Die unhöfliche Tote

S. J. Bennett

Die unhöfliche Tote

Die Queen ermittelt

Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über S. J. Bennett

S.J. Bennett hat bislang neun Jugendbücher geschrieben, einige davon preisgekrönt. Aufgewachsen ist sie mit den Büchern von Dorothy L Sayers, P. D. James, Ellery Queen und Rex Stout. Sie lebt in London und hatte schon immer ein intensives Interesse am britischen Königshaus. Betonen möchte sie jedoch, dass dies ein Roman ist - nach ihren Informationen hat die Queen noch nie heimlich ein Verbrechen aufgedeckt ...

Dieser Roman wurde vor dem 9. April 2021 geschrieben, als Prinz Philip mit 99 Jahren starb. Ich widme ihm dieses Buch mit großer Zuneigung und Respekt dafür, wie er sein Leben gemeistert hat. Und nicht ganz ohne Nervosität. Hätte er gelacht und den Roman mit herzlicher Entrüstung aus dem Fenster geworfen? Ich hoffe es.

Teil 1

Sangfroid

Oktober 2016

»Ich werde Eurer erlauchten Lordschaft zeigen, wozu eine Frau fähig ist.«

Artemisia Gentileschi, 1593 – ca. 1654

Prolog

Sir Simon Holcroft war kein Schwimmer. Als Pilotenschüler in der Royal Navy, was ungefähr tausend Jahre zurücklag, war der Privatsekretär der Queen immer wieder ins Wasser geworfen worden. Er wusste sich, wenn nötig, aus einem im Atlantik versinkenden Hubschrauber zu befreien, doch in einem überdachten Pool seine Bahnen zu ziehen, reizte ihn ganz und gar nicht. Aber als er sich dem stattlichen Alter von vierundfünfzig Jahren näherte, war sein Taillenumfang fünf Zentimeter weiter, als er sein sollte, und sein Arzt zeigte sich mit seinem Cholesterinspiegel unzufrieden. Einer musste nachgeben, und das war nicht der Knopf am Hosenbund.

Sir Simon fühlte sich müde. Er fühlte sich schlapp. Auf der langen, unbequemen Autofahrt zurück aus Schottland gestern war er zu dem Schluss gekommen, zu viele Dundee Cakes gegessen und der Queen nicht oft genug angeboten zu haben, sie auf ihren Querfeldein-Spaziergängen zu begleiten. Und als er in seinem Cottage ankam, das zum Kensington Palace gehörte, war ihm klar, dass er sich einen Tritt geben musste, um aus diesem Tief herauszukommen.

Die letzten paar Wochen in Balmoral waren blutig gewesen. Es war, als hätten die Mücken ihre ganz eigenen Highland Games abgehalten. Morgens war er mit Prinz Philip die Einzelheiten des Sanierungsprogramms für den Buckingham Palace durchgegangen, abends hatte er mit seinen Höflingskollegen die letzten Vorschläge und Fragen des Duke am Telefon besprochen und auch selbst einige hinzugefügt. Wenn sie bis zur fälligen Präsentation im Parlament nicht alle ihre Hausaufgaben gemacht hatten, würde der sprichwörtliche Teufel los sein.

Elan war, was er brauchte. Frische. Und so schien ihm trotz fehlender Begeisterung das Schwimmbad im Buckingham Palace die beste Lösung zu sein. Die Belegschaft mied es, wenn die königliche Familie da war. Wobei für Sir Simon das Problem darin bestand, dass er, wenn die Familie nicht da war, in der Regel eben auch nicht da war. Und umgekehrt. Als er sich an diesem Abend jedoch im entlarvenden Ganzkörperspiegel seines Schlafzimmers betrachtete, fasste er den Entschluss, das Risiko einzugehen und sich in aller Frühe ins Wasser zu wagen. Er betete, mit seinem von Mücken zerstochenen, die Nähte seiner Vilebrequin-Badehose auf die Probe stellenden Körper nicht auf einen eifrigen jungen Stallmeister in bester körperlicher Verfassung oder, schlimmer noch, den Duke selbst nach einem frühmorgendlichen Bad zu treffen.

Sir Simon machte sich rechtzeitig auf den vierzigminütigen Weg durch Hyde und Green Park, eine der wenigen absolut grünen Strecken durch Londons Innenstadt, um bereits um 6:30 Uhr im Buckingham Palace zu sein. Dummerweise hatte er seine Badehose schon angezogen, was sich als leicht unangenehm erwies. Er parkte seinen Aktenkoffer auf dem Schreibtisch in seinem Büro, hängte die Anzugjacke auf einen hölzernen Bügel und zog seine Budapester aus. Die Seidenkrawatte, heute mit winzigen rosa Koalas, rollte er sorgfältig auf und legte sie in den linken Schuh. Dann schulterte er seinen Rucksack mit dem Badetuch und machte sich auf Strümpfen auf den kurzen Weg zum Nordwest-Pavillon. Mittlerweile war es 6:45 Uhr.

Der von John Nash entworfene Pavillon mit Blick auf den Green Park war ursprünglich ein Gewächshaus und Sir Simon der Meinung, er hätte es auch bleiben sollen. Seine Mutter war eine große Botanikerin gewesen, und für ihren Sohn waren Gewächshäuser Wunderstätten der Natur, beheizte Pools dagegen eher billig und geschmacklos. Aber der Vater der Queen hatte damals in den 1930ern den Umbau beschlossen, für das Schwimmvergnügen seiner kleinen Prinzessinnen, und so gab es ihn nun, diesen Pool mit seinen griechischen Säulen außen und den leicht lädierten Art-déco-Kacheln innen, der wie so vieles im Buckingham Palace, was der Öffentlichkeit nicht zugänglich war, dringend ein Update benötigte.

Um in den Poolbereich zu gelangen, musste man das Hauptgebäude nicht verlassen, sondern ging durch eine normale Tür, an der Instruktionen klebten, was im Falle eines Feuers zu tun war, dazu die Erinnerung daran, dass niemand allein schwimmen sollte, was er ignorierte. Die Luft im Korridor hinter der Tür war bereits unangenehm feucht und Sir Simon froh, dass er seine Krawatte im Büro gelassen hatte. Im Männer-Umkleideraum zog er Hemd, Hose und Strümpfe aus und hängte sich sein Badetuch über den Arm. Auf einer der Bänke stand ein Kristallglas. Komisch, war die Familie doch gestern Abend erst aus den Highlands zurückgekommen. Offenbar hatte die jüngere Generation noch eine kleine Feier veranstaltet. Im Poolbereich war eigentlich alles Glas verboten, aber man sagte den Prinzen und Prinzessinnen nicht, was sie im Zuhause ihrer Granny zu tun und zu lassen hatten. Sir Simon nahm sich vor, nach seinem Bad eine der Haushälterinnen zu informieren.

Er duschte schnell, ging Richtung Pool, durch dessen Fenster man auf die Platanen im Park hinaussah, und bereitete sich innerlich auf den Schock vor, den das kühle Nass seinem allzu ausladenden Körper bereiten würde.

Doch der Schock war ganz anderer Natur.

Zunächst weigerte sich sein Gehirn zu verarbeiten, was er da sah. War das eine Decke? Eine Lichtspiegelung? Da war so viel Rot. So viel dunkles Rot auf dem gefliesten grünen Boden. Und mitten im Rot ein Bein, nackt bis zum Knie, ein Frauenbein. Das Bild brannte sich in seine Netzhaut ein. Er kniff die Augen zusammen.

Sein Atem kam schnell und stoßweise, und Sir Simon trat zwei Schritte vor. Dann noch zwei, und er stand im geronnenen Rot und starrte auf das Schreckensbild vor ihm.

Eine Frau in einem hellen Kleid lag auf der Seite in einer dunklen Lache. Die Lippen blau, die Augen weit offen und leer. Der rechte Arm war in Richtung der Füße ausgestreckt, die Hand weit geöffnet. Alles war voll mit geronnenem Blut. Der linke Arm deutete zum Rand des Pools, wo die Blutlache endete. Sir Simon spürte, wie ihm das eigene Blut in den Ohren pochte, eins, zwei, eins, zwei.

Behutsam kniete er nieder und legte widerstrebend zwei Finger an den Hals der Frau. Da war kein Puls, und wie sollte das auch möglich sein? Bei diesen Augen? Er verspürte den Drang, die Lider zu schließen, dachte aber, dass er das lieber nicht tun sollte. Ihr Haar lag ausgebreitet um ihren Kopf, ein in Rot getränkter Heiligenschein. Sie wirkte überrascht. Oder bildete er sich das nur ein? Und so klein und zerbrechlich, dass er sie, lebte sie noch, leicht hätte aufheben und in Sicherheit bringen können.

Er erhob sich, spürte einen scharfen Schmerz im Knie, versuchte das klebrige Blut von seiner Haut zu wischen und fühlte etwas Körniges. Er sah genauer hin und entdeckte kleine Splitter eines dicken Glases. Und so rann denn sein eigenes frisches Blut aus ein paar Schnitten in seinem Knie und vermischte sich mit ihrem. Jetzt sah er sie, die Überbleibsel eines zersprungenen Glases, wie eine kristallene Ruine in einer tiefroten See.

Er kannte das Gesicht, kannte das Haar. Was machte sie hier, mit einem Whiskyglas? Sein Körper war wie erstarrt, doch er zwang ihn zurück ins Hier und Jetzt, um Hilfe zu rufen. Auch wenn es zu spät war.

Kapitel 1

Drei Monate früher …

Philip?«

»Ja?« Der Duke of Edinburgh hob eine halbe Braue vom Daily Telegraph, der an einem Honigglas auf dem Frühstückstisch lehnte.

»Du weißt schon, das Gemälde.«

»Welches? Du hast siebentausend«, sagte er, einfach nur, um schwierig zu sein.

Die Queen seufzte innerlich. Sie hatte sowieso sagen wollen, welches. »Das von der Britannia. Das immer vor meinem Schlafzimmer hing.«

»Wie, das schreckliche kleine Ding von dem Australier, der keine Schiffe konnte? Das?«

»Ja.«

»Ja?«

»Ich habe es gestern in Portsmouth entdeckt, im Semaphore House. In einer Ausstellung maritimer Kunst.«

Philip sah demonstrativ auf die Kommentarseiten seiner Zeitung und stöhnte. »Das passt. Für eine Yacht.«

»Du verstehst nicht. Ich habe den Startschuss zur neuen Digitalstrategie der Navy gegeben, und zu dem Anlass haben sie ein paar Bilder in den Empfangsbereich gehängt.« Die Digitalstrategie war eine komplizierte Geschichte und sollte die Royal Navy auf den neuesten technischen Stand bringen. Die Ausstellung hatten sie einfach gehalten. »Hauptsächlich graue Schlachtschiffe. Dazu eine J-Class-Yacht unter Segeln in Southampton, weil da immer eine ist. Und daneben unsere Britannia, von 63

»Woher weißt du, dass es unsere war?« Er hob den Blick immer noch nicht.

»Weil sie es war«, sagte die Queen mit leicht scharfem Unterton, weil sie sein fehlendes Interesse plötzlich seltsam betrübte. »Ich kenne meine Bilder.«

»Da bin ich sicher. Alle siebentausend. Also, dann sag den Stabsfexen, die sollen es rausrücken.«

»Das habe ich.«

»Gut.«

Die Queen spürte, dass es in seinem Artikel im Daily Telegraph um den Brexit ging und ihr Mann deshalb so gereizt war. Cameron weg. Die Partei in Auflösung. Die ganze Sache so teuflisch verpfuscht …

Da war ein einzelnes Gemälde von einem unbedeutenden Maler, aus einer Zeit lange bevor das Land in den Gemeinsamen Markt aufgenommen worden war, kaum von Bedeutung. Sie sah hoch zu den Landschaften von Stubbs mit ihren wundervollen Pferden, die die Wände ihres privaten Esszimmers schmückten. Philip selbst hatte seine Frau hier vor vielen Jahren gemalt, beim Lesen der Zeitung, und man konnte durchaus sagen, dass er besser war als der Maler der Britannia. Aber das Bild war ihr einmal sehr lieb und teuer gewesen.

Und das auf eine Weise, die sie nie jemandem gestanden hatte. Sie wollte dieses Bild zurück.

 

Ein paar Stunden später kam Rozie Oshodi ins Arbeitszimmer der Queen, das sich im Nordflügel befand, um die roten Schachteln mit den Arbeitspapieren Ihrer Majestät zu holen. Rozie war nach einer kurzen Karriere in der Army und bei einer Privatbank erst vor wenigen Monaten als stellvertretende Privatsekretärin in die Dienste der Queen getreten. Sie war noch relativ jung für die Position, hatte bislang aber bewundernswerte Leistungen erbracht, einschließlich, und vielleicht besonders, was die eher unkonventionellen Aspekte betraf.

»Gibt es etwas Neues?«, fragte die Queen und sah von ihrer letzten Unterschrift auf.

Gestern hatte sie Rozie mit der Aufgabe betraut, herauszufinden, wie das Gemälde der ehedem königlichen Yacht an seinen jetzigen Ort gelangt war, und für seine schnelle Rückgabe zu sorgen.

»Ja, Ma’am, aber nichts Gutes.«

»Oh?« Das kam überraschend.

»Ich habe mit dem zuständigen Offizier der Marinebasis gesprochen«, erklärte Rozie, »und er meint, es handelt sich um eine Verwechslung. Der Maler müsse mehrere Versionen der Britannia auf ihrer Australienreise angefertigt haben. Das fragliche Exemplar sei der Ausstellung vom Second Sea Lord als Leihgabe zur Verfügung gestellt worden. Es gebe keine Plakette oder sonst einen Hinweis auf seine Herkunft. Das Bild stamme aus der Sammlung des Verteidigungsministeriums und hänge seit Jahren im Büro des Second Sea Lord.«

Die Queen betrachtete ihre stellvertretende Privatsekretärin nachdenklich durch ihre Gleitsichtbrille.

»Tut es das? Ich habe es das letzte Mal in den 1990ern gesehen.«

»Ma’am?«

Hinter der königlichen Brille glomm Streitlust auf. »Der Second Sea Lord hat keine zweite Version. Er hat meine. In einem anderen Rahmen. Und er hat sie schon seit langer Zeit, wie ich jetzt von Ihnen erfahre.«

»Ah … Ja, ich verstehe.« Aber so, wie Rozie sie ansah, war klar, dass sie es nicht tat.

»Fahren Sie noch einmal hin und finden Sie heraus, was da vorgeht, ja?«

»Natürlich, Ma’am.«

Die Queen trocknete ihre Unterschrift mit der Löschwiege und schob das Blatt wieder in die rote Schachtel. Ihre stellvertretende Privatsekretärin nahm den Stapel mit den Schachteln an sich und ließ ihre Chefin grübelnd zurück.

Kapitel 2

Der Palast ist eine Todesfalle.«

»Ach, kommen Sie, James. Sie übertreiben.«

»Keineswegs.« Der Kämmerer blickte den Privatsekretär finster über dessen alten Schreibtisch hinweg an. »Wissen Sie, wie viel vulkanisiertes Gummi man hier gefunden hat?«

»Ich weiß nicht einmal, was das ist.« Sir Simon hob die linke Braue und signalisierte sowohl Neugier als auch Belustigung. Als Privatsekretär war er dafür verantwortlich, die offiziellen Besuche der Queen und den Austausch mit der Regierung zu organisieren, tatsächlich aber interessierte er sich für alles, was sie betreffen mochte. Und sollte Buckingham Palace eine Todesfalle oder dergleichen sein, gehörte das zweifellos mit in diese Kategorie.

Sein Besucher, Sir James Ellington, war für die königlichen Finanzen verantwortlich. Er arbeitete seit Jahren mit Sir Simon zusammen, und es war nicht ungewöhnlich, dass er forschen Schritts die zehn Minuten von seinem Schreibtisch oben im Südflügel zu Sir Simons großzügigem Büro mit den hohen Decken im Erdgeschoss des Nordflügels eilte, um sich über das neueste Fiasko zu beklagen. Hinter der unerschütterlichen Miene eines jeden englischen Gentleman lauert ein Mensch, der darauf brennt, hinter vorgehaltener Hand mit spitzer Zunge seiner Verärgerung über etwas Ausdruck zu verleihen. Sir Simon entging jedoch nicht, dass sein Gegenüber ernsthaft besorgt war, was das vulkanisierte Gummi anging. Warum auch immer.

»Gummi wird mit Schwefel behandelt, um es zu härten«, erklärte Sir James, »und man produziert damit Kabelummantelungen. Wenigstens war das vor fünfzig Jahren noch so. Und sie erfüllen ihren Zweck, zersetzen sich aber mit der Zeit, durch Luft, Licht und so weiter. Sie werden spröde, morsch.«

»Ein bisschen so wie Sie heute Morgen«, sagte Sir Simon.

»Hören Sie auf. Sie haben ja keine Ahnung.«

»Und … Was ist das Problem mit unserem spröden, vulkanisierten Gummi?«

»Es zerfällt. Die Stromleitungen hätten schon vor Jahrzehnten erneuert werden müssen. Das wissen wir seit Langem, aber als wir im letzten Monat das Leck oben unter dem Dach hatten, sind wir gleich auf ein ganzes Bündel gestoßen, das sich durch einfache Berührung praktisch auflöste. Was bedeutet, dass die Verkabelungen im Schloss nur mehr zufällig zusammenhalten. Zweihundert Kilometer davon. Ein falscher Kontakt und … pfffft!« Sir James vollführte mit seiner rechten Hand eine elegante Geste, um eine Rauchwolke oder eine kleinere Explosion anzudeuten.

Sir Simon schloss kurz die Augen. Es war nicht so, dass sie nicht von der Feuergefahr wussten. Die Katastrophe in Windsor Castle 1992 – fünf Jahre hatte es gedauert und mehrere Millionen Pfund verschlungen, die Schäden zu beseitigen. Jeden Sommer hatten sie seither Buckingham Palace für Besucher geöffnet, um wenigstens einen Teil der Kosten wieder hereinzubekommen. Als sie anschließend, der Sicherheit halber, auch im Buckingham Palace die Elektroinstallationen überprüften, stellte sich heraus, dass die Situation hier noch gefährlicher war. Die Pläne zur Sanierung wurden vorangetrieben, stießen aber immer wieder auf neue Komplikationen.

»Was machen wir also?«, fragte er. »Siedeln wir sie um?«

Es war nicht nötig zu sagen, wer da womöglich umziehen musste.

»Das sollten wir wahrscheinlich, und zwar pronto. Sie wird natürlich nicht wollen.«

»Natürlich nicht.«

»Wir haben den Gedanken im letzten Jahr schon einmal vorgebracht, und ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen«, sinnierte Sir James düster. »Ich kann es ihr nachfühlen. Wenn sie umzöge, müsste es nach Windsor sein, damit sie ihren Terminen nachkommen kann. Die Autobahn hinaus aus der Stadt würde mit Botschaftern, Ministern und Gästen der Gartenpartys verstopft sein, und das Schloss selbst müsste völlig umorganisiert werden. Nein, nein, sie wird hier brav weitermachen. Solange der Buckingham Palace nicht unbewohnbar ist …«

»Aber das ist er, sagen Sie«, warf Sir Simon ein.

Sir James seufzte. »Richtig.« Er hob den Blick gen Himmel. »Der Palast sollte nicht mehr bewohnt werden. Wäre er ein Reihenhaus in Birmingham, würden die Behörden eine amtliche Mitteilung an die Haustür kleben und der Familie jeden Zutritt verbieten, bis alles in Ordnung gebracht wäre. Aber dies ist ein Palast, der gebraucht wird, also geht es nicht. Der Sanierungsplan, der ihr erlaubt, während der Arbeiten hierzubleiben, ist so gut wie fertig, was die Sache allerdings ein, zwei Millionen teurer werden lässt. Oh, übrigens, fast hätte ich es vergessen. Sie kennen doch Mary, meine Sekretärin? Die äußerst tüchtige, die alle E-Mails rechtzeitig beantwortet, das Sanierungsprogramm bis ins Detail kennt und fast schon was Geniales hat?«

»Ja?«

»Sie hat gekündigt. Ich habe es im Einzelnen nicht mitbekommen, aber sie war heute Morgen völlig in Tränen aufgelöst. Also …«

Er wurde von Rozie unterbrochen, die mit den Schachteln hereinkam und sie auf die Marmorplatte des Konsolentischs neben der Tür legte, damit das Kabinettsbüro sie später abholen konnte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sir Simon.

»Weitgehend. Wie finde ich heraus, ob wir in den Neunzigern dem Verteidigungsministerium eines der Gemälde der Queen ausgeliehen haben?«

Angesichts dieser wenig interessanten Frage stand Sir James auf und verabschiedete sich.

 

Rozie sah ihm neugierig hinterher. Sir Simon beugte sich vor, legte die Fingerspitzen gegeneinander und konzentrierte sich auf das neue Thema. Er war gut darin, von einem Problem zum anderen zu wechseln – wie eine Turnerin am Stufenbarren, hatte Rozie oft schon gedacht, oder ein Eichhörnchen beim Hindernislauf.

»Hmm. Sprechen Sie mit dem Royal Collection Trust«, schlug er vor. »Die kümmern sich um ihre private Sammlung und andere Dinge der Krone, glaube ich. Warum wollen wir das wissen?«

»Die Chefin hat das besagte Bild in Portsmouth gesehen«, erklärte Rozie. »Das Verteidigungsministerium behauptet, es gehört ihnen. Aber sie sagt, es war ein persönliches Geschenk des Malers an sie. Man sollte doch annehmen, dass sie weiß, wovon sie spricht.«

»Das sollte man. Wie lautet die Entschuldigung des Ministeriums?«

»Sie behaupten, es gibt zwei davon.«

Sir Simon ließ einen leisen Pfiff hören. »Mutiger Schachzug. Können wir den Künstler befragen?«

»Nein, daran habe ich schon gedacht, aber er ist tot. Er hieß Vernon Hooker. Starb 1997

»Hat er viele Schiffe gemalt?«

»Hunderte. Wenn Sie ihn googeln, sehen Sie es.«

Rozie wartete, während Sir Simon den Namen in seinen Computer eingab und instinktiv zurückzuckte.

»Großer Gott. Hat er je einen Fuß auf ein Schiff gesetzt?«

Rozie war keine Expertin für maritime Malerei, doch Sir Simons Reaktion überraschte sie nicht. Vernon Hooker gefiel es, seine Objekte in leuchtende Farben zu kleiden, unter grandioser Missachtung von Licht und Schatten. Die Bilder schwelgten in weit mehr Smaragdgrün, Stahlblau und Lila, als man es von Szenerien erwarten würde, die hauptsächlich aus Meer und Himmel bestanden. Aber nun, ein anderer Lieblingsmaler der Queen war Terence Cuneo, dessen Bilder von Zügen und Schlachtszenen auch kaum einfarbig zu nennen waren. Und zu ihrer Überraschung hatte Rozie feststellen müssen, dass für Hookers Arbeiten allgemein hübsche Summen bezahlt wurden. Es waren echte Sammlerobjekte.

»Die haben wahrscheinlich recht, oder?«, schloss Sir Simon mit einem weiteren Blick auf seinen Bildschirm. »Das Ministerium, meine ich. Es gibt Dutzende von den verdammten Dingern. Ich wette, dieser Hooker hat mehr für eine seiner königlichen Yachten im Neon-Stil eingestrichen, als er für eine stinknormale Meereslandschaft bekommen hätte. Er scheint Unmengen davon produziert zu haben.«

»Sie ist unerschütterlich. Und tatsächlich habe ich keine andere Britannia finden können.«

»Wie gesagt, reden Sie mit Neil Hudson beim Trust. Fragen Sie, ob wir das Bild womöglich ausgeliehen haben. Zwanzig Jahre sind lange genug, da kann das Ministerium es allmählich wieder zurückgeben.«

»Okay.« Rozie wechselte das Thema. »Warum sah Sir James so geknickt aus? Ich hoffe, ich habe nichts Wichtiges unterbrochen.«

»Nein, nein, nur die gewohnte Klage über seine existenzielle Verzweiflung. Es ist die verflixte Sanierungsgeschichte, zudem hat seine Sekretärin gekündigt, und man hat eine Vulkanisierung oder so was entdeckt. Die Verkabelung ist marode und der Palast offenbar eine Todesfalle.«

»Gut zu wissen«, sagte Rozie aufgeräumt und ging zur Tür. »Klingt teuer.«

»Das wird es. Der Voranschlag liegt längst über dreihundertfünfzig Millionen. Das Parlament muss ihn im November absegnen, und sie haben nicht mal genug, um sich die eigenen Bezüge zu erhöhen.«

Sie blieb auf der Schwelle noch einmal stehen. »Tja, aber das hier ist das zweitbekannteste Gebäude der Welt.«

»Aber … dreihundertfünfzig Millionen.« Sir Simon verschränkte die Arme vor der Brust und sah verzagt auf seinen Computer. »Irgendwie klang dreihundert noch nicht ganz so schlimm.«

»Auf zehn Jahre verteilt«, erinnerte sie ihn. »Und es kommt schon wieder herein, es steht im Budget, wie bei Windsor. Die Rechnung für die Renovierung des Parlamentsgebäudes belief sich auf vier Milliarden, wie ich zuletzt gehört habe.«

Die Miene des Privatsekretärs hellte sich etwas auf. »Sie haben völlig recht, Rozie. Achten Sie nicht weiter auf mich, ich bin urlaubsreif. Wie können Sie noch so voller Energie sein?«

»Frische Luft und Sport«, sagte sie bestimmt. »Sollten Sie auch mal probieren.«

»Etwas mehr Respekt, junge Dame. Ich bin für mein Alter sehr fit.«

Rozie, die wirklich äußerst fit war, nicht nur für ihr Alter – sie war dreißig –, schenkte ihm noch ein nettes Grinsen und verschwand in ihr Büro nebenan.

Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber ihre Bemerkung machte ihm zu schaffen. Sie war eine große, attraktive junge Frau mit einem kurzen, präzise geschnittenen Afro, einer athletischen Figur und einer Fitness, die seit ihrer Zeit in der Royal Horse Artillery kaum nachgelassen hatte. Er dagegen war ein Vierteljahrhundert älter, und seine Knie waren nicht mehr das, was sie mal gewesen waren. Auch sein Rücken nicht. Als junger Hubschrauberpilot und Diplomat im Auswärtigen Dienst war er durchaus sportlich gewesen, ein Ex-College-Ruderer, der auf dem Rugbyfeld seinen Mann stand und ein teuflisch guter Kricketspieler war. Aber über die Jahre war sein Claret-Konsum gestiegen, während die Zeit, die er für Rudern, Rugby und Kricket erübrigte, immer weiter zurückging. Er musste wirklich etwas für sich tun.

Kapitel 3

Rozie setzte sich an ihren Schreibtisch und klickte auf eine Bilderserie, die sie auf ihrem Laptop gespeichert hatte. Sie hatte den zuständigen Offizier der Marinebasis in Portsmouth gebeten, ihr ein Foto des Gemäldes der Britannia zu schicken, damit sie wusste, worüber sie redeten. Das Bild zeigte die königliche Yacht unter voller Beflaggung, umgeben von kleineren Schiffen und mit einem flachen Stück Land im Hintergrund. Sie fragte sich kurz, warum der Chefin so viel daran lag. Schließlich gehörten ihr Leonardos und Turners, und Rozie musste an den kleinen, wunderschönen Rembrandt in Windsor Castle denken, für den sie mit Freuden ihren Mini verkaufen würde.

Der Offizier war ziemlich bestimmt gewesen. Der Second Sea Lord, ein Vizeadmiral, der für die Personalfragen in der Navy verantwortlich war, hatte verschiedene Gemälde in seinem Büro hängen, alle ganz vorschriftsmäßig vom Verteidigungsministerium bezogen. Leihgaben von Dritten wurden genau verzeichnet und stets im erdenklich besten Zustand zurückgegeben. Das fragliche Bild war keine Leihgabe. Es musste einfach zwei davon geben. Da war man sicher.

Nur war die Chefin ebenso sicher, dass dem nicht so war.

Rozie rief den Händler des Malers in Mayfair an, der sich keiner weiteren Britannia-Gemälde seines verstorbenen Klienten bewusst war. Aber er schlug vor, dass sie mit Hookers Sohn sprach.

»Don ist der Experte, was die Arbeiten seines Vaters betrifft. Er ist Ende sechzig, blitzgescheit. Er lebt in Tasmanien. Da ist es jetzt Abend, aber ich bin sicher, er unterhält sich gerne mit Ihnen.«

Rozie dachte, was für ein großzügiges Angebot das doch sei, erinnerte sich dann aber, für wen sie den Anruf machte. Nein, der Sohn des Malers würde wohl tatsächlich nichts dagegen haben, sich mit ihr über das kleine Problem der Queen zu unterhalten. Im Allgemeinen waren die Leute gerne behilflich, wenn sie hörten, wer da anklopfte.

Don Hooker reagierte genau so, wie es der Kunsthändler versprochen hatte.

»Die königliche Yacht in Hobart, bei der Regatta? Oh, ja, das kenne ich. Das war 1962 oder 63, irgendwann um den Dreh. Ihre Majestät war auf einer ihrer Reisen. Ich weiß noch, wie Daddy mir die Geschichte erzählt hat. Er war so stolz auf das Bild! Er war ein großer Anhänger der Monarchie, mein Dad, und da kam sie, diese wunderschöne Lady, die mit ihrer Yacht um die Welt fuhr. Er verfolgte die gesamte Berichterstattung, und alle mussten mit ihm zuhören. Wobei, um ehrlich zu sein, Rozie, ich war damals noch grün hinter den Ohren und fand das alles weniger interessant. Aber Dad liebte es. Er hatte eine Karte an der Wand hängen, auf der er ihre Route mit kleinen grünen Nadeln markierte. Er sammelte Postkarten, Tassen, was es gab. Er sagte, sie sehe so glücklich aus auf dieser Reise, und er wollte, dass sie etwas hatte, was sie immer daran erinnern würde. ›Ein Stück von diesem Glück‹, so drückte er es aus. Er malte das Bild nach einem Foto in der Zeitung, die Farben fügte er selbst hinzu, wissen Sie … Und er bekam ein dickes britisches Danke auf dem Briefpapier des Palastes, mit einem großen roten Wappen. Da stand, die Queen habe die Britannia noch nie so farbenfroh gesehen. Es war das einzige Bild, das er von ihr gemalt hat. Den Brief haben wir wahrscheinlich noch irgendwo in Dads Archiv. Ich kann nachsehen, wenn Sie wollen …«

Als Rozie ihn ein weiteres Mal anrief, war sich der Offizier in Portsmouth nicht mehr so sicher, was seine Theorie mehrerer Versionen des Bildes anging.

»Vielleicht haben wir eine Kopie?«, sagte er. »Ich stimme zu, es ist eine äußerst ungewöhnliche Situation, aber ich kann Ihnen versichern, dass es sich nicht um eine Leihgabe des Palastes handelt.«

Sir Simon würde die Queen als Nächster sehen, und er brachte die Chefin auf Rozies Bitte hin bei der Gelegenheit auf den neuesten Stand.

»Sie sagt, es ist keine Kopie, sondern das Original«, informierte er Rozie nach seiner Rückkehr. »Finden Sie heraus, wie die an das Bild gekommen sind, und sagen Sie ihnen, sie sollen aufhören zu mauern. Sie ist ziemlich angefressen.«

»Wie kann sie sagen, dass es das Original ist?«, wollte Rozie wissen. Schließlich hatte die Queen das Bild nur ein paar Minuten bei schlechter Beleuchtung in der provisorischen Ausstellung des Marine-Hauptquartiers gesehen. Bei dem Besuch selbst war es um etwas anderes gegangen.

»Keine Ahnung. Aber sie ist sich sicher.«

Wenn es so war, würde Rozie die Sache in Ordnung bringen.

 

»Nur ein bisschen näher ins Licht.«

Die Queen änderte die Neigung ihres Kopfes ein wenig, ihr Hals wurde langsam steif.

»So?«

»Sehr schön, Ma’am, perfekt.«

Sie schloss kurz die Augen. Es war angenehm und friedlich im Yellow Drawing Room. Hinter den schweren Netzvorhängen schimmerte die Sonne auf der goldenen Statue der Siegesgöttin auf dem Victoria Memorial – dem Geburtstagskuchen, wie die Wachen es nannten. Warme Strahlen fielen auf ihre linke Wange. Wenn man nur diese verflixte Pose nicht beibehalten müsste, könnte man leicht ein kleines Nickerchen machen.

Aber sie musste so sitzen bleiben. Die Queen konzentrierte sich auf die neunstufige chinesische Pagode in der Ecke, die fast bis zur Decke reichte. Ihr Urgroßonkel, George IV., hatte sich nicht mit halben Sachen zufriedengegeben.

»Bekommen Sie, was Sie brauchen?«

»Absolut. Es dauert nicht mehr lange. In ein paar Minuten können Sie Ihre Schultern entspannen.«

Lavinia Hawthorne-Hopwood stand an ihrer Staffelei und machte vorbereitende Skizzen für eine Skulptur. Sie war eine umsichtige Künstlerin. Sie wusste, was so eine Sitzung für ihr Modell bedeutete, und versuchte die Anstrengung zu minimieren. Das war einer der Gründe, warum die Queen gerne mit ihr arbeitete. Es war nicht ihr erstes »Rodeo«, wie Harry es nannte. (Was für ein großartiger Ausdruck dafür. Die Queen liebte Rodeos und dachte immer, unter anderen Umständen hätte sie da erfolgreich sein können.)

»Woran arbeiten Sie gerade?«

»Die Augen, Ma’am. Das ist immer das Schwierigste.«

»Verstehe.« Durchs Fenster sah sie mehrere Leute, die vor dem Tor des Palastes für Fotos posierten. Einer schien Tanzbewegungen zu machen. Tat er das für eine dieser Social-Media-Verrücktheiten, von denen Eugenie ihr erzählt hatte? Die Queen beugte sich etwas vor, um ihn besser in den Blick zu bekommen.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Ma’am …«

»Was?« Die Queen wurde aus ihren Gedanken gerissen und begriff, dass sie ihre Position verändert hatte. Lavinia hatte ihre Arbeit unterbrochen. »Tut mir leid. Ist es so besser?«

»Danke. Nur noch etwa eine Minute, und … So. Fertig. Puuh! Möchten Sie ein Glas Wasser?«

»Ein Schluck Tee würde helfen.«

Eine Tasse mit Untertasse erschien neben dem Ellbogen der Queen, gehalten von Sandy Robertson, ihrem Pagen. Ein willkommener munter machender Schluck Darjeeling, und sie streckte sich diskret und rieb sich ihr steifes Knie, während die Künstlerin ihre Skizzen durchsah.

Nicht weit entfernt standen zwei Videokameras auf Stativen und ein Mikrofon, um die Sitzung aufzunehmen. Ein kleines Dreierteam in Funktionsshirts und Baumwollhosen bewegte sich leise zwischen ihnen und den ihnen zugewiesenen Plätzen an der Wand gegenüber hin und her. Ein schlaksiger junger Mann in der rot-blauen Uniform des königlichen Haushalts stand dabei, um ihnen zu helfen und sie in Zaum zu halten. Sie drehten eine Dokumentation: Die Kunst der Queen oder etwas in der Art. Über den Titel war noch nicht entschieden worden. Es ging nicht nur um das, was ihr gehörte, sondern auch um das, was sie zur Kunst beitrug.

Heute filmten sie die Anfänge des letzten Kunstwerks, dem sie zugestimmt hatte: einer Bronzebüste. Es sollte auch noch jemanden geben, der die Dokumentation filmte, überlegte sie, um das Ganze abzurunden. Und jemanden, der über das Filmen der Dokumentation der ersten Skizzen schrieb … und immer so weiter. Sie war es gewohnt, dass man sie beobachtete, und mittlerweile auch, dass sie offenbar so faszinierend war, dass selbst ihre Beobachter beobachtet wurden.

»Wird sie lebensgroß, die Büste?«, fragte sie Lavinia.

Sie kannte die Antwort auf die Frage, wusste aber auch, dass die Kameras etwas Small Talk brauchten, und der sollte sich nicht um Lavinias gerade überstandene, fürchterliche Scheidung drehen oder darum, dass man ihren Sohn im Internat wegen Drogenhandels verhaftet hatte. Die arme Frau hatte Anspruch auf ihre Privatsphäre.

»Ja«, sagte Lavinia und betrachtete ein paar Skizzen auf dem Tisch neben ihrer Staffelei. »Wobei, etwas größer. Sie wollen, dass Sie herausragen in der Royal Society.«

»Hmmm. War die letzte auch größer?«

»Ich denke schon, Ma’am, so aus der Erinnerung. Mochten Sie sie?«

»Oh, ja. Ich fand sie ziemlich gut. Es ist Ihnen gelungen, mich nicht so …« Sie blies die Wangen auf und brachte Lavinia damit zum Lachen. »Nicht so wie meine Ururgroßmutter aussehen zu lassen. Schwer. Mit Hängebacken. Alt.«

Lavinia trat zurück an ihre Staffelei. »Mein Ziel ist, Sie leuchten zu lassen. Auch in Bronze. Also gut, sind Sie wieder so weit, Ma’am? Wenn Sie den Kopf so drehen könnten, dass Sie meine Hand hier ansehen. Noch etwas mehr. So ist es schön …«

Die Künstlerin bemühte sich bei ihrer Arbeit um ein leichtes Gespräch. Die Sitzungen waren ergiebiger, wenn sie sich mit ihren Modellen unterhielt, als wenn sie schwiegen. Die Miene der Queen – bei ihr war es ganz besonders so – hellte sich auf, wenn sie angeregt wurde. Im Ruhezustand konnte sie recht düster dreinblicken, was den falschen Eindruck erweckte.

»Haben Sie in letzter Zeit eine interessante Ausstellung besucht?«, fragte Lavinia und bedauerte es gleich. Sie hätte sie nach einem Pferderennen fragen sollen.

Aber die Queen schien das nicht zu stören.

»Wir werden im nächsten Jahr eine ausrichten, auf die ich mich schon sehr freue«, sagte sie. »Canaletto in Venedig. Wir haben doch einiges von ihm.« Womit sie die größte Sammlung weltweit meinte. »George III. hat die Bilder in einem Schwung von Joseph Smith gekauft. Er war damals Konsul in Venedig. Ein langweiliger Name für einen interessanten Mann, wie ich immer denke.«

Lavinia schluckte. »Mein Gott.«

Die Queen musste lächeln. Sie hatte kürzlich erst eine angeregte Unterhaltung mit dem Direktor ihrer Gemäldesammlung zu dem Thema geführt. Nach Jahrzehnten des Zusammenlebens mit ihnen kannte sie ihre Canalettos sehr gut, obwohl sie ihre selbst erlebten Bilder bevorzugte. Die Reise von Ancona nach Venedig an Bord der Britannia 1960 – oder war es 1961 gewesen? –, der Besuch mit Philip auf der uralten kleinen Insel Torcello, die Gondelfahrt im Mondlicht …

Sie dachte zurück an jene frühen königlichen Reisen auf der königlichen Yacht. Italien, Kanada, die pazifischen Inseln … Die Britannia war nach dem Krieg ausgestattet worden, in einer Zeit der Entbehrungen, und ihr Inneres war eher praktisch als extravagant. Aber das hatte dem Temperament der Queen weit besser entsprochen als all das Gold und die Grandezza heute. Wie glücklich sie gewesen waren, sie und Philip und die Mannschaft. Bis in die fernsten Ecken des Globus waren sie gefahren. Es gab so wunderbare Erinnerungen. Das »schreckliche kleine Ding« beschwor einige von ihnen auf ganz einzigartige Weise herauf.

»Ich habe gerade eines meiner privaten Bilder in einer Ausstellung der Royal Navy gesehen«, sagte sie. Es machte ihr immer noch zu schaffen.

»Oh, das ist schön«, sagte Lavinia leicht geistesabwesend.

»Eigentlich nicht. Ich habe es ihnen nicht ausgeliehen. Das letzte Mal, als ich es gesehen hatte, hing es noch gegenüber von meiner Schlafzimmertür.«

Lavinias Kopf ruckte erschreckt hoch. »Du meine Güte.«

»Genau«, stimmte die Queen ihr zu.

»Wie ist es dann in die Ausstellung gelangt?«

»Das ist eine sehr interessante Frage.« Und eine Minute später fügte sie hinzu: »Ich denke, wir sind jetzt fertig.«

Ihr Ton war freundlich, aber bestimmt. Die Künstlerin hob den Blick und sah auf die Uhr. Die Stunde war um, auf die Minute, und ihr Modell nahm bereits die diamantenbesetzte Tiara herunter, der sie freundlicherweise zugestimmt hatte, so überzogen sie über ihrer Bluse und Strickjacke auch wirkte. Das Filmteam baute seine Kameras ab, genau beobachtet von dem schlaksigen jungen Mann ihres Haushalts. Der Stallmeister der Queen stand bereits in der Tür und wartete ungeduldig darauf, Ihre Majestät zu ihrer nächsten Verabredung zu begleiten.

»Ganz herzlichen Dank, Ma’am«, sagte Lavinia.

Die Queen nickte. »Ich freue mich schon auf das Leuchten.« Das kam trocken aus ihr heraus, aber mit einem leichten Zwinkern.