Lustig, lustig, tralalalala
Witziges zum Weihnachtsfest
Herausgegeben von Sünje Redies
Wir Weihnachtsmänner
Hans Rath
Bärendienst
Martina Brandl
Geliebte. Weihnachten.
Steffi von Wolff
Die Vorweihnachtsneurose
Oliver Uschmann
Florians Weihnachtstagebuch
Mia Morgowski
Szenen aus dem Stadttheater
Dietmar Bittrich
Krippenspiele in Balordo
Roberto Capitoni
Weg vom Fenster
Anne Hertz
Die lange Nacht im Kaufhaus Nirgendwo
Ruth Moschner
Die Weihnachtswurst von Nordenham
Horst Evers
Weihnackten
Mischa-Sarim Vérollet
Geschenkt
Mirja Boes
Sylter Weihnachtszauber
Gabriella Engelmann
Hans Rath
Der Weihnachtsmann nimmt noch ein Guinness», verkünde ich.
Karl schüttelt den Kopf. «Der Weihnachtsmann hat schon mehrere Drinks aufs Haus bekommen. Jetzt ist Schluss.»
Ich rücke meinen Bart zurecht, setze meine rote Mütze auf und greife nach meiner Rute. «Dann werde ich jetzt deine Gäste schikanieren.»
Karl seufzt. «Schon gut. Setz dich wieder hin. Du kriegst dein Guinness. Aber dann ist wirklich Schluss.»
Ich lasse mich wieder auf den Barhocker sinken, lege die Rute zur Seite, ziehe die Mütze ab und warte auf mein Bier. «Dafür, dass wir einen Tag vor dem Fest der Liebe stehen, bist du ganz schön hartherzig», sage ich.
Karl stellt mir mein Guinness vor die Nase. «Also, ich find mich ausgesprochen großzügig», bemerkt er locker.
«Ach ja?», frage ich. «Ein Weihnachtsmann, der sich im Kaufhaus für vier Mäuse die Stunde abrackert, muss hier um sein Bier betteln. Nennst du das etwa Nächstenliebe?»
Karl sieht mich mit ernster Miene an. «Felix, du bist seit Monaten pleite. Ich lass dich trotzdem anschreiben. Wenn das keine Nächstenliebe ist, dann weiß ich auch nicht. Ist dir eigentlich klar, dass ich meine Frau mit Juwelen behängen könnte, wenn du endlich mal deinen Deckel zahlen würdest?»
Karl hat ja recht. Angesichts meiner desolaten finanziellen Situation sollte ich den Mund nicht zu voll nehmen. Ich nippe etwas verlegen an meinem Bier. «Sind halt schwere Zeiten», murmele ich kleinlaut.
Er winkt ab. «Weiß ich doch, Felix. Geht mir ja nicht anders.»
«Wenn ich Maler wäre, könnte ich dir Bilder geben», sage ich. «Die wären dann in ein paar Jahren vielleicht ein Vermögen wert.»
Karl nickt abwesend und taucht ein paar Gläser ins Spülwasser.
«Aber ich bin nun mal leider kein Maler», setze ich nach. «Ich bin eben nur ein erfolgloser Schriftsteller.»
Karl hält inne und schaut auf. «Ach so. Du willst wissen, ob ich es gelesen hab.»
«Hast du?», frage ich nicht ohne Neugier.
Karl trocknet seine Hände, greift in eine Schublade und zieht ein paar zerknüllte Blatt Papier zutage. Er legt sie auf den Tresen und streicht sie notdürftig glatt.
«Was hast du damit gemacht?», frage ich. «Den Boden aufgewischt?»
Er ignoriert die Bemerkung. «Also», beginnt er und wirkt leicht ratlos. «Ehrlich gesagt, hab ich nicht verstanden, was Josse von Rebecca will. Liebt er sie jetzt oder nicht? Und wenn er sie liebt, warum sagt er es ihr dann nicht einfach?»
«Er sagt es ihr doch», werfe ich leicht indigniert ein. «Sogar mehrmals.»
«Aber er redet immer so geschwollen. Bestimmt versteht sie ihn nicht», erwidert Karl.
«Das ist nicht geschwollen, das ist Kunstsprache», gebe ich zurück und kann nur mühsam verbergen, dass ich nun leicht verstimmt bin.
«Willst du jetzt hören, was ich davon halte, oder nicht?», fragt Karl.
«Ja, will ich», erwidere ich patzig. «Aber eigentlich ist ja schon klar, dass dir die Story nicht gefällt.»
«Ich versteh den Typen einfach nicht», erklärt Karl ebenso hilflos wie dezidiert. «Warum sagt er Rebecca nicht klipp und klar, dass er scharf auf sie ist?»
«Aber das tut er doch!», erwidere ich aufgebracht. «Er tut es nur auf seine Weise. Warte mal. Hier …» Ich greife nach der letzten Seite des Manuskripts und halte sie Karl hin. «Hier sagt Josse zu Rebecca: ‹Mein Herz ist angebläut von deinem Lächeln, von deinem Blick gerötet.›» Ich sehe Karl an, als müssten sich damit alle seine Vorbehalte erübrigt haben.
«Genau das meine ich!», ereifert sich Karl. «So spricht doch kein Schwein!»
Ich werfe das Blatt zurück auf den Tresen. «Du hast überhaupt keinen Sinn für Poesie», motze ich.
«Und du bist offenbar angebläut», gibt Karl zurück.
«Felix!», höre ich in diesem Moment eine Stimme rufen. Ich drehe mich um und sehe einen Weihnachtsmann. Ein Kollege also. Ich glaube nicht, dass ich ihn kenne, aber offenbar kennt er mich.
«Hallo. Hey … Freut mich!», sage ich, um Zeit zu gewinnen. Vielleicht fällt mir sein Name ja noch ein.
«Hast du ’n paar Minuten?», fragt der Kollege. «Ich geb auch einen aus.»
Während der Mann einen Tisch in der Ecke ansteuert, schaue ich Karl fragend an. «Kennst du den Kerl?»
Karl schüttelt den Kopf.
Ich setze mich also zu dem vermeintlichen Kollegen. «’tschuldigung, ich weiß jetzt gerade nicht … Kennen wir uns vielleicht vom Job?»
Er legt Mütze und Bart neben sich auf den Tisch. Vor mir sitzt nun ein schlecht rasierter Mittfünfziger. Der Mann wirkt wahlweise sehr verlebt oder höllisch überarbeitet. Ich bin jetzt jedenfalls sicher, dass ich ihn noch nie in meinem Leben gesehen habe. Er kippt einen Schnaps und behauptet dann das Gegenteil. «Wir sind uns 1974 mal kurz begegnet.» Er spült mit einem großen Schluck Bier nach und reicht mir die Hand. «Claus, Santa Claus. Besser bekannt als der Weihnachtsmann.»
Ich überlege, ob ich ihn auslachen oder einfach aufstehen soll.
Er zieht eine Visitenkarte hervor, schiebt sie über den Tisch. «Ich brauch deine Hilfe. Kannst du morgen vorbeikommen? Dann erklär ich dir alles.»
Ich nicke bedächtig, während ich überlege, was ich mit dem armen Irren machen soll. Ich beschließe, ihm noch ein Weilchen zuhören. Schließlich bin ich ein netter Mensch. Außerdem ist morgen ja Weihnachten.
Santa Claus steht in schön geschwungenen Buchstaben auf der Karte, darunter ist, kleiner und in Druckschrift, eine Adresse in einer nicht sehr vornehmen Gegend zu lesen.
«Wohnt der Weihnachtsmann nicht am Nordpol?», frage ich leicht spöttisch. «Zumindest dachte ich das immer.»
«Eigentlich schon. Aber wir hatten Probleme mit dem Klimawandel», erklärt Claus und kippt einen großen Schluck Bier. «Außerdem waren die Räumlichkeiten irgendwann einfach nicht mehr bezahlbar.»
«Am Nordpol?»
«Genau. Am Nordpol», bestätigt er und fügt leicht irritiert hinzu: «Danach hast du doch eben gefragt, oder?»
«Sicher», entgegne ich und bemühe mich so zu tun, als wäre das hier ein ganz normales Gespräch. «Ich kenn das Problem. Die Immobilienpreise am Nordpol sind ja ziemlich in Bewegung. Hört man ja immer wieder, dass da alles teurer wird …»
Er sieht mich an und runzelt die Stirn. «Felix, willst du mich verarschen?», fragt er und klingt nun abrupt gefährlich.
«Nein!», erwidere ich, leicht erschrocken über seinen plötzlichen Stimmungsumschwung.
«Dann ist ja gut.» Er greift nach seinem Bart und seiner Mütze und erhebt sich. «Wir sehen uns also morgen früh. Ich freu mich.»
«Unbedingt!» Ich würde ihm alles Mögliche versprechen, Hauptsache, der Irre lässt mich in Ruhe.
Er will sich abwenden, hält aber nochmal kurz inne. «Sag mal, hast du das Buch eigentlich immer noch?»
Ich sehe ihn ratlos an. «Welches … Buch?»
«Du hast mir doch damals geschrieben, dass du dir Moby Dick wünschst. Und ich hab es dir auf den Gabentisch gelegt. Du hast heimlich im Wohnzimmer übernachtet, weil du den Weihnachtsmann sehen wolltest. Und tatsächlich bist du für einen kurzen Moment wach geworden, als ich gerade wieder verschwinden wollte. Erinnerst du dich?»
Er sieht mein immer noch ratloses Gesicht.
«Na ja», sagt er milde lächelnd. «Egal. Ist ja auch sehr lange her.»
Er nickt zum Abschied und verlässt die Kneipe.
Ich brauche fast zwei Stunden, um im Chaos meines Kellers jene Kiste zu finden, in der sich Moby Dick verbirgt. Ich habe in meinem Leben zwar schon alles Mögliche versetzt, es aber nur selten übers Herz gebracht, Bücher zu verkaufen. Ich werde fündig, wische den Staub vom Einband und blättere die erste Seite auf. «Frohe Weihnachten von Santa Claus», lese ich. Weiter unten ist in einer anderen Handschrift notiert: «Heiligabend 1974».
Seltsam. Vielleicht kann meine Mutter Licht ins Dunkel bringen.
«Du rufst spät an, Junge. Hier im Gefängnis mögen die das nicht so gern.»
«Mutter, du bist nicht im Gefängnis. Du wohnst in einer Seniorenresidenz.»
Ein kurzes Schweigen.
«Warum hast du uns Weihnachten nicht besucht?», fragt sie vorwurfsvoll.
«Weihnachten ist erst morgen», erwidere ich.
«Du hast dich über zwei Jahre nicht blicken lassen.»
Ich seufze leise. «Ich war letzten Samstag da, Mutter. So wie ich jeden Samstag da bin.»
«Dein Vater fragt auch ständig nach dir.»
«Schon gut, Mutter», beschwichtige ich und überlege gleichzeitig, ob es Sinn hat, sie heute nach einem uralten Weihnachtsgeschenk zu fragen. Offenbar habe ich einen ihrer weniger guten Tage erwischt. Ach, was soll’s? «Erinnerst du dich noch daran, dass du mir Moby Dick zu Weihnachten geschenkt hast?»
Wieder Schweigen.
«Was soll das sein?», fragt sie dann.
«Ein Buch. Ein ziemlich bekanntes Buch. Man könnte sagen Weltliteratur.»
«Nein, Schatz. Ich mach mir doch nichts aus Büchern. Deshalb hab ich dir auch nie welche geschenkt. Das habe ich lieber anderen überlassen. Vielleicht hast du es von deiner Schwester geschenkt bekommen.»
Ich seufze leise. «Mutter, ich bin ein Einzelkind. Ich hab keine Schwester.»
Schweigen.
«Dann hat der Weihnachtsmann es dir gebracht. Wahrscheinlich, weil du ihm diesen Brief geschrieben hast.»
Ich horche auf. «Welchen Brief hab ich ihm geschrieben? Und wann?»
Schweigen. Sie scheint zu überlegen.
«Mutter?», frage ich nach einer Weile.
«Ich muss jetzt Schluss machen, Junge. Dein Vater kommt gleich nach Hause, und ich hab das Essen noch nicht auf dem Tisch.»
«Vater ist …», beginne ich und höre an einem Knacken in der Leitung, dass sie aufgelegt hat.
«… seit über zwanzig Jahren tot», vollende ich den Satz, obwohl sie mich längst nicht mehr hört.
Habe ich diesen Brief nun geschrieben oder nicht? Habe ich damals im Wohnzimmer übernachtet, um den Weihnachtsmann zu treffen? Und ist er mir dort tatsächlich begegnet? Ich kann mich nicht erinnern. Die Sache liegt lange zurück, und ich war in einem Alter, in dem Traum und Realität manchmal nur schwer zu unterscheiden sind.
Ich schlafe schlecht in dieser Nacht und erwache früh.
Während meine italienische Kaffeekanne sich fauchend und zischend mit der Zubereitung eines Espresso abmüht, fällt mein Blick auf die Visitenkarte von Claus. Gestern Nacht habe ich sie auf die Spüle gelegt, zusammen mit Moby Dick. Gerade stelle ich mir die Frage, wie es wohl wäre, wenn ich diesem seltsamen Kerl wirklich einen Besuch abstattete. Gefährlich schien er nicht zu sein. Wahrscheinlich ist er ein zwar verwirrter, aber harmloser Mann, der im Leben viel Pech gehabt hat. Schlimmstenfalls müsste ich wohl damit rechnen, mir einen Vormittag lang bizarre Geschichten anzuhören.
Darauf habe ich keine große Lust, denke ich und gieße mir Kaffee ein. Ich blättere die erste Seite des Buches auf und betrachte erneut die Widmung. Nebenbei fällt mein Blick auf die Visitenkarte. Ich zucke leicht zusammen und stelle die Tasse ab. Ich lege die Visitenkarte neben die Seite mit der Widmung und sehe, dass die Namensschriftzüge identisch sind. Ungläubig blicke ich abwechselnd auf die Karte und das Buch. Dann stecke ich beides ein und mache mich auf den Weg.
Die Adresse gehört zu einem scheinbar unbewohnten Haus in einer Abbruchsiedlung. Ich will schon wieder den Heimweg antreten, als ich am Klingelbrett einen winzigen Zettel bemerke: «Santa Claus – oberste Etage». Ich muss lächeln. Claus ist ganz gut organisiert, wenn man bedenkt, dass er offenbar verrückt ist.
Das Haus ist zwar renovierungsbedürftig, aber innen in einem nicht so desaströsen Zustand, wie man es von außen vermuten könnte. Auf halbem Weg in die oberste Etage kommt Claus mir entgegen. Im ersten Moment erkenne ich ihn nicht. Er trägt einen grauen Anzug mit Hemd und Krawatte, außerdem ist er heute rasiert. Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, dass der Weihnachtsmann noch genauso müde aussieht wie am Vorabend.
«Keine Zeit. Ich hab ein wichtiges Gespräch mit dem Vermieter.» Claus eilt an mir vorbei. «Ich hab Ruprecht Bescheid gesagt. Er ist oben. Frag nach ihm. Er erklärt dir alles.» Und schon ist Claus eine halbe Etage tiefer.
«Etwa … Knecht Ruprecht?», rufe ich durchs Treppenhaus.
Claus hält inne. «Ja, aber nenn ihn lieber nicht so. Er mag es überhaupt nicht, wenn man ihn ‹Knecht› nennt. Sag einfach Ruprecht.» Claus nickt aufmunternd. «Du machst das schon. Ich muss weiter.»
Eine der Türen in der obersten Etage ist nur angelehnt. Dahinter sind Stimmen zu hören. Ich klopfe. Niemand reagiert, also öffne ich vorsichtig die Tür, um mich bemerkbar zu machen.
Der Raum ist vollgestopft mit allerlei Krimskrams und sieht aus wie das miserabel organisierte Lager eines verwahrlosten Schrottplatzes. Was mich viel mehr irritiert, ist der Anblick eines Tisches, an dem ein Kartenspiel stattfindet. Die Spieler sind in Zigarren- und Zigarettenrauch gehüllt, eine Flasche Schnaps macht die Runde. Im ersten Moment glaube ich, fünf Kinder im Alter von vielleicht sieben oder acht Jahren vor mir zu haben. Dann wird mir klar, dass es sich bei den Zockern um kleinwüchsige Erwachsene handelt. Einer der Herren bemerkt mich.
«Lust auf eine Runde Poker?», fragt er, nimmt einen Schluck Schnaps und fährt sich mit der Hand über seine Bartstoppeln.
«Nein … ähm … ich … suche Ruprecht», stammele ich, weil ich immer noch verdattert bin. Der Kerl grinst und nickt dabei vielsagend.
«Ruprecht!», ruft er in einer Lautstärke, die ich ihm angesichts seiner Statur überhaupt nicht zugetraut hätte, und wendet sich seelenruhig wieder seinem Kartenspiel zu.
Ich starre immer noch auf die seltsame Pokerrunde. Das Geräusch schwerer Schritte holt mich in die Realität zurück.
«Felix?», höre ich eine tiefe Stimme fragen.
Ich drehe mich um und stehe nun einem Hünen gegenüber, der sich gut auf einem Plakat für ein Wrestling-Turnier machen würde. Er trägt lange, zerzauste Haare und ist in Felle gehüllt. Beides verleiht ihm ein martialisches Aussehen.
«Freut mich, ich bin der Ruprecht», sagt er, streckt mir eine seiner Pranken entgegen und lächelt. Das sieht nicht sehr gewinnend aus, weil Ruprecht praktisch alle Vorderzähne fehlen. Um nicht unhöflich zu erscheinen, ergreife ich trotzdem seine Hand.
«Freut mich ebenfalls», sage ich.
Ruprecht bemerkt, dass mir etwas mulmig ist. Er überlegt kurz und vermutet wohl, dass mich der Anblick der Pokerrunde verstört hat, denn nun schließt er die Tür und sagt mit einem bedauernden Schulterzucken: «Ist schon schlimm, mit ansehen zu müssen, wie die dadrinnen ihr Leben vergeuden. Schlimm. Wirklich schlimm.»
Ich nicke verständnisvoll. «Freunde?», frage ich.
«Weihnachtselfen», erklärt Ruprecht sachlich. «Nachdem wir Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Spielzeugproduktion eingestellt hatten, haben uns die meisten Weihnachtselfen verlassen. Aber die dadrinnen scheinen einfach die Hoffnung nicht aufzugeben, dass eines Tages wieder bessere Zeiten kommen.»
«Soll das heißen, die pokern seit über hundert Jahren?», frage ich. «Sie sehen noch nicht so alt aus.»
«Elfen werden leicht ein paar tausend Jahre alt», erklärt Ruprecht. «Eine hundertjährige Pokerpartie fällt da nicht so sehr ins Gewicht.»
Ich nicke, um Ruprecht zu signalisieren, dass ich seine Ausführungen sehr interessant finde. Tatsächlich frage ich mich, ob ich unlängst irgendwelche Drogen eingeworfen habe. Wie sonst lässt sich das alles hier erklären?
Ruprecht errät meine Gedanken. «Die meisten Leute, die zu uns kommen, wundern sich. Sie stellen sich den Weihnachtsmann als einen gutgelaunten und wohlgenährten adretten älteren Herrn vor, der in einem romantischen Häuschen auf dem Gelände einer gigantischen Spielzeugfabrik lebt und ständig von Tausenden fleißigen Helfern umringt wird.»
Ich sehe ihn an und zucke ratlos mit den Schultern. «Ehrlich gesagt, hätte ich es mir auch so vorgestellt.»
Ruprecht verzieht gequält das Gesicht. «Die Zeiten sind leider vorbei. Ich hab Santa Claus noch auf der Höhe seines Schaffens erlebt. Wir residierten am Nordpol und hatten wirklich die größte Spielzeugfabrik der Welt. In manchen Jahren haben wir mehr als zweihunderttausend Elfen beschäftigt. Damals war Santa Claus noch nicht ständig müde und übellaunig. Außerdem hatte er ein paar Kilo mehr auf den Rippen. Die vielen Sorgen haben ihm zugesetzt.»
Ruprecht hat eine Tür am Ende des Ganges geöffnet. Dahinter ist eine schmale Treppe zu erkennen. «Komm, ich will dir was zeigen.»
Wenig später stehen wir auf dem Dachboden. Durch ein großes Panoramafenster fällt kaltes Winterlicht auf einen riesigen roten Schlitten, der fast den gesamten Raum einnimmt. Von dem Gefährt geht ein milchiges Schimmern aus. Die rote Farbe scheint zu fluoreszieren.
Während ich die imposante Konstruktion aus Holz, Eisen und Samt umrunde, bemerkt Ruprecht lapidar: «Voilà. Der Schlitten des Weihnachtsmannes.»
Ich bin beeindruckt. «Woher kommt dieses Glänzen?»
«Feenstaub. Der gesamte Schlitten ist in ein spezielles Harz getaucht und dann mit Feenstaub bedeckt worden.»
«Damit er glänzt?», frage ich.
«Nein. Damit er fliegt», lächelt Ruprecht.
Ungläubig stehe ich vor dem ebenso seltsamen wie imposanten Vehikel. «Wie viele Rentiere braucht man dafür?»
«Vierundzwanzig», erwidert Ruprecht. «Leider mussten wir alle verkaufen. Futter und Unterkunft waren irgendwann nicht mehr finanzierbar.»
Ich betrachte den Schlitten, und gleichzeitig durchzuckt mich der Gedanke, dass mich hier jemand auf den Arm nehmen will. Bislang habe ich nur ein paar seltsame Typen kennengelernt, die mir weismachen wollen, dass der Weihnachtsmann verarmt ist und kaum noch seinem Job nachgehen kann. Vielleicht spielen hier alle nur Theater, denke ich. Vielleicht ist die Sache mit Moby Dick so arrangiert worden, dass jemand das Buch in meinem Keller deponiert hat. Die Weihnachtselfen könnten ebenso wie Ruprecht und Santa Claus Laienschauspieler sein, der Schlitten nur ein Requisit.
Wieder errät Ruprecht meine Gedanken. «Die meisten Leute, die zu uns kommen, möchten einen Beweis dafür haben, dass wir wirklich jene sind, für die wir uns ausgeben. Aber es gibt keinen Beweis. Der Schlitten fliegt nicht ohne Rentiere. Keiner von uns kann zaubern, und unser Quartier am Nordpol ist längst im ewigen Eis versunken.»
Ich überlege. «Wie war es denn überhaupt möglich, die Rentiere zu verkaufen?», frage ich argwöhnisch. «Es muss sich ja um fliegende Rentiere gehandelt haben. Die hätten doch sicher für Aufsehen gesorgt, oder?»
Ich sehe Ruprecht in die Augen und versuche herauszufinden, ob meine Frage ihn aus dem Konzept gebracht hat. Vielleicht gelingt es mir durch glasklare Logik, sein Lügengebilde zum Einsturz zu bringen.
Ruprecht lächelt nachsichtig. «Der Schlitten wird von normalen Rentieren gezogen. Damit sie fliegen können, streut man ihnen Feenstaub aufs Geweih. Wenn die Wirkung nachlässt, sind es wieder normale Rentiere.»
Er macht keineswegs einen nervösen Eindruck. Im Gegenteil. Er steht ruhig da und scheint auf meine nächste Frage zu warten. Offenbar ist Ruprecht es gewohnt, Zweiflern wie mir Rede und Antwort zu stehen.
«Okay», sage ich. «Wie hat der Weihnachtsmann sich denn bislang finanziert? Meines Wissens macht er den Job gratis.»
Ruprecht nickt. «Früher haben wir oft große Vermögen geerbt. Leute, denen als Kinder Wünsche vom Weihnachtsmann erfüllt wurden, haben sich als Erwachsene daran erinnert und ihre Dankbarkeit bewiesen, indem sie uns großzügige Spenden zukommen ließen.»
«Und wieso hat sich das geändert?»
«Logistische Probleme», erwidert Ruprecht. «Wir waren praktisch der erste Weltkonzern. In einem so großen Unternehmen gibt es natürlich Reibungsverluste. Außerdem haben wir diesen wahnsinnig engen Lieferzeitraum. Da blieb es nicht aus, dass Fehler passierten. Mit der Zeit wollte sich niemand mehr auf unsere Dienstleistung verlassen. Die Eltern fingen also an, die Geschenke selbst zu kaufen und eigenhändig unter den Weihnachtsbaum zu legen. Für uns war das der Anfang vom Ende.»
«Und wie finanziert ihr euch heute?»
Ruprecht seufzt. «Wir bekommen Hartz IV. Und wir haben Nebenjobs. Ich, zum Beispiel, nehme manchmal an Boxturnieren teil. Und Santa Claus arbeitet als Weihnachtsmann. In Kaufhäusern und auf Märkten.»
«Warum arbeitet er überhaupt noch?», frage ich. «Ich meine, in seinem ursprünglichen Job? Offenbar läuft Weihnachten doch ganz gut ohne den Weihnachtsmann. Wozu also der Aufwand?»
Ruprecht nickt. «Das hab ich ihm auch schon gesagt. Aber Santa Claus ist der Ansicht, dass wir wieder zu alter Größe zurückfinden können, wenn es uns gelingt, unsere Corporate Identity nach vorne zu bringen. Früher nannte man das mal den Geist der Weihnacht. Deshalb versuchen wir jedes Jahr, einige Weihnachtswunder zu initiieren in der Hoffnung, dass die Leute irgendwann wieder an den Weihnachtsmann glauben.»
Ich mustere Ruprecht skeptisch.
«Ich weiß», sagt er. «Ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen. Das predige ich schon seit über hundert Jahren, aber es gelingt mir einfach nicht, Santa Claus davon abzubringen. Er ist in dieser Hinsicht ziemlich stur.» Ruprecht lächelt. «In jedem Haus, das wir beziehen, steht der Schlitten im Dachgeschoss. Claus gibt die Hoffnung nicht auf, dass er eines Tages wieder anspannen und in den Nachthimmel hinausfahren kann.»
Ich kapituliere. Mit Logik ist diesem ausgebufften Kinderschreck nicht beizukommen, so viel ist sicher. «Okay. Und warum bin ich hier?»
Ruprecht lächelt gemütlich. «Wir gehen jetzt runter, und ich erkläre dir alles. Vorher lassen wir uns von unserem entzückenden Engelchen einen schönen Weihnachtspunsch zubereiten.»
«Unserem Engelchen?», wiederhole ich tonlos.
«Genau, unserem Weihnachtsengelchen», freut sich Ruprecht.
«Kann wenigstens das Engelchen fliegen?», frage ich, rechne aber nicht damit, dass Ruprecht die Frage bejahen wird.
Er wiegt nachdenklich den Kopf hin und her. «Im Moment eher nicht», antwortet er erwartungsgemäß. «Wenn es drauf ankäme, dann vielleicht.»
Das Weihnachtsengelchen entpuppt sich als eine pausbäckige, freundliche Dame mittleren Alters. Ich schätze, sie wiegt so um die dreihundertfünfzig Pfund. Das erklärt, warum ihre Flugfähigkeit aktuell etwas eingeschränkt ist. Sie heißt Eloa, aber Ruprecht nennt sie liebevoll Elli.
Die beiden sind ein Paar, das ist unübersehbar. Schon bei der Begrüßung strahlen sie wie zwei Christbaumkugeln. Während Elli uns auf ihrem altertümlichen Ofen Punsch zubereitet, flirtet sie mit Ruprecht, was das Zeug hält. Es ist ebenso amüsant wie anrührend, ein zentnerschweres Engelchen und einen Waldschrat ohne Vorderzähne im siebten Himmel zu sehen.
Elli scheint ihre Zeit damit zu verbringen, Tonnen von Weihnachtsgebäck zu produzieren, denn überall stehen Bleche und Schüsseln mit Naschwerk herum. Ich werde gebeten, mir zum Punsch doch ein paar Sanddornkekse, einen Holunder-Muffin oder eine Anis-Ingwer-Praline zu gönnen. Ich greife eher widerwillig zu, bin dann aber überwältigt von Ellis kulinarischen Zauberkünsten. Sie freut sich.
«Kommen wir zur Sache», sagt Ruprecht, setzt sich zu mir an den Tisch, fingert eine Lesebrille hervor und öffnet einen Aktenordner. Er blättert darin, findet offenbar, was er sucht, liest eine Weile, nickt dann, schließt den Ordner und nimmt die Brille ab. «Kennst du einen Laden namens Old Joe?»
«Karls Pub heißt so. Ich bin da ab und zu. Also eigentlich jeden Abend.»
«Um diesen Karl geht es. Seine Frau ist krank. Demenz. Er würde gern das Weihnachtsfest mit ihr verbringen, aber finanziell steht ihm das Wasser bis zum Hals. Also muss er seinen Pub an den Weihnachtstagen öffnen.»
Ich bin ebenso erstaunt wie erschüttert. «Das hat er mir gegenüber nie erwähnt.»
«Du bist vielleicht einer seiner Stammgäste, aber deshalb noch lange nicht sein Freund», bemerkt Ruprecht sachlich.
Ich nicke nachdenklich. Schon erstaunlich, wie wenig man von Menschen weiß, die man immerhin einigermaßen zu kennen glaubt.
«Ich soll also den Pub über die Weihnachtstage schmeißen, damit Karl bei seiner Familie sein kann», mutmaße ich.
Ruprecht nickt.
«Und was sage ich ihm, wenn er wissen will, warum ich das tue?»
«Das bleibt dir überlassen», erwidert Ruprecht. «Du kannst Karl sagen, dass der Weihnachtsmann dich auf die Idee gebracht hat. Du kannst dir aber auch eine andere Geschichte einfallen lassen. Santa Claus möchte Karl lediglich für eine gute Tat belohnen.»
«Was für eine gute Tat hat Karl denn vollbracht?», frage ich neugierig.
Ruprecht zuckt mit den Schultern. «Keine Ahnung. Über seine Beweggründe schweigt Santa sich grundsätzlich aus. 1717 wussten wir, dass es eine Weihnachtsflut an der Nordsee geben würde, haben aber nichts unternommen. 1777 hingegen mussten alle James Cook helfen, die Weihnachtsinsel zu finden. Ich hab es aufgegeben, Santas System zu verstehen.»
Ich überlege. Eigentlich kann ich froh sein, dass der Weihnachtsmann mir eine überschaubare Aufgabe gegeben hat. Bliebe noch die Frage, wie ich es arrangiere, mit meiner Mutter Weihnachten zu feiern, wenn ich bei Karl arbeiten muss.
Ruprecht scheint wieder einmal meine Gedanken zu lesen. «Deine Mutter ist überzeugt davon, dass Weihnachten dieses Jahr auf den 27. Dezember fällt. Ihr könnt also später feiern.» Er sieht mein verwundertes Gesicht und fügt hinzu: «Santa hat mit ihr gesprochen.»
Was soll ich da noch sagen? Offenbar ist die Sache beschlossen.
«Okay», sage ich. «Dann werde ich mich jetzt mal zu Karl aufmachen.»
«Aber nimm tüchtig Kekse mit», flötet Elli.
Im gleichen Moment öffnet sich die Tür, und einer der Weihnachtselfen erscheint. «Kann mir jemand fünfzig Gulden pumpen? Ich hab ein Jahrtausendblatt.»
Auf dem Weg zu Karls Kneipe rekapituliere ich, dass der Weihnachtsmann ein Hartz-IV-Empfänger ist, der mit einigen sympathischen Bekloppten den Geist der Weihnacht aufrechtzuerhalten versucht. Das ist völlig absurd, aber irgendwie auch nachvollziehbar. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass man mich hinters Licht führen will. Da ich aber gerade sowieso nichts Besseres vorhabe und auf diese Weise bei Karl ein paar Schulden abstottern kann, stehe ich wenig später vor der Theke des Old Joe.
«Was machst du denn hier?», wundert sich Karl. «Bringst du Geld vorbei?»
«Nein, aber Kekse», erwidere ich und stelle eine große Tüte mit Ellis Spezialitäten auf den Tresen.
«Wie nett. Selbst gebacken?»
Ich nicke.
Während Karl die Kekse auf Teller und diese wiederum auf dem Tresen verteilt, hört er sich meinen Vorschlag an: «Ich kümmere mich über die Feiertage um deinen Laden, und du kannst bei deiner Familie sein. Im Gegenzug könntest du ja vielleicht meinen Deckel ein wenig reduzieren.»
Karl ist skeptisch. Vielleicht fürchtet er, dass ich ihm die Vorräte wegsaufe, vielleicht hat er auch Angst, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen bin.
Also krempele ich die Ärmel hoch und mache mich an die Arbeit. Eine Stunde später ist Karl überzeugt, dass er mich im Old Joe allein lassen kann.
«Du machst das nicht zum ersten Mal, oder?», fragt Karl, während er mir die Schlüssel zu seiner Kneipe in die Hand drückt.
Ich schüttele den Kopf. «Richtig geraten. Ich hab mich schon einige Male mit Kellnerjobs durchschlagen müssen.»
Karl nickt anerkennend und bindet sich die Schürze ab. «Gut. Ich lass dich jetzt allein. Wir telefonieren morgen, okay?»
Ich nicke.
Karls Gesicht wird ernst, er sieht mir geradewegs in die Augen: «Du ahnst nicht, was es mir bedeutet, dass du das hier für mich tust.»
Ein wenig verunsichert winke ich ab. «Kein Problem. Frohe Weihnachten.»
«Ja. Dir auch frohe Weihnachten, Felix.»
Am nächsten Morgen fällt mir auf, dass ich Moby Dick in Ellis Küche vergessen habe. Ich beschließe also, dem Weihnachtsmann erneut einen Besuch abzustatten.
Das Buch ist verschwunden. Und mit ihm Ruprecht, Elli, die Elfen und Santa Claus. Ellis Küche ist leer, ebenso das Elfen-Pokerzimmer. Selbst der Schlitten ist verschwunden. Nichts erinnert mehr an meine gestrige Begegnung mit dem Weihnachtsmann und seinen Helfern.
Ratlos spaziere ich durch die leeren Räume, und dabei dämmert mir, dass ich mich festlich zum Affen gemacht habe. Ich sehe Karl schon bildlich vor mir, wenn er genüsslich zum Besten gibt, wie er mich mit etwas Pappmaché und ein paar Laiendarstellern dazu gebracht hat, kostenlos in seiner Kneipe zu malochen. Was für eine Blamage!
Ich habe große Lust, sofort ins Old Joe zu gehen, um Karl die Meinung zu geigen. Aber das macht die Sache nicht besser. Ich bin einem cleveren Kneipier auf den Leim gegangen. Ich habe mir tatsächlich weismachen lassen, dass es den Weihnachtsmann gibt. Das kann man nicht rückgängig machen. Mir bleibt nur, diese Schmach mit Würde zu ertragen.
Es ist der erste Weihnachtstag. Die meisten Läden sind geschlossen. Erst nach längerem Suchen finde ich ein Stehcafé, das geöffnet hat.
«Und? Wie war Weihnachten?», fragt die gepiercte Verkäuferin, während sie mir einen Kaffee zubereitet.
Ich zucke schicksalsergeben mit den Schultern.
«Genau!», setzt sie nach. «Alles falscher Zauber! Es geht nur ums Geld. Aber die meisten Leute wollen das einfach nicht wahrhaben.»
Ich stutze, denn sie liefert mir, ohne es zu wissen, die Lösung für mein Problem. Und die besteht darin, dass ich behaupte, den falschen Zauber von Anfang an durchschaut zu haben. Ich werde also auch die kommenden beiden Tage bei Karl Dienst schieben, und wenn er endlich damit rausrückt, dass er mich gefoppt hat, behaupte ich souverän, dass ich ihm keineswegs auf den Leim gegangen bin. Ich werde sagen, ich hätte Karl nur den Spaß nicht verderben wollen und Weihnachten ohnehin nichts Besseres vorgehabt. Brillanter Plan. Bleibt mir nur noch, den Weihnachtsbesuch bei meiner Mutter zu koordinieren.
«Aber Schatz! Wir sind doch Heiligabend verabredet!»
Ich habe schon wieder einen ihrer nicht so hellen Tage erwischt.
«Und wann ist Heiligabend nochmal?», taste ich mich vor.
«Übermorgen!», lacht sie. «Vergiss das bloß nicht! Ich freu mich auf dich!»
«Ich freu mich auch, Mutter.»
Zumindest in dieser Hinsicht hat Ruprecht tatsächlich recht behalten. Ich kann mich also an den Weihnachtstagen ganz auf meinen Kneipenjob konzentrieren. Bester Laune trete ich den Weg zum Old Joe an.
Karl schwärmt von einem wunderschönen Heiligabend im Kreise der Familie und bedankt sich erneut für meine Hilfe.
«Also, wenn du heute was anderes vorhast …», beginnt er.
«Nein. Hab ich nicht», erwidere ich entspannt. «Meinetwegen kannst du auch morgen ganz zu Hause bleiben. Ich krieg das hier schon hin.»
Er nickt ernst. «Okay», sagt er dann. «Ich schulde dir was.»
«Dafür nicht», lächele ich und freue mich schon auf sein Gesicht, wenn ich ihm sage, dass ich seinen Schwindel längst durchschaut habe.
Seltsamerweise sagt Karl nichts dergleichen. Als ich am Tag nach Weihnachten bei ihm vorbeischaue, um ihm die Schlüssel zurückzugeben, macht er einen glücklichen und aufgeräumten Eindruck, erwähnt aber seine Weihnachtsinszenierung mit keinem Wort.
Auf dem Weg zu Mutters Altenheim komme ich zu dem Schluss, dass Karl die Sache auf sich beruhen lassen wird. Er hat, was er wollte, nämlich ein paar freie Tage. Da muss er mich ja jetzt nicht obendrein noch vorführen. Vielleicht hat er auch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich freimütig und vorbehaltlos dazu entschlossen habe, ihm zu helfen. Wie dem auch sei, mir wäre es ganz lieb, wenn ich nicht zum Gespött der Leute würde.
Im Heim erwartet mich eine Hiobsbotschaft. Meine Mutter ist weg.
«Was soll das heißen: Sie ist weg? Mütter kommen doch nicht so einfach weg», ereifere ich mich.
Die sichtlich zerknirschte Stationsleiterin macht einen hilflosen Eindruck. «Wir haben schon überall nach ihr gesucht. Polizei und Krankenhäuser sind informiert. Bislang ist sie leider noch nicht aufgetaucht.»
Ich verbringe den Nachmittag damit, Bekannte und Verwandte zu informieren, der Polizei detaillierte Auskünfte über meine Mutter zu geben und zwei Krankenhäuser aufzusuchen, in denen verwirrte Frauen im entsprechenden Alter eingeliefert wurden. Beide Male handelt es sich glücklicherweise um Fehlalarm. Es ist bereits dunkel, als ich den Heimweg antrete. Ein freundlicher Polizist hat mir glaubhaft versichert, dass ich definitiv nichts mehr tun kann und mir nun ein wenig Ruhe gönnen soll.
Als ich meinen Hausflur betrete, traue ich meinen Augen nicht. Ein Mann eilt die Treppe hinunter und damit geradewegs auf mich zu. Es ist jener Kerl, der sich mir gegenüber als Weihnachtsmann ausgegeben hat. Ein schöner Zufall, denn dann kann ich ihm gleich mal die Hammelbeine langziehen.
«Ho! Ho! Ho!», sage ich spöttisch.
Er sieht mich und scheint höchst erfreut. «Felix! Da bist du ja endlich! Gott sei Dank. Ich kann keine Minute länger warten.»
Verständlich, dass er es eilig hat. Ich an seiner Stelle hätte auch keine Lust, mir jetzt eine saftige Abreibung zu holen.
«Oben ist alles vorbereitet», erklärt er hektisch. «Deine Mutter wartet schon sehnsüchtig.»
«Meine … Mutter», sage ich verdattert.
Er lächelt. «Kleine Aufmerksamkeit von mir, weil du Karl geholfen hast. Frohe Weihnachten, Felix!»
Bevor ich etwas erwidern kann, hat er das Haus verlassen.
Ich beeile mich, in die fünfte Etage zu kommen, weil dort ein Geisteskranker, der sich für den Weihnachtsmann hält, meine verwirrte Mutter allein zurückgelassen hat. Vielleicht klettert sie gerade über die Balkonbrüstung, vielleicht zündet sie auch die Wohnung an.
Keuchend erreiche ich mein Apartment, öffne die Tür und traue meinen Augen nicht. An einem reichgedeckten Tisch, in dessen Mitte ein Weihnachtsbraten thront, sitzt meine Mutter und strahlt mit dem hinter ihr stehenden Weihnachtsbaum um die Wette.
«Ich wusste, dass du es nicht vergessen würdest», sagt sie. «Aber ich hätte nie gedacht, dass du dir die Mühe machst, mich vom Weihnachtsmann persönlich abholen zu lassen.»
«Ähm … ja», sage ich. «Gern geschehen. Freut mich jedenfalls sehr, dass du da bist.»
«Setz dich, mein Junge. Sonst wird alles kalt. Dein Vater kommt später. Er hat angerufen. Wir sollen schon mal ohne ihn anfangen.»
Ich nicke. «Ich muss nur noch ganz kurz jemanden anrufen.»
Derweil ich die Nummer ihres Altenheimes wähle, zwänge ich mich auf meinen winzigen Balkon.
Bevor die Verbindung zustande kommt, klingelt mein Handy. Die Nummer von Karls Kneipe erscheint im Display.
«Kannst du eine Weihnachtsgeschichte schreiben?», fällt er mit der Tür ins Haus. «Aber keine Kunstsprache! Eine Freundin von einer Freundin, die bei einem Verlag arbeitet, sucht Weihnachtsgeschichten für eine Anthologie, und da dachte ich …»
«Karl, ist grad ein bisschen schlecht. Meine Mutter ist zu Besuch.»
«Oh! ’tschuldige! Sag das doch! Komm einfach morgen vorbei. Wir reden dann über alles. Bei einem Guinness.»
«Gern. Danke.»
«Ich hab zu danken, Felix.»
Erneut will ich die Nummer des Altenheimes wählen, da steckt meine Mutter den Kopf durch die Tür. «Kannst du mal kurz kommen? Der Weihnachtsmann möchte sich verabschieden.»
Ich stutze, packe das Handy weg, betrete meine Wohnung und lasse mich von meiner Mutter zum Dachfenster führen.
Über dem Haus schwebt die Kutsche des Weihnachtsmannes. Gezogen wird sie von ein paar Straßenkötern, einem Schwein, zwei Ziegen, drei Pinguinen, einer Katze und einem Esel.
Santa Claus, der in seinem billigen grauen Anzug abgekämpft, aber zufrieden wirkt, ruft: «Was hältst du von meiner neuesten Konstruktion, Felix?»
«Ist das nicht wunderschön?», fragt meine Mutter und lächelt selig.
Ich nicke ungläubig. «Großartig», sage ich.
Santa Claus lacht zufrieden. «Alles nur eine Frage der richtigen Einstellung! Frohe Weihnachten allerseits!»
Langsam setzt sich der Schlitten in Bewegung. Das Gefährt ächzt, die Tiere wirken ein wenig unkoordiniert. Im fahlen Mondlicht sieht man, wie der Esel über einen der Pinguine stolpert. Er rappelt sich aber sofort wieder hoch. Schlingernd und knarrend zuckelt der Schlitten des Weihnachtsmannes durch den Abendhimmel.
Hoffentlich sehen das jetzt keine Kinder, denke ich.
Hans Rath, Jahrgang 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt in Berlin, wo er sein Geld unter anderem als Drehbuchautor verdient. Mit seinem Romanerstling «Man tut, was man kann» hat er die Bestsellerliste im Sturm erobert. Die Fortsetzung «Da muss man durch» erschien im Sommer 2010.