichts weiter wollte als ein Foto machen von dem Haus meiner Urgroßmutter.

«Urgroßmutter? Sie meinen die Familie Valentin?», rief die Dame irritiert.

«Ja», sagte ich hoffnungsfroh. Vielleicht würde sie jetzt freundlicher werden. Mir auf die vielen Fragen antworten können. Überhaupt war ich überrascht, dass sie, nach so langer Zeit, den Namen kannte.

«Kennen Sie die Familie?», wagte ich also zu fragen.

Jetzt kreischte sie fast. «Nein, aber die Geschichte des Hauses kenne ich.»

Was wollte sie damit sagen? Ich hörte wieder die Stille, doch diesmal wirkte sie nicht friedlich.

«Und jetzt verschwinden Sie!» Dann schlug sie das Fenster zu.

Ich starrte hoch zu dem Fenster. In der Hand hielt ich noch immer die Kamera. Eine Weile, es schien eine Ewigkeit zu sein, stand ich bloß da, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Dann machte ich doch ein Foto und fühlte mich dabei wie ein Dieb.

 

Das Flugzeug setzt zur Landung an, und ich stecke das Foto wieder ein. Ich klopfe auf die Jacketttasche, so als wolle ich mich vergewissern, dass es noch da ist. Eins weiß ich inzwischen: Es geht mir nicht nur um das Haus, und es ist auch nicht irgendeine Geschichte. Es ist die Geschichte des 20. Jahrhunderts, und es ist meine Geschichte. Ich will endlich wissen, wo ich herkomme, wer ich bin. Diese Fragen stelle ich mir, seit ich weiß, dass meine deutschen Urgroßeltern mütterlicherseits, die Valentins und auch die Kleins, in Berlin lebten, Deutsch sprachen, sich als Deutsche fühlten. Ich könnte sagen, ich bin Südafrikaner, denn in Südafrika bin ich geboren. Ich könnte natürlich auch sagen, ich bin Engländer, denn in England verbrachte ich meine Kindheit und Jugend, und Englisch ist meine Muttersprache. Oder möglicherweise doch eher Ire, denn mein Urgroßvater väterlicherseits kam aus Irland, und ich habe einen irischen Reisepass. Ich könnte mich auf eine Antwort beschränken, aber das genügt mir nicht. Denn es verbirgt sich mehr dahinter. Es geht um das, was war, um das, was ist, um das, wie es hätte sein können, wenn das, was war, anders verlaufen wäre. Wenn zum Beispiel den Kleins und den Valentins nicht gesagt worden wäre: «Verschwinden Sie.» Wenn sie nicht gezwungen worden wären, Deutschland zu verlassen. Es geht auch um das Verschwinden im weitesten Sinn. Was bleibt, wenn man gehen muss, was wird erinnert, wenn man anderswo ist, was wird überliefert, was verschwiegen? Was macht es mit einem, wenn einem plötzlich gesagt wird, du darfst nicht mehr sein, wer du sein willst, nicht mehr das tun, was du tust?

Ich habe alte Briefe gefunden und Unterlagen, die, wenn man sie durchliest, Geschichten erzählen. Aber man muss zwischen den Zeilen lesen, und natürlich frage ich mich, wie viel mehr hätte ich erfahren können, hätte ich eher von allem gewusst? Das treibt mich um. Ich fing an, Verwandte auszufragen und alte Freunde der Familie. Einiges konnte ich erfahren, aber eben doch nicht alles. Weil über vieles nicht gesprochen wurde und nach all der Zeit in der Erinnerung vergraben ist. Nicht, weil man etwa dessen überdrüssig war, sondern weil man über das Unbegreifliche nicht reden kann. Auch weil man durch das Sprechen die Geister der Vergangenheit wachruft. Sie sollten in der Vergangenheit ruhen, irgendwo anders.

 

Mit meinem Handgepäck, einer Geige – einer Januarius Gagliano von 1769 –, begebe ich mich zum Kofferband und muss nicht lange auf mein Gepäck warten. Am Zoll vorbei gehe ich durch die Abfertigungshalle, steuere direkt auf den Taxistand zu und fahre in mein Hotel.

Ab jetzt lasse ich mir die Geister der Vergangenheit nicht mehr vorenthalten, sie sollen mir erzählen, woher ich komme, wer ich bin.

DER IRE

Anfangen will ich bei meinem irischen Urgroßvater Daniel Edward McKenna.

Kurz vor Ausbruch des zweiten Burenkrieges 1899 sandte der Oberbefehlshaber der britischen Armee Lord Wolseley den Obristen Robert Baden-Powell zusammen mit einer Handvoll Offiziere in die Kap-Region nach Südafrika, um ein Regiment aufzustellen und die Mafeking-Provinz zu schützen. Am 12. Oktober 1899 brachen die Kampfhandlungen aus. Unter den Generälen Jan Christiaan Smuts, Louis Botha und James Barry Munnick Hertzog marschierten die Buren in die Kapkolonie und Natal ein und belagerten die britischen Garnisonen Ladysmith, Kimberley und Mafeking. Baden-Powell stand mit seinem Regiment in Mafeking. Um seine wenigen Soldaten zu entlasten, die mit der Verteidigung der belagerten Stadt beschäftigt waren, stellte der Obrist ein Korps von 11- bis 16-jährigen Jungen zusammen, die als Boten, Signalgeber und Sanitäter dienten – einer dieser Jungen war Daniel McKenna, mein irischer Urgroßvater, nach dem ich benannt wurde. Gegen eine Übermacht von 9000 Buren gelang es Baden-Powell schließlich mit nur knapp 1000 Mann und viel List, der Belagerung, die 217 Tage dauerte, standzuhalten und die Stadt zu verteidigen, bis 60 000 Mann britische Verstärkung in Südafrika eintrafen. Die belagerten Städte wurden freigekämpft und die Buren bei Paardeberg, Diamond Hill und Belfast geschlagen. Baden-Powell wurde nach der Befreiung von Mafeking 1900 als Held Englands gefeiert und zum General befördert. Später gründete er die «Boyscouts».

Mit gerade 17 Jahren, so hatte ich von meinem Vater erfahren, hatte Daniel McKenna sich nach Südafrika eingeschifft, arm, mittellos und hungrig, von seiner Mutter in die Welt geschickt, um für sich ein besseres Los zu finden, als in Irland Tag für Tag bei Schwarztee und Schwarzbrot zu verhungern. Zurück ließ er drei Brüder und vier Schwestern und die Mutter Margaret. Sein Vater, Constable James McKenna aus Waterford, dem die Hand lockersaß, wenn er, was nicht selten vorkam, wieder einmal zu viel getrunken hatte, war ein Jahr zuvor an den Folgen seines Alkoholismus gestorben. Für Daniel war es kein großer Verlust, denn er hatte seinen Vater alles andere als lieben gelernt. Eines Sonntags zum Beispiel, er war von der Kirche auf dem Weg nach Hause, hörte er jemanden um Hilfe rufen. Die Schreie kamen vom Fluss her, in der Nähe des Hauses der Familie. Als Daniel in die Richtung rannte, aus der die Hilferufe kamen, sah er einen Mann, der dem Ertrinken nahe war. Ohne nachzudenken, sprang der Junge in seinem einzigen Anzug in den Fluss und rettete dem Mann das Leben. Als er zu Hause ankam, erwartete ihn kein Lob oder Stolz des Vaters, sondern eine Tracht Prügel, weil der Anzug verdorben war und weil der Constable seinem Sohn die Geschichte nicht glauben wollte. Einige Monate später kam ein Brief, in dem stand, dass mein Urgroßvater für seine heldenhafte Tat vom König eine Medaille, das Georgskreuz, erhalte. Es gab eine Feier im Rathaus von Cork in Irland. Alle fuhren hin. Und da saß der Vater meines Urgroßvaters, ein breites, leicht alkoholisiertes Lächeln im Gesicht, sodass man hätte meinen können, die Ehrung gälte ihm.

Der Vater war tot, die Familie war arm, die sechs Geschwister, bis auf den älteren Bruder Frank, der ebenfalls zur Polizei gegangen war und später von der Sinn Féin ermordet wurde, zu jung, um zu arbeiten. Ein Esser weniger, das würde helfen, sagte sich die Mutter und sagte es ihrem zweitältesten Sohn.

«Wenn einer es schafft aus der Familie, dann du, Daniel. Auch wenn man das Schicksal herausfordert», und sie muss sich bekreuzigt haben.

Daniel ging, es gab keine Wahl. Arme Leute haben keine Wahl. Irgendwie schlug er sich nach England durch und schaffte es, weil er log, auf ein Schiff – das erstbeste, egal wohin es fuhr. 18 sei er, und so wurde er Soldat. Der Sold reichte für die Überfahrt und Verpflegung, er bekam eine Uniform und fühlte sich wie ein Mann.

Das Schiff fuhr nach Südafrika und mit ihm Baden-Powell und eine Handvoll Offiziere. Mein Urgroßvater reiste im Zwischendeck, die Überfahrt dauerte lange, oft drückte er sich an Deck herum, in der Nähe der Männer in Uniform, wenn sie in Gespräche vertieft an der frischen Luft spazierten. In Afrika fand man heraus, dass Daniel McKenna noch lange kein Mann war, und so kam er nicht an die Front, sondern in das Kadettenkorps. Fast drei Jahre lang war mein Urgroßvater Bote oder Signalgeber, oder er passte auf Pferde auf.

Als der Krieg 1902 endete, war Daniel McKenna ein Mann. Er ging nach Ermelo, wo er sich bei der British South African Police bewarb. Er war 20 Jahre alt und durfte in Südafrika bleiben. Wie lange er bei der Polizei blieb, ist nicht bekannt, doch nach allem, was ich über meinen Urgroßvater erfahren habe, kann es ihn nicht lange dort gehalten haben. Schon allein deshalb, weil er auf keinen Fall in die Fußstapfen seines Vaters hätte treten wollen. Doch was sollte er tun und wo? Während seines dreijährigen Armeedienstes hatte er seine Liebe zu Pferden entdeckt. Immer wieder ging er zu Pferderennen, und immer wieder fuhr er mit der Bahn, wenn überhaupt eine fuhr, in die umliegenden Städte durch die endlose, unberührte Savannenlandschaft.

In einem Nest namens Balfour, nur 50 Meilen von Johannesburg entfernt, war ihm ein Hotel aufgefallen, das zum Verkauf stand. Ihm gefiel der Ort. Und ihm gefiel, dass das Hotel außerhalb von Johannesburg lag, abseits von der turbulenten Goldgräberstadt voller Minenarbeiter und Glücksritter. McKenna zog es aufs Land, und so setzte er sich eines Tages auf die gegenüberliegende Straßenseite, zählte, wie viele Menschen in der Hotelbar ein und aus gingen, und kalkulierte den Umsatz, der sich machen ließe. Doch wie sollte er einen Kauf bewerkstelligen? Das Hotel war zwar nicht teuer, aber «peanuts» waren es auch nicht. Dass er ausgerechnet dem Erdnussverkäufer von der Rennbahn sein Glück verdanken würde, konnte er an jenem Tag nicht ahnen. Aber so war es. Daniel McKenna, der jedes Mal, wenn er zur Rennbahn ging, Erdnüsse kaufte, hatte sich mit dem Verkäufer angefreundet. Der gab meinem Urgroßvater oft Tipps, auf welches Pferd er setzen sollte. Und an einem sonnigen Sonntag setzte er auf das, welches ihm der Mann empfohlen hatte, und gewann.

«Meine Hosentaschen waren voller Banknoten», habe er immer gesagt, erinnert sich meine 87-jährige Großtante Dee, seine Tochter. «Danach», so habe er weitererzählt, «begoss ich mein Glück in einer Bar und ging ins Theater – Loge. Ich konnte es mir leisten. Ich war so betrunken, dass ich herausgefallen bin.»

Am nächsten Tag fuhr er nach Balfour und kaufte das Hotel.

Fast alles, was ich über meinen Urgroßvater weiß, habe ich von Tante Dee erfahren. Als ich sie in Südafrika besuchte, saß mir eine Dame gegenüber, die vor Leben nur so sprühte. Sie zündete sich eine Zigarette an, bestellte sich einen Whiskey, lachte und begann zu erzählen. Genau so, dachte ich, muss mein Urgroßvater Daniel McKenna gewesen sein.

«Dad mochte es eigentlich nicht, dass wir als junge Frauen rauchten. Im Haus schon gar nicht. Also machten wir es heimlich. Eines Tages kam ich nach Hause, und auf meinem Bett lag eine Schachtel Zigaretten. Er hatte sie dort hingelegt. So war er.»

Bis er heiratete, betrieb er das Hotel alleine. Aber in Durban hatte Daniel McKenna sich in die zehn Jahre jüngere Mabel Brokensha verliebt, seine «liebste Maryann», wie er sie zeitlebens nannte, weil er den Namen Mabel nicht mochte. Mabel Brokenshas Eltern waren aus dem englischen Cornwall nach Südafrika gekommen und hatten sich in Heidelberg, einem Städtchen mit einem deutschen Namen, niedergelassen, wo Mabels Vater als Chemiker arbeitete. Früh merkten ihre Eltern, dass das Kind sehr musikalisch war, und ließen es am Klavier unterrichten. Als Mabel auf eine höhere Schule in Durban ging, gab sie Klavierunterricht und verdiente auf diese Weise ihr eigenes Geld. Daniel McKenna liebte ihre Unabhängigkeit, ihre Liebe zur Musik, er wollte sie heiraten. Mabel liebte seinen unbändigen Optimismus und seinen Humor, sie wollte ihn heiraten, diesen Mann mit dem Schnurrbart, der immer im Anzug ging, immer mit Hut und Stock. Als er um ihre Hand anhielt, hatte er sich seinen weißen Anzug angezogen und war auf einem schwarzen Pferd zur Farm ihrer Eltern geritten, wo sie wohnte, wenn sie nicht in Durban war. Sie heirateten, und Mabel, seine Maryann, ging mit ihrem Mann nach Balfour. Balfour – die kleine Stadt mit einem Gemüseladen, einem Schneider, einem Lebensmittelladen, zwei Stoffläden, zwei Banken und einer Post.

«Das Unterrichten gab sie auf, aber sie war nicht unglücklich darüber», erinnerte sich meine Großtante Dee. «Sie spielte weiter Klavier, auch bei uns im Haus. Es wurde auch viel bei uns gesungen, Dad liebte es, aus voller Brust sein Lieblingslied zu schmettern, ‹Just a song at twilight›. Jeden Sonntag gingen wir zur Messe in die Kirche. Und natürlich zu Weihnachten und zu anderen Festen. Dann spielte meine Mutter Orgel, und wir mussten singen. Einmal hatte mein kleiner Bruder sein Gebetbuch vergessen. Man gab ihm ein kleines schwarzes Buch, das aussah wie ein Gebetbuch. Er setzte die alte Brille meines Vaters auf, die hatte keine Gläser – mein Vater hatte sie ihm einmal zum Spielen geschenkt –, hielt das Buch hoch, und jeder konnte lesen, was die McKennas zum Fest aßen. Es war das Haushaltsbuch.»

Mabels und Daniels Hotel, das aus mehreren kleineren Häusern bestand, war an der Station Street. Immerhin hatte Balfour eine Eisenbahnstation, der Zug nach Johannesburg kam durch und hielt sogar gelegentlich. Aber Daniel McKenna hatte Großes mit Balfour vor. Mit seinem Pioniergeist und dem unbändigen irischen Temperament wollte er eine lebendige Stadt aus dem verschlafenen Nest machen, er wollte, dass jeder Zug, der durch Balfour fuhr, auch in Balfour hielt.

In Balfour kamen auch die Kinder zur Welt. 1918 Töchterchen Kathleen Mary, Kay genannt, meine zukünftige Großmutter, zwei Jahre später ihre Schwester Delsie Elvira – Großtante Dee –, 1922 Michael James, vier Jahre danach Daniel Patrick und 1932 noch ein Knabe, Donovan. Für jedes Kind pflanzte Daniel einen Baum neben dem Haus des Hotels, in dem sie wohnten. Zwei für die Töchter auf der einen Seite und drei für die Söhne auf der anderen. Das Haus war nicht groß, es gab ein Wohn-, drei Schlaf-, ein Bade- und ein Esszimmer und draußen eine Veranda, die Daniel angebaut hatte. Das Leben spielte sich sowieso meistens draußen ab. Für die Farm, die Daniel McKenna betrieb, hatte er zwar einen Manager eingestellt, aber trotzdem mussten alle anpacken.

«Wir hatten Kühe, Hühner, wir mussten die Felder wässern, wir lebten von dem, was wir ernteten, Brot buk meine Mutter. Das Gemüse säten wir, jeder hatte ein Beet, das er pflegen musste.» Daniel selbst scheute keine Arbeit. Immer wieder startete er neue Projekte, er sprühte vor Energie. Er wollte es zu etwas bringen in diesem Land. Er besaß sogar ein paar Läden, war so etwas wie ein Gemischtwarenhändler, verkaufte Versicherungspolicen, Farmgeräte und sogar Särge.

Daniel McKenna war ein Mann, der auffiel, erfolgreich, lebensfroh, manchmal ein Spieler, und als er eine Familie gründete, konnte man ihn wohlhabend nennen. Aus eigener Kraft hatte er es zu dem gebracht, was er war, aber er blieb der, der er war. Er liebte das Leben, die Menschen, seine Familie. Sooft es seine Arbeit zuließ, verbrachte er Zeit mit seinen Kindern. Er begleitete sie zur Schule, holte sie ab. Er ging mit ihnen wandern und schwimmen, er trieb mit ihnen Sport. «Manchmal abends kam er und sagte zu uns Kindern, zieht eure Mäntel an, und dann marschierten wir meilenweit durch die Landschaft. Es machte unglaublichen Spaß. Und immer hatte er seinen Gehstock dabei.» Natürlich liebte er nach wie vor die Pferderennen. Er selber hatte sich ein Rennpferd zugelegt, mit dem er nicht selten durch die Straßen von Balfour galoppierte. Er trainierte das Pferd sogar für das große Rennen in Durban. «Als es endlich so weit war, fuhren wir natürlich alle mit. Der Startschuss fiel, und wir konnten es nicht glauben, Dads Pferd führte. Der absolute Außenseiter. Die Menge brach in Begeisterungsstürme aus. Doch plötzlich blieb das Pferd einfach stehen, es rührte sich nicht mehr vom Fleck. Es war den Lärm nicht gewöhnt und vor Angst wie versteinert.»

 

Mabel und Daniel schienen sich zu ergänzen, sie arbeiteten zusammen, und sie waren glücklich miteinander. Seine «geliebte Maryann» führte den Haushalt und arbeitete im Restaurant des Hotels, in dem auch die Kinder, als sie alt genug waren, mithelfen mussten.

«Wir lernten schon sehr früh kochen. Wenn mal eine größere Feier im Grange Hotel war, halfen Kay und ich unserer Mutter in der Küche bei den Snacks. Es gab zum Beispiel gefüllte Eier, Huhn, Tomaten mit verschiedenen Saucen und Füllungen, in Weißbrot eingerollten Spargel, Schinkenscheiben. Meine Brüder schenkten die Gläser ein, jede Menge Whiskey, Gin, Brandy und so weiter. Da sie noch nicht volljährig waren, musste das hinter den Kulissen geschehen. Die Kellner, es waren Schwarze, brachten die Drinks dann an die Tische.»

Daniel kümmerte sich um seine Geschäfte, die Farm und das Wohl der Stadt Balfour und seiner Bewohner, zusammen sorgten sie für das Wohl ihrer Kinder. Meine Großtante Dee sagte, dass er ein wohltätiger Mann war. Er kannte keinen Geiz und teilte das, was er sich erarbeitet hatte, mit anderen. Doch große Sprünge konnte die Familie nicht machen. Nur selten fuhr man in «die große Stadt» Johannesburg. Die Reise von 50 Meilen dauerte damals drei Stunden. Zu Weihnachten aber machte sich die ganze Familie auf. Unterwegs wurde gehalten und unter einem Baum gefrühstückt. In der Stadt ging man einkaufen und dann in einem Restaurant Mittag essen.

«Das Weihnachtsessen war immer in Balfour. Die ganze Familie war da. Onkel, Tanten, Großeltern und wir. Vater lud auch immer alle Landstreicher aus der Gegend ein. Nach ein paar Jahren kamen sie von selber, es hatte sich herumgesprochen und war immer ein Höhepunkt des Jahres. Auf der Veranda war eine Tafel für sie gedeckt, und sie konnten sich satt essen. Jake, ein Zulu, den Mutter zu uns genommen hatte, als er 18 Jahre war, und der bei uns blieb und von Mutter das Kochen lernte, bereitete Jahr für Jahr den Truthahn zu, irgendjemand aus der Familie machte Eiscreme, Mutter machte Pudding.» Jake heiratete später Anna, eine Farmarbeiterin der McKennas, und die beiden wohnten dann in einem eigenen Zuhause weiter weg. Darum kaufte Daniel McKenna Jake ein Fahrrad. Am Heiligabend fuhr die Familie zu Jake, seiner Frau Anna und deren Kindern.

«Macht mir keine unnützen Geschenke», pflegte der Ire zu seinen Kindern zu sagen. «Jeder von euch gibt eines seiner Lieblingsspielzeuge den Kindern von Jake.» Man übergab die Geschenke, und dann gab es Tee und Kuchen.

Die McKennas hatten offenbar etliche Bedienstete oder Arbeiter, die meisten waren Schwarze. Doch Daniel McKenna und seine Frau spielten sich nicht als Herren und Gebieter auf, zu sehr war besonders er im Einfachen, Bodenständigen verwurzelt. Der Mann, der in Irland kennengelernt hatte, was es hieß, unterdrückt zu werden und arm zu sein, war politisch liberal und an allem sehr interessiert, er mochte die verschiedenen Kulturen, er mochte die Menschen und war fasziniert von ihnen. In einer immer rigider werdenden afrikanischen Gesellschaft bewahrte er seine offene Gesinnung und gab diese Haltung auch an seine Kinder weiter. Seine Söhne, so beschloss er, als sie alt genug waren, sollten eine Sprache der Schwarzen lernen. Ein Lehrer an der ortsansässigen Schule sprach Sesotho, und so erhielten die Söhne gegen Bezahlung Sprachunterricht.

Dee berichtete, dass sie immer zwei Kindermädchen hatten. «Als sie zu uns kamen, hatten sie keine Schuhe und waren vollkommen zerlumpt. Mutter nähte ihnen erst einmal Kleider. Sie war eine sehr gute Näherin. Eines Tages nahm Vater einen alten Seemann im Auto mit, Old Peter, den Mann ohne Zähne. Er brachte ihn mit nach Hause, und von da an lebte er bei uns. Er sagte: ‹Der Mann ist gebildet und braucht ein Dach über dem Kopf.› Hinter dem Hotel gab es noch drei kleinere Häuser. In einem wohnten unsere Kindermädchen, in einem Victor, ein Farmarbeiter, und eines stand leer. Dort brachte er Old Peter unter.» Daniel McKenna sorgte dafür, dass Old Peter ein Gebiss bekam, und Maryann änderte Anzüge ihres Mannes für den alten Seemann, der nicht nur Seemann war, sondern auch Tischler. Old Peter zimmerte Betten für die Familie und andere Möbelstücke. Er lebte bis zu seinem Tode bei den McKennas.

 

Die Jahre vergingen. Daniel McKenna war angekommen in Südafrika, er hatte eine Familie, er hatte ein Auskommen. Er konnte sich glücklich nennen. Und doch, der lebensfrohe und unternehmungslustige irische Dickschädel vermisste seine Heimat. Aus diesem Grund hatte er seinen kleinen Bruder Michael 1913 nach Südafrika nachgeholt. Er hatte ihm die Überfahrt bezahlt, und von da an lebte Michael bei seinem Bruder, arbeitete in der Bar und führte die Pferde aus. Bis der Erste Weltkrieg ausbrach. Michael meldete sich freiwillig zur Armee, um für die Briten zu kämpfen. Daniel sagte ihm, er sei wahnsinnig geworden, verrückt, sich freiwillig zu melden. Ein Junge, der noch sein ganzes Leben vor sich hatte. Aber Michael war nicht davon abzubringen. Er fiel 1916 an der französischen Front, verblutete in einem Schützengraben, nachdem ihm eine Granate das Bein abgerissen hatte. Der Tod des geliebten kleinen Bruders war ein schwerer Verlust für Daniel McKenna. Dass er ihn nicht begraben konnte, darüber war er untröstlich. Darum ließ er wenigstens einen Grabstein für ihn in Balfour aufstellen. Auf dem Grabstein steht «In Erinnerung an meinen geliebten Bruder Michael». Jeden Sonntag, das war ein festes Ritual, ging Daniel McKenna zuerst auf den Friedhof, um, wie er immer sagte, «mit den Toten zu tanzen».

 

Mit seiner offenen, freundlichen, interessierten und vor allem fürsorglichen Art gewann der Ire das Vertrauen der Bürger. So kam es, dass mein Urgroßvater, der aus Irland ohne einen Cent kam, schließlich sogar Bürgermeister von Balfour wurde. Er sprach Englisch und Afrikaans, und wenn die Buren etwas von ihm wollten, kamen sie zu ihm und sagten, sprich du mit den Regierenden. Und weil er aus Balfour etwas Großes machen wollte, gelang es ihm sogar, dass jeder Zug an der kleinen Station hielt. Er überzeugte die Bürger der Stadt davon, Kinder von Farmern unter der Woche aufzunehmen, damit diese eine Schule besuchen konnten. Einmal die Woche machte er reihum Besuche und vergewisserte sich, dass die Farmkinder bei ihren Pflegeeltern auch wohl versorgt waren. Die Schulverwaltung brachte er dazu, Wohnheime für die Schüler zu bauen, und dem Städtchen, aus dem seine geliebte Maryann gekommen war und das keine katholische Kirche besaß, spendete er ein Stück Land, und es wurde eine Kirche gebaut. «Dad sagte immer, steckt euer Geld in Land, und ihr werdet es nie verlieren», erinnerte sich Dee. Er war beliebt, bis die Politik in Südafrika immer komplizierter wurde, aber in jenen Jahren zwischen den zwei Weltkriegen – in dieser Stadt wie überall – lebten Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Inder, Schwarze, Weiße, noch alle zusammen.

Trotz aller Umtriebigkeit oder vielleicht gerade deswegen war Daniel McKenna ein leidenschaftlicher Anhänger von Feldmarschall Jan Christiaan Smuts, der eine gemäßigte Politik vertrat und zusammen mit Botha nach dem Ersten Weltkrieg an den Verhandlungen der Pariser Friedenskonferenz teilnahm. Beide waren für eine Aussöhnung mit Deutschland und begrenzte Reparationsforderungen. Als Premierminister, als der er 1919 nach Bothas Tod bis 1924 fungierte, widersetzte er sich der Mehrheit der Afrikaaner, die in den Kriegszwischenjahren die De-facto-Apartheid weiter durchsetzen wollte. Die Politik der konsequenten Rassentrennung war nach Gründung der South African Union im Jahre 1910 durch etliche Gesetze eingeleitet worden und beschnitt die Rechte der schwarzen Bevölkerungsmehrheit drastisch. Der «Mines and Works Act» von 1911 verpflichtete Schwarze zum Beispiel, ausschließlich niedere Arbeiten zu verrichten, und garantierte damit die Verfügbarkeit billiger Arbeitskräfte. Der «Native Land Act» von 1913 erklärte 7,3 % der Fläche Südafrikas zu Reservationen für Schwarze und verbot ihnen, außerhalb dieser Gebiete Land zu erwerben. Smuts und seine Partei, die South African Party, lehnten diese Art der Rassenpolitik ab. Als sich 1934 die South African Party und die National Party der Buren zur United Party (Vereinigte Partei) zusammenschlossen, mit der Absicht, Briten und Afrikaaner zu versöhnen, müssen viele liberal Gesinnte wie mein Urgroßvater Daniel McKenna das als positives politisches Zeichen für die weitere Entwicklung Südafrikas gedeutet haben. Doch spaltete sich diese Gemeinschaftspartei schon 1939 wieder auf, da keine Einigkeit über den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg an der Seite Großbritanniens erzielt werden konnte. Die rechtsgerichtete National Party sympathisierte mit Hitler-Deutschland und strebte eine radikale Rassentrennung an, während Smuts, der 1939 erneut zum Premierminister gewählt wurde, für die Teilnahme am Krieg gegen Nazideutschland an der Seite der Briten plädierte.

Der Krieg brachte auch Veränderungen für die Familie McKenna. Die Kinder waren erwachsen geworden, zwei Söhne von Daniel McKenna, Patrick und Michael, meldeten sich zur britischen Armee und zogen in den Krieg. Mein Urgroßvater musste das Hotel während des Krieges wieder übernehmen. Er hatte es verpachtet, doch dann war die Frau des Pächters gestorben, und Daniel McKenna, der auch nicht mehr der Jüngste war, musste das Hotel vor dem Ruin retten. Seine Töchter Kay und Dee halfen natürlich im Hotel, in der Küche, an der Bar. Dee erinnerte sich, dass während des Krieges, als der Whiskey knapp wurde, er ihn mit Brandy streckte. Die Gäste merkten es nicht, sie waren froh, dass sie überhaupt welchen bekamen. Dennoch, Daniel McKenna verdiente kein Vermögen. «Mein Vater wunderte sich dauernd, warum er mit der Bar keinen Profit machte. Er stand immer in der Bar, wenn sauber gemacht wurde. Eines Tages beobachtete er, wie der Mann, der den Boden wischte, eine volle Flasche Whiskey in den Eimer voller Schmutzwasser legte. Erst da begriff Dad, was los war.» Dennoch waren die Zeiten des Krieges für das Geschäft nicht schlecht. Balfour war Zwischenstation auf dem Weg vieler Soldaten, wenn sie von ihren Ausbildungscamps einmal nach Johannesburg wollten. Man machte Station in Balfour, und so wurde die Hotelbar regelmäßig von Soldaten besucht. Den Töchtern Kay und Dee machten die Uniformen Eindruck. Ihnen gefiel das Treiben, und man machte Bekanntschaften, lernte Leute kennen. Daniels älteste Tochter Kay verliebte sich in jener Zeit in Mick James, einen Piloten. Sie verlobten sich, doch das Glück währte nicht lange. Schon kurz nach Kriegsbeginn – der Krieg mit Italien hatte in Abessinien begonnen – war Kays Verlobter dorthin versetzt und in den ersten Kriegstagen abgeschossen worden. Ein Freund von Mick James, ein junger Mann namens Dennis Tully, überbrachte Kay die traurige Nachricht.

Die Überbringung der Todesnachricht war eine schicksalsträchtige Begegnung. Auch wenn der Anlass von Tullys Besuch sicherlich nicht der richtige Moment war, verliebten sich Kay und Dennis, der kein stattlicher Mann war, aber einen großen Sinn für Humor hatte, ineinander. Da er auch sehr gut singen konnte, war sein Spitzname Bing – von Bing Crosby.

Auch Dennis Tully hatte sich Anfang August 1940 freiwillig gemeldet, und wie viele war er ein Anhänger von Smuts und der United Party, die Unterstützung aus den unterschiedlichsten Teilen der südafrikanischen Gesellschaft hatte. Die konservative National Party lehnte einen Krieg ab und machte sich auch die Ablehnung in der Bevölkerung gegen die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg zunutze, um antibritische Ressentiments zu schüren. Dies führte zu einer Wiederbelebung der National Party mit ihrer rassendiskriminierenden Orientierung. Zunächst jedoch gab es Wichtigeres, nämlich das Land zu verteidigen und einen Krieg zu gewinnen. Zu Beginn des Krieges wurden die Freiwilligen oft auf den Straßen von Nationalisten angegriffen, es gab Kämpfe in den Straßen von Johannesburg. Doch das ließ nach, je länger sich der Krieg hinzog.

Dennis Tully wollte zur britischen Luftwaffe. Zuerst erhielten die angehenden Piloten eine dreiwöchige Grundausbildung in Pretoria. Von dort ging es nach Durban, wo sie drei Wochen lang Flugunterricht erhielten, und von Durban wurden die jungen Soldaten dann nach Bloemfontein versetzt. In Tullys Kompanie waren ca. 90 Leute aus allen Teilen Südafrikas. Im Juni 1941 wurden alle zu Sergeanten ernannt. Man musste unter 24 Jahre alt sein, um Pilot werden zu dürfen, und wenn man noch nicht 20 war, brauchte man die Zustimmung der Eltern. Tully war 20 Jahre alt. Die jungen Männer kamen an die Empire Flying Training School – dort unterrichteten Flugoffiziere. Sechs Wochen später ging es weiter an eine Flugschule in Swani, Pretoria, wieder vier Monate Training. Am Ende ging Tully zu einer Fighter Training School in Standerton, nicht weit von Balfour, wo Kay jedes Wochenende aus Johannesburg, wo sie arbeitete und in einem katholischen Pensionat wohnte, hinfuhr, um den Eltern im Grange Hotel auszuhelfen. Manchmal holte er Kay am Wochenende in Johannesburg ab und fuhr mit ihr nach Balfour. Doch nicht jedes Wochenende, denn Dennis, der ein guter Sportler war, spielte in einem Cricket- und in einem Fußballteam als Verteidiger. Nach dem Spiel trampte er oft nach Balfour und verbrachte das Wochenende dort. Im Juni 1942 heiratete Kay McKenna, die meine Großmutter war, den Iren mit der guten Stimme, Dennis Tully, und so wurde er mein irisch-südafrikanischer Großvater.

Großtante Dee erinnert sich: «Die Hochzeit fand an einem Samstag in der römisch-katholischen Kirche in Johannesburg statt. Kay war natürlich ganz in Weiß und hatte einen langen Schleier. Dennis trug seine Luftwaffenuniform. Ich hatte, ich erinnere mich noch genau, ein türkisfarbenes Kleid an mit Spitzen. Dennis’ Schwager sang in der Kirche das Ave-Maria. Nach der Hochzeit wurde in der Church Hall gefeiert. Es gab jede Menge zu essen und zu trinken. Später gingen alle noch in einen Nachtclub. Einer meiner Onkel war so betrunken, dass er den Weg nach Hause nicht mehr fand und in die Hauptstraße, eine Einbahnstraße, in falscher Richtung einbog. Er landete schließlich wieder vor der Kirche, wo wir ihn am nächsten Morgen tief und fest schlafend im Auto fanden. Es war ein rauschendes Fest.»

Bald nach der Hochzeit wurde mein Großvater Dennis Tully nach Kairo versetzt, Rommels Armee rückte auf die Stadt vor. «Ich habe ihn gebeten, nicht Kampfpilot zu werden. Werde Bomberpilot. Bomberpiloten leben länger, sagte ich ihm», erinnert sich Dee. In Kairo absolvierte mein Großvater eine Ausbildung zum Bomberpiloten. Als 1944 der Sohn des jungen Ehepaares – mein Vater Christopher – auf die Welt kommen sollte, durfte Dennis Tully zur bevorstehenden Geburt nach Hause reisen. «Es war eine sehr schwere und langwierige Geburt. Kaum war dein Dad auf der Welt, litt er unter schweren Blutungen. Dennis hatte dieselbe Blutgruppe, er spendete sein Blut und saß drei Tage vor dem Zimmer des Babys. Als sich die Gesundheit des Jungen besserte, hat Dennis gesagt: ‹Gott hat das Leben meines Sohnes gerettet, er wird meins nehmen.›

An einem Sonntag flog er wieder in Richtung Norden. Am Sonnabend darauf war er tot. Er stürzte ab. Man hörte nie, was die Ursache des Absturzes war, aber alle im Flugzeug waren tot. Nur drei Wochen nach Christophers Genesung», erinnerte sich Dee und fügte leise hinzu: «Ich habe mich immer schuldig gefühlt, weil ich ihm doch zugeredet hatte, Bomberpilot zu werden.» Kay, seine junge Frau – meine Großmutter –, erfuhr vom Tod ihres Mannes aus einem Brief, der ins Hotel kam. Erst stand sie wie versteinert da. Dann rannte sie ins Haus und zog sich ihr bestes Kleid an. «Wenn du dich am schlechtesten fühlst, dann musst du wie eine Königin aussehen», hatte Dennis immer zu ihr gesagt.

Vor ein paar Jahren brachte mich mein Vater, ich hatte ihn in Südfrankreich besucht, wo er heute lebt, zurück zum Flughafen nach Toulouse. Plötzlich fing er im Auto an, von seinem Vater Dennis Tully zu sprechen. Ich fragte ihn, ob er wisse, wo sein Vater begraben sei. Er wisse es nicht genau, sagte er. Nicht einmal den genauen Tag seines Todes kenne er, fügte er noch hinzu. Als ich abends wieder zu Hause in Amsterdam war, setzte ich mich an meinen Computer und suchte im Internet nach Spuren von Dennis Tully. Erst war meine Suche erfolglos, aber schließlich stieß ich auf eine Website der Commonwealth War Graves Commission. Obwohl Dennis zur britischen Luftwaffe wollte, gehörte er schließlich der südafrikanischen Luftwaffe an und galt deshalb als Soldat des Commonwealth. Ich gab seinen Namen in der Suchmaske ein und das Jahr seines Todes, und einige Sekunden später, ich konnte meine Aufregung kaum verbergen, las ich: «Dennis Hubert Tully Lieutenant, Son of William and Mary Tully; husband of Kathleen Tully, of Johannesburg, Transvaal, South Africa. Remembered with honour.» Einen Mausklick später betrachtete ich ein Foto – das Grab meines Großvaters. Dennis Tully starb am 12. August 1944, begraben wurde er in Ramla, einer kleinen Stadt in Palästina, heute Israel. Ich war sehr berührt und gleichzeitig völlig überrascht, weil es in der Familie immer geheißen hatte: «irgendwo in Nordafrika». Er war 25 Jahre alt. Ich sah auf die Datumsanzeige meiner Uhr. Es war der 12. August 2004 – genau 60 Jahre später. Als ich meinem Vater sagen konnte, wann genau sein Vater gestorben war, war das ein bewegender Moment für uns beide.

Kay lebte mit ihrem kleinen Sohn, der seinen Vater, meinen Großvater, nie kennengelernt hat, zunächst in Balfour bei den Eltern im Hotel. Der Krieg ging zu Ende, die Brüder Michael und Pat kamen unversehrt aus dem Krieg zurück. Keine Todesopfer mehr, es hatte schon zu viele gegeben: Daniel McKennas Bruder Frank in Irland, der jüngste Bruder Michael in Frankreich, Kays Verlobter Mick James in Abessinien, Dennis, ihr Mann und mein Großvater, in Palästina. «‹Sie sind alle in die Taverne gegangen›, pflegte dein Urgroßvater zu sagen», sagte Dee.

 

Kurz nach dem Ende des Krieges kaufte Daniel McKenna ein Haus in Johannesburg, dort, wo alle Straßen irische Namen tragen, noch heute. Es war merkwürdig still, als ich endlich in der Kerry Road stand. Man sah keine Menschenseele. Die Menschen verbergen sich in ihren Villen, hinter Mauern, Stacheldraht und Elektrozaun. Es war ein beklemmendes Gefühl, das so gar nicht zur Kerry Road passt, in der die Bäume sich immergrün wie zu einem Dach neigen. Ich fragte mich, ob auch die Bäume meinen Urgroßvater damals dazu bewogen haben, hier ein Haus zu kaufen, weil sie so grün sind wie in Irland. Das Haus ist ein einstöckiges weißes Gebäude, mit einem Säulengang drum herum, einer Veranda mit roten Bodensteinplatten und einem großen Garten mit einer Palme darin. Es ist umgeben von einem Zaun, nicht von einer Mauer. Das fiel mir zuerst auf. Keine hohen, undurchlässigen Mauern mit elektrischem Draht, wie die meisten Häuser in Johannesburg, sondern eben ein Zaun, durch den man auf das Haus und den Garten mit den Menschen darin sehen kann. Genau so, dachte ich, hätte es mein Urgroßvater gewollt. Es gab keine Geheimnisse.

Für meinen Vater Christopher war es das Paradies. Die ganze Familie wohnte dort, seine Onkel, die Großeltern, seine Mutter, seine Tante Dee und er, der kleine vaterlose Junge, um den sich alle kümmerten. Auch sein Kindermädchen Georgie, ein Schwarzer, der immer barfuß ging, einen Seemannsanzug trug und der eigentlich Gärtner war. Mit Georgie spielte er, Georgie trug ihn auf den Schultern im Garten herum, sooft er wollte. Wo immer er hinwollte, Georgie begleitete ihn. Mit Georgie ging er in den nahegelegenen Park, in dem es Bänke gab, auf denen keine Schwarzen sitzen durften, und Schaukeln nur für Weiße. Was kümmerte es einen Vierjährigen? Er sagte Georgie, dass er auch schaukeln dürfe. Und Georgie, weil er es dem Kind nicht abschlagen konnte, setzte sich auf die Schaukel, und mein Vater schubste ihn an. Das Kind rechnete nicht damit, dass eine Schaukel auch zurückschwingt. Die Schaukel traf ihn ins Gesicht, und er verlor ein paar Milchzähne. «Natürlich war das ganze Haus in heller Aufregung, als wir zurückkamen», erinnert sich mein Vater. «Am nächsten Morgen brachte Georgie die Zähne. Er war in aller Frühe aus dem Haus geschlichen, in den Park, und hatte sie im Rasen gesucht, vielleicht, weil er verstand, dass ein weißer Junge ohne Zähne es nicht weit bringen würde.

Nur ein paar Häuser weiter wohnte Hendrik Verwoerd. Eine Ironie des Schicksals. Ausgerechnet dort, wo der liberale Daniel McKenna mit seiner Familie lebte, musste sich der Mann niederlassen, der als der ideologische Begründer und Architekt der Apartheid-Politik gilt, 1950 Minister für Eingeborenenfragen wurde und von 1958 bis zu seiner Ermordung Ministerpräsident von Südafrika war. Doch schon 1948, als wir sozusagen Tür an Tür mit ihm lebten, war Verwoerd als Redakteur eines lokalen Propagandablatts eine wichtige Person. Er war stadtbekannt, und immer wenn Georgie mit mir loszog, nahm er mich an die Hand und wechselte entschlossen auf die andere Straßenseite.»

In Johannesburg lernte Kay, meine Großmutter, ihren zweiten Mann kennen, sie war jung, sie hatte ein Kind. Sie muss erleichtert gewesen sein, dass sich überhaupt noch ein Mann für sie interessierte. Mein Urgroßvater war nicht sehr erfreut. Er fragte sie: «Na, was macht er denn?» Sie sagte: «Er arbeitet für eine Bank.» Und Daniel McKenna antwortete: «Kannst gleich einen Polizisten heiraten.» Der Mann hieß Dudley Hope. Meine Großmutter heiratete Dudley, als ihr kleiner Sohn vier Jahre alt war, das war im Jahre 1948. Die Hochzeit war nicht die einzige Katastrophe, wie mein Vater heute sagen würde. Er mochte seinen Stiefvater nicht. «In ihm vereinte sich alles, was ich an Südafrika verabscheute, also südafrikanische Politik, wie sie einmal war: von Männern dominiert, sportfanatisch, machistisch, vollkommen anti Unabhängigkeit, gegen jede Form von Literatur und Musik, jede Form von Kunst. Er sah es als feminin an oder pervers, oder gefährlich, oder politisch unerwünscht, oder einfach nur unnütz.»

Die zweite Katastrophe im Jahr 1948 war weniger privat: Die alte Regierung verlor die Wahl, und die neue Apartheid-Regierung kam an die Macht. Das Erste war, dass sie die Rassenmischung verbot. Sie wiesen den Menschen Gebiete zu, es gab asiatische Bezirke, weiße, und vor den Städten wurden Townships für Schwarze gebaut. Das geschah in ganz Afrika. Schwarze durften nicht mehr in die Bars, nicht mehr in die Schulen, es gab keine Mischung mehr. Für meinen Urgroßvater war das ein Unglück. Er hatte General Botha verehrt, der zwar gegen die Briten gekämpft, aber dann den Kurs der Modernisierung und Öffnung des Landes vertreten hatte. Als Botha starb, folgte auf ihn der junge Jan Christiaan Smuts, der auch ein visionärer Staatsmann war, kosmopolitisch, intellektuell. Und da mein Urgroßvater Botha verehrte, ging diese Verehrung auch auf Smuts über. Als der die Wahl nur knapp verlor, legte sich Daniel McKenna ins Bett, drehte den Kopf zur Wand und stand drei Tage lang nicht mehr auf, als würde er sterben wollen. Ich glaube, dass die Niederlage von Smuts, die die politische Niederlage für Südafrika bedeutete, den Tod meines Urgroßvaters beschleunigt hat. Denn im folgenden Jahr starb er. Er wurde auf dem katholischen Friedhof in Johannesburg begraben.

Das Grab, so sagte mir meine Großcousine Lynne, Dees Tochter – sie hatte mir die Häuser gezeigt, Fotos und Briefe gegeben –, ist noch da. In der katholischen Sektion. Also fuhr ich mit meinem Fahrer hin. In Johannesburg braucht man einen Fahrer, wenn man nicht selber fahren will. Es ist eine gefährliche Stadt geworden. Taxis sollte man nicht unbedingt nehmen, zumindest nicht jedes x-beliebige, und zu Fuß sollte man auch nicht laufen. Schon gar nicht, wenn man sich nicht auskennt.

In einem kleinen Haus an der Einfahrt zu diesem riesigen Friedhof fragte ich die Wärterin, ob sie mir behilflich sein könne, das Grab zu finden. Sie bat mich um den Namen des Verstorbenen und das Todesjahr. In einem Buch, das in seiner Größe zu der des Friedhofs passte, fuhr sie mit dem Finger die Zeilen unter dem Buchstaben M ab, bis sie schließlich den Namen meines Urgroßvaters fand: Daniel Edward McKenna, Grab 991/​2 RCM.

Der Johannesburger Friedhof ist alles andere als beschaulich und in verschiedene Sektionen eingeteilt, eine muslimische, eine jüdische, eine asiatische, eine katholische. Dort angelangt, stiegen wir aus, der schwarze Fahrer und ich, und schritten die Reihen der Gräber ab. Verwahrloste Gräber zumeist, verwitterte Steine, übersät mit vertrocknetem Laub. Ein Friedhof für Gräber, dachte ich, als ich das Grab meines Urgroßvaters endlich fand, das aussah, als sei lange niemand hier gewesen. Auf dem kleinen Grabstein in der Form eines Buches konnte ich lesen: «Memory of Daniel Edward McKenna, called to rest 21st January 1949 aged 66 years. A devoted husband and loving father». 1965 starb seine geliebte Maryann und wurde neben ihrem Mann begraben.

«Wer war dieser Mann?», fragte mich der Fahrer.

«Mein Urgroßvater», sagte ich.

Er nickte. Wir blickten über die katholischen Gräber hinüber zu der Sektion der jüdischen und der asiatischen, abgetrennt durch einen Maschendrahtzaun.

«Das hat Gott so nicht gemeint», sagte mein Fahrer.

Dieser Satz hätte meinem Urgroßvater gefallen.