Tage der Toten

Don Winslow

Tage der Toten

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Chris Hirte

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Don Winslow

Don Winslow wurde 1953 in der Nacht zu Halloween in New York geboren. Seine Mutter, eine Bibliothekarin, und sein Vater, ehemaliger Offizier bei der Navy, bestärkten ihn schon früh in dem Wunsch, eines Tages Schriftsteller zu werden, vor allem die Geschichten, die sein Vater von der Marine zu erzählen hatte, beflügelten die Fantasie des Autors.

Das Sujet des Drogenhandels und der Mafia, das in vielen von Don Winslows Romanen eine Rolle spielt, lässt sich ebenso mit seinen Kindheitserfahrungen erklären: Seine Großmutter arbeitete Ende der 60er für den berüchtigten Mafiaboss Carlos Marcello, der den späteren Autor mehrere Male in sein Haus einlud.

Jeden Morgen um fünf setzt er sich an den Schreibtisch. Mittags läuft er sieben Meilen, in Gedanken immer noch bei seinen Figuren, um dann am Nachmittag weiterzuarbeiten. Winslow sagt von sich, dass er bislang nur fünf Tage durchgehalten habe, ohne zu schreiben. Es ist eine Sucht, die bis heute ein Werk hervorgebracht hat, dessen Qualität, Vielseitigkeit und Spannung Don Winslow zu einem der ganz Großen der zeitgenössischen Spannungsliteratur machen.

Don Winslow wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis (International) 2011 für »Tage der Toten«. Für die New York Times zählt Don Winslow zu den ganz großen amerikanischen Krimi-Autoren.

Don Winslow lebt mit seiner Frau und deren Sohn in Kalifornien.

Zur Erinnerung an Sue Rubinsky,
die immer die Wahrheit wissen wollte

Errette meine Seele vom Schwert,
mein Leben von den Hunden!

22. Psalm 20

Vorwort

Ein Drittel meines Lebens habe ich daran geschrieben.

Und jeder einzelne Augenblick hat sich gelohnt.

Die Romane der »Kartell-Trilogie« erzählen die wahre Geschichte über den War On Drugs – sie zeigen die Realität hinter den Schlagzeilen – über das Geld, die Politik, die Gewalt und die menschlichen Kosten einer echten Tragödie. Die Geschichte spielt größtenteils in Mexiko und den Vereinigten Staaten, einzelne Szenen auch in Europa, Zentral- und Südamerika, und sie schildert den über vier Jahrzehnte geführten Rachefeldzug des DEA-Agenten Art Keller gegen den Kartell-Boss Adan Barrera. Dabei erfahren wir auch etwas über das Leben eines Journalisten, eines Priesters, einer Prostituierten, eines zehnjährigen Einwanderers, eines zwölfjährigen Killers, einer Heroinsüchtigen und einer Aktivistin – einer Frau von unglaublichem Mut, die für Keller zur Liebe seines Lebens wird. Sein Krieg kostet ihn alles, seine Familie, seine Überzeugungen und letztlich im Ringen um endgültige Wiedergutmachung auch die eigene Seele.

Die Handlung ist zwar fiktiv, beruht aber auf wahren Begebenheiten – jedem einzelnen Ereignis liegt ein wahres zugrunde, hinter jeder Figur steht eine reale Person.

Ich wollte die Wahrheit erzählen.

Und habe es getan.

Die »Kartell-Trilogie« ist mein Lebenswerk.

 

Don Winslow

Prolog

El Sauzal
Provinz Baja California
Mexiko
1997

Sie hält ihr totes Baby in den Armen.

Aus der Position der Leichen schließt Art Keller, dass die Mutter ihr Kind schützen wollte. Es muss ein Instinkt gewesen sein, denkt Keller, sie muss gewusst haben, dass sie die Kugeln einer Kalaschnikow nicht mit ihrem Körper aufhalten kann. Nicht aus dieser Entfernung. Trotzdem hat sie sich weggedreht, als sie erschossen wurde, und fiel auf ihren kleinen Sohn.

Hat sie wirklich geglaubt, ihr Kind retten zu können? Vielleicht wollte sie ihm den Blick ins Mündungsfeuer ersparen, denkt Keller. Vielleicht sollte ihre mütterliche Brust sein letzter Eindruck von dieser Welt bleiben. Geborgen in Liebe.

Keller ist Katholik. Mit seinen siebenundvierzig Jahren hat er eine Menge Madonnen erlebt. Aber keine wie diese.

»Cuernos de chivo«, hört er einen Polizisten sagen.

Ganz leise, fast flüsternd, wie in der Kirche.

Cuernos de chivo – Ziegenhörner. So nennen sie die Kalaschnikows.

Keller hat es schon an den Patronenhülsen vom Kaliber 7,62 gemerkt. Hunderte davon liegen auf dem Beton des Innenhofs verstreut, auch ein paar 12er Schrothülsen und 5,56er von der AR15, wie es aussieht. Aber die meisten Hülsen stammen vom Ziegenhorn, der bevorzugten Waffe der mexikanischen Drogenmafia

Neunzehn Tote.

Neunzehn weitere Opfer im Drogenkrieg, denkt Keller.

In den vierzehn Jahren seiner Fehde mit Adán Barrera hat er so manches gesehen, hat er sich an den Anblick von Toten gewöhnt. Aber nicht neunzehn auf einmal. Frauen, Kinder, Säuglinge. Das nicht.

Zehn Männer, drei Frauen, sechs Kinder.

An der Hofmauer aufgereiht und erschossen.

Zerfetzt ist zutreffender, denkt Keller. In Stücke gerissen in einer hemmungslosen Schießorgie. Und jetzt in einem Bluttümpel liegend, in einer dicken Schicht aus schwarzem, getrocknetem Blut. Blut klebt an den Wänden, Blut durchtränkt den gepflegten Rasen, dessen Halme schwarzrot glitzern. Wie winzige blutige Schwerter, denkt Keller.

Offenbar haben sie sich gewehrt, als sie merkten, was ihnen bevorstand. Mitten in der Nacht aus den Betten gerissen, auf den Hof gezerrt, an der Wand aufgereiht – es hat ein Kampf stattgefunden, Möbel sind umgeworfen, klobige, schmiedeeiserne Gartenmöbel. Überall liegen Glasscherben verstreut.

Keller schaut sich weiter um – eine Puppe mitten in der Blutlache. Braune Glasaugen starren ihn an. Gleich daneben ein kleines Stofftier und ein niedliches Pinto-Pferdchen aus Plastik.

Kinder, aus dem Schlaf gerissen, klammern sich an ihre Kuscheltiere. Auch dann, wenn Gewehre knallen. Besonders dann.

Er muss an den Stoffelefanten seiner Kindheit denken. Den Stoffelefanten, ohne den er nicht ins Bett ging. Der hatte nur noch ein Auge, war fleckig von Erbrochenem und anderen Absonderungen und roch auch so. Bis ihn seine Mutter heimlich eines Nachts durch einen neuen ersetzte, mit zwei Augen und reinlichem Geruch. Am Morgen bedankte er sich für den neuen Elefanten und holte den alten aus der Mülltonne zurück.

Arthur Keller spürt, wie etwas in ihm zerbricht.

Die erwachsenen Opfer tragen teure Seidenpyjamas und Negligés, manche auch T-Shirts. Zwei, ein Mann und eine Frau, sind nackt – aus dem Liebesakt gerissen, denkt Keller, und in einer obszönen Blutorgie geopfert.

Einer liegt allein da, an der Wand gegenüber. Ein alter Mann, das Familienoberhaupt. Wahrscheinlich als Letzter ermordet, denkt Keller. Gezwungen, der Auslöschung seiner Familie beizuwohnen, und dann ebenfalls erschossen. Aus Gnade? Aus einem pervertierten Gefühl der Barmherzigkeit? Dann sieht er die verstümmelten Hände des alten Mannes. Erst wurden ihm die Fingernägel ausgerissen, dann die Finger abgehackt. Sein Gesicht ist im Schrei erstarrt, die Finger stecken in seinem Mund.

Das bedeutet, dass die Mörder in seiner Familie einen dedo vermuteten, einen Finger, einen Zuträger.

Und ich habe sie zu dieser Annahme verführt.

Gott vergib mir.

Er schreitet die Reihe der Toten ab, bis er den findet, den er gesucht hat.

Als er vor ihm steht, krempelt sich sein Magen um, er muss sich zusammenreißen, um nicht zu erbrechen. Das Gesicht des noch jungen Mannes ist heruntergepellt wie eine Bananenschale. Die Hautlappen hängen an seinem Hals herab. Keller kann nur hoffen, dass sie ihn vorher getötet haben, aber er weiß es besser.

Die untere Hälfte seines Hinterkopfs ist weggesprengt.

Sie haben ihm in den Mund geschossen.

Verräter kriegen die Kugel in den Hinterkopf, Zuträger kriegen sie in den Mund.

Sie hielten ihn für den Zuträger.

So wie es geplant war, sagt sich Keller.

Aber das hier hätte er sich nie träumen lassen. Nie hätte er geglaubt, dass sie so etwas tun würden.

»Es muss doch hier Hauspersonal gegeben haben«, sagt er. »Angestellte.«

Die Polizei hat die Unterkünfte schon durchsucht.

»Alle weg«, sagt einer.

Verschwunden. Haben sich in Luft aufgelöst.

Er zwingt sich, die Leichen noch einmal in Augenschein zu nehmen.

Ich bin schuld, denkt Keller.

Das haben diese Leute mir zu verdanken.

Es tut mir leid, denkt er, es tut mir irrsinnig leid. Er beugt sich über die tote Mutter mit dem Kind und macht das Zeichen des Kreuzes. »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«

»El poder del perro«, hört er einen mexikanischen Polizisten flüstern.

Das ist das Werk des Bluthunds.

Erster Teil

Erbsünden